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Sewastopol im Herbst

Hätte Herbé Sewastopol aufsuchen können, wie Tolstoi es im November 1854 tun sollte, hätte er die Stadt in erhöhter Alarmbereitschaft und fieberhafter Aktivität vorgefunden. In der schwungvollen Eröffnungspassage seiner Sewastopoler Erzählungen beschreibt Tolstoi einen frühen Morgen, an dem die Stadt zum Leben erwachte:

Auf der Nordseite weicht die nächtliche Ruhe allmählich dem Getriebe des Tages. Hier zieht, mit den Gewehren klirrend, eine Mannschaft zur Ablösung der Wache vorüber, dort eilt ein Arzt bereits dem Lazarett zu; ein Soldat, der aus dem Unterstand hervorgekrochen ist, wäscht sich das sonnengebräunte Gesicht mit vereistem Wasser, wendet sich dem rot aufleuchtenden Osten zu und verrichtet, hastig das Kreuz schlagend, sein Morgengebet; ein hoher, schwerer Wagen, mit zwei Kamelen bespannt, fährt langsam und knarrend in Richtung Friedhof, wo die blutigen Leichname, mit denen er fast bis zum Rande beladen ist, bestattet werden sollen. Wenn Sie sich dem Hafen nähern, schlägt Ihnen ein eigentümlicher Geruch nach Steinkohle, Dünger, Feuchtigkeit und Rindfleisch entgegen; tausenderlei Dinge – Holz, Fleisch, Schanzkörbe, Mehl, Eisen und anderes – liegen aufgehäuft auf dem Landungsplatz. Soldaten verschiedener Regimenter, teils mit Säcken und Gewehren, teils ohne Feldgepäck, drängen sich hier, rauchen, schimpfen miteinander und schleppen Lasten auf den Dampfer, der qualmend an der Anlegestelle liegt; Mietsjollen, die mit allen möglichen Leuten – Soldaten, Seeleuten, Händlern und Frauen – besetzt sind, legen am Landungsplatz an oder stoßen ab …

Am Kai stehen lärmend eine Menge Soldaten in grauen und Matrosen in schwarzen Mänteln sowie buntgekleidete Frauen. Weiber halten Gebäck feil, russische Bauern bieten aus ihren Samowaren mit lauten Rufen heißen Sbiten* an, und gleich auf den ersten Stufen sehen Sie verrostete Kanonenkugeln, Bomben, Kartätschen und gußeiserne Geschütze verschiedenen Kalibers herumliegen. Etwas weiter weg erstreckt sich ein großer Platz voll mächtiger Balken, Lafetten und schlafender Soldaten. Hier stehen Pferde, Fuhrwerke, grüne Geschütze, Munitionskisten und Gewehrpyramiden der Infanteristen; Soldaten, Matrosen, Offiziere, Frauen, Kinder und Händler bewegen sich auf dem Platz hin und her; Fuhren mit Heu, Säcken und Tonnen fahren vorüber; hin und wieder reitet ein Kosak, ein Offizier über den Platz, oder ein General fährt in einer Kutsche vorbei. Rechter Hand ist die Straße durch eine Barrikade gesperrt; in den Schießscharten sind kleine Kanonen aufgestellt, neben denen ein Matrose sitzt und seine Pfeife raucht. Zur Linken erhebt sich ein stattliches Haus mit römischen Ziffern am Giebel, vor dem Soldaten und blutbefleckte Tragbahren stehen – überall nehmen Sie die unangenehm berührenden Merkmale eines Kriegslagers wahr.1

Sewastopol war eine Militärstadt. Die Bevölkerung von 40 000 Menschen war auf die eine oder andere Weise mit dem Leben des Marinestützpunkts verknüpft, dessen Garnison rund 18 000 Mann zählte, und aus dieser Einheit bezog Sewastopol seine militärische Stärke. Etliche Matrosenfamilien lebten dort seit der Gründung der Stadt in den 1780er Jahren. Eine gesellschaftliche Besonderheit bestand darin, dass Fräcke unter den Marineuniformen auf den Hauptstraßen selten zu sehen waren. Es gab keine großen Museen, Galerien, Konzertsäle oder sonstigen kulturellen Schätze in Sewastopol. Die imposanten neoklassischen Gebäude des Stadtzentrums hatten sämtlich militärischen Charakter: die Admiralität, die Marineakademie, das Arsenal, die Garnisonen, die Werften, die Armeelagerhäuser, das Lazarett und die Offiziersbibliothek, eine der am besten bestückten in Europa. Sogar die Adelsversammlung (das »stattliche Haus mit römischen Ziffern am Giebel«) wurde während der Belagerung zu einem Krankenhaus umfunktioniert.

Die Stadt setzte sich aus zwei grundverschiedenen Teilen zusammen, einer Nord- und einer Südseite, die durch den Seehafen voneinander getrennt waren und nur per Schiff direkt miteinander Verbindung aufnehmen konnten. Die Nordseite hatte nichts mit den eleganten neoklassischen Fassaden um den Militärhafen an der Südseite zu tun. Sie besaß kaum Pflasterstraßen, und Fischer und Seeleute wohnten dort auf halb ländliche Art, bauten in den Gärten ihrer Datschen Gemüse an und hielten Tiere. An der Südseite gab es eine weitere, weniger offensichtliche Aufteilung zwischen dem Verwaltungszentrum im Westen des Militärhafens und den Marinewerften im Osten, wo die Matrosen in Garnisonen untergebracht waren oder mit ihren Angehörigen in kleinen Holzhäusern wohnten, die nur ein paar Meter von den Verteidigungsanlagen entfernt lagen. Frauen hängten ihre Wäsche an Leinen auf, die sich zwischen ihren Häusern und den Festungsmauern und -bastionen spannten.2

Wie Tolstoi waren die Besucher von Sewastopol stets überrascht über die »eigentümliche Verquickung des Lagerlebens mit dem städtischen Getriebe, der hübschen Stadt mit dem schmutzigen Biwak«. Jewgeni Jerschow, ein junger Artillerieoffizier, der in jenem Herbst in Sewastopol eintraf, war beeindruckt davon, wie die Bewohner trotz des Chaos der Belagerung ihrem alltäglichen Leben nachgingen. »Es war seltsam zu sehen«, schrieb er, »wie die Menschen ihr normales Leben fortsetzten eine junge Frau war ruhig mit ihrem Kinderwagen unterwegs, Händler kauften und verkauften Waren, Kinder liefen herum und spielten auf den Straßen, obwohl sie von einem Schlachtfeld umgeben waren und jederzeit getötet werden konnten.«3

In den Wochen vor der Invasion lebten die Leute so, als wären dies ihre letzten Tage. Man feierte unablässig, gab sich übermäßigem Alkoholkonsum und Glücksspiel hin, und die zahlreichen Prostituierten der Stadt machten Überstunden. Die Landungen der Alliierten hatten eine ernüchternde Wirkung, doch das Selbstvertrauen der Subalternoffiziere war ausgeprägt. Alle rechneten damit, dass die russische Armee die Briten und Franzosen besiegen würde. Sie brachten Trinksprüche zum Gedenken an 1812 aus. »Wir waren äußerst gespannt«, erinnerte sich Michail Botanow, ein junger Seekadett, »und wir hatten keine Angst vor dem Feind. Der Einzige unter uns, der unser Selbstbewusstsein nicht teilte, war der Befehlshaber eines Dampfschiffes, der, anders als wir, häufig im Ausland gewesen war und das Sprichwort ›Im Zorn ist keine Stärke‹ liebte. Die Ereignisse sollten zeigen, dass er weitsichtiger und besser über die wirkliche Sachlage informiert war als wir.«4

Die Niederlage der russischen Streitkräfte an der Alma löste Panik bei der Zivilbevölkerung von Sewastopol aus. Die Menschen erwarteten, dass die Alliierten jeden Moment von Norden her angreifen konnten; sie waren verwirrt, als sie dann deren Flotten im Süden erblickten, und nahmen fälschlich an, sie seien umzingelt. »Ich kenne keinen, der in jenem Moment nicht ein Gebet sprach«, schrieb einer der Bewohner. »Wir alle dachten, der Feind würde bald durchbrechen.« Hauptmann Nikolai Lipkin, ein Batteriekommandeur der Vierten Bastion, teilte seinem Bruder in St. Petersburg Ende September mit:

Viele Bewohner sind bereits verschwunden, doch wir, die Soldaten, bleiben hier, um unseren ungebetenen Gästen eine Lektion zu erteilen. Drei Tage hintereinander (24., 25. und 26. September) fanden religiöse Prozessionen durch den Ort und durch sämtliche Batterien statt. Es war bewegend mitzuerleben, wie sich unsere Kämpfer, neben ihren Biwaks stehend, vor dem Kreuz und den Ikonen verbeugten, die von unseren Frauen getragen wurden … Die Schätze sind aus den Kirchen entfernt worden; ich hielt es nicht für nötig, aber die Menschen hören mir nicht mehr zu, alle haben Angst. Jeden Moment erwarten wir einen allgemeinen Angriff sowohl zu Lande als auch zu Wasser. Das also, mein Bruder, ist die Lage, und was als Nächstes geschehen wird, weiß nur der Herr.

Lipkin mochte zuversichtlich sein, doch die russischen Befehlshaber dachten nach der Schlacht an der Alma ernsthaft daran, Sewastopol aufzugeben. Acht Dampfer an der Nordseite warteten auf den Befehl, die Soldaten zu evakuieren, und zehn Kriegsschiffe an der Südseite sollten ihre Flucht decken. Viele Stadtbewohner suchten das Weite, als sich der Feind näherte, obwohl russische Einheiten ihnen den Weg versperrten. Die Wasservorräte in der Stadt wurden gefährlich knapp, denn die Quellen waren versiegt und die gesamte Bevölkerung war auf die Brunnen angewiesen, die zu dieser Jahreszeit stets unter Wassermangel litten. Nachdem die Briten und Franzosen von Deserteuren erfahren hatten, dass die Stadt aus Quellen und durch Rohre, die von den Anhöhen, auf denen die Alliierten lagerten, an einer Schlucht entlang mit Wasser versorgt wurde, hatten sie diese Zufuhr unterbunden, woraufhin Sewastopol nur noch das Aquädukt zur Marinewerft übrig blieb.5

Während die Alliierten ihr Lager aufschlugen und den Beschuss der Stadt vorbereiteten, arbeiteten die Russen rund um die Uhr, um ihre Verteidigungsstellungen an der Südseite zu verstärken. Da Menschikow nirgendwo zu sehen war, ging die Hauptverantwortung für die Verteidigung von Sewastopol an drei Befehlshaber über: Admiral Kornilow, Stabschef der Schwarzmeerflotte, Totleben, den technischen Leiter, und Nachimow, den Helden von Sinope und Hafenkommandeur, der bei den Matrosen sehr beliebt war und als »einer von ihnen« galt. Alle drei Männer waren Berufsmilitärs eines neuen Typs, der sich stark von dem des Höflings Menschikow abhob. Ihre Energie war bemerkenswert. Kornilow inspirierte die Soldaten durch seine tägliche Präsenz in jedem Verteidigungssektor und versprach ihnen Belohnungen, wenn sie die Stadt hielten. Tolstoi, der sich Lipkin als Batteriekommandeur in der Vierten Bastion anschließen sollte, schickte seinem Bruder am Tag nach seiner Ankunft einen Brief, in dem er Kornilow bei seiner Runde beschrieb: »Wenn [er] die Truppen abritt, sagte er statt: ›Guten Morgen, Kameraden!‹ immer: Wenn’s sterben heißt, Kameraden seid ihr bereit?‹, und die Truppen riefen: Wir sind bereit, Euer Exzellenz. Hurra!‹ Und das war keine Effekthascherei, auf dem Gesicht eines jeden einzelnen konnte man lesen, daß sie nicht scherzten, sondern die Wahrheit sprachen «6

Kornilow selbst war alles andere als sicher, dass die Stadt gerettet werden konnte. Am 27. September schrieb er seiner Frau:

Wir haben nur 5000 Reservisten und 10 000 Matrosen, die mit verschiedenen Waffen, darunter sogar Piken, ausgerüstet sind. Keine sehr starke Garnison, um eine Festung zu halten, deren Verteidigungsanlagen sich über viele Kilometer erstrecken und so stark unterbrochen sind, dass es keine direkte Kommunikation zwischen ihnen gibt; aber was sein wird, wird sein. Wir haben beschlossen, uns zur Wehr zu setzen. Es wäre ein Wunder, wenn wir durchhalten; und wenn nicht …

Seine Zweifel nahmen zu, als die Matrosen einen großen Wodkavorrat am Kai entdeckten und drei Tage lang betrunken randalierten. Es blieb Kornilow überlassen, den Alkoholvorrat zu vernichten, damit seine Seeleute für die Schlacht ausnüchtern konnten.7

Die Verteidigungsvorbereitungen gingen hastig und improvisiert vonstatten. Gleich zu Beginn stellte man fest, dass es in Sewastopol keine Schaufeln gab. Deshalb wurden Männer ausgeschickt, die so viele Schaufeln wie möglich aus Odessa besorgen sollten; drei Wochen später kehrten sie mit 400 Spaten zurück. In der Zwischenzeit arbeitete die Stadtbevölkerung hauptsächlich mit Holzschaufeln, die aus zerbrochenen Brettern hergestellt worden waren. Sämtliche Bewohner von Sewastopol Matrosen, Soldaten, Kriegsgefangene, Arbeiter und Arbeiterinnen (einschließlich Prostituierten) halfen mit, Gräben auszuheben, Erde zu den Verteidigungsanlagen zu karren, Wälle und Barrikaden zu bauen sowie mit Sand, Reisigbündeln und Gabionen** Batterien zu konstruieren, während Gruppen von Matrosen die schweren Geschütze, die sie von ihren Schiffen entfernt hatten, bergauf schleppten. Was immer für den Transport von Erde zu gebrauchen war, wurde beschlagnahmt, und wenn es an Körben, Säcken und Eimern fehlte, trugen die Grabenden die Erde in gefalteten Kleidungsstücken. Da alle einen baldigen Angriff erwarteten, arbeiteten sie mit noch größerem Nachdruck. Als die Alliierten ein Jahr später die Verteidigungsanlagen inspizierten, waren sie verblüfft über das Geschick und die Erfindungsgabe der Russen.8

Der Zar, den man über die heroischen Bemühungen der Bürger von Sewastopol informiert hatte, schrieb Ende September an General Gortschakow und erinnerte ihn an den »besonderen russischen Geist«, der das Land vor Napoleon gerettet habe. Nun forderte er den General auf, diesen Geist auch gegen die Briten und Franzosen heraufzubeschwören. »Wir werden zu Gott beten, dass Sie Sewastopol, die Flotte und das russische Land zu retten vermögen. Beugen Sie sich niemandem«, unterstrich er. »Zeigen Sie der Welt, dass wir dieselben Russen sind, die im Jahr 1812 standgehalten haben.« Außerdem schickte der Zar Menschikow, der sich in der Nähe des Flusses Belbek nordöstlich von Sewastopol befand, eine Botschaft für die Menschen der Stadt:

Sagen Sie Ihren jungen Matrosen, dass ich all meine Hoffnungen in sie setze. Fordern Sie sie auf, sich niemandem zu beugen, an Gottes Barmherzigkeit zu glauben, daran zu denken, dass wir Russen sind, dass wir unsere Heimat und unseren Glauben verteidigen, und sich demütig dem Willen Gottes unterzuordnen. Möge Gott Sie schützen! Meine Gebete gelten Ihnen allen und unserer heiligen Sache.9

Unterdessen begannen die Alliierten ihre langwierigen Vorbereitungen für die Belagerung. Raglan hatte einen sofortigen Angriff gewollt, da er die Schwäche der russischen Verteidigungsanlagen durchschaute. Er wurde bestärkt von dem freimütigen und gebieterischen Sir George Cathcart, dem Befehlshaber der 4. Division, dessen Männer auf einem Hügel Stellung bezogen hatten, von wo er die ganze Stadt überblicken konnte. Er schrieb an Raglan:

Wenn Sie und Sir John Burgoyne mir einen Besuch abstatten, können Sie alle Verteidigungsanlagen sehen, deren es nicht viele gibt. Sie arbeiten an zwei oder drei Redouten, aber der Ort wird nur von so etwas wie einer lockeren, nicht gut erhaltenen Parkmauer umschlossen. Ich bin sicher, ich könnte so gut wie ohne Verluste bei Nacht oder eine Stunde vor Tagesanbruch hineingehen, wenn sich die übrige Streitmacht zwischen dem Meer und diesem Hügel befände. Wir könnten unsere Rucksäcke zurücklassen und sogar am hellichten Tag hineinlaufen und nur ein paar Schüsse riskieren, wenn wir an den Redouten vorbeikämen.

Burgoyne, der sich vorher für einen raschen Angriff ausgesprochen hatte, war nun anderer Meinung. Er fürchtete, zu viele Männer zu verlieren, und bestand darauf, vor einer Attacke die Feuerkraft des Feindes durch Belagerungsgeschütze zu schwächen. Die Franzosen schlossen sich seiner Meinung an. Deshalb begannen die Alliierten nun mit der langsamen Prozedur, Belagerungskanonen von den Schiffen zu holen und die Anhöhen hochzuziehen. Endlose Probleme ergaben sich durch die britischen Geschütze, von denen viele zerlegt werden mussten, bevor man sie ausladen konnte. »Es ist äußerst mühsam gewesen, unsere schweren Schiffskanonen in Position zu bringen«, schrieb Hauptmann William Cameron von den Grenadier Guards seinem Vater.

Die Schiffsgeschütze müssen zerlegt werden, genau wie die Lafetten, die sich mit ihren kleinen Laufrollen nicht von allein bewegen, während die üblichen Belagerungskanonen, so wie sie sind, an ihre Plätze geschoben werden können. Wir haben gerade eine Batterie von fünf 68-Pfund-Geschützen mit jeweils 95 Zentner Gewicht fertiggestellt – sämtlich Schiffskanonen, die mehr bewirken werden als jede Batterie, von der man bei einer Belagerung gehört hat. Das Gelände ist schrecklich felsig, weshalb ein großer Teil der Erde für die Brüstung von unten mitgenommen werden muss.10

Es dauerte achtzehn Tage, bis die Geschütze endlich an ihrem Platz waren, so dass die Russen entscheidende Zeit gewannen, um ihre Stellung auszubauen.

Während die Briten ihre Kanonen auf die Anhöhen schleppten, hoben die Franzosen Gräben aus und bewegten sich allmählich in Zickzackformation auf Sewastopol zu, wobei sie von der russischen Artillerie beschossen wurden. Die Aushebung des ersten Grabens war am gefährlichsten, da man kaum einen Schutz vor den russischen Kugeln hatte. Mit Schaufeln und Spitzhacken ausgerüstet, kroch die erste Schicht von 800 Mann im Dunkel der Nacht nach vorn und benutzte Felsen als Deckung, bis man sich der Fahnenmast-Bastion von Sewastopol auf weniger als einen Kilometer genähert hatte. Dann begannen die Soldaten, sich an Linien entlang, die ihre Kommandeure gezogen hatten, im Boden einzugraben, wobei sie das Erdreich in Gabionen als Schutz vor sich aufhäuften. In jener Nacht vom 9. auf den 10. Oktober war der Himmel klar und der Mond schien, doch ein Nordwestwind trieb die Schürfgeräusche von der Stadt weg, und als die schläfrigen Russen die Franzosen in der Morgendämmerung endlich entdeckten, hatten diese bereits eine geschützte Grabenanlage von 1000 Meter Länge ausgehoben. Unter schwerem Beschuss setzten 3000 französische Soldaten die Arbeit fort, legten jede Nacht neue Verschanzungen an und reparierten von den Russen beschädigte Gräben gleich am folgenden Tag, während Granaten und Mörsergeschosse an ihren Köpfen vorbeipfiffen. Am 16. Oktober hatte man die ersten fünf französischen Batterien mit Säcken voll Erde und Holz für die Palisaden sowie mit verstärkten Schanzkleidern und Brüstungen fertiggestellt und über 50 Geschütze (Kanonen, Mörser und Haubitzen) auf erhöhten Plattformen angebracht.11

Nach den Franzosen machten sich die Briten an ihre Schanzarbeiten und bauten ihre ersten Batterien auf dem Grünen Hügel (der Linke Angriff) und dem Woronzow-Hügel (der Rechte Angriff), die eine tiefe Schlucht voneinander trennte. Schichten von 500 Mann auf beiden Angriffsseiten arbeiteten pausenlos, während mehr als doppelt so viele Soldaten sie vor den Russen schützten, die nachts Ausfälle machten. »Ich habe heute Morgen um 4 Uhr, nach 24 Stunden in den Gräben, dienstfrei«, schrieb Hauptmann Radcliffe vom 20. Regiment an seine Angehörigen.

Als wir uns unter der Brustwehr befanden, die über Nacht aufgeschüttet worden war, waren wir recht gut gedeckt, mussten uns jedoch ständig hinlegen, denn dies war natürlich Tag und Nacht das Ziel der feindlichen Artillerie, da wir den Graben erst halb fertiggestellt hatten. Ein paar Männer, den Kopf ein paar Zoll über der Brustwehr, hielten jedoch Ausschau, um uns vor Schüssen zu warnen. Dazu beobachteten sie tagsüber den Rauch und nachts das Blitzen der Kanonen und riefen: »Schuss!« Dann legten sich alle in den Gräben hin und gingen in die Deckung der Brustwehr, bis es vorbei war, wonach sie ihre Arbeit fortsetzten. Auf diese Weise verloren wir während des Tages nur einen einzigen Mann; er wurde durch eine Kanonenkugel getötet.12

Am 16. Oktober beschloss man endlich, am folgenden Morgen die Bombardierung von Sewastopol zu beginnen, obwohl die britischen Verschanzungen noch nicht ganz vollendet waren. Im alliierten Lager herrschte optimistische Erwartung. »Alle Artillerieoffiziere Franzosen, Engländer und Marine meinen, [dass] nach 48-stündigem Feuer kaum mehr als ein Haufen Ruinen von Sewastopol übrig sein wird«, teilte Henry Clifford, ein Stabsoffizier der Leichten Division, seiner Familie mit. Laut Evelyn Wood, einem Seekadetten, der die Schlacht an der Alma von der Stenge seines Schiffes beobachtet hatte, bevor er zum Landangriff mit der Marinebrigade versetzt wurde,

setzte man am 16. Oktober in unserem Lager hohe Quoten darauf, dass die Festung in ein paar Stunden fallen würde. Einige der älteren und besonneneren Offiziere schätzten, dass die Russen 48 Stunden standhalten würden, aber das war die extreme Ansicht. Ein Soldat bot mir eine in Paris hergestellte Uhr an, die er einem an der Alma getöteten russischen Offizier abgenommen hatte. Dafür verlangte er 20 Schilling. Meine Kameraden hielten mich davon ab, sie zu kaufen, da Golduhren in 48 Stunden billiger sein würden.13

Sobald sich der Nebel gelichtet hatte, sahen die Russen im Morgengrauen des 17. Oktober, dass die Schießscharten der feindlichen Batterien geöffnet worden waren. Ohne abzuwarten, bis der Feind das Feuer eröffnete, beschossen sie den Gegner entlang der Linie mit Granaten, und kurz danach begann das alliierte Bombardement mit 72 britischen und 53 französischen Geschützen. Innerhalb von Minuten hatte die Schlacht ihren Höhepunkt erreicht. Das Dröhnen der Kanonen, das Brüllen und Pfeifen der Kugeln und die ohrenbetäubenden Explosionen der Granaten übertönten die Hornsignale und Trommeln. Sewastopol war komplett in einer dichten schwarzen Rauchwolke verschwunden, die über dem ganzen verdunkelten Schlachtfeld hing und es den alliierten Richtschützen unmöglich machte, ihr Ziel mit militärischer Präzision zu treffen. »Nach wenigen Augenblicken war Alles in Dampf gehüllt, so daß wir uns mit der Hoffnung auf einen guten Erfolg trösten mußten«, schrieb Calthorpe, der den Beschuss zusammen mit Raglan aus einem Steinbruch auf dem Woronzow-Hügel beobachtete.14

Für Tausende von Zivilisten, die in den ausgebombten Ruinen ihrer Behausungen in Sewastopol Zuflucht suchten, waren dies die furchtbarsten Momente ihres Lebens. »So etwas hatte ich nie zuvor gesehen oder gehört«, schrieb einer der Bewohner. »Zwölf Stunden lang setzte sich das wilde Heulen der Bomben fort. Es war unmöglich, sie zu unterscheiden, und der Boden bebte unter unseren Füßen Ein dichter Rauch erfüllte den Himmel und verdunkelte die Sonne; es wurde so finster wie nachts; sogar die Zimmer waren voller Rauch.«15

Bei Beginn der Bombardierung hatte sich Kornilow mit seinem Flaggleutnant Fürst W. I. Barjatinski zu einer Inspektion der Verteidigungsanlagen aufgemacht. Als Erstes besuchten sie die Vierte Bastion, die am stärksten gefährdete Stelle in Sewastopol, die sowohl von den Briten als auch von den Franzosen beschossen wurde. »Innerhalb der Bastion Nr. 4«, erinnerte sich Barjatinski, »war das Bild verheerend und die Zerstörung enorm, denn das Granatfeuer hatte ganze Geschützmannschaften niedergestreckt; die Verwundeten und Toten wurden von Krankenträgern entfernt, aber viele lagen noch herum.« Kornilow trat an jede Kanone heran, ermutigte die Mannschaft und begab sich dann zur Fünften Bastion, die genauso hohem Druck durch die Artillerie des Feindes ausgesetzt war. Dort traf er Nachimow, der wie immer einen Frack mit Epauletten trug. Nachimow war im Gesicht verletzt, was er laut Barjatinski jedoch nicht zu bemerken schien, obwohl ihm Blut am Hals hinunterlief und, während er mit Kornilow sprach, das weiße Band seines Georgskreuzes befleckte. Barjatinski erkannte einen sich nähernden Offizier, obgleich »er keine Augen und kein Gesicht mehr hatte, sie verschwanden völlig unter einer Masse blutigen Fleisches«. Dies waren die Überreste eines Matrosen, der in die Luft gejagt worden war, und der Offizier wischte sich das Fleisch vom Gesicht, während er Barjatinski um eine Zigarette bat. Kornilow ignorierte die Warnung seines Stabes vor der Gefahr und setzte seine Runde in der Dritten Bastion, dem Redan, fort, auf den die schweren britischen Geschütze mit tödlicher Schlagkraft einhämmerten. Als Kornilow eintraf, hatte Hauptmann Popandul das Kommando über die Bastion, doch er wurde bald getötet, ebenso wie die fünf anderen Kommandeure, die ihn an jenem Tag folgten. Kornilow durchquerte das Grabensystem und die Schlucht in Reichweite der britischen Geschütze und kletterte zur Malachow-Bastion hinauf, wo er mit verwundeten Soldaten redete. Gerade wollte er den Hügel hinabsteigen, um seine Inspektion in der Uschakow-Schlucht zu beenden, als eine Granate den unteren Teil seines Körpers wegriss. Man brachte Kornilow ins Lazarett, wo er kurz darauf starb.16

Gegen Mittag schloss sich die alliierte Flotte dem Bombardement an. Ihre schweren Geschütze feuerten vom Eingang des Seehafens, 800 bis 1500 Meter von der Küste entfernt, auf Sewastopol (die Blockade des Hafens durch die versenkten russischen Schiffe hinderte sie daran, ihrem Ziel näher zu kommen). Sechs Stunden lang wurde die Stadt durch eine alliierte Breitseite von 1240 Kanonen beschossen; ihre eigenen Küstenbatterien verfügten nur über 150 Kanonen. »Der Anblick war einer der grässlichsten, was die Geschütze anging«, schrieb Henry James, ein Matrose der Handelsmarine, in seinem Tagebuch, nachdem er das Bombardement aus größerer Entfernung vom Meer her beobachtet hatte. »Mehrere der Linienschiffe hielten eine schwere Kanonade aufrecht, die sich mit einem gewaltigen Trommelwirbel vergleichen ließ Wir konnten sehen, wie ein Regen von Kanonenkugeln das Wasser am Fuß der Festungen traf und an den Mauern emporflog.« Das Feuer der Flotte erzeugte so viel Rauch, dass die russischen Kanoniere die Schiffe nicht mehr erkennen konnten. Einige verloren die Nerven, doch andere bewiesen außerordentlichen Mut und feuerten auf die Geschützblitze der unsichtbaren Schiffe, während Granaten an ihren Köpfen vorbeidonnerten. Ein Artillerieoffizier der Zehnten Bastion, auf die sich der französische Angriff konzentrierte, berichtete, dass Männer, die nach früheren Kämpfen für ihre Tapferkeit ausgezeichnet worden waren, vor diesem Feuer in panischer Angst flohen. »Auch ich hatte zwiespältige Gefühle«, schrieb er. »Ein Teil von mir wollte nach Hause eilen, um meine Familie zu retten, doch mein Pflichtgefühl befahl mir zu bleiben. Aber meine Gefühle als Mann überwanden die des Soldaten in mir, und ich rannte davon, um meine Familie zu finden.«17

Trotz all ihrer Geschütze mussten die französischen und britischen Schiffe mehr einstecken, als sie austeilten. Die hölzernen Segelschiffe der alliierten Flotte konnten nicht dicht genug an die Steinforts der Küstenbastionen herankommen, um viel Schaden anzurichten (in dieser Hinsicht hatte die Blockade ihre Funktion erfüllt), aber sie konnten von den weniger zahlreichen russischen Kanonen in Brand gesetzt werden, die (da sie landgestützt waren) viel präziser feuerten als die Alliierten mit ihrer Kanonade aus großer Entfernung. Nachdem die alliierte Flotte rund 50 000 recht wirkungslose Schüsse auf die Küstenbatterien abgegeben hatte, lichtete sie Anker und segelte davon, um ihre Verluste zu zählen: Fünf Schiffe waren schwer beschädigt, dreißig Matrosen getötet und über 500 Mann verwundet worden. Ohne dampfgetriebene Eisenschiffe sollte die alliierte Flotte während der Belagerung von Sewastopol nur eine der Armee untergeordnete Rolle spielen.

Die Ergebnisse des ersten Tages auf dem Land waren nicht viel erfreulicher für die Alliierten. Die Franzosen waren am Mt. Rodolph erst wenig vorangekommen, als eines ihrer Hauptmunitionslager explodierte und sie das Feuer einstellen mussten. Obwohl die Briten der Dritten Bastion erhebliche Schäden zufügten, die für die meisten der 1100 russischen Opfer verantwortlich waren, fehlten ihnen die schweren Mörser, mit denen sie ihre überlegene Feuerkraft besser hätten nutzen können. Ihre viel gepriesene neue Waffe, die 68-Pfund-Lancaster-Kanone, war unzuverlässig und aus großer Entfernung ineffektiv gegen die russischen Erdwälle, welche die leichten Geschosse abfingen. »Ich fürchte, die Lancaster ist untauglich«, meldete Hauptmann Lushington General Airey am folgenden Tag. »Die Reichweite unserer Kanonen genügt nicht, und wir fügen unseren Schießscharten größeren Schaden zu als dem Feind Ich habe allen Offizieren eingeschärft, dass es notwendig ist, langsam und stetig zu feuern aber die Entfernungen sind zu groß und wir könnten genauso gut auf einen Pudding schießen wie auf diese Erdwälle.«18

Das gescheiterte Bombardement des ersten Tages bedeutete ein böses Erwachen für die Alliierten. »Die Stadt scheint aus feuerfestem Material gebaut zu sein«, schrieb Fanny Duberly, die als Kriegstouristin mit ihrem Mann Henry, dem Zahlmeister der 8. Husaren, auf die Krim gekommen war. »Wo sie gestern zweimal ein wenig Feuer gefangen hatte, wurden die Flammen fast sofort gelöscht.«19

Auf russischer Seite hatte der erste Tag den Nimbus der alliierten Heere zerstört, den sie durch ihren Sieg an der Alma erworben hatten. Plötzlich schien der Feind nicht mehr unbesiegbar zu sein, was die Russen neue Hoffnung und neues Selbstvertrauen schöpfen ließ. »Wir alle dachten, es sei unmöglich, dass unsere Batterien uns retten würden«, schrieb ein Bewohner von Sewastopol am folgenden Tag in einem Brief. »Also stelle man sich unsere Überraschung vor, als wir heute sämtliche Batterien unversehrt und alle Kanonen an Ort und Stelle vorfanden! Gott hat Russland gesegnet und uns für die Beleidigungen belohnt, die unser Glaube erlitten hat!«20

* * *

Nachdem die Russen die Beschießung des ersten Tages überlebt hatten, beschlossen sie, die Belagerung zu durchbrechen, indem sie Balaklawa angriffen und die Briten von ihrer Hauptnachschubbasis abschnitten. Nach der Schlacht an der Alma war Menschikow in Richtung Bachtschisserai marschiert, doch nun, im Zuge der neuen Strategie, konzentrierte er seine Männer im Tschornaja-Tal östlich von Sewastopol, wo die ersten Verstärkungen von der Donaufront, nämlich in Gestalt der 12. Infanteriedivision unter Generalleutnant Pawel Liprandi, zu ihnen stießen. Am Abend des 24. Oktober lagerte eine Feldarmee von 60 000 Mann, 34 Kavallerieschwadronen und 78 Geschützen bei dem Dorf Tschorgun auf den Fedjuchin-Höhen, um die britischen Verteidigungsstellungen in Balaklawa am folgenden Morgen anzugreifen.

Das Ziel war gut gewählt. Wie die Briten selbst wussten, waren ihre Linien stark überdehnt, und sie besaßen kaum eine Möglichkeit, ihre Nachschubbasis vor einem raschen Ansturm durch eine große Streitmacht zu schützen. Die Briten hatten insgesamt sechs kleine Redouten an einem Teil der Causeway-Höhen entlang gebaut. Hier befand sich die Kammlinie der Woronzow-Straße, welche die nördliche Hälfte des Balaklawa-Tals zwischen den Fedjuchin-Höhen und der Straße einerseits von der südlichen Hälfte zwischen der Straße und dem eigentlichen Hafen andererseits trennte. Jede der vier fertiggestellten Redouten enthielt eine türkische Wache (hauptsächlich aus unerfahrenen Rekruten) mit zwei oder drei 12-Pfündern. Hinter den Verschanzungen, in der Südhälfte des Tals, hatten die Briten die 93. Hochland-Infanteriebrigade unter dem Kommando von Sir Colin Campbell aufgestellt, der für die Verteidigung des Hafens zuständig war. An ihrer Flanke lagerte die Kavalleriedivision von Lord Lucan, und auf den Anhöhen über der Schlucht, die zum Hafen hinabführte, befanden sich 1000 Marineinfanteristen mit einigen Feldgeschützen. Im Falle eines Angriffs durch die Russen konnte Campbell außerdem auf die britische Infanterie sowie auf zwei französische Divisionen unter General Bosquet zurückgreifen, die auf den Anhöhen oberhalb von Sewastopol warteten, doch vor ihrer Ankunft würde die Verteidigung Balaklawas von 5000 Soldaten abhängen.21

Bei Tagesanbruch am 25. Oktober begannen die Russen ihre Attacke. Von einer Feldbatterie in der Nähe des Dorfes Kamara leiteten sie ein schweres Bombardement der Redoute Nr. 1 auf Canroberts Hügel ein (den die Briten zu Ehren des französischen Befehlshabers so benannt hatten). In der Nacht war Raglan von einem russischen Deserteur vor einem bevorstehenden Angriff gewarnt worden, doch nachdem er nur drei Tage zuvor infolge eines Fehlalarms 1000 Mann nach Balaklawa geschickt hatte, beschloss er, untätig zu bleiben (ein weiterer grober Fehler, der ihm anzulasten ist). Immerhin erreichte er die Sapun-Höhen rechtzeitig, um einen hervorragenden Ausblick auf die Kämpfe im Tal zu erhalten, nachdem man sein Hauptquartier am Anfang der Offensive benachrichtigt hatte.

Mehr als eine Stunde lang leisteten die 500 Türken, welche die Redoute Nr. 1 verteidigten, hartnäckigen Widerstand, ähnlich wie gegen die Russen bei Silistra, und verloren mehr als ein Drittel ihrer Männer. Doch dann stürmten 1200 Russen die Redoute mit Bajonetten und zwangen die erschöpften Verteidiger, die Stellung und drei der sieben britischen Kanonen aufzugeben, die den Türken geliehen worden waren. »Zu unserem höchsten Aerger«, erinnerte sich Calthorpe, der von den Sapun-Höhen mit Raglans Stab zuschaute, »sahen wir nach wenigen Augenblicken einen kleinen Menschenstrom aus der Kehle der Redoute hervorquellen und die Hügelseite gegen unsere Linien hinabstürzen.« Die türkischen Garnisonen in den benachbarten drei Redouten (2, 3 und 4) folgten dem Beispiel ihrer Landsleute und zogen sich zum Hafen zurück. Vier von ihnen hatten ihre Decken, Töpfe und Pfannen bei sich und riefen: »Zu den Schiffen, zu den Schiffen!«, als sie an den britischen Linien vorbeikamen. Calthorpe sah zu, wie 1000 Türken den Hügel hinunterliefen und von Kosakenscharen verfolgt wurden. »Die gellenden Rufe dieser wilden Reiter wurden deutlich von uns gehört, als sie hinter den unglücklichen Moslems herritten und viele von ihnen mit ihren Lanzen niederstachen.«

Während die türkischen Soldaten durch die Siedlung Kadikoi rannten, wurden sie von einer Gruppe britischer Armeefrauen verspottet. Unter ihnen war eine dicke Wäscherin mit muskulösen Armen und »Händen so hart wie Horn«, die einen der Türken ergriff und heftig auf ihn eintrat, weil er über die Wäsche, die sie zum Trocknen in die Sonne gelegt hatte, hinweggetrampelt war. Als sie merkte, dass die Türken das Regiment ihres eigenen Mannes, das 93., im Stich gelassen hatten, schimpfte sie: »Ihr feigen Ungläubigen die mutigen christlichen Hochländer kämpfen zu lassen und selbst wegzurennen!« Die Türken versuchten, sie zu beschwichtigen, und einige nannten sie »Kokana«***, was sie noch mehr erboste. »Kokana, ach so! Ich werd’s euch zeigen!«, rief sie, schwang einen Stock und jagte die Türken den Hügel hinunter. Müde und deprimiert setzten diese den Rückzug fort, bis sie den zum Hafen führenden Hohlweg erreichten. Dort warfen sie ihre Habseligkeiten auf den Boden und legten sich daneben nieder, um sich auszuruhen. Einige breiteten ihre Gebetsteppiche aus und neigten sich gen Mekka.22

Die Briten warfen den Türken Feigheit vor, doch zu Unrecht. Laut John Blunt, Lord Lucans Türkischdolmetscher, waren die meisten Soldaten Tunesier ohne angemessene Ausbildung oder Kriegserfahrung. Sie waren gerade erst halb verhungert auf der Krim eingetroffen, denn keiner hatte seit der Abreise aus Warna mehrere Tage zuvor für Muslime essbare Rationen erhalten, und bei ihrer Ankunft hatten sie sich durch Überfälle auf Zivilisten blamiert. Blunt ritt hinter den Soldaten her und übermittelte einem Offizier Lord Lucans Befehl, sich hinter dem 93. neu zu formieren, aber er wurde von den Männern angesprochen, die »vor Durst ausgedörrt und erschöpft zu sein schienen«. Sie fragten ihn, weshalb ihnen keine britischen Einheiten zu Hilfe gekommen seien, beklagten sich, weil sie mehrere Tage lang ohne Lebensmittel und Wasser in den Redouten gesessen hätten, und erklärten, dass die ihnen gelieferte Munition nicht für die Geschütze in der Redoute geeignet gewesen sei. Einer der Soldaten, dessen Kopf bandagiert war und der eine Wasserpfeife rauchte, fragte Blunt auf Türkisch: »Was können wir tun, Herr? Es ist Gottes Wille.«23

Die russischen Infanteristen nahmen die Redouten Nr. 1, 2, 3 und 4 auf den Causeway-Höhen ein und gaben die vierte auf, nachdem sie die Lafetten zerstört hatten. Die russische Kavallerie unter General Ryschow schob sich hinter ihnen das Nordtal entlang und machte kehrt, um das 93. Regiment anzugreifen, die einzige Infanteriestreitmacht, die sie nun am Durchbruch nach Balaklawa hinderte, da die britische Kavallerie zurückbeordert worden war, um die Ankunft der Infanterie vom Plateau über Sewastopol abzuwarten. Von den Causeway-Höhen her stürmten vier Schwadronen von Ryschows Kavallerie, rund 400 Mann, auf die Hochländer zu.**** Fanny Duberly, welche die Szene von einem Weinberg in der Nähe des Lagers der Leichten Brigade beobachtete, war entsetzt. »Kugeln begannen zu fliegen«, und »zugleich galoppierte die russische Kavallerie über den Hügel und durch das Tal, genau auf die kleine Reihe von Hochländern zu. Ach, was für ein Moment! Der Feind stürmte und preschte vor was konnte die kleine Mauer von Männern gegen solche Zahlen und eine solche Geschwindigkeit unternehmen? Dort standen sie.« Campbell formierte seine Soldaten zu einer neuen, zwei Mann tiefen Linie statt zu dem üblichen Karree, das die Infanterie gegen Kavallerie einsetzte, und verließ sich auf das tödliche Minié-Gewehr, dessen Wirkung er an der Alma erlebt hatte. Während sich die Kavallerie näherte, ritt er an der Linie entlang und forderte seine Männer auf, standzuhalten und »dort zu sterben«, wie Oberstleutnant Sterling vom 93. bezeugte, der dachte, dass Campbell »so aussah, als meine er es ernst«. Für Russell von der Times, der ebenfalls auf der Anhöhe weilte, glichen sie »einem schmalen roten Streifen mit einer Linie aus Stahl darauf« (später immer wieder falsch zitiert als »schmale rote Linie«). Die durchgehende Linie von Rotröcken ließ die russische Kavallerie zögern, und just in dem Moment gab Campbell den Befehl, aus einer Entfernung von rund 1000 Metern die erste Salve abzufeuern. Als sich der Rauch verzogen hatte, stellte Sergeant Munro vom 93. fest, »dass die Kavallerie immer noch direkt auf die Linie zuhielt. Eine zweite Salve ertönte, und dann bemerkten wir eine leichte Verwirrung bei den Feinden, die von uns aus gesehen nach rechts abschwenkten.« Eine dritte Salve aus viel geringerer Distanz traf die Flanke der Russen, woraufhin diese scharf nach links abbogen und zu ihrer eigenen Armee zurückkehrten.24

Ryschows vier erste Schwadronen waren zurückgeschlagen worden, doch der Hauptteil der russischen Kavallerie, 2000 Husaren mit Kosaken-Vorreitern, preschte nun von den Causeway-Höhen zu einem zweiten Angriff auf die Hochländer ins Tal. Diesmal wurde die Infanterie im letzten Moment durch das Eingreifen der britischen Kavallerie gerettet: Acht Schwadronen der Schweren Brigade, rund 700 Mann, hatten von Raglan die Anweisung erhalten, ins Südtal zurückzukehren und das 93. Regiment zu unterstützen. Der Befehlshaber hatte von seiner Position auf den Sapun-Höhen erkennen können, in welcher Gefahr sich die Hochländer befanden. Die Schwere Brigade ritt langsam den Hügel hinauf auf den Feind zu, schob sich an dessen Kolonne vorbei, formierte sich und stürmte dann, wild die Schwerter schwingend, aus 100 Meter Entfernung in sie hinein. Die Vorreiter der britischen Kavallerie, die Scots Greys und Inniskillings (6. Dragoner), waren völlig von den Russen umgeben, die vor der Attacke kurz angehalten hatten, um ihre Flanken zu verlängern, doch die Rotröcke der 4. und 5. Dragoner stürzten sich bald ins Getümmel und hieben auf die Flanken und die Nachhut der Russen ein. Die gegnerischen Reiter drängten sich so dicht aneinander, dass sie keinen Platz für Schwertkünste hatten. Sie konnten kaum ihr Schwert heben oder ihren Säbel schwingen, sondern nur auf alles in Reichweite einschlagen, als wären sie in eine Rauferei verwickelt. Sergeant Major Henry Franks von den 5. Dragonern sah, wie der Gemeine Harry Herbert von drei Kosaken gleichzeitig angegriffen wurde.

Er setzte einen von ihnen durch einen schrecklichen Schnitt durch den Nacken außer Gefecht, und der zweite machte sich davon. Herbert stieß nach der Brust des dritten Mannes, doch seine Schwertklinge brach ungefähr drei Zoll vom Griff ab … Er warf den schweren Schwertgriff nach dem Russen, der ins Gesicht getroffen wurde und zu Boden fiel; der Kosak war nicht tot, doch es hatte ihm das Antlitz verdorben.

Major William Forrest von den 4. Dragonern beschrieb seinen rasenden Kampf mit einem

Husaren, der nach meinem Kopf ausholte, doch der Messingtopf vertrug es gut, und mein Kopf ist nur ein wenig verschrammt. Ich stieß wieder nach ihm, aber ich glaube nicht, dass ich ihn stärker verletzte als er mich. Zugleich erhielt ich einen Schlag an die Schulter von einem anderen Mann, doch die Schneide muss mich sehr schlecht getroffen haben, denn sie zerschnitt nur meinen Rock und hinterließ leichte Quetschungen an meiner Schulter.

Es gab überraschend wenig Verluste: Auf beiden Seiten wurde nicht mehr als ein Dutzend Männer getötet; ungefähr 300, hauptsächlich auf russischer Seite, wurden verwundet, obwohl das Gefecht keine zehn Minuten dauerte. Die schweren Mäntel und dicken Tschakos der Russen schützten sie vor den meisten Säbelhieben, und ihre eigenen Schwerter waren genauso wirkungslos gegen die längere Reichweite der britischen Kavalleristen, die auf größeren und massigeren Pferden saßen.25

Bei Kämpfen dieser Art muss eine Seite irgendwann nachgeben. Die Russen verloren als Erste die Nerven. Vom Gefecht erschüttert, wandten sich die Husaren um und galoppierten zurück zum Nordtal. Die britische Kavallerie setzte ihnen nach, bis sie sich unter dem Feuer der russischen Batterien von den Causeway- und den Fedjuchin-Höhen zurückziehen musste.

Unterdessen stieg die britische Infanterie von den Hügeln Sewastopols hinunter und marschierte durch das Südtal, um das 93. Regiment zu unterstützen. Die 1. Division, gefolgt von der 4., traf als Erste ein; hinzu kamen die französischen Verstärkungen, nämlich deren 1. Division und zwei Schwadronen der Chasseurs d’Afrique. Nach der Ankunft der alliierten Infanterie war es unwahrscheinlich, dass die russische Kavallerie noch einmal angreifen würde. Balaklawa war gerettet.

Während die Russen Schadensbegrenzung betrieben und zu ihrem Stützpunkt zurückkehrten, beobachteten Raglan und sein Stab auf den Sapun-Höhen, wie sie die britischen Geschütze von den Redouten entfernten. Der Herzog von Wellington hatte nie eine Kanone verloren dies jedenfalls glaubten die Hüter seines Kultes beim militärischen Establishment der Briten. Der Gedanke, dass diese Waffen in Sewastopol als Trophäen vorgeführt werden könnten, war unerträglich für Raglan, der Lord Lucan, dem Kommandeur der Kavalleriedivision, sofort befahl, die Causeway-Höhen zurückzuerobern; dabei versprach er ihm die Unterstützung der Infanterie, die gerade eingetroffen sei. Lucan konnte die Verstärkung nicht sehen und hielt es für unmöglich, allein gegen die feindliche Infanterie und Artillerie vorzugehen, weshalb er eine Dreiviertelstunde lang nichts unternahm, während Raglan auf dem Hügel immer unruhiger über das Schicksal der erbeuteten britischen Kanonen wurde. Schließlich diktierte er einen zweiten Befehl an Lucan: »Lord Raglan wünscht, dass die Kavallerie rasch an die Front vorrückt. Folgen Sie dem Feind und versuchen Sie zu verhindern, dass er die Kanonen fortschafft. Reitende Artillerie kann begleiten. Französische Kavallerie ist zu Ihrer Linken. Sofort.«

Der Befehl war nicht nur unklar, sondern geradezu absurd, und Lucan hatte keine Ahnung, was er davon halten sollte. Von seiner Position am westlichen Ende der Causeway-Höhen konnte er rechter Hand die britischen Kanonen in der Redoute ausmachen, welche die Russen von den Türken erobert hatten; linker Hand, am Ende des Nordtals, wo sich, wie er wusste, der Großteil der russischen Streitkräfte befand, war eine zweite Ansammlung von Geschützen zu erkennen; und noch weiter links, an den unteren Hängen der Fedjuchin-Höhen, war ebenfalls eine russische Batterie. Hätte Raglan in seinem Befehl eindeutiger formuliert, dass Lucan die britischen Kanonen auf den Causeway-Höhen an sich bringen solle, wäre die Attacke der Leichten Brigade ganz anders verlaufen, doch nach Lage der Dinge blieb offen, welche Kanonen die Kavallerie zurückerobern sollte.

Der Einzige, der Campbell den Befehl erklären konnte, war der Adjutant, der ihn überbrachte: Hauptmann Nolan von den King’s Hussars. Wie viele Kavalleristen der Leichten Brigade war Nolan zunehmend frustriert über Lucans Versäumnis, seine Truppe für die kühnen Angriffe einzusetzen, durch die sie ihren Ruf als die beste der Welt erworben hatte. Am Bulganak und an der Alma war der Kavallerie untersagt worden, die sich zurückziehenden Russen zu verfolgen; auf den Mackenzie-Höhen, während des Marsches nach Balaklawa, hatte Lucan eine Attacke auf die russische Armee verhindert, die den Pfad der Leichten Brigade ostwärts kreuzte; und erst als die Schwere Brigade der russischen Kavallerie zahlenmäßig unterlegen war, hatte Lord Cardigan, der Kommandeur der nur ein paar Minuten entfernten Leichten Brigade, darauf verzichtet, sie zu einem Sturmangriff auf den geschlagenen Feind einzusetzen. Die Leichte Brigade hatte zusehen müssen, während ihre Kameraden gegen dieselben Kosaken kämpfte, die sie am Bulganak wegen ihrer Untätigkeit verhöhnt hatten. Einer der Offiziere hatte Lord Cardigan mehrere Male aufgefordert, die Brigade vorzuschicken, und sich, als dieser ablehnte, das Ehrenschwert als Geste der Geringschätzung ans Bein geklatscht. Es gab Anzeichen des Ungehorsams. Der Gemeine John Doyle von den 8th King’s Royal Irish Hussars schrieb:

Die Leichte Brigade war keineswegs zufrieden, als sie der Schweren Brigade nicht zu Hilfe kommen durfte. Die Männer standen in ihren Steigbügeln und riefen: »Warum müssen wir hierbleiben?«, und im selben Moment trennten sie sich voneinander und preschten zurück durch unsere Reihen, um die zurückweichenden Russen zu verfolgen, aber diese waren zu weit entfernt, als dass wir sie einholen konnten.26

Mithin lag, als Lucan sich bei Nolan nach der Bedeutung von Raglans Befehl erkundigte, ein Hauch von Ungehorsam in der Luft. Nach dem Bericht, den er Raglan später erstattete, fragte Lucan den Adjutanten, wo er angreifen solle. Daraufhin habe Nolan »auf höchst respektlose, doch signifikante Art« geantwortet, wobei er auf das fernere Ende des Tals zeigte: »Dort, Mylord, ist Euer Feind; dort sind Eure Kanonen.« Laut Lucan hatte Nolan nicht auf die britischen Geschütze auf den Causeway-Höhen gedeutet, sondern auf die Batterie mit zwölf russischen Kanonen und die Hauptstreitmacht der Kosakenkavallerie am anderen Ende des Nordtals, zu dessen beiden Seiten, auf der Causeway- und der Fedjuchin-Höhe, die Russen über weitere Kanonen und Grenadiere verfügten. Lucan reichte den Befehl an Cardigan weiter, der darauf hinwies, wie wahnsinnig es sei, unter Artillerie- und Musketenfeuer von drei Seiten durch ein Tal zu jagen, doch Lucan bestand darauf, dass er den Befehl befolgte. Cardigan und Lucan (die Schwager waren) verabscheuten einander. Dies ist die von Historikern gewöhnlich vorgebrachte Erklärung dafür, warum sie sich nicht beratschlagten und eine Möglichkeit fanden, dem Befehl zu entgehen, der ihrer Meinung nach von Raglan erteilt worden war (es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass jemand Raglan nicht gehorchte). Aber es gibt auch Anzeichen dafür, dass Lucan einen Befehl nicht verweigern wollte, den die Männer der Leichten Brigade im Grunde begrüßten. Sie brannten darauf, den Kampf gegen die russische Artillerie aufzunehmen, und verloren womöglich die Disziplin, sollten sie von der Attacke abgehalten werden. Lucan selbst schrieb Raglan später, er habe dem Befehl deshalb gehorcht, weil »ich selbst und die Kavallerie [sonst] Verunglimpfungen ausgesetzt gewesen wären, gegen die wir uns nur mit Mühe hätten verteidigen können« womit er gewiss Verunglimpfungen vonseiten seiner Männer und der übrigen Armee meinte.27

Die 661 Mann der Leichten Brigade rückten im Schritttempo durch das flach abfallende Nordtal vor. Die 13. Leichten Dragoner und die 17. Ulanen, geführt von Cardigan, bildeten die erste Reihe; ihnen folgten die 8. Husaren zusammen mit dem 4. (Queen’s Own) Regiment Leichter Dragoner. Bis zur Stellung des Feindes am Talende mussten 2000 Meter zurückgelegt werden, wofür die Leichte Brigade bei normaler Geschwindigkeit ungefähr sieben Minuten gebraucht hätte. Allerdings würde sie auf der gesamten Strecke rechts, links und frontal von Artillerie- und Musketenfeuer beschossen werden. Als die erste Reihe zu traben begann, galoppierte Nolan, der neben den 17. Ulanen dahinritt, mit gezogenem Säbel vorwärts und trieb die Männer den meisten Schilderungen zufolge mit Rufen an, obwohl es andererseits auch die Vermutung gibt, dass er seinen Fehler erkannte und die Leichte Brigade zu den Causeway-Höhen und vielleicht noch weiter zum Südtal umlenken wollte, wo sie vor den russischen Kanonen geschützt gewesen wäre. Wie auch immer, die erste von den Russen abgefeuerte Granate explodierte über Nolan und tötete ihn. Ob sie Nolans Beispiel folgten, durch ihren eigenen Eifer dazu veranlasst wurden oder das Flankenfeuer so rasch wie möglich hinter sich bringen wollten, ist nicht geklärt, doch die beiden Regimenter an der Spitze gingen, schon lange bevor sie den Befehl dazu erhielten, zum Galopp über. »Kommt schon«, brüllte einer der 13. Leichten Dragoner, »lasst euch nicht von den Scheißkerlen [den 17. Ulanen] überholen.«28

Während sie durch das Kreuzfeuer von den Hügeln her galoppierten, Kanonenkugeln den Boden aufwühlten und Musketen einen Geschosshagel abfeuerten, wurden Männer getroffen und Pferde brachen zusammen. »Der Knall der Gewehre und das Bersten von Granaten waren ohrenbetäubend«, erinnerte sich Sergeant Bond von den 11. Husaren.

Auch der Rauch blendete uns fast. Pferde und Reiter stürzten in alle Richtungen, und die Tiere, die unverletzt blieben, waren so erschüttert, dass wir sie eine Zeitlang nicht geradeaus lenken konnten. Ein Mann namens Allread, der links von mir ritt, fiel wie ein Stein von seinem Pferd. Ich blickte mich um und sah den armen Kerl auf dem Rücken liegen; seine rechte Schläfe war weggerissen und sein Gehirn teilweise auf dem Boden.

Kavallerist Wightman von den 17. Ulanen sah, wie sein Sergeant getötet wurde: »Ihm wurde der Kopf von einer Kanonenkugel in einem Stück abgeschossen, doch der kopflose Körper hielt sich noch ungefähr dreißig Meter im Sattel, die gestreckte Lanze fest unter den rechten Arm geklemmt.« So viele Männer und Pferde aus der ersten Reihe wurden niedergeschossen, dass die zweite, 100 Meter dahinter, abschwenken und das Tempo drosseln musste, um den Verwundeten auf dem Boden und den verwirrten, entsetzten Pferden, die reiterlos in alle Richtungen preschten, auszuweichen.29

Innerhalb von Minuten waren die Überlebenden der ersten Reihe zwischen den russischen Kanonieren am Ende des Tals angelangt. Cardigan, dessen Pferd unter der letzten, aus nächster Nähe abgegebenen Geschützsalve zusammenzuckte, soll als Erster durchgebrochen sein. »Die Flammen, der Rauch, das Gebrüll waren genau vor uns«, berichtete Corporal Thomas Morley von den 17. Ulanen, der die Aktion damit verglich, »in den Krater eines Vulkans zu reiten«. Die Männer der Leichten Brigade streckten die Kanoniere mit ihren Schwertern nieder und jagten mit gezogenen Säbeln auf die Kosaken zu, die Ryschow zum Schutz der Kanonen, welche einige Angreifer davonzurollen versuchten, nach vorn beordert hatte. Da die Kosaken keine Zeit hatten, sich zu formieren, »gerieten sie durch die disziplinierte Ordnung der sich schnell nähernden Kavalleriemasse in Panik«, erläuterte ein russischer Offizier. Sie drehten sich jäh um, um die Flucht zu ergreifen, und da ihnen der Weg von den Husarenregimentern versperrt war, feuerten sie ihre Musketen aus nächster Nähe auf ihre eigenen Kameraden ab, die erschrocken zurückwichen, sich umwandten und auf die anderen Regimenter hinter ihnen stießen. Die gesamte russische Kavallerie begann eine Stampede nach Tschorgun; einige schleppten die aufgebockten Kanonen hinter sich her, während sie von den Vorreitern der Leichten Brigade, denen sie um das Fünffache überlegen waren, bis hin zum Fluss Tschornaja verfolgt wurden.

Die panische Flucht der russischen Kavallerie wurde von den Anhöhen über dem Fluss von Stepan Koschukow beobachtet, einem Subalternoffizier der Artillerie, der zusah, wie sich die Kavallerie um die Brücke sammelte, wo ihr das Ukrainische Regiment und Koschukows Batterie auf dem Hügel den Rückzug abschneiden sollten:

Sie rannten wild davon, und die Verwirrung wurde immer schlimmer. Auf einer kleinen Fläche am Eingang der Tschorgun-Schlucht, wo der Sanitätsunterstand aufgebaut war, drängten sich vier Husaren- und Kosakenregimenter, und in dieser Menge konnte man die isolierten roten Röcke der Engländer erkennen, die wahrscheinlich nicht weniger überrascht als wir darüber waren, wie unerwartet sich diese Situation entwickelt hatte … Der Feind gelangte bald zu dem Schluss, dass er von den verängstigten Husaren und Kosaken nichts zu befürchten hatte, und kehrte, des Gemetzels müde, auf demselben Weg, auf dem er gekommen war, unter weiterem Artillerie- und Gewehrbeschuss an seinen Ausgangspunkt zurück. Es ist schwierig, wenn nicht gar unmöglich, der Leistung dieser wahnsinnigen Kavallerie gerecht zu werden. Nachdem sie während des Angriffs mindestens ein Viertel ihrer Kameraden eingebüßt hatten und anscheinend unempfindlich für neue Gefahren und Verluste waren, formierten die Männer ihre Schwadronen rasch neu, um auf dem mit ihren Toten und Sterbenden übersäten Boden zurückzureiten. Mit verzweifeltem Mut machten sich diese tapferen Verrückten erneut auf den Weg, und nicht einer der Lebenden oder auch nur der Verwundeten gab sich geschlagen. Es dauerte lange, bis die Husaren und Kosaken sich gefasst hatten. Sie waren überzeugt, von der gesamten feindlichen Kavallerie verfolgt zu werden, und wollten partout nicht glauben, dass sie durch eine relativ unbedeutende Gruppe von Draufgängern überwältigt worden waren.

Die Kosaken kamen als Erste zur Vernunft, doch sie kehrten nicht aufs Schlachtfeld zurück, sondern »widmeten sich neuen drängenden Aufgaben: Sie nahmen Gefangene, töteten die auf dem Boden liegenden Verwundeten und trieben die englischen Pferde zusammen, um sie zum Verkauf anzubieten.«30

Während die Leichte Brigade durch den Feuerkorridor ins Nordtal zurückritt, befahl Liprandi den polnischen Ulanen auf den Causeway-Höhen, ihr den Weg abzuschneiden. Aber den Ulanen war nicht nach einem Gefecht mit der beherzten Leichten Brigade zumute, die, wie sie gesehen hatten, gerade durch den russischen Kugelhagel hindurchgejagt war und die Kosaken zu einer panischen Flucht gezwungen hatte. Deshalb griffen sie nur kleine Gruppen von Verwundeten an und ließen größere Scharen in Ruhe. Als sich die zurückweichende Kolonne der 8. Husaren und des 4. Regiments Leichter Dragoner den Ulanen näherte, bemerkte Lord George Paget, der Befehlshaber der Leichten Dragoner, der seine Leute vor dem Rückzug gesammelt hatte, dass die Ulanen »irgendwie auf uns zutrabten«.

Dann stoppten die Ulanen (»hielten an« ist kaum die richtige Bezeichnung) und zeigten die gleiche Fassungslosigkeit (mir fällt kein anderes Wort ein), die ich an diesem Tag schon zweimal zuvor erlebt hatte. Ein paar Männer an der rechten Flanke ihrer führenden Schwadronen … kollidierten kurz mit unserer eigenen rechten Flanke, doch sonst taten sie nichts und ließen sogar zu, dass wir uns in kaum einer Pferdelänge Entfernung an ihnen vorbeischoben. Also, ich glaube, dass wir dabei keinen einzigen Mann verloren. Wie, weiß ich nicht! Es ist mir ein Rätsel! Hätte jene Streitmacht aus englischen Ladys bestanden, wäre wohl keiner von uns entkommen.31

In Wirklichkeit hielten sich die englischen Ladys mit all den anderen Zuschauern auf den Sapun-Höhen auf und sahen zu, wie die Reste der Leichten Brigade einzeln oder zu zweit, in vielen Fällen mit Verwundungen, nach der Attacke zurücktaumelten. Unter den Frauen war Fanny Duberly, welche das Schauspiel nicht nur entsetzt beobachtete, sondern später am Nachmittag mit ihrem Mann hinausritt, um das Blutbad auf dem Schlachtfeld genauer zu betrachten:

An der Szene des Morgens ritten wir langsam vorbei. Wir waren umgeben von zahllosen toten und sterbenden Pferden; in meiner Nähe lag ein russischer Soldat – sehr still – auf dem Gesicht. In einem Weingarten ein wenig rechts von mir war ein türkischer Soldat, ebenfalls tot, ausgestreckt. Die Pferde, zumeist tot, waren alle ungesattelt, und das Verhalten mancher ließ extremen Schmerz erkennen … Und dann die verwundeten Soldaten, die zu den Hügeln krochen!32

Von den 661 Soldaten, welche die Attacke begannen, wurden 113 getötet, 134 verwundet und 45 gefangen genommen; 362 Pferde gingen verloren oder starben. Die Zahl der Verluste war nicht viel höher als die der russischen Seite (180 Tote und Verwundete fast alle in den beiden ersten Verteidigungslinien) und weit niedriger als die von der britischen Presse gemeldeten Details. Die Times berichtete, dass 800 Kavalleristen in die Gefechte verwickelt gewesen und nur 200 zurückgekehrt seien; laut Illustrated London News hatten nur 163 Mann den Angriff unversehrt überstanden. Aus solchen Berichten ging die sich rasch verbreitende Version von einer tragischen »Fehlleistung« hervor, die durch heroische Opfer ausgeglichen worden sei. Dieser Mythos verfestigte sich durch Alfred Tennysons berühmtes Gedicht »Der Angriff der Leichten Brigade«, das bereits zwei Monate nach dem Ereignis erschien.

Leichte Brigade, der Siegespreis

Ist heute hoch, ist heute heiß,

Aber kein Murren, nicht laut und nicht leis,

Keines obwohlen ein jeder weiß,

’s ward irgendwo geblundert,

Vorwärts; sie fragen und zagen nicht,

Vorwärts; sie wanken und schwanken nicht,

Vorwärts, gehorchen ist einzige Pflicht,

Ins Todesthal,

In voller Zahl,

Reiten die Sechshundert.

Im Gegensatz zu dem Mythos von einer »glorreichen Katastrophe« aber war der Angriff trotz der schweren Verluste in gewisser Hinsicht ein Erfolg. Der Zweck einer Kavallerieattacke bestand darin, die Reihen des Feindes zu zerstreuen und ihn vom Schlachtfeld zu verjagen, und in dieser Beziehung hatte die Leichte Brigade, wie die Russen einräumten, ihr Ziel erreicht. Die wirkliche Fehlleistung der Briten in Balaklawa war weniger der Angriff der Leichten Brigade als ihr Versäumnis, die russische Kavallerie zu verfolgen und den Rest von Liprandis Armee zu vernichten, sobald die Schwere Brigade sie in die Flucht geschlagen und die Leichte Brigade sie eingeholt hatte.33

Die Briten machten die Türken für ihre Niederlage bei Balaklawa verantwortlich und warfen ihnen Feigheit vor, weil sie die Redouten verlassen hätten. Später behaupteten sie auch, die Türken hätten Eigentum geplündert nicht nur von der britischen Kavallerie, sondern auch aus nahegelegenen Siedlungen, wo sie angeblich »kaltblütige Grausamkeiten an den unglücklichen Dorfbewohnern rund um Balaklawa begingen; sie schnitten den Männern die Kehle durch und räumten ihre Hütten aus«. Lucans Türkischdolmetscher John Blunt hielt die Anklagen für ungerechtfertigt, und wenn es zu Plündereien gekommen sei, dann durch die »unbestimmten Mengen von Angehörigen des Trosses, die am Schlachtfeld herumlungerten«. Für den Rest des Feldzugs wurden die Türken erbärmlich behandelt. Britische Soldaten schlugen, beschimpften, bespuckten und verhöhnten sie routinemäßig und ließen sich manchmal sogar von ihnen »mit ihren Bündeln auf dem Rücken über die Tümpel und den Morast auf der Straße nach Balaklawa tragen«, wie Blunt bezeugte. Die Türken, in den Augen der Briten kaum besser als Sklaven, mussten Schützengräben ausheben und schwere Lasten zwischen Balaklawa und den Anhöhen von Sewastopol hin und her befördern. Da ihre Religion den Verzehr britischer Heeresrationen weitgehend verbot, hatten sie nie genug zu essen. In ihrer Verzweiflung begannen einige von ihnen zu stehlen, wofür ihre britischen Gebieter ihnen viel mehr als das Maximum von 45 Peitschenschlägen verabreichten, das für die Soldaten der Königin zulässig war. Von den 4000 Türken, die am 25. Oktober bei Balaklawa kämpften, sollte die Hälfte bis Ende 1854 an Unterernährung sterben, und etliche der Übrigen wurden zu schwach für den aktiven Dienst. Gleichwohl benahmen die Türken sich würdevoll, und zumindest Blunt war »sehr beeindruckt von der Nachsicht, mit der sie ihre schlechte Behandlung und ihr Leid hinnahmen«. Rustem Pascha, der ägyptische Offizier, der die türkischen Soldaten in Balaklawa befehligte, empfahl ihnen, »geduldig und ergeben zu sein und nicht zu vergessen, dass die Engländer die Gäste ihres Sultans seien und für die Bewahrung des Osmanischen Reiches kämpften«.34

Die Russen feierten Balaklawa als Sieg, und die Einnahme der Redouten auf den Causeway-Höhen war unzweifelhaft ein taktischer Erfolg. Am nächsten Tag hielt man in Sewastopol einen orthodoxen Dankgottesdienst ab und zog die britischen Kanonen im Triumph durch die Stadt. Die Russen hatten nun eine beherrschende Position inne, von der sie die britischen Nachschublinien zwischen Balaklawa und den Anhöhen von Sewastopol angreifen konnten; die Briten waren auf ihre innere Verteidigungslinie auf den Hügeln um Kadikoi beschränkt. Russische Soldaten marschierten mit Trophäen vom Schlachtfeld britischen Mänteln, Schwertern, Uniformröcken, Tschakos, Stiefeln und Kavalleriepferden durch Sewastopol, und die Moral der Garnison wurde durch den Sieg schlagartig gestärkt. Zum ersten Mal seit der Niederlage an der Alma hatten die Russen das Gefühl, den alliierten Armeen auf offenem Schlachtfeld ebenbürtig zu sein.

Der Zar erfuhr am 31. Oktober, als der Morgenkurier aus Sewastopol eintraf, in seinem Palast in Gattschina von dem mutmaßlichen Sieg. Anna Tjutschewa, die sich mit der Kaiserin im Festsaal ein Beethoven-Konzert anhörte, schrieb später am selben Tag in ihrem Tagebuch:

Die Nachricht hat uns alle beflügelt. Der Zar, der zur Kaiserin kam, um ihr die Neuigkeit mitzuteilen, war so gerührt, dass er sich in unser aller Gegenwart vor den heiligen Ikonen auf die Knie warf und in Tränen ausbrach. Die Kaiserin und ihre Tochter Maria Nikolajewna dachten, die schreckliche Unruhe des Zaren zeige den Fall von Sewastopol an, und fielen ebenfalls auf die Knie, doch er besänftigte sie, überbrachte allen die freudige Nachricht und befahl, sofort einen Dankgottesdienst abzuhalten, dem der gesamte Hof beiwohnte.35

* * *

Ermutigt durch ihren Erfolg bei Balaklawa, unternahmen die Russen am folgenden Tag einen Angriff auf die rechte Flanke der britischen Armee am Kosakenberg, einem 2,5 Kilometer langen, keilförmigen Kamm mit wogenden Hochebenen, der zwischen dem Ostteil von Sewastopol und der Tschornaja-Mündung von Norden nach Süden verlief. Die Briten bezeichneten ihn als Mount Inkerman. Am 26. Oktober marschierten 5000 russische Soldaten unter Oberst Fjodorow ostwärts aus Sewastopol hinaus, bogen rechts ab, um den Kosakenberg zu besteigen, und fielen über die arglosen Männer von de Lacy Evans’ 2. Division her, die am Südende des Hochlands an einer Stelle namens Heimatkamm lagerten, wo die Hänge steil in die Ebene von Balaklawa hinabfielen. Evans standen nur 2600 Soldaten zur Verfügung, da der Rest der Division anderswo Schützengräben aushob, doch die vorgeschobenen Posten am Granatenhügel hielten die Russen mit ihren Minié-Gewehren auf, während Evans mehr Artillerie heranholte und achtzehn Kanonen außer Sichtweite aufstellen ließ. Die Briten warteten, bis sich die Russen ihrer Artillerie näherten, und zerstreuten sie mit einem vernichtenden Feuer, wonach mehrere hundert Russen tot oder verwundet im Buschwerk vor dem Heimatkamm zurückblieben.36

Noch mehr Russen wurden gefangen genommen; viele von ihnen ergaben sich oder desertierten zu den Briten. Sie erzählten Entsetzliches über die Verhältnisse in Sewastopol, wo Wassermangel herrschte und die Krankenhäuser mit Opfern der Bombardements und mit Cholerakranken überfüllt waren. Ein deutscher Offizier, der bei den Russen diente, teilte den Briten mit, »dass sie Sewastopol wegen des schändlichen Geruchs in der Stadt hatten verlassen müssen, und seiner Meinung nach werde die Stadt den Briten bald in die Hände fallen, da Tote und Verwundete auf den Straßen lägen«. Laut Godfrey Mosley, dem Zahlmeister des 20. Regiments,

war das Heer, das vor ein paar Tagen aus Sewastopol angriff, … gänzlich betrunken. Die Krankenhäuser rochen ihretwegen so übel, dass man nicht länger als eine Minute dort bleiben konnte. Wir erfuhren von einem Offizier, den man gefangen genommen hatte, dass den Männern Wein verabreicht worden war, um sie in die richtige Stimmung zu bringen. Danach fragte man sie, wer hinausgehen und die englischen Hunde ins Meer treiben wolle. Aber stattdessen trieben wir sie zurück in die Stadt, wobei sie in sehr kurzer Zeit ungefähr 700 Mann verloren. Derselbe Offizier sagte uns, wir hätten bei unserem Eintreffen leicht in die Stadt gelangen können, doch nun würden wir einige Schwierigkeiten haben.37

Im Grunde war der Angriff der Russen nur eine intensive Aufklärungsaktion für einen großen neuen Sturm auf die britischen Truppen bei Inkerman. Die Initiative ging vom Zaren aus, der von Napoleons Absicht erfahren hatte, mehr Streitkräfte zur Krim zu schicken. Nikolaus meinte, Menschikow solle seine zahlenmäßige Überlegenheit nutzen, um die Belagerung so bald wie möglich zu durchbrechen, also bevor die französischen Verstärkungen eintrafen, oder um die Alliierten wenigstens so lange zurückzuhalten, bis der Winter die Russen rettete. (»Ich habe zwei Generale, die mich nicht im Stich lassen werden: General Januar und General Februar«, erklärte Nikolaus unter Berufung auf das alte Klischee von 1812.) Am 4. November hatten die Russen durch zwei Infanteriedivisionen des 4. Korps aus Bessarabien, die 10. Division unter Generalleutnant Soimonow und die 11. unter Generalleutnant Pawlow, Verstärkung erhalten, womit Menschikow über insgesamt 107 000 Mann verfügte, die Matrosen nicht mitgerechnet. Zuerst hatte Menschikow eine neue Offensive abgelehnt (er war immer noch geneigt, Sewastopol dem Feind zu überlassen), doch der Zar war unnachgiebig und entsandte sogar seine Söhne, die Großfürsten Michail und Nikolai, um die Soldaten zu ermutigen und seinen Willen durchzusetzen. Unter Druck erklärte Menschikow sich zu einem Angriff bereit, zumal er die Briten für weniger beeindruckende Gegner als die Franzosen hielt. Wenn sich die Russen mit Geschützbatterien auf dem Mount Inkerman festsetzen konnten, würden die alliierten Belagerungslinien zur Rechten von hinten unter Feuer geraten, und falls die Alliierten die Anhöhen nicht zurückeroberten, würden sie die Belagerung aufgeben müssen.38

Trotz der hohen russischen Verluste hatte ihr Ausfall vom 26. Oktober die Schwäche der britischen Verteidigungsstellen auf dem Mount Inkerman bloßgestellt. Raglan war bei mehreren Gelegenheiten von de Lacy Evans und Burgoyne gewarnt worden, dass diese wichtigen Anhöhen verwundbar seien und stärker befestigt werden müssten. Bosquet, der eine Infanteriedivision auf den Sapun-Höhen südlich von Inkerman kommandierte, hatte in fast täglichen Briefen an den britischen Befehlshaber seine eigenen Bedenken hinzugefügt, und Canrobert hatte sogar unmittelbare Hilfe angeboten. Raglan hatte es jedoch unterlassen, die Verteidigung auszubauen, und das sogar nach dem russischen Angriff, als der französische Befehlshaber zu seinem Erstaunen feststellen musste, dass eine »so bedeutende und exponierte Stellung gänzlich durch Befestigungen ungeschützt« geblieben war.39

Raglans Scheitern beruhte nicht nur auf Nachlässigkeit, sondern auch auf einem kalkulierten Risiko: Die Briten waren zu gering an Zahl, um all ihre Positionen schützen zu können; ihre Linie war stark überdehnt, und sie hätten keinen allgemeinen Angriff zurückschlagen können, wäre er an mehreren Punkten zugleich geführt worden. In der ersten Novemberwoche war die britische Infanterie erschöpft. Seit ihrer Landung auf der Krim hatten die Männer kaum eine Ruhepause gehabt, wie der Gemeine Henry Smith im Februar 1855 in einem Brief an seine Eltern betonte:

Nach der Schlacht an der Alma und dem Marsch nach Balaklawa mussten wir uns am 24. September sofort an die Arbeit machen. Unterdessen erhielten wir von 24 nie mehr als 4 Stunden Schlaf, und sehr häufig hatten wir nicht einmal die Möglichkeit, eine Büchse Kaffee zu kochen, bevor wir irgendeine andere Pflicht erfüllen mussten. Die Belagerung begann am 14. Oktober, und obwohl Granaten und Kugeln wie Hagel vom Himmel fielen, waren wir nach der schrecklichen Ermattung, die wir hatten durchmachen müssen, so unbekümmert, dass wir uns sogar am Kanonenrohr hinlegten und schliefen … Häufig verbrachten wir 24 Stunden in den Gräben, und ich glaube nicht, dass es auch nur in einer Stunde von 24 trocken war. Deshalb waren wir nass bis auf die Haut und sogar bis zu den Schultern mit Schlamm bedeckt, wenn wir ins Lager kamen, und in diesem Zustand mussten wir zur Inkerman-Schlacht marschieren, ohne auch nur ein Stück Brot oder einen Schluck Wasser zur Befriedigung von Hunger und Durst erhalten zu haben.40

Menschikows Plan war eine ehrgeizigere Version des Ausfalls vom 26. Oktober (diese Generalprobe wurde später als »Kleiner Inkerman« bekannt). Am Nachmittag des 4. November, nur ein paar Stunden nach der Ankunft des 4. Korps aus Bessarabien, befahl er den Beginn der Offensive für 6 Uhr am folgenden Morgen. Soimonow sollte eine Streitmacht von 19 000 Mann und 38 Geschützen die gleiche Route wie am 26. Oktober entlangführen. Nach der Eroberung des Granatenhügels sollten sich ihnen Pawlows Truppen (16 000 Mann und 96 Geschütze) anschließen; diese würden den Fluss Tschornaja überqueren und von der Inkerman-Brücke her die Hügel erklimmen. Unter General Dannenberg, der zu diesem Zeitpunkt das Kommando übernehmen sollte, würden die vereinten Kräfte die Briten vom Mount Inkerman hinuntertreiben, während Liprandis Armee Bosquets Korps auf den Sapun-Höhen ablenken sollte.

Der Plan setzte ein hohes Maß an Abstimmung zwischen den Angriffseinheiten voraus, was im Zeitalter vor dem Funk von jeder Armee zu viel verlangt gewesen wäre, erst recht von den Russen, die keine detaillierten Karten besaßen.***** Außerdem verlangte er einen Wechsel des Befehlshabers mitten in der Schlacht, womit die Katastrophe vorprogrammiert war, zumal Dannenberg, ein Veteran der Napoleonischen Kriege, für Niederlagen und Unschlüssigkeit bekannt war, die seine Männer wohl kaum inspirieren konnten. Der größte Fehler aber war die Vorstellung, dass eine Streitmacht von 35 000 Mann und 134 Geschützen auf dem schmalen Granatenhügel, einem felsigen Buschland von kaum 300 Meter Breite, einzusetzen sei. Als Dannenberg die Unmöglichkeit des Vorhabens erkannte, änderte er den Schlachtplan in letzter Minute. Am späten Abend des 4. November befahl er Soimonows Männern, den Mount Inkerman nicht wie vorgesehen von Norden her zu besteigen, sondern nach Osten bis zur Inkerman-Brücke zu marschieren, um Pawlow bei seiner Überquerung des Flusses Deckung zu geben. Von der Brücke aus sollten die Angreifer die Hügel aus drei verschiedenen Richtungen hinaufklettern und die Briten von den Flanken her attackieren. Die plötzliche Änderung des Plans war verwirrend genug, aber die Konfusion sollte sich noch steigern. Um drei Uhr morgens bewegte sich Soimonows Kolonne von Sewastopol nach Osten auf den Mount Inkerman zu, als er eine neue Nachricht von Dannenberg erhielt: Nun solle er in die entgegengesetzte Richtung marschieren und von Westen angreifen. Soimonow glaubte, dass eine weitere Planänderung die gesamte Operation gefährden würde, und ignorierte den Befehl. Doch statt sich mit Pawlow an der Brücke zu treffen, kehrte er zu dem von ihm bevorzugten Plan eines Angriffs aus dem Norden zurück. Folglich zogen die drei Befehlshaber mit völlig unterschiedlichen Vorhaben in die Schlacht von Inkerman.41

Um 5 Uhr morgens hatte Soimonows Vorhut die Anhöhen von Norden her mit 22 Feldgeschützen und trotzdem leise bewältigt. In den drei Tagen zuvor hatte es stark geregnet, und die steilen Hänge waren glitschig vor Schlamm, so dass sich Männer und Pferde mit den schweren Geschützen abmühten. Doch in jener Nacht hatte es aufgehört zu regnen, und ein dichter Nebel verbarg den Aufstieg vor den Außenposten des Feindes. »Der Nebel hüllte uns ein«, berichtete Hauptmann Andrijanow später. »Wir konnten nur ein paar Fuß nach vorn schauen. Die Feuchtigkeit ließ uns bis ins Mark frösteln.«42

Der dichte Nebel sollte in den bevorstehenden Kämpfen eine bedeutende Rolle spielen. Die Soldaten konnten ihre Kommandeure nicht erkennen, deren Befehle dadurch so gut wie belanglos wurden. Stattdessen verließen sie sich auf ihre eigenen Kompanieoffiziere, und als diese verschwanden, mussten sie selbst die Initiative ergreifen und allein oder mehr oder weniger improvisiert zusammen mit den Kameraden kämpfen, die sie im Nebel noch erkennen konnten. Dies sollte eine »Soldatenschlacht« werden die größte Bewährungsprobe für eine moderne Armee. Alles hing vom Zusammenhalt der kleinen Einheiten ab, und jeder Mann wurde zu seinem eigenen General.

In den ersten Stunden war der Nebel vorteilhaft für die Russen. Er verbarg ihre Annäherung und ließ sie bis dicht an die britischen Positionen vorrücken, so dass der Nachteil ihrer Musketen und Geschütze gegenüber den Minié-Gewehren mit ihrer größeren Reichweite ausgeglichen war. Die britischen Posten bemerkten die Russen nicht, da sie am Fuß des Hügels, von wo sie nichts sehen konnten, Zuflucht vor dem schlechten Wetter gesucht hatten. Die Geräusche einer dahinmarschierenden Armee, die vorher in der Nacht zu hören gewesen waren, lösten nun keinen Alarm aus. Der Gemeine Bloomfield hatte auf dem Mount Inkerman Wachdienst und hörte, dass sich in Sewastopol etwas rührte (die Kirchenglocken läuteten mit Unterbrechungen die ganze Nacht hindurch), aber er bemerkte nichts Verdächtiges. »Es herrschte starker Nebel so stark, dass wir einen 10 Meter von uns entfernten Mann nicht erkennen konnten, und fast die ganze Nacht nieselte es«, erinnerte sich Bloomfield. »Alles war in Ordnung bis Mitternacht, als einige unserer Posten die Geräusche von Rädern und des Entladens von Kanonenkugeln und Granaten meldeten, doch der diensthabende Feldoffizier kümmerte sich nicht darum. Die ganze Nacht hindurch, von ungefähr 9 Uhr abends, läuteten die Glocken und spielten die Musikkapellen, und überall in der Stadt wurde gelärmt.«

Ehe sie wussten, wie ihnen geschah, wurden die Posten auf dem Granatenhügel von Soimonows Plänklern überrannt, und kurz darauf erschienen die ersten Kolonnen seiner Infanterie 6000 Mann vom Kolywaner, Jekaterinburger und Tomsker Regiment aus dem Nebel. Die Russen montierten ihre Kanonen auf dem Granatenhügel und begannen die Briten zurückzudrängen. »Als wir zurückwichen, folgten uns die Russen mit dem teuflischsten Gebrüll, das man sich vorstellen kann«, schrieb Hauptmann Hugh Rowlands, der die Posten befehligte und sie zur nächsten Anhöhe schickte. Dort sollten sie das Feuer eröffnen, doch sie mussten feststellen, dass ihre Gewehre nicht funktionierten, weil ihr Pulver vom Regen durchtränkt war.43

Nach dem Geräusch von Schüssen wurde im Lager der 2. Division endlich Alarm geschlagen. Soldaten liefen in Unterwäsche herum, zogen sich an und falteten ihre Zelte zusammen, bevor sie nach ihren Gewehren griffen und sich aufstellten. »Es gab sehr viel Hast und Verwirrung«, meinte George Carmichael vom Derbyshire Regiment. »Einige nicht angebundene Tragtiere, die durch die Schüsse verängstigt worden waren, galoppierten durchs Lager, und die Männer, die anderswo verschiedene Aufgaben erledigt hatten, rannten herbei, um sich ins Glied zu stellen.«44

Der Befehl wurde von General Pennefather übernommen, dem Stellvertreter von de Lacy Evans, der durch einen Sturz vom Pferd verletzt worden war, aber weiterhin eine beratende Funktion ausübte. Pennefather wählte eine andere Taktik als Evans am 26. Oktober. Statt zurückzuweichen, um den Feind vor die Kanonen hinter dem Heimatkamm zu locken, teilte er der Postenkette immer mehr Gewehrschützen zu, um die Russen auf größtmöglicher Distanz zu halten, bis Verstärkungen eintreffen konnten. Pennefather wusste nicht, dass die Russen seiner Division um das Sechsfache überlegen waren, doch seine Taktik beruhte auf der Hoffnung, dass der dichte Nebel seine Schwäche vor dem Feind verbergen würde.

Pennefathers Männer wehrten die Russen tapfer ab. In kleinen Gruppen kämpfend, die durch Nebel und Rauch voneinander getrennt waren, befanden sie sich zu weit vorn, um von Pennefather gesehen, geschweige denn gelenkt oder von den beiden Feldbatterien auf dem Heimatkamm, die blindlings in Richtung des Feindes feuerten, wirksam unterstützt zu werden. Carmichael, der mit seinem Regiment hinter den britischen Geschützen Deckung gesucht hatte, beobachtete, wie die Kanoniere ihr Bestes taten, um der weit überlegenen Feuerkraft der russischen Batterien standzuhalten:

Sie feuerten, wie ich mir denke, auf das Blitzen der feindlichen Kanonen am Granatenhügel und zogen ihrerseits ein schweres Feuer auf sich. Manche [der Kanoniere] fielen, und wir litten ebenfalls, obwohl wir den Befehl erhalten hatten, uns hinzulegen, um so gut wie möglich durch den Kamm geschützt zu sein. Eine Kanonenkugel fuhr, wie ich mich erinnere, durch meine Kompanie hindurch, trennte den linken Arm und beide Beine eines Mannes in der vorderen Reihe völlig ab und tötete seinen Kameraden in der Reihe dahinter ohne erkennbare Verwundung. Auch andere Kompanien trugen Verluste davon … Die Geschütze … feuerten so schnell, wie sie geladen werden konnten, und durch jede aufeinanderfolgende Entladung und jeden Rückschlag gelangten sie dichter an unsere Linie heran … Wir halfen den Kanonieren, die Geschütze in ihre frühere Position zu schieben, und einige Männer unterstützten die Kameraden beim Tragen der Munition.45

In diesem Stadium war es die Hauptsache, den Lärm des Sperrfeuers aufrechtzuerhalten, damit die Russen glaubten, die Briten hätten mehr Kanonen, als es in Wirklichkeit der Fall war, die Munition weiterzureichen und auf Verstärkungen zu warten.

Wäre Soimonow über die Schwäche der britischen Verteidigung im Bilde gewesen, hätte er befohlen, den Heimatkamm zu stürmen, aber der Nebel versperrte ihm die Sicht, und das schwere Feuer des Feindes, dessen Minié-Gewehre aus geringer Entfernung tödlich genau trafen, veranlasste ihn, am Granatenhügel auf Pawlows Männer zu warten. Innerhalb von Minuten wurde Soimonow selbst von einem britischen Gewehrschützen getötet. Seinen Posten übernahm Oberst Pristowoitow, der ein paar Minuten später erschossen wurde, und dann Oberst Uwaschnow-Alexandrow, der ebenfalls starb. Danach war unklar, wer den Befehl übernehmen würde, denn niemand wollte sich der Herausforderung stellen. Deshalb wurde Hauptmann Andrijanow zu Pferde ausgeschickt, um den Rat verschiedener Generale einzuholen, wodurch man wertvolle Zeit verschwendete.46

Um fünf Uhr waren Pawlows Männer unterdessen an der Inkerman-Brücke angekommen, nur um festzustellen, dass die Marineabteilung entgegen Dannenbergs Befehl keine Vorbereitungen für die Überquerung getroffen hatte. Sie mussten bis sieben Uhr warten, um die Tschornaja überschreiten zu können. Dann fächerten sie aus und bestiegen die Anhöhen aus drei verschiedenen Richtungen: Das Ochotsker, Jakutsker und Selenginsker Regiment und der größte Teil der Artillerie wandten sich nach rechts, um den Gipfel über die Pionierstraße zu erreichen und sich Soimonows Männern anzuschließen; das Borodinsker Regiment nahm die mittlere Route an der Wolowja-Schlucht entlang, und das Tarutinsker Regiment kletterte, von Soimonows Geschützen gedeckt, die steilen Felsenhänge der Steinbruch-Schlucht zur Sandsack-Batterie empor.47

Überall an den Hügeln kam es zu wilden Feuergefechten kleine Gruppen von Soldaten jagten hin und her und benutzten die dichten Sträucher zur Tarnung, um einander wie Plänkler zu beschießen , doch das heftigste Gefecht fand an der britischen rechten Flanke um die Sandsack-Batterie statt. Zwanzig Minuten nachdem sie die Brücke überquert hatten, überwältigten die Vorhutbataillone des Tarutinsker Regiments die wenigen Posten in der Batterie, doch dann waren sie einer Reihe von Angriffen durch eine kombinierte britische Truppe von 700 Mann unter dem Kommando von Brigadegeneral Adams ausgesetzt. Es kam zu heftigen Nahkämpfen, in deren Verlauf die Sandsack-Batterie mal von den einen, dann wieder von den anderen erobert wurde. Um acht Uhr waren Adams’ Leute den Russen um das Zehnfache unterlegen, doch da die Kämpfe um die Batterie auf einem schmalen Grat stattfanden, konnten die Russen ihre Überzahl nicht durch einen einzigen Angriff geltend machen. Immer wenn die Briten die Batterie eroberten, starteten die Russen eine neue Serie von Attacken. Der Gemeine Edward Hyde war einer von Adams’ Männern in der Batterie:

Die russische Infanterie kam dicht heran und kletterte über die vordere Mauer und die Seiten, so dass es uns schwerfiel, sie abzuwehren. Sobald wir ihre Köpfe über der Brüstung sahen oder wenn sie in die Schießscharten schauten, feuerten wir so schnell wie möglich auf sie oder stießen mit dem Bajonett nach ihnen. Sie drängten heran wie Ameisen; kaum war einer zurückgeworfen, stieg ein anderer über die Leichen, um seinen Platz einzunehmen. Alle schrien und brüllten. Natürlich waren wir in der Batterie auch nicht still, und wegen des Jubels und Geschreis, des Dröhnens der Schläge, des Klirrens von Bajonetten und Schwertern, des Pfeifens der Kugeln und Granaten, des Nebels und des Geruchs von Pulver und Blut überstieg die Szene in unserer Batterie das, was sich ein Mensch vorstellen oder beschreiben kann.48

Am Ende ließen sich die Russen nicht mehr länger abwehren sie strömten in die Batterie hinein , und Adams musste sich mit seinen Männern zum Heimatkamm zurückziehen. Doch bald darauf trafen Verstärkungen in Gestalt des Herzogs von Cambridge mit seinen Grenadieren ein, und eine neue Attacke auf die Russen, die um die Sandsack-Batterie gruppiert waren, begann. Die Batterie hatte in diesem Stadium einen symbolischen Wert bekommen, der weit über ihre militärische Bedeutung hinausging. Die Grenadiere stürmten mit ihren Bajonetten auf die Russen zu, wobei Cambridge seinen Männern zurief, sie sollten auf der Anhöhe bleiben und sich nicht zerstreuen, indem sie dem Gegner den Hügel hinab folgten. Wenige Soldaten waren jedoch in der Lage, den Herzog zu hören oder ihn im Nebel zu sehen. Zu den Grenadieren gehörte George Higginson, der den Angriff »den schroffen Hang hinab, genau auf den vorrückenden Feind zu«, miterlebte.

Das laute Frohlocken … bestätigte meine Furcht, dass unsere tapferen Kameraden bald außer Kontrolle geraten würden. Und abgesehen von einem kurzen Zeitraum während des langen Tages, als es uns gelang, so etwas wie eine reguläre Formation einzunehmen, wurde der Kampf tatsächlich von Gruppen unter dem Befehl der Kompanieoffiziere bestritten, die infolge des Dunstes und des Musketenrauches keinen festen Kontakt aufrechterhalten konnten.

Das Kampfgeschehen wurde immer rasender und chaotischer, da eine Seite die andere den Hügel hinunterjagte, um dann ihrerseits durch eine neue Gruppe von höherem Gelände angegriffen zu werden. Die Soldaten beider Armeen verloren jegliche Disziplin und wurden zu ungezügelten Horden, die nicht auf ihre Offiziere hörten und von Wut und Furcht angetrieben wurden (verstärkt durch die Tatsache, dass sie einander im Nebel nicht erkennen konnten). Sie stürmten unter Gebrüll hin und her, feuerten ihre Gewehre ab, schlugen mit ihren Schwertern um sich, und wenn ihnen die Munition ausgegangen war, bewarfen sie einander mit Steinen, schlugen mit ihren Gewehrkolben zu und traten und bissen den Feind sogar.49

In einem solchen Gefecht war der Zusammenhalt der kleinen Kampfverbände entscheidend. Alles hing davon ab, ob Gruppen von Männern und ihre Kommandeure Disziplin und Einheit bewahren konnten ob sie in der Lage waren, sich zu organisieren und während des Kampfes zusammenzubleiben, ohne die Nerven zu verlieren oder vor Angst davonzulaufen. Die Soldaten des Tarutinsker Regiments bestanden diese Feuerprobe nicht.

Chodasiewicz war einer der Kompanieoffiziere im 4. Bataillon des Tarutinsker Regiments. Dieses Bataillon hatte den Auftrag, die Ostseite des Mount Inkerman zu besetzen und Pawlows anderen Soldaten Deckung zu geben, während sie die Gabionen und Faschinen für die Schanzarbeiten gegen die britischen Stellungen heraufbrachten. Die Einheit verirrte sich im dichten Nebel, schwenkte nach links und vermischte sich mit mürrischen Soldaten vom Jekaterinburger Regiment, die bereits mit Soimonows Männern auf den Anhöhen waren und sie nun zurück zur Steinbruch-Schlucht führten. Mittlerweile hatte Chodasiewicz die Kontrolle über seine Männer verloren, die völlig vom Jekaterinburger Regiment aufgesogen worden waren. Ohne Anweisung durch die Offiziere kletterten manche Tarutinsker wieder den Hügel hinauf. Vor sich entdeckten sie einige ihrer Kameraden, »die vor einer kleinen Batterie standen, ›Hurra!‹ riefen und ihre Mützen schwenkten, damit wir uns zu ihnen gesellten«, erinnerte sich Chodasiewicz. »Die Trompeter bliesen ohne Unterlass zum Vormarsch, und mehrere meiner Männer rannten aus der Reihe!« An der Sandsack-Batterie fand Chodasiewicz seine Leute in völliger Unordnung vor. Verschiedene Regimenter waren miteinander vermischt, weshalb ihre Befehlsstrukturen zusammenbrachen. Er ließ seine Männer mit Bajonetten voranstürmen, und sie überwältigten die Briten in der Batterie, trieben sie dann jedoch nicht den Hügel hinunter, sondern blieben innerhalb der Stellung, wo »sie ihre Pflicht vergaßen und auf der Suche nach Beute herumliefen«, schrieb ein anderer Offizier, der meinte, »dass all das wegen eines Mangels an Offizieren und Führung geschah«.

Der Nebel und die Vermischung der Regimenter hatten zur Folge, dass auf russischer Seite viele Soldaten versehentlich von den eigenen Leuten getroffen wurden. Soimonows Soldaten, insbesondere das Jekaterinburger Regiment, schossen auf die Männer in der Sandsack-Batterie entweder weil sie diese für Feinde hielten oder weil sie den Befehlen eines Offiziers gehorchten, der die Disziplin wahren wollte und seine Einheit deshalb dem Feuer ihrer Kameraden aussetzte. »Das Chaos war nicht zu fassen«, berichtete Chodasiewicz. »Einige der Männer meckerten über das Jekaterinburger Regiment, andere riefen nach der Artillerie, die Trompeter bliesen dauernd das Signal zum Vormarsch, und die Tamboure trommelten zum Angriff, aber niemand rührte sich; sie standen da wie eine Schafherde.« Ein Signal, das ein Manöver nach links vorsah, rief eine plötzliche Panik unter den Tarutinskern hervor, die den fernen Lärm französischer Trommeln zu hören glaubten. »Überall schrie jemand: Wo ist die Reserve?‹«, erinnerte sich ein Offizier. Da die Soldaten fürchteten, keine Unterstützung zu erhalten, rannten sie entsetzt den Hügel hinunter. Laut Chodasiewicz »brüllten Offiziere den Männern zu anzuhalten, doch vergebens, denn keiner dachte daran zu stoppen, sondern jeder schlug die Richtung ein, die ihm seine Fantasie oder seine Ängste vorgaben«. Nicht einmal die höchsten Offiziere konnten den panischen Rückzug der Männer verhindern, die bis zum Grund der Steinbruch-Schlucht liefen, erst am Sewastopoler Aquädukt haltmachten und sich dort zusammendrängten. Generalleutnant Kirjakow, der Befehlshaber der 17. Infanteriedivision, der an der Alma von der Bildfläche verschwunden war, erschien auf seinem weißen Hengst am Aquädukt, schlug mit seiner Peitsche um sich und befahl den Soldaten, wieder den Hügel hinaufzuklettern. Sie achteten jedoch nicht auf ihn oder erwiderten: »Mach’s doch selbst!« Chodasiewicz erhielt die Anweisung, seine Kompanie zu sammeln, aber von 120 Mann waren nur noch 45 übrig.50

Die Tarutinsker hatten sich nicht geirrt, als sie glaubten, das Geräusch französischer Trommeln zu hören. Raglan hatte Bosquet auf den Sapun-Höhen um sieben Uhr einen dringenden Hilferuf geschickt, nachdem er am Heimatkamm eingetroffen war, um die Schlacht zu inspizieren (daneben hatte er befohlen, zwei schwere 18-Pfünder von den Belagerungsbatterien heraufbringen zu lassen, um der russischen Kanonade Paroli zu bieten, doch der Befehl war verloren gegangen). Bosquets Männer hatten bereits vermutet, dass die Briten in Gefahr waren, als sie die ersten Schüsse hörten. Die Zuaven hatten am Vorabend sogar den Marsch der Russen bemerkt durch ihre afrikanische Erfahrung verstanden sie sich darauf, am Boden zu lauschen , und warteten nur noch auf den Angriffsbefehl. Nichts war für ihre Kampfweise besser geeignet als der Nebel und die mit Sträuchern bewachsenen Hänge, denn nach Algerien kannten sie sich in der Gebirgskriegführung aus und waren am effektivsten, wenn sie in kleinen Gruppen kämpfen und den Feind überfallen konnten. Die Zuaven und Chasseurs wollten unbedingt vorrücken, doch Bosquet hielt sie zurück, da er Liprandis Armee fürchtete: 22 000 Soldaten und 88 Feldgeschütze im Südtal unter dem Befehl von Gortschakow, die begonnen hatten, die Sapun-Höhen aus der Ferne zu beschießen. »Vorwärts! Lasst uns marschieren! Es wird Zeit, sie zu erledigen!«, riefen die Zuaven ungeduldig und wütend, als Bosquet in ihren Reihen erschien. »Eine Revolte drohte«, berichtete Louis Noir, welcher der ersten Kolonne der Zuaven angehörte.

Der tiefe Respekt und die aufrichtige Zuneigung, die wir für Bosquet empfanden, wurden durch das Ungestüm der alten algerischen Banden schwer auf die Probe gestellt. Plötzlich drehte sich Bosquet um, zog sein Schwert, stellte sich an die Spitze seiner Zuaven, seiner Türken und Chasseurs – unbesiegte Männer, die er seit Jahren kannte – und deutete mit dem Schwert auf die 20 000 Russen, die sich an den Redouten der gegenüberliegenden Anhöhen konzentrierten, und dann rief er mit Donnerstimme: »En avant! A la baïonnette!«51

In Wirklichkeit war Liprandis Armee nicht so groß, wie Bosquet befürchtet hatte, denn Gortschakow hatte unklugerweise beschlossen, die Hälfte hinter der Tschornaja in Reserve zu halten. Die Übrigen verteilte er auf die unteren Hänge der Sapun-Höhen und auf die Sandsack-Batterie. Dies wussten die Zuaven jedoch nicht, da sie den Feind im dichten Nebel immer noch nicht sehen konnten, und sie griffen mit wilder Energie an, um ihre, wie sie meinten, zahlenmäßige Unterlegenheit wettzumachen. Sie stürmten in kleinen Gruppen vorwärts, benutzten das Unterholz als Deckung und feuerten auf die feindlichen Kolonnen. Ihre Taktik bestand darin, die Russen mit allen denkbaren Mitteln einzuschüchtern. Sie brüllten, schossen in die Luft, während sie vorwärts rannten, und ihre Trompeten und Trommeln ertönten in voller Lautstärke. Jean Cler, ein Oberst des 2. Zuaven-Regiments, erklärte seinen Männern, während sie sich auf die Schlacht vorbereiteten, sogar: »Breitet eure Hosen so weit aus, wie ihr könnt, und bietet ein so wildes Schauspiel wie möglich.«52

Die Russen wurden von der Wucht der Zuaven überwältigt, deren Minié-Gewehre in den ersten Sekunden ihres Ansturms Hunderte von Gegnern außer Gefecht setzten. Die Zuaven rannten die Krümmung um den Heimatkamm hinauf, vertrieben die Russen aus der Sandsack-Batterie und jagten sie bis zum Grund der Schlucht des heiligen Clemens hinunter. Ihr Schwung führte sie um den gebogenen Bergsporn in die Steinbruch-Schlucht, wo es bereits von Soldaten des Tarutinsker Regiments wimmelte. Diese gerieten durch das Gedränge in Panik und schossen auf die Neuankömmlinge, wobei sie hauptsächlich ihre eigenen Kameraden töteten, bevor sich die Zuaven dem Kreuzfeuer entzogen und wieder auf den Heimatkamm kletterten.

Dort fanden sie die Briten in einer verzweifelten Schlacht mit den Streitkräften des rechten Flügels von Pawlows Zangenbewegung vor: dem Ochotsker, Jakutsker und Selenginsker Regiment, die zu den Resten von Soimonows Einheiten gestoßen waren und unter Dannenbergs Kommando erneut die Sandsack-Batterie angriffen. Es war ein brutales Gemetzel: Eine Welle von Russen nach der anderen stürmte mit erhobenen Bajonetten vorwärts und wurde von den Briten niedergeschossen oder in Nahkämpfe »Mann gegen Mann, Fuß gegen Fuß, Mündung gegen Mündung, Griff gegen Griff« verwickelt, wie Hauptmann Wilson von den Coldstream Guards bezeugte.53 Die Gardisten waren den Russen zahlenmäßig weit unterlegen und bedurften dringend der Verstärkung, als sich ihnen endlich sechs Kompanien von Cathcarts 4. Division unter General Torrens anschlossen. Die neuen Männer konnten den Kampf kaum abwarten (sie hatten die Schlacht bei Balaklawa und an der Alma verpasst), und als sie den Befehl erhalten hatten, die Russen auf dem Kamm neben der Sandsack-Batterie anzugreifen, rannten sie hinter den Feinden her ins Tal, verloren jegliche Disziplin und gerieten unter schweres Feuer durch das Jakutsker und Selenginsker Regiment, die sie aus nächster Nähe von den Anhöhen beschossen. Zu den Opfern des Kugelhagels gehörte Cathcart (die Stelle, an der man ihn bestattete, wurde als »Cathcarts Hügel« bekannt).

Inzwischen verfügten Cambridge und die Coldstream Guards in der Sandsack-Batterie nur noch über 100 Mann. Ihnen standen 2000 Russen gegenüber, und sie hatten keine Munition mehr. Der Herzog wollte bis zuletzt um die Sandsack-Batterie kämpfen ein idiotisches Opfer für diese relativ unbedeutende Stellung auf dem Schlachtfeld , doch seine Stabsoffiziere brachten ihn davon ab: Es wäre katastrophal, wenn der Cousin der Königin und die Fahne ihrer Garde vor den Zaren gebracht würden. Unter jenen Offizieren war Higginson, der den Rückzug zum Heimatkamm leitete. »Um die Fahne gedrängt«, berichtete er,

wichen die Männer langsam zurück, wandten ihre Front völlig dem Feind zu und hatten die Bajonette aufgepflanzt. Wenn jemand verwundet oder tot zu Boden fiel, nahm ein Kamerad seinen Platz ein und wahrte die Kompaktheit der sich allmählich verringernden Gruppe, die mit unbeirrbarer Hartnäckigkeit standhielt, um die Fahnen zu schützen … Zum Glück war der Boden zu unserer Rechten so abschüssig, dass der Feind daran gehindert wurde, uns von dorther zu umgehen. Hin und wieder rannten ein paar russische Soldaten, abenteuerlustiger als ihre Kameraden, auf unsere kompakte Gruppe zu, woraufhin zwei oder drei unserer Grenadiere mit dem Bajonett vorsprangen und sie zu einem stetigen Rückzug nötigten. Trotzdem war unsere Situation kritisch.

In diesem Moment erschienen Bosquets Männer auf dem Kamm. Noch nie war Engländern der Anblick von Franzosen so willkommen gewesen. Die Gardisten jubelten und riefen: »Vivent les Français!«, und diese erwiderten: »Vivent les Anglais!«54

Verblüfft über die Ankunft der Franzosen, wichen die Russen zum Granatenhügel zurück und versuchten, sich neu zu ordnen. Aber ihre Moral war dahin, und sie glaubten, keine Chance gegen die Briten und Franzosen zu haben. Viele nutzten den Nebel, um der Aufmerksamkeit ihrer Offiziere zu entgehen, und liefen davon. Eine Zeitlang hoffte Dannenberg, mit seiner Artillerie siegen zu können, denn er verfügte über fast 100 Kanonen, darunter 12-Pfünder-Feldgeschütze und Haubitzen (mehr als die Briten am Heimatkamm). Doch um 9.30 Uhr trafen die beiden schweren 18-Pfünder, die Raglan angefordert hatte, endlich ein und eröffneten das Feuer auf den Granatenhügel. Ihre gewaltigen Kugeln pflügten durch die russischen Batterien und zwangen deren Artillerie, das Feld zu räumen. Die Russen waren jedoch noch nicht geschlagen. Sie hatten 6000 Mann, die bis dahin nicht zum Einsatz gekommen waren, auf den Anhöhen und doppelt so viele in Reserve am anderen Flussufer. Einige setzten ihre Angriffe fort, doch ihre vorrückenden Kolonnen wurden von den schweren britischen Geschützen niedergemäht.

Schließlich gab Dannenberg seine Bemühungen auf und ließ zum Rückzug blasen. Er musste sich den wütenden Protesten Menschikows und der Großfürsten stellen, die das Gemetzel aus einer sicheren Warte 500 Meter hinter dem Granatenhügel beobachtet hatten und Dannenberg aufforderten, erneut anzugreifen. Dieser erklärte Menschikow: »Hoheit, die Soldaten hier anhalten zu lassen, würde bedeuten, dass sie bis zum letzten Mann vernichtet werden. Wenn Eure Hoheit anderer Meinung sind, dann gebt den Befehl bitte selbst und nehmt mir das Kommando ab.« Der Austausch markierte den Beginn eines langen, erbitterten Streits zwischen den beiden Männern, die einander nicht ausstehen konnten. Sie machten sich gegenseitig für die Niederlage bei Inkerman verantwortlich eine Schlacht, in der die Russen dem Feind an Zahl weit überlegen gewesen waren. Menschikow gab Dannenberg die Schuld, Dannenberg beschuldigte den gefallenen Soimonow, und alle lasteten den gemeinen Soldaten Disziplinlosigkeit und Feigheit an. Doch letztlich war die Unordnung die Folge einer fehlenden Befehlsstruktur; deshalb trifft die Schuld Menschikow, den Oberbefehlshaber, der völlig die Nerven verlor und der Aktion fernblieb. Großfürst Nikolai, der Menschikow durchschaute, schrieb seinem älteren Bruder Alexander, der bald den Zarenthron besteigen würde:

Wir [die beiden Großfürsten] hatten bei der Inkerman-Brücke auf Fürst Menschikow gewartet, aber er kam erst um 6.30 Uhr aus seinem Haus, als unsere Soldaten bereits die erste Stellung erobert hatten. Wir blieben unablässig bei dem Fürsten an der rechten Flanke, und kein einziges Mal schickte irgendeiner der Generale ihm einen Bericht über den Verlauf der Schlacht … Die Männer waren ungeordnet, weil sie schlecht geführt wurden … Die Unordnung ging von Menschikow aus. So erstaunlich es sich anhören mag: Menschikow hatte überhaupt kein Hauptquartier, sondern nur drei Männer, die solche Pflichten auf eine Art erfüllten, die jeden, der etwas erfahren wollte, rätseln ließ, an wen er sich wenden sollte.55

Nachdem die Russen den Befehl zum Rückzug erhalten hatten, flohen sie in Panik vom Schlachtfeld. Ihre Offiziere waren nicht in der Lage, die menschliche Lawine aufzuhalten, während britische und französische Artillerie in den Rücken der Russen feuerte. »Sie waren außer sich vor Angst«, meinte ein französischer Offizier. »Es war keine Schlacht mehr, sondern ein Massaker.« Die Russen wurden nun zu Hunderten umgemäht oder niedergetrampelt, als sie zur Brücke hinunterliefen und versuchten, sie zu überqueren oder durch den Fluss zur anderen Seite zu schwimmen.56

Einige Franzosen verfolgten sie, und rund ein Dutzend Männer von der Lourmel-Brigade drang sogar in Sewastopol ein. In ihrem Jagdeifer merkten sie gar nicht, dass sie allein waren, da ihre Kameraden längst den Rückweg eingeschlagen hatten. Die Straßen von Sewastopol waren so gut wie leer, denn die gesamte Bevölkerung befand sich entweder auf dem Schlachtfeld oder hielt an den Bastionen Wache. Die Franzosen zogen durch die Stadt, plünderten Häuser und liefen zum Kai, wo Zivilisten, die glaubten, dass der Feind den Durchbruch geschafft habe, von Panik erfasst wurden und flohen. Die französischen Soldaten hatten nicht weniger Angst. Sie ruderten mit dem ersten Boot, das sie finden konnten, aufs Meer hinaus, doch gerade als sie Fort Alexander umrundeten, wurden sie Opfer eines Volltreffers von der Quarantäne-Batterie. Die Geschichte der Lourmel-Soldaten inspirierte die französische Armee während der langen Belagerung und nährte den Glauben, dass Sewastopol durch einen einzigen kühnen Angriff erobert werden könne. Nach Ansicht vieler zeigte ihre Geschichte, dass die alliierten Armeen den Moment hätten nutzen können und sollen, als die Russen die Hänge von Inkerman hinunterrannten, um sie zu verfolgen und wie jene kühnen Männer in die Stadt zu marschieren.57

Die Russen verloren etwa 12 000 Soldaten auf dem Schlachtfeld von Inkerman. Die Briten verzeichneten 2610, die Franzosen 1726 Gefallene. Es war eine entsetzliche Zahl von Toten in nur vier Stunden des Kampfes eine Verlustrate, die sich fast mit jener der Schlacht an der Somme vergleichen ließ. Die Toten und Verwundeten lagen in Haufen übereinander, und überall waren von Granaten zerrissene Körperteile verstreut. Der Kriegskorrespondent Nicholas Woods bemerkte:

Einigen war der Kopf, wie mit einer Axt, am Hals abgetrennt worden; anderen fehlten die Beine von den Hüften ab, noch anderen die Arme, und manche, die Brust- oder Bauchschüsse erhalten hatten, waren so zerschmettert, als wären sie von einer Maschine zermalmt worden. Quer über den Pfad lagen, Seite an Seite, fünf [russische] Gardisten,****** die durch eine einzige Kanonenkugel getötet worden waren, als sie vorrückten, um den Feind anzugreifen. Sie lagen in der gleichen Haltung auf dem Gesicht, umklammerten ihre Musketen mit beiden Händen, und alle hatten die gleiche grimmige, schmerzvolle Miene.

Louis Noir dachte, die russischen Toten, die zumeist von Bajonetten durchbohrt worden waren, seien mit »wütendem Hass im Gesicht« gestorben. Auch Jean Cler ging zwischen den Verwundeten und Toten durch.

Einige lagen noch im Sterben, doch überwiegend waren sie tot, hingestreckt in heillosem Durcheinander. Arme waren über der Masse gelben Fleisches erhoben, als flehten sie um Mitleid. Die Toten, die auf dem Rücken lagen, hatten gewöhnlich die Hände vorgestreckt, entweder weil sie die Gefahr abwehren oder weil sie um Gnade bitten wollten. Alle trugen an Halsketten Medaillons oder kleine Kupferbehälter mit Bildern der Heiligen.

Unter den Toten begraben lagen auch einige noch lebende Männer, die verwundet und dann von später niedergestreckten Körpern bedeckt worden waren. »Manchmal konnte man hören, wie Männer unter einem Menschenstapel noch atmeten«, schrieb André Damas, ein französischer Armeegeistlicher. »Aber ihnen fehlte die Kraft, das Gewicht des Fleisches und der Knochen, die sie niederdrückten, hochzuheben; wenn ihr schwaches Stöhnen zu hören war, verstrichen lange Stunden, bevor sie geborgen werden konnten.«58

Generalmajor Codrington von der Leichten Division war entsetzt über die Plünderer, welche die Toten ausraubten. »Am abscheulichsten ist es, das Gefühl zu haben, dass die grässlichen Diebe, die Vagabunden des Schlachtfelds, dagewesen sind, Taschen umgekrempelt und Sachen aufgeschnitten haben, um nach Geld zu suchen, dass sie systematisch nach allen Wertsachen Ausschau gehalten haben besonders Offiziere wurden wegen ihrer besseren Kleidung ausgezogen, wonach man ihnen irgendeinen Fetzen überwarf«, klagte er am 9. November.59

Die Alliierten brauchten mehrere Tage, um all ihre Toten zu begraben und die Verwundeten in Feldlazarette zu bringen. Die Russen benötigten viel länger. Menschikow hatte das Angebot einer Waffenruhe zur Räumung des Schlachtfelds ausgeschlagen, weil er sich sorgte, dass seine Soldaten beim Anblick so vieler Toter und Verwundeter auf ihrer Seite, verglichen mit den Verlusten des Feindes, demoralisiert werden und vielleicht sogar meutern könnten. Also blieben die russischen Toten und Verwundeten tage- und sogar wochenlang auf dem Schlachtfeld liegen. Cler stieß noch zwölf Tage nach der Schlacht auf vier russische Verwundete am Grund der Steinbruch-Schlucht.

Die armen Kerle lagen unter einem vorspringenden Felsen. Auf die Frage, wie es ihnen gelungen sei, so lange weiterzuleben, deuteten sie zuerst zum Himmel, der ihnen Wasser geschickt und sie mit Mut erfüllt habe, und dann auf ein paar Stücke verschimmelten Schwarzbrots, die sie in den Beuteln der zahlreichen Toten um sie herum gefunden hätten.

Einige der Toten wurden erst drei Monate später entdeckt. Sie lagen am Boden der Frühjahrsschlucht, wo sie steif gefroren waren und laut Cler starke Ähnlichkeit mit »vertrockneten Mumien« hatten. Der Franzose war überrascht über den Kontrast zwischen den russischen Opfern an der Alma, die »ein gesundes Aussehen hatten ihre Kleidung, Unterwäsche und Schuhe waren sauber und in einem guten Zustand«, und den Toten von Inkerman, die »einen leidenden und erschöpften Eindruck machten«.60

Wie an der Alma wurde behauptet, dass die Russen Gräueltaten an den Briten und Franzosen begangen hätten. Angeblich hatten sie die auf dem Boden liegenden Verwundeten ausgeraubt und getötet******* und manchmal sogar die Leichen verstümmelt. Britische und französische Soldaten machten die »Wildheit« der russischen Soldaten, denen gut mit Wodka eingeheizt worden sei, für solche Taten verantwortlich. »Sie kennen keine Schonung«, schrieb Hugh Drummond von den Scots Guards seinem Vater am 8. November, »und dies sollte bekannt gemacht werden, denn es ist ein Skandal für die Welt, dass Russland, das sich als zivilisierte Macht ausgibt, zu seiner Schande solche Akte der Barbarei verübt.« Ein anderer britischer Soldat beschrieb das »heimtückische Verhalten« der russischen Soldaten in seinen anonymen Erinnerungen:

Im Schutz der Nacht erscheinen sie unerwartet wie Dämonen aus dem Nebel … Keuchend vor mörderischer Begierde (denn faire Kämpfe sind nicht ihr Ziel), gesegnet von unmenschlichen Priestern, unermessliche Beute erwartend, erregt durch geistige Getränke, ermutigt durch zwei ihrer Großfürsten … betrunken, rasend, jede böse Leidenschaft geweckt, fallen sie wild über unsere Soldaten her. Bei Inkerman sahen wir, wie russische Soldaten die zerfleischten Körper der verwundeten Alliierten mit Bajonetten durchbohrten, ihnen das Gehirn ausschlugen und wie Unholde auf ihnen herumsprangen, wo immer sie zu finden waren. Die von den Russen begangenen Grausamkeiten haben ihrer Nation Schmach eingebracht und sie für die ganze Welt zu einem Beispiel des Entsetzens und Abscheus werden lassen.61

In Wirklichkeit hatten diese Aktionen allerdings mehr mit religiöser Empörung zu tun. Als Raglan und Canrobert am 7. November in einem Schreiben an Menschikow gegen die Untaten protestierten, erwiderte der russische Oberbefehlshaber, die Morde seien durch die Zerstörung der Kirche des heiligen Wladimir in Chersonessos verursacht worden. Diese Kirche durch welche die Stelle geweiht wurde, an der Großfürst Wladimir getauft worden war, wonach er die Kiewer Rus zum Christentum bekehrte sei von den Franzosen geplündert und für deren Belagerungsvorbereitungen ausgeschlachtet worden. Diese Schändung der Kirche des heiligen Wladimir habe die »zutiefst religiösen Gefühle unserer Soldaten« verletzt, erklärte Menschikow in einem vom Zaren gebilligten Schreiben. Obendrein behauptete er, die Russen seien auf dem Schlachtfeld von Inkerman ihrerseits »Opfer« einer Reihe »blutiger Vergeltungstaten« durch englische Soldaten geworden. Manches davon räumte César de Bazancourt, der offizielle französische Historiker der Krimexpedition, in seinem Bericht von 1856 ein:

Dicht an der Meeresküste, auf dem unebenen Boden, der … zur Quarantäne-Bucht hinunterführt, erhob sich die kleine Kirche des heiligen Wladimir. Einzelne Soldaten, kühner als die anderen, schlichen häufig über den gewellten Boden zu den Quarantäne-Einrichtungen, welche die Russen verlassen hatten, und nahmen von dort alles mit, was ihnen dienlich sein konnte … Diesen bereits schuldig gewordenen Soldaten folgten jene Marodeure, die in jeder Armee ungeachtet aller Gesetze und jeglicher Disziplin auf der Suche nach Beute herumstreifen. Ihnen gelang es, durch die Linie der Vorposten in der Nacht zu der kleinen Kirche vorzudringen, die dem Schutzheiligen von Russland geweiht ist.

Mochten die Russen auch durch tief empfundene religiöse Gefühle zu Grausamkeiten getrieben worden sein, so steht gleichfalls fest, dass ihre Priester sie dazu angespornt hatten. Am Abend vor der Schlacht versicherten sie den russischen Soldaten in Gottesdiensten überall in Sewastopol, dass die Briten und Franzosen für den Teufel kämpften und gnadenlos getötet werden müssten, um die Zerstörung der Kirche des heiligen Wladimir zu rächen.62

* * *

Inkerman war für die Briten und Franzosen ein Pyrrhussieg. Sie hatten den bislang stärksten russischen Bemühungen widerstanden, sie von den Anhöhen um Sewastopol zu vertreiben, doch die Verluste waren so hoch, dass die Öffentlichkeit sie kaum tolerieren konnte, schon gar nicht, nachdem man von der mangelhaften Versorgung der Sterbenden und Verwundeten durch die Sanitätsdienste erfahren hatte. Als die Nachricht in die Heimat gelangte, kamen ernsthafte Fragen nach dem Sinn des gesamten Feldzugs auf. Infolge der schweren Verluste konnten die alliierten Heere erst dann eine neue Attacke auf die Verteidigungsanlagen von Sewastopol einleiten, wenn Verstärkung eintraf.

Auf einer gemeinsamen Planungskonferenz in Raglans Hauptquartier wurde am 7. November beschlossen, dass die Franzosen die Briten auf dem Mount Inkerman ablösen sollten eine stillschweigende Anerkennung der Tatsache, dass sie nun zum Seniorpartner des Militärbündnisses geworden waren. Die Briten, die nur noch über 16 000 einsatzfähige Soldaten verfügten, sollten nicht mehr als ein Viertel der Schützengräben um Sewastopol besetzen. Auf derselben Konferenz verlangte Canrobert, alle Pläne für einen Angriff auf Sewastopol bis zum folgenden Frühjahr zu vertagen, wenn die Alliierten genug Verstärkungen haben würden, um das russische Verteidigungssystem zu überwinden, das nicht nur dem ersten alliierten Bombardement standgehalten hatte, sondern seitdem auch erheblich stabilisiert worden war. Der französische Befehlshaber argumentierte, dass die Russen eine große Anzahl frischer Einheiten herangeholt und ihre Streitkräfte in Sewastopol auf 100 000 Mann erhöht hätten (in Wirklichkeit besaßen sie nach Inkerman kaum noch halb so viele). Seine Befürchtung war, dass die Russen in der Lage sein würden, ihre Befestigungsanlagen weiter zu verbessern, »solange die österreichische Haltung gegenüber der Orientalischen Frage Russland gestattet, beliebig viele Soldaten von Bessarabien und Südrussland zur Krim zu entsenden«. Bevor die Franzosen und Briten kein Militärbündnis mit den Österreichern geschlossen und »sehr zahlreiche Verstärkungen« auf die Krim geschickt hätten, sei es nicht sinnvoll, durch die Belagerung noch mehr Leben zu verlieren. Raglan und sein Stab stimmten Canrobert zu. Danach stellte sich die Frage, wie man Vorbereitungen dafür treffen konnte, dass die alliierten Soldaten auf den Anhöhen oberhalb von Sewastopol überwinterten, denn sie hatten nur leichte Zelte bei sich, die sich lediglich für einen Sommerfeldzug eigneten. Canrobert war der Meinung und die Briten schlossen sich seinem Standpunkt an , dass »die Soldaten den Winter hier mit Hilfe eines einfachen Steinunterbaus unter den Zelten verbringen können«. Rose pflichtete ihm bei. »Das Klima ist gesund«, erklärte er Clarendon, »und mit Ausnahme kühler Nordwinde ist die Kälte im Winter nicht erheblich.«63

Die Aussicht, in Russland zu überwintern, erfüllte viele mit einer dunklen Vorahnung, denn sie dachten an Napoleon im Jahr 1812. De Lacy Evans drängte Raglan, die Belagerung von Sewastopol aufzugeben und die britischen Soldaten abzuziehen. Der Herzog von Cambridge schlug vor, sie nach Balaklawa zu verlagern, wo sie leichter versorgt und besser vor der Kälte geschützt werden könnten als auf den Hügeln über Sewastopol. Raglan lehnte die Vorschläge ab und beschloss, die Armee während der Wintermonate auf den Anhöhen zu belassen eine skandalöse Entscheidung, die den Rücktritt von Evans und Cambridge auslöste. Beide kehrten vor Anbruch des Winters bedrückt und desillusioniert nach England zurück. Ihnen folgten daraufhin regelmäßig weitere britische Offiziere. In den beiden Monaten nach Inkerman machten sich 225 der 1540 Offiziere auf der Krim in wärmere Gefilde auf; nur 60 von ihnen sollten zurückkehren.64

Für die einfachen Soldaten war die Erkenntnis, dass es keinen raschen Sieg geben würde, noch demoralisierender. »Warum haben wir keinen kühnen Angriff geführt, nachdem wir durch den Sieg an der Alma angespornt waren?«, fragte Oberstleutnant Mundy vom 33. Fußregiment. Er schilderte die Stimmung in einem Brief an seine Mutter vom 7. November:

Wenn die Russen so stark sind, wie man behauptet, müssen wir die Belagerung aufgeben, denn es wird allgemein eingeräumt, dass wir mit unserer gegenwärtigen Stärke nichts gegen Sewastopol ausrichten können. Die Flotte ist nutzlos und die Arbeit nun so belastend, dass Hunderte, wenn das kalte Wetter anbricht, Überanstrengung und Krankheit zum Opfer fallen müssen. Manchmal erhalten die Männer weniger als eine Nachtruhe von sechs Stunden, und oftmals arbeiten sie 24 Stunden hintereinander. Man muss bedenken, dass sie keine zusätzliche Bekleidung außer einer dünnen Decke haben und dass die Kälte und Feuchtigkeit nachts sehr streng sind. Auch die Tatsache, dass wir dauernd in einem Zustand der Unruhe sind, weil unsere Gräben, Batterien und Redouten angegriffen werden könnten, macht einen ungestörten, erholsamen Schlaf unmöglich.

Die Zahl der Desertionen aus den alliierten Schützengräben nahm beträchtlich zu, als die Winterkälte in den Wochen nach Inkerman einsetzte: Hunderte von britischen und französischen Soldaten liefen zur russischen Seite über.65

Für die Russen war die Niederlage bei Inkerman ein vernichtender Schlag. Menschikow gelangte zu der Überzeugung, dass der Fall von Sewastopol unvermeidlich sei. In einem Brief vom 9. November an Kriegsminister Fürst Dolgorukow empfahl er, die Stadt aufzugeben, damit die russischen Streitkräfte sich auf die Verteidigung der übrigen Krimgebiete konzentrieren konnten. Der Zar war außer sich über diesen Defätismus seines Oberbefehlshabers. »Welchen Sinn hatten das Heldentum unserer Soldaten und die schweren Verluste, wenn wir die Niederlage hinnehmen?«, schrieb er Menschikow am 13. November. »Haben unsere Feinde nicht auch hohe Verluste erlitten? Ich kann mich Ihrer Meinung nicht anschließen. Unterwerfen Sie sich nicht, sage ich, und raten Sie anderen nicht, es zu tun Wir haben Gott auf unserer Seite.« Trotz dieser kämpferischen Worte verfiel der Zar nach Inkerman in eine tiefe Depression, und seine Niedergeschlagenheit entging niemandem am Hof. Früher hatte Nikolaus versucht, seine Gefühle vor den Höflingen zu verbergen, doch dazu war er nun nicht mehr fähig. »Der Palast in Gattschina ist finster und still«, notierte Tjutschewa in ihrem Tagebuch. »Überall herrscht Depression. Die Menschen wagen kaum, miteinander zu sprechen. Der Anblick des Souveräns könnte einem das Herz brechen. In letzter Zeit ist er immer mürrischer geworden; sein Gesicht ist verhärmt und sein Blick leblos.« Die Niederlage ließ Nikolaus das Vertrauen zu den Befehlshabern verlieren, die ihm eingeredet hatten, dass der Krieg auf der Krim gewonnen werden könne. Er bedauerte seine Entscheidung, gegen die Westmächte in den Krieg zu ziehen, und suchte Trost bei Beratern wie Paskewitsch, die den Konflikt stets abgelehnt hatten.66

»Empörender Verrat«, schrieb Tolstoi am 2. November in seinem Tagebuch über die Niederlage.

Die 10. und 11. Division griffen die linke Flanke des Gegners an … Da setzte der Gegner 6000 Stutzen ein, ganze 6000 gegen 30 000. Und wir wichen zurück und verloren etwa 6000 tapfere Männer.******** Wir mussten zurückweichen, denn die Hälfte unserer Truppen hatte infolge Unpassierbarkeit der Straßen keine Artillerie und aus Gott weiß was für einem Grunde keine Schützenbataillone. Ein entsetzliches Morden. Viele haben es auf ihrem Gewissen! Herr, vergib ihnen. Die Nachricht hierüber hatte eine erschütternde Wirkung. Ich sah Greise, die laut aufschluchzten, und junge Männer, die schworen, Dannenberg umzubringen. Wie groß ist doch die moralische Stärke des russischen Volkes. Viele politische Wahrheiten werden in diesen für Rußland so schwierigen Tagen sichtbar und nehmen deutliche Formen an. Die glühende Vaterlandsliebe, die mit Rußlands Unglück aufflammte und alle ergriff, wird ihre Spuren für lange Zeit hinterlassen. Die heute bereit sind, ihr Leben zu opfern, werden Rußlands Bürger sein und ihre Opfer nicht vergessen. Mit Würde und Stolz werden sie an gesellschaftlichen Angelegenheiten teilhaben, und die durch den Krieg geweckte Begeisterung wird sie für alle Zeiten zu opferbereiten und edeldenkenden Menschen machen.67

Seit dem Rückzug der russischen Armee aus Silistra hatte Tolstoi ein bequemes Leben in Kischinjow geführt, wo sich Gortschakows Hauptquartier befand, aber bald wurde er der Bälle und des Kartenspiels, bei dem er hohe Summen verlor, überdrüssig und träumte davon, wieder an den Kämpfen teilzunehmen. »Nun, da ich jeden Komfort, eine gute Unterbringung, ein Klavier, gutes Essen, regelmäßige Beschäftigung und einen prächtigen Freundeskreis habe, sehne ich mich wieder nach dem Lagerleben und beneide die Männer dort draußen«, schrieb Tolstoi seiner Tante Toinette am 29. Oktober.68

Getragen von dem Wunsch, etwas für seine Mitmenschen zu tun, plante Tolstoi mit mehreren Offizierskameraden, eine Zeitschrift zu gründen. Dieser Soldatenbote sollte der Bildung der Männer dienen, ihre Moral stärken und ihren Patriotismus und ihre Menschlichkeit der übrigen russischen Gesellschaft deutlich machen. »Das Projekt erfreut mich sehr«, schrieb Tolstoi seinem Bruder Sergej. »Die Zeitschrift wird Beschreibungen von Schlachten veröffentlichen nicht so langweilige und unwahre wie in anderen Journalen , mutige Taten, Biografien und Nachrufe auf würdige Männer, besonders kaum bekannte; Kriegsgeschichten, Soldatenlieder, leicht lesbare Artikel über das Geschick der Pioniere etc.« Um den Soldatenboten zu finanzieren, der so billig sein sollte, dass auch die Soldaten ihn sich leisten konnten, zweigte Tolstoi Geld vom Verkauf des Familiensitzes in Jasnaja Poljana ab, den er in jenem Herbst hatte abstoßen müssen, um seine Verluste beim Kartenspiel bezahlen zu können. Tolstoi schrieb einige seiner ersten Erzählungen für die Zeitschrift: »Wie russische Soldaten sterben« und »Onkelchen Schdanow und der Kavalier Tschernow«. In der zweiten Erzählung stellte er die Brutalität eines Armeeoffiziers bloß, der einen seiner Männer schlug, nicht weil dieser etwas falsch gemacht hatte, sondern »weil er Soldat war und weil Soldaten geprügelt werden müssen«. Da Tolstoi wusste, dass derlei die Zensur nicht passieren würde, ließ er die beiden Geschichten fallen, bevor er Gortschakow die Idee für die Zeitschrift unterbreitete. Dieser reichte die Unterlagen weiter ans Kriegsministerium, doch der Zar wies den Vorschlag zurück, da er nicht wollte, dass eine inoffizielle Soldatenzeitschrift mit Der russische Invalide, der Armeezeitung der Regierung, konkurrierte.69

Durch die Niederlage von Inkerman wurde Tolstoi darin bestärkt, auf der Krim zu kämpfen. Einer seiner engsten Kameraden Komstadius, mit dem zusammen er den Boten hatte herausgeben wollen war bei Inkerman gefallen. »Sein Tod war es vor allem, der mich bewog, um meine Entsendung nach Sewastopol zu bitten«, schrieb er am 2. November in seinem Tagebuch. »Ich habe mich irgendwie vor ihm geschämt.« Später erklärte Tolstoi seinem Bruder, dass sein Antrag »hauptsächlich auf Patriotismus« beruhte, »einem Sentiment, das, ich gestehe es, zunehmend von mir Besitz ergreift«.70 Doch genauso wichtig für seine Entscheidung, auf die Krim zu reisen, könnte das Gefühl seiner Bestimmung als Schriftsteller gewesen sein. Tolstoi wollte den Krieg erleben und darüber schreiben, um dem Volk die ganze Wahrheit sowohl die patriotischen Opfer der einfachen Soldaten als auch die Fehler der Militärführung zu enthüllen und dadurch den Prozess der politischen und gesellschaftlichen Reform in Gang zu setzen, zu dem der Krieg seiner Meinung nach führen musste.

Tolstoi traf am 19. November in Sewastopol ein, fast drei Wochen nach seinem Aufbruch in Kischinjow. Zum Leutnant befördert, wurde er der 3. Leichten Batterie der 14. Artilleriebrigade zugeteilt und zu seinem Ärger in der Stadt selbst, weit entfernt von den Verteidigungsanlagen, einquartiert. Er hielt sich in jenem Herbst nur neun Tage in Sewastopol auf, erlebte jedoch genug, um ihn in dem patriotischen Stolz und der Hoffnung auf das einfache russische Volk zu bestärken, welche die Seiten von »Sewastopol im Dezember« füllten, der ersten seiner Sewastopoler Erzählungen, mit denen er sich einen literarischen Namen machte. »Der Geist in der Truppe ist über alles Lob erhaben«, schrieb er Sergej am 20. November:

Ein verwundeter Soldat, halb im Sterben liegend, erzählte mir, wie sie am 24. dabei waren, eine französische Batterie zu nehmen, und keine Verstärkung erhielten; er weinte wie ein Kind. Eine Kompanie Matrosen hätte um ein Haar gemeutert, weil man sie von einer Batterie ablösen wollte, an der sie dreißig Tage im Granatfeuer ausgeharrt hatte. Die Soldaten reißen die Zünder aus den Granaten, Frauen bringen Wasser für die Soldaten auf die Bastionen. Viele wurden getötet und verwundet … Am 24. hatte eine Brigade 160 Verwundete, die die Frontlinie jedoch nicht verließen. Welch wundervolle Zeit! Jetzt, nach dem 24., haben sich die Gemüter übrigens ein wenig beruhigt, in Sewastopol ist es jetzt herrlich. Der Gegner schießt fast nicht, alle sind überzeugt, er wird die Stadt nicht einnehmen, und das ist tatsächlich unmöglich. Es gibt drei Vermutungen: Entweder er geht zum Angriff über, oder er lenkt uns durch vorgetäuschte Schanzarbeiten ab, um seinen Abzug zu tarnen, oder er baut Befestigungen, um zu überwintern. Die erste Vermutung hat die geringste, die zweite die größte Wahrscheinlichkeit für sich. Mir ist kein einziges Mal geglückt, zum Einsatz zu gelangen; dennoch danke ich Gott dafür, daß ich diese Menschen sehen durfte und in dieser ruhmvollen Zeit lebe. Das Granatfeuer vom 5. wird die glänzendste Ruhmestat nicht nur der russischen, sondern auch der Weltgeschichte bleiben.71

* Getränk aus Honig und Gewürzen.

** Mit Erde gefüllte hohe Weidenkörbe.

*** Ein türkischer Begriff für eine Frau, die unpassend angezogen ist. In der osmanischen Zeit wurden damit nichtmuslimische Frauen beschrieben; außerdem hatte er einen sexuellen Beiklang, denn er besagte, dass die Frau ein Bordell führte oder selbst Prostituierte war.

**** Es ist ziemlich rätselhaft, warum die Russen angesichts einer so winzigen Verteidigungstruppe keinen rascheren und heftigeren Angriff auf Balaklawa führten. Verschiedene russische Kommandeure behaupteten später, sie hätten nicht genug Soldaten gehabt, um Balaklawa zu erobern; die Aktion habe der Aufklärung gedient oder sei ein Versuch gewesen, die alliierten Streitkräfte von Sewastopol abzulenken, und habe nicht die Einnahme des Hafens zum Ziel gehabt. Doch dabei handelte es sich um Ausflüchte für ihr Scheitern, das nach der russischen Niederlage an der Alma vielleicht durch ihr mangelndes Selbstvertrauen gegenüber den alliierten Armeen in einer offenen Feldschlacht zu erklären war.

***** Soimonow verließ sich auf eine Marinekarte ohne Landmarkierungen. Ein Mitglied seines Stabes wies ihm den Weg, indem er die Strecke mit dem Finger auf der Karte anzeigte (A. Andrijanow, Inkermanski boi i oborona Sewastopolja (nabroski utschastnika) [St. Petersburg 1903], S. 15).

****** Woods irrte sich, denn die russische Garde war nicht einmal in der Nähe der Krim.

******* Ein verständlicher Irrtum im dichten Nebel und im Unterholz auf den Anhöhen, wo sich unverletzte Soldaten auf die Erde legten, um den Feind aus dem Hinterhalt zu überfallen.

******** Tolstoi zitiert die amtlichen Zahlen, die von der Militärzensur zur Veröffentlichung freigegeben wurden. Die wirklichen russischen Verluste waren doppelt so hoch.