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Die russische Bedrohung

Der niederländische Dampfer legte spät am Samstagabend, dem 1. Juni 1844, an den Docks von Woolwich an. Die einzigen Passagiere waren »Graf Orlow« das Pseudonym von Zar Nikolaus und seine Höflinge, die inkognito aus St. Petersburg angereist waren. Seit der brutalen Niederschlagung des polnischen Aufstands von 1831 fürchtete sich Nikolaus vor einem Anschlag polnischer Nationalisten, welche die russische Herrschaft in ihrer Heimat bekämpften. Aus diesem Grund begab er sich nur getarnt auf Reisen. In Großbritannien lebte eine große Gemeinde von Exilpolen, und seit dem Moment, da der Besuch im Januar mit der britischen Regierung erörtert worden war, machte man sich Sorgen um die Sicherheit des Zaren. Um seine persönliche Gefährdung zu verringern, hatte Nikolaus niemanden in seine Reisepläne eingeweiht. Die Kutschen des Zaren rasten, nur mit einem kurzen Aufenthalt in Berlin, über den Kontinent hinweg, ohne dass jemand in Großbritannien von seiner bevorstehenden Ankunft erfuhr, bis er am 30. Mai, weniger als zwei Tage vor seiner Landung in Woolwich, in Hamburg an Bord des Dampfers ging.

Nicht einmal Baron Brunow, der russische Botschafter in London, kannte die genauen Einzelheiten der Reiseroute seines Monarchen. Da er nicht wusste, wann der Dampfer eintreffen würde, verbrachte Brunow den ganzen Samstag an den Docks von Woolwich. Schließlich, um 22 Uhr, lief das Schiff ein. Der Zar kaum zu erkennen in einem grauen Mantel, den er seit dem türkischen Feldzug von 1828 trug ging von Bord und fuhr eilig mit Brunow zur russischen Botschaft in Ashburnham House in Westminster. Trotz der späten Stunde schickte er dem Prinzgemahl ein kurzes Schreiben, in dem er um ein baldmögliches Treffen mit der Königin ersuchte. Daran gewöhnt, seine Minister zu jeder Tages- und Nachtstunde herbeizurufen, war er nicht auf den Gedanken gekommen, dass es unhöflich sein könne, Prinz Albert in den frühen Morgenstunden zu wecken.1

Es war nicht die erste Reise des Zaren nach London. Er hegte angenehme Erinnerungen an seinen früheren Besuch im Jahr 1816. Damals, als Zwanzigjähriger und noch Großfürst, hatte er großen Erfolg bei der weiblichen Hälfte der englischen Aristokratie gehabt. Lady Charlotte Campbell, eine berühmte Schönheit und Hofdame der Prinzessin von Wales, hatte erklärt: »What an amiable creature! He is devilish handsome! He will be the handsomest man in Europe.« Jene Reise hatte Nikolaus den Eindruck vermittelt, einen Verbündeten in der englischen Monarchie und Aristokratie zu haben. Als despotischer Herrscher des größten Staates der Welt hatte Nikolaus wenig Verständnis für die Beschränkungen einer konstitutionellen Monarchie. Er erwartete, dass er Fragen der Außenpolitik in Großbritannien direkt mit der Königin und ihren höchsten Ministern entscheiden könne. Es sei »eine ausgezeichnete Sache«, erklärte er Viktoria bei ihrem ersten Treffen, »sich hin und wieder mit eigenen Augen zu überzeugen, denn es genügt nicht immer, ausschließlich Diplomaten zu vertrauen«. Solche Begegnungen schüfen »ein Gefühl der Freundschaft und des Interesses« zwischen regierenden Souveränen, und man könne »in einem einzigen Gespräch« mehr erreichen, »um seine Empfindungen, Ansichten und Motive deutlich zu machen, als in einer Vielzahl von Botschaften und Briefen«. Der Zar glaubte, ein »Gentlemen’s Agreement« mit Großbritannien darüber abschließen zu können, wie mit dem Osmanischen Reich im Fall seines Zusammenbruchs umzugehen sei.2

Nikolaus hatte bereits mehrere Versuche unternommen, eine andere Großmacht von seinen Teilungsplänen für das Osmanische Reich zu überzeugen. Im Jahr 1829 hatte er den Österreichern eine bilaterale Teilung der osmanischen Gebiete in Europa vorgeschlagen, um dem Chaos zuvorzukommen, mit dem er nach der Auflösung des Reiches rechnete, doch sie hatten ihn zurückgewiesen, weil sie das Konzert der Großmächte erhalten wollten. Dann, im Herbst 1843, trat er erneut an die Österreicher heran und ließ die Idee eines von Russland, Österreich und Preußen (der Heiligen Allianz von 1815) gestützten griechischen Reiches wiederaufleben. Dies sollte die Briten und Franzosen daran hindern, die Beute des zerbröckelnden Osmanischen Reiches unter sich aufzuteilen. Nikolaus beteuerte, dass Russland nicht auf den Balkan vorrücken wolle, sondern vielmehr bereit sei, den Österreichern sämtliche türkischen Territorien zwischen der Donau und der Adria zu überlassen; Konstantinopel solle eine freie Stadt unter österreichischer Aufsicht werden. Es gelang ihm freilich nicht, das tiefsitzende Wiener Misstrauen gegenüber den russischen Ambitionen zu zerstreuen. Der österreichische Botschafter in St. Petersburg meinte, dass der Zar eine Situation herbeiführen wolle, in der er unter dem Vorwand, die Türkei zu verteidigen, in deren Angelegenheiten eingreifen könne, um seine eigenen Teilungspläne mit Militärgewalt durchzusetzen. In Wirklichkeit strebe der Zar kein von den drei Großmächten garantiertes griechisches Reich an, sondern einen »mit Russland durch Interessen, Prinzipien und Religion verbundenen und von einem russischen Fürsten regierten Staat Russland kann dieses Ziel nie aus den Augen verlieren. Es ist eine Vorbedingung für die Erfüllung seines Geschicks Das heutige Griechenland würde von dem neuen Staat verschlungen werden.«3 Die argwöhnischen Österreicher wollten ohne Einverständnis der Briten und Franzosen nichts mit den Teilungsplänen des Zaren zu tun haben. Deshalb war Nikolaus nun nach London gereist, um die Briten für seinen Standpunkt zu gewinnen.

Oberflächlich betrachtet, schien wenig darauf hinzudeuten, dass Nikolaus ein neues Bündnis mit Großbritannien schmieden konnte. Die Briten hatten sich auf ihre liberalen Reformpläne zur Rettung des Osmanischen Reiches festgelegt und hielten die russischen Pläne für eine große Bedrohung. Gleichwohl sah sich der Zar durch die diplomatische Annäherung der vorangegangenen Jahre zwischen Russland und Großbritannien ermutigt, die durch ihre gemeinsame Sorge über das wachsende Engagement Frankreichs im Nahen Osten ausgelöst worden war.

Im Jahr 1839 hatten die Franzosen dem ägyptischen Machthaber Mehmet Ali bei seiner zweiten Rebellion gegen die Herrschaft des Sultans in Syrien zur Seite gestanden. Mit französischer Hilfe besiegten die Ägypter die osmanische Armee und gaben damit zu neuen Befürchtungen Anlass, dass sie wie sechs Jahre zuvor auf die türkische Hauptstadt marschieren würden. Der junge Sultan Abdülmecid wirkte zu schwach, um Mehmet Alis Forderungen nach einer Erbdynastie in Ägypten und Syrien widerstehen zu können, erst recht nachdem sich die osmanische Flotte bei Alexandria auf die Seite der Ägypter geschlagen hatte. Wiederum musste die Hohe Pforte um ausländische Hilfe bitten. Im Jahr 1833 hatten die Russen allein interveniert, um das Osmanische Reich zu retten, doch in dieser zweiten Krise beabsichtigten sie, mit Großbritannien zusammenzuarbeiten, um die Herrschaft des Sultans wiederherzustellen. Ihr Ziel war es, sich zwischen den Briten und Franzosen zu positionieren.

Wie die Russen waren die Briten beunruhigt über die zunehmenden französischen Aktivitäten in Ägypten. Ebendort hatte Napoleon 1798 gedroht, das Britische Empire niederzuwerfen. In den 1830er Jahren hatten die Franzosen enorm in den florierenden Baumwollanbau und die gewerbliche Wirtschaft Ägyptens investiert. Sie hatten Berater nach Ägypten entsandt, um dessen Heer und Marine ausbilden zu lassen, und mit französischem Beistand waren die Ägypter eine ernst zu nehmende Gefahr nicht nur für die türkische Herrschaft. Als Kopf der mächtigen islamischen Wiedererweckungsbewegung gegen die Intervention christlicher Staaten im Osmanischen Reich inspirierte Mehmet Ali auch die muslimischen Rebellen gegen die Zarenherrschaft im Kaukasus.

In der Folge wirkten Russland und Großbritannien zusammen mit Österreich und Preußen auf Mehmet Ali ein, damit er sich aus Syrien zurückzog und ihre Bedingungen für eine Übereinkunft mit dem Sultan akzeptierte. Diese Bedingungen, niedergelegt in der Londoner Konvention von 1840 und ratifiziert von den vier Großmächten und dem Osmanischen Reich, gestatteten Mehmet Ali, eine Erbdynastie in Ägypten zu begründen. Um seinen Rückzug sicherzustellen, segelte eine britische Flotte nach Alexandria, und eine angloösterreichische Streitmacht wurde nach Palästina entsandt. Eine Zeitlang leistete der ägyptische Herrscher Widerstand, da er mit französischer Hilfe rechnete. In Europa kamen Kriegsängste auf, als die französische Regierung die von den vier Mächten vorgeschlagenen Friedensbedingungen ablehnte und versprach, Ali beizustehen. Im letzten Moment aber machten die Franzosen einen Rückzieher, weil sie nicht in einen Krieg verwickelt werden wollten, und Mehmet Ali zog aus Syrien ab. Nach den Bedingungen der sich anschließenden Londoner Konvention von 1841, welche die Franzosen nur widerwillig unterzeichneten, wurde Mehmet Ali als Erbherrscher Ägyptens anerkannt, während er seinerseits die Souveränität des Sultans im übrigen Osmanischen Reich akzeptierte.

Die Bedeutung der Konvention von 1841 beschränkte sich nicht darauf, dass sie Mehmet Alis Kapitulation sicherstellte. Man einigte sich außerdem darauf, die türkischen Meerengen in Kriegszeiten für alle Schiffe außer denen der Verbündeten des Sultans zu schließen ein sehr großes Zugeständnis seitens der Russen, denn dies bot der britischen Flotte potenziell Zugang zum Schwarzen Meer, von wo aus sie die ungeschützten südlichen Grenzen des Russischen Reiches angreifen konnte. Durch die Unterzeichnung der Konvention hatten die Russen ihre privilegierte Stellung im Osmanischen Reich sowie ihre Kontrolle der Meerengen aufgegeben all das in der Hoffnung, die Beziehungen zu Großbritannien zu verbessern und Frankreich zu isolieren.

Aus Sicht des Zaren konnte es nur eine vorübergehende Maßnahme sein, die Macht des Sultans zu stützen. Während die Franzosen durch ihren Einsatz für die Rebellion geschwächt waren und Russland seiner Meinung nach mit den Briten eine neue Übereinkunft im Nahen Osten erreicht hatte, gelangte Nikolaus zu dem Schluss, dass die Londoner Konvention die Möglichkeit eines formelleren Bündnisses zwischen Russland und Großbritannien eröffnete. Die Wahl einer konservativen Regierung unter Sir Robert Peel im Jahr 1841 bekräftigte die Hoffnung des Zaren, denn die Tories standen den Russen weniger feindlich gegenüber als die vorherige Whig-Regierung von Lord Melbourne (1835–1841). Nach Überzeugung des Zaren würden die Tories positiv auf seinen Vorschlag reagieren, wonach Russland und Großbritannien die Initiative in Europa ergreifen und über die Zukunft des Osmanischen Reiches entscheiden sollten. Im Jahr 1844 brach Nikolaus zuversichtlich, dass er die Briten für seine Teilungspläne gewinnen könne nach London auf.

Sein plötzliches Eintreffen im Juni überraschte alle Beteiligten. Seit dem Frühjahr war vage über seinen Besuch gesprochen worden. Peel hatte den Gedanken auf einem Bankett für die Russische Handelsgesellschaft in der London Tavern am 2. März begrüßt, und drei Tage später hatte Außenminister Lord Aberdeen über Baron Brunow eine förmliche Einladung erteilt, in der er dem Zaren versicherte, dass sein Erscheinen in Großbritannien »jegliches polnische Vorurteil [gegen Russland] zerstreuen« werde. »Es ist bedeutsam, dass sich ein reservierter und nervöser Mann wie Aberdeen so zuversichtlich über diese Angelegenheit äußert«, schrieb Brunow an Nesselrode. Was die Königin anging, so zögerte sie zunächst, den Zaren zu empfangen. Die Ursache war sein langjähriger Konflikt mit ihrem Onkel Leopold, dem König des gerade unabhängig gewordenen Belgien, der in den dreißiger Jahren viele polnische Aussiedler in seiner Armee aufgenommen hatte. Entschlossen, die legitimistischen Prinzipien der Heiligen Allianz aufrechtzuerhalten, hatte Nikolaus die durch die französische und die belgische Revolution von 1830 gestürzten Monarchien wiederherstellen wollen, woran er nur durch den polnischen Aufstand in Warschau im November desselben Jahres gehindert worden war. Seine Interventionsdrohungen hatten ihm das Misstrauen westeuropäischer Liberaler eingebracht, die ihn als »Gendarmen Europas« bezeichneten, während die polnischen Rebellen, die nach der Unterdrückung ihrer Revolte ins Ausland geflohen waren, in Paris, Brüssel und London mit offenen Armen aufgenommen wurden. Ebendiese Entwicklungen bereiteten Königin Viktoria Sorge, doch schließlich ließ sie sich von ihrem Gatten Prinz Albert (der ebenfalls ein Neffe von König Leopold war) überzeugen, dass ein Besuch des Zaren dazu beitragen werde, die Beziehungen zwischen den Herrscherhäusern des Kontinents zu verbessern. In ihrer Einladung an den Zaren hatte Viktoria erklärt, dass sie ihn Ende Mai oder Anfang Juni mit Freuden begrüßen werde, doch war kein Datum festgelegt worden. Mitte Mai stand immer noch nicht fest, ob Nikolaus kommen würde. Schließlich erfuhr die Königin erst wenige Stunden vor dem Eintreffen des Dampfers in Woolwich von seiner Ankunft. Ihre engeren Mitarbeiter gerieten in Panik, nicht zuletzt, weil man am selben Tag einen Besuch des Königs von Sachsen erwartete. Folglich wurden hastige, improvisierte Vorbereitungen für den Empfang des Zaren getroffen.4

Der spontane Besuch des Zaren war eines der vielen Anzeichen seiner wachsenden Unbedachtheit. Nach achtzehn Jahren auf dem Thron büßte er allmählich jene Eigenschaften ein, die seine frühe Herrschaft charakterisiert hatten: Vorsicht, Konservatismus und Zurückhaltung. Zunehmend im Bann jener psychischen Erbkrankheit, die schon Alexander in dessen letzten Jahren gequält hatte, wurde Nikolaus ungeduldig und impulsiv, was ihn zum Beispiel veranlasste, nach London zu eilen, um den Briten seinen Willen aufzuzwingen. Seine Unberechenbarkeit fiel Prinz Albert und der Königin auf, die ihrem Onkel Leopold schrieb: »Albert hält ihn für einen Mann, der dazu neigt, sich viel zu sehr von Impulsen und Gefühlen beeinflussen zu lassen, wodurch er häufig falsch handelt.«5

Am Tag nach seiner Ankunft empfing die Queen den Zaren im Buckingham Palace. Er kam mit den Herzogen von Cambridge, Wellington und Gloucester zusammen und besichtigte danach die modischen Straßen des Londoner Westend. Er inspizierte die Bauarbeiten an den Parlamentsgebäuden, die damals nach dem Brand von 1834 rekonstruiert wurden, und besuchte den gerade fertiggestellten Regent’s Park. Am Abend reiste die kaiserliche Gesellschaft mit dem Zug nach Windsor, wo sie sich in den folgenden fünf Tagen aufhielt. Nikolaus erstaunte die Dienerschaft durch seine spartanischen Gewohnheiten. Nachdem man seinen Kammerdienern das Schlafgemach des Zaren in Schloss Windsor gezeigt hatte, ließen sie als Erstes etwas Heu aus dem Stall herbeibringen, um damit den Ledersack auszustopfen, den der Herrscher stets als Matratze für sein Feldbett benutzte.6

Da die Königin hochschwanger war und die Sachsen-Coburgs um Prinz Alberts Vater trauerten, wurde kein königlicher Ball zu Ehren des Zaren abgehalten. Dafür gab es zahlreiche andere Vergnügungen: Jagdgesellschaften, Militärparaden, Ausflüge zu den Pferderennen in Ascot (wo man den Gold Cup zu Ehren von Nikolaus in Emperor’s Plate umbenannte*), einen Abend mit der Königin in der Oper und ein glanzvolles Bankett, bei dem sechzig Gäste 53 Gerichte vertilgten, die auf dem Grand Service, der wohl erlesensten Sammlung vergoldeten Silbergeschirrs der Welt, aufgetischt wurden. An den beiden letzten Abenden fanden große Diners statt, zu denen die männlichen Gäste in Militäruniform erschienen. Dies entsprach den Wünschen des Zaren, der sich en frac unbehaglich fühlte und der Königin gegenüber zugab, dass es ihm peinlich sei, keine Uniform zu tragen.7

Als eine Art Charmeoffensive war der Besuch des Zaren ein großer Erfolg. Gesellschaftsdamen zeigten sich entzückt über sein gutes Aussehen und seine vorzüglichen Manieren. »Er ist immer noch ein großer Verehrer weiblicher Schönheit«, bemerkte Baron Stockmar. »Alle seine alten englischen Flammen behandelte er mit großer Aufmerksamkeit.« Auch die Königin erwärmte sich für ihn. Sie fand »seine Formen höchst würdig und gefällig«, mochte seine Freundlichkeit Kindern gegenüber und respektierte seine Aufrichtigkeit, obwohl sie ihn als recht traurig einschätzte. »Er macht auf mich und Albert den Eindruck eines Menschen, der nicht glücklich ist und auf dem das Gewicht seiner ungeheuren Macht und Stellung schwer und drückend liegt«, teilte sie Leopold am 4. Juni mit. »Er lächelt selten, und tut er es, so ist sein Gesichtsausdruck nicht der eines Glücklichen.« Eine Woche später, am Ende der Reise, schrieb sie ihrem Onkel erneut und ließ ihm eine scharfsinnige Charakterstudie des Zaren zukommen:

Er hat vieles an sich, was ich nicht umhin kann, gerne zu haben, und ich glaube, sein Charakter ist ein solcher, der erst verstanden sein muß. Er ist streng und ernst, mit eingewurzelten Grundsätzen über seine Pflicht, die nichts auf Erden ihn veranlassen könnte, zu ändern. Für sehr geistreich halte ich ihn nicht, und sein Geist ist ohne Kultur; seine Erziehung ist vernachlässigt worden; Politik und militärische Angelegenheiten sind das einzige, für das er sich interessiert; für die Künste und alle friedlichen Beschäftigungen hat er keinen Sinn, aber er ist aufrichtig, ich bin dessen sicher, aufrichtig selbst bei seinen despotischen Handlungen, weil er der Ansicht ist, daß dies die einzige Art sei, zu regieren.

Lord Melbourne, einer der russenfeindlichsten Whigs, kam bei einem Frühstück in Chiswick House, dem Mittelpunkt des Whig-Establishments, sehr gut mit Nikolaus aus. Sogar Palmerston, der frühere außenpolitsche Sprecher der Whigs, der für seinen harten Kurs gegenüber Russland bekannt war, hielt es für wichtig, dass dem Zaren ein »vorteilhafter Eindruck von England« vermittelt wurde: »Er ist sehr mächtig und könnte zu unseren Gunsten handeln oder uns Schaden zufügen, je nachdem, ob er uns wohlgesinnt ist oder uns feindselige Gefühle entgegenbringt.«8

Während seines Aufenthalts in England führte der Zar eine Reihe politischer Gespräche mit der Königin und Prinz Albert sowie mit Peel und Aberdeen. Die Briten waren überrascht über seine Freimütigkeit. Die Königin hielt ihn sogar für »zu freimütig, denn er spricht so offen vor anderen Menschen, was er nicht tun sollte, und zügelt sich nur mühsam«, wie sie Leopold schrieb. Der Zar war zu dem Schluss gelangt, dass Offenheit die einzige Methode sei, um das Misstrauen und die Vorurteile der Briten gegenüber Russland zu überwinden. »Ich weiß, man hält mich für einen Schauspieler«, erklärte er Peel und Aberdeen, »aber ich bin es nicht; ich bin aufrichtig, sage, was ich meine, und halte mein Wort.«9

Zur Frage Belgiens ließ der Zar wissen, dass er seine Beziehungen zu Leopold gern verbessern würde, doch »solange polnische Offiziere im Dienst des Königs stehen, ist dies ganz unmöglich«. Beim Meinungsaustausch mit Aberdeen, »nicht als Kaiser mit einem Minister, sondern wie zwei Gentlemen«, erläuterte er seine Denkweise und äußerte Groll über die westliche Doppelmoral im Hinblick auf Russland:

Die Polen rebellierten und rebellieren noch gegen meine Herrschaft. Wäre es akzeptabel für einen Gentleman, Menschen in den Dienst zu nehmen, die sich der Rebellion gegen seinen Freund schuldig gemacht haben? Leopold nahm diese Rebellen unter seine Fittiche. Was würden Sie sagen, wenn ich der Gönner von O’Connell [dem irischen Unabhängigkeitsführer] würde und daran dächte, ihn zu meinem Minister zu machen?

Was Frankreich anbelangte, so wünschte Nikolaus, dass Großbritannien zusammen mit Russland eine Eindämmungspolitik betrieb. In Anspielung an den britischen Argwohn gegenüber den Franzosen nach den Napoleonischen Kriegen ließ er Peel und Aberdeen wissen, dass Frankreich »nie wieder die Möglichkeit haben sollte, Unordnung zu stiften und seine Heere über seine Grenzen hinaus marschieren zu lassen«. Er hoffte, Großbritannien und Russland könnten durch ihre gemeinsamen Interessen gegenüber Frankreich zu Verbündeten werden. »Durch persönlichen Verkehr hoffe ich jene Vorurtheile zu vernichten«, betonte er. »Denn ich achte England hoch, was aber die Franzosen von mir sagen, achte ich nicht. I spit upon it (ich speie darauf).«10

Vor allem ging Nikolaus auf die britische Sorge über die französische Politik im Nahen Osten ein dies war das Hauptthema seiner Gespräche mit Peel und Aberdeen. »Die Türkei ist ein Sterbender«, erklärte er ihnen.

Wir mögen suchen sie am Leben zu erhalten, aber es wird uns nicht gelingen. Sie wird, sie muß sterben. Das wird ein kritischer Moment. Ich sehe voraus, ich werde meine Armeen marschieren lassen müssen. Dann wird Östreich dasselbe thun. Ich fürchte dabei niemand als Frankreich. Was wird es wollen? Ich fürchte viel: in Afrika, im mittelländischen Meere, im Orient selbst. Erinnern Sie sich der Expedition nach Ancona [1832]? Warum sollte es nicht ähnliche nach Candia [Kreta], nach Smyrna machen? Muß in solchen Fällen England nicht mit seiner ganzen Seemacht auf dem Platze sein? Also eine russische Armee, eine östreichische, eine große englische Flotte in jenen Gegenden! So viele Pulverfässer in der Nähe des Feuers!

Der Zar vertrat den Standpunkt, dass es für die europäischen Mächte, vornehmlich für Russland und Großbritannien, an der Zeit sei, einzugreifen und die Teilung der türkischen Territorien zu gestalten, um ein chaotisches Gerangel, womöglich mit nationalen Revolutionen und einem Kontinentalkrieg, zu vermeiden, wenn das Reich des Sultans schließlich zusammenbrach. Er unterstrich Peel und Aberdeen gegenüber seine feste Überzeugung, dass das Osmanische Reich bald zusammenstürzen werde und dass Russland und Großbritannien gemeinsame Pläne für diese Eventualität schmieden sollten, schon um zu verhindern, dass die Franzosen Ägypten und das östliche Mittelmeergebiet an sich brachten eine Sorge, die damals das britische Denken beherrschte. Wie der Zar Peel mitteilte:

Ich will nicht einen Zoll von der Türkei, aber ich will auch nicht erlauben, daß ein Anderer einen Zoll davon bekomme …

Jetzt kann man nicht darüber stipuliren, was aus der Türkei, wenn sie todt, gemacht werden solle. Solche Stipulationen würden ihren Tod beschleunigen. Daher werde ich alles aufbieten den Status quo zu erhalten.

Aber man muß den möglichen eventuellen Fall ehrlich und vernünftig ins Auge fassen, man muß zu verständigen Erwägungen, zu aufrichtiger, redlicher Einigung kommen.11

Peel und Aberdeen räumten ein, dass man für die mögliche Teilung des Osmanischen Reiches vorausplanen müsse, doch erst wenn sich die Notwendigkeit ergebe, und das sei für sie noch nicht der Fall. Ein Geheimmemorandum mit den Schlussfolgerungen aus den Gesprächen wurde von Brunow aufgesetzt und von Nikolaus und Aberdeen akzeptiert (wenn auch nicht unterzeichnet).

Der Zar verließ England in der festen Überzeugung, dass es in seinen Begegnungen mit Peel und Aberdeen zu politischen Absichtserklärungen gekommen sei und dass er sich nun auf eine Partnerschaft mit Großbritannien einstellen könne, die einen koordinierten Plan, wann immer erforderlich, für die Teilung des Osmanischen Reiches vorsah, um die Interessen der beiden Mächte zu wahren. Dies war keine unbegründete Vermutung, denn schließlich wurden seine Bemühungen in London durch ein Geheimmemorandum belegt. In Wirklichkeit aber war es ein fataler Irrtum von ihm zu glauben, er habe mit der britischen Regierung ein »Gentlemen’s Agreement« über die Orientalische Frage geschlossen. Die Briten betrachteten die Gespräche lediglich als Meinungsaustausch über beide Mächte interessierende Fragen und nicht als offiziell bindend. Nikolaus glaubte, es komme nur auf den Standpunkt der Königin und ihrer obersten Minister an, und so unterschätzte er den Einfluss des Parlaments, der Oppositionsparteien, der öffentlichen Meinung und der Presse auf die Außenpolitik der britischen Regierung. Dieses Missverständnis sollte eine entscheidende Rolle für die diplomatischen Fehler spielen, die Nikolaus im Vorfeld des Krimkriegs beging.

* * *

Der Besuch des Zaren in London konnte das britische Misstrauen gegenüber Russland, das sich seit Jahrzehnten angestaut hatte, nicht zerstreuen. Trotz der Tatsache, dass die russische Bedrohung britischer Interessen minimal war und dass die Handels- und diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern in den Jahren vor dem Krimkrieg unproblematisch erschienen, dürfte die Russophobie das ausgeprägteste und hartnäckigste Element der britischen Einstellung zur Außenwelt gewesen sein. Überall in Europa wurde die Einschätzung Russlands in erster Linie durch Ängste und Fantasien bestimmt, und in diesem Sinne bildete Großbritannien keine Ausnahme. Die rasche Gebietsexpansion des Russischen Reiches im 18. Jahrhundert und die Demonstration seiner Militärmacht gegen Napoleon hatten einen tiefen Eindruck in der europäischen Psyche hinterlassen. Im frühen 19. Jahrhundert kam es zu einer Flut europäischer Publikationen Streitschriften, Reiseberichte und politische Abhandlungen über »die russische Bedrohung« für den Kontinent. Sie wurde im selben Maße durch die Vorstellung verursacht, dass eine asiatische »andersartige« Macht die Freiheiten und die Kultur Europas gefährdete, wie durch irgendeine reale oder wahrzunehmende Bedrohung. Das Klischee Russlands, das aus diesen überspannten Schriften hervorging, war das einer brutalen Macht, die von Natur aus aggressiv und expansionistisch, doch auch hinreichend verschlagen und betrügerisch war, um sich mit »unsichtbaren Kräften« gegen den Westen zu verschwören und um andere Gesellschaften zu infiltrieren.**

Die dokumentarische Basis dieser »russischen Bedrohung« lieferte das sogenannte Testament Peters des Großen, das russlandfeindliche Schriftsteller, Politiker, Diplomaten und Militärs weithin als augenscheinlichen Beweis für die Ambitionen Russlands zur Beherrschung der Welt zitierten. Peters Ziele in diesem Dokument wirkten größenwahnsinnig: Angeblich wollte er Russland an der Ostsee und am Schwarzen Meer ausweiten, sich mit den Österreichern verbünden, um die Türken aus Europa zu vertreiben, die Levante erobern und den Handel mit Vorder- und Hinterindien kontrollieren, Zwietracht und Verwirrung in Europa säen und sich zum Gebieter des europäischen Kontinents aufwerfen.

Das »Testament« war eine Fälschung. Verschiedene polnische, ungarische und ukrainische Personen, die mit Frankreich und den Osmanen verbunden waren, schufen es irgendwann Anfang des 18. Jahrhunderts, und es durchlief mehrere Entwürfe, bevor die endgültige Version in den sechziger Jahren ins Archiv des französischen Außenministeriums gelangte. Aus politischen Gründen waren die Franzosen geneigt, an die Echtheit des »Testaments« zu glauben, denn all ihre Hauptverbündeten in Osteuropa (Schweden, Polen und die Türkei) waren durch Russland geschwächt worden. Die Überzeugung, wonach das »Testament« die russischen Ziele widerspiegele, bildete die Grundlage der Außenpolitik Frankreichs im 18. und frühen 19. Jahrhundert.12

Napoleon I. ließ sich besonders stark durch das »Testament« beeinflussen. Seine höchsten Berater zitierten dessen Ideen und Formulierungen ausgiebig und behaupteten, mit den Worten von Charles Maurice de Talleyrand, dem Außenminister während des Direktoriums und des Konsulats (1795–1804), dass »das gesamte System [des Russischen Reiches], an das man sich seit Peter I. ständig hält , darauf angelegt ist, Europa erneut durch eine Flut von Barbaren zu überschwemmen«. Solche Vorstellungen wurden noch deutlicher von Alexandre d’Hauterive vorgebracht, einem maßgeblichen Mann im Außenministerium, der das Vertrauen von Bonaparte genoss:

In Zeiten des Krieges strebt Russland danach, seine Nachbarn zu besiegen; in Zeiten des Friedens strebt es danach, nicht nur seine Nachbarn, sondern sämtliche Länder der Welt in einen Zustand der Verwirrung aus Misstrauen, Aufruhr und Zwietracht zu zwingen … Man weiß sehr gut, was diese Macht in Europa und Asien usurpiert hat. Sie versucht, das Osmanische Reich zu zerstören; sie versucht, das Deutsche Reich zu zerstören. Russland bewegt sich nicht direkt auf sein Ziel zu …, sondern es untergräbt die Grundlagen [des Osmanischen Reiches] auf hinterhältige Art; es schürt Intrigen; es fördert Rebellion in den Provinzen … Gleichzeitig hört es nicht auf, die wohlwollendsten Gefühle für die Hohe Pforte zu bekunden; es bezeichnet sich stets als Freund, als Beschützer des Osmanischen Reiches. Auf ähnliche Weise wird Russland … das Haus Österreich angreifen … Dann wird es keinen Wiener Hof [sic!] mehr geben; dann werden wir, die westlichen Nationen, eine der Schranken verloren haben, die uns am ehesten vor den Überfällen Russlands schützen kann.13

Das »Testament« wurde von den Franzosen 1812 im Jahr ihres Einmarsches in Russland veröffentlicht, und fortan vervielfältigte und zitierte man es in ganz Europa als schlüssigen Beweis für die expansionistische russische Außenpolitik. Vor jedem Krieg, in den Russland auf dem europäischen Kontinent verwickelt war 1854, 1878, 1914 und 1941 , veröffentlichte man es erneut, und während des Kalten Krieges diente es dazu, die aggressiven Absichten der Sowjetunion zu erläutern. Während der sowjetischen Invasion in Afghanistan von 1979 zogen der Christian Science Monitor, die Zeitschrift Time und das britische Unterhaus den Text heran, um die Ursprünge der Moskauer Ziele zu verdeutlichen.14

Nirgends war sein Einfluss offensichtlicher als in Großbritannien, wo irrationale Ängste vor der russischen Bedrohung und nicht bloß im Hinblick auf Indien zum journalistischen Alltag gehörten. »Die Russen hegen seit langem eine sehr allgemeine Überzeugung, wonach sie berufen sind, die Herrscher der Welt zu werden, und dieser Gedanke kommt mehrfach in Veröffentlichungen in der russischen Sprache zum Ausdruck«, verkündete der Morning Chronicle im Jahr 1817. Sogar seriöse Zeitschriften erlagen der Ansicht, dass der Sieg über Napoleon Russland den Weg zur potenziellen Beherrschung der Welt bereitet habe. Im Rückblick auf die Ereignisse der vorangegangenen Jahre schrieb die Edinburgh Review 1817, dass es »viel weniger extrem erschienen wäre, den Einzug eines russischen Heeres in Delhi oder gar Kalkutta vorherzusagen als seinen Einzug in Paris«.15 Die britischen Ängste wurden durch die laienhaften Meinungen und Eindrücke von Reiseschriftstellern über Russland und den Orient gestützt von Vertretern eines literarisches Genres, das im frühen 19. Jahrhundert einen gewissen Boom erlebte. Diese Reisebücher wirkten sich nicht nur maßgebend auf die öffentliche Wahrnehmung Russlands aus, sondern sie lieferten auch einen großen Teil der Grundkenntnisse, mit denen Whitehall seine Politik gegenüber jenem Land gestaltete.

Einer der frühesten und umstrittensten derartigen Reiseberichte war A Sketch of the Military and Political Power of Russia in the Year 1817 von Sir Robert Wilson, einem ehemaligen Soldaten der Napoleonischen Kriege, der kurzfristig als Verbindungsoffizier in der russischen Armee gedient hatte. Wilson stellte eine Reihe übertriebener Behauptungen auf, die sich weder beweisen noch widerlegen ließen. Allerdings präsentierte er sie als das Ergebnis seines Insiderwissens über die zaristische Regierung: Russland sei entschlossen, die Türken aus Europa zu vertreiben, Persien zu erobern, nach Indien zu marschieren und die Weltherrschaft zu übernehmen. Wilsons Spekulationen waren so übertrieben, dass man sich hier und da über sie lustig machte (die Times schrieb, Russland könne womöglich zum Kap der Guten Hoffnung, zum Südpol und zum Mond vorstoßen), aber dafür garantierten die extremen Thesen seinem Pamphlet Aufmerksamkeit, und es wurde weithin diskutiert und rezensiert. Die Edinburgh Review und die Quarterly Review die in Regierungskreisen am häufigsten gelesenen und angesehensten Zeitschriften stimmten darin überein, dass Wilson die unmittelbare Bedrohung durch Russland überzeichnet habe, lobten ihn jedoch trotzdem für die Beschäftigung mit dem Thema und meinten, dem russischen Verhalten gebühre in Zukunft die »gründliche Prüfung des Misstrauens«.16 Mit anderen Worten, die allgemeine Prämisse von Wilsons extremen Aussagen dass der russische Expansionismus eine Gefahr für die Welt sei müsse nun akzeptiert werden.

Von diesem Zeitpunkt an ging die fiktive russische Bedrohung als Realität in den politischen Diskurs Großbritanniens ein. Die Idee, dass Russland Pläne für die Überwältigung des Vorderen Orients und möglicherweise für die Eroberung des Britischen Empire schmiede, erschien regelmäßig in Streitschriften, die in den dreißiger und vierziger Jahren ihrerseits von russophoben Propagandisten als objektive Belege angeführt wurden.

Die einflussreichste dieser Schriften war das bereits behandelte On the Designs of Russia, in dem der künftige Krimkriegbefehlshaber George de Lacey Evans erstmals die von den russischen Aktivitäten in Kleinasien herrührende Gefahr darstellte. Das Pamphlet war indes noch aus einem anderen Grund beachtenswert, denn darin erläuterte de Lacey Evans den frühesten detaillierten Plan für die Zerstückelung des Russischen Reiches ein Vorhaben, welches das Kabinett während des Krimkriegs erneut aufgreifen sollte. Er befürwortete einen Präventivkrieg gegen Russland, um dessen aggressiven Absichten Einhalt zu gebieten. Dazu schwebten ihm Angriffe in Polen, Finnland, am Schwarzen Meer und im Kaukasus vor, wo die Russen am verwundbarsten waren. Sein Acht-Punkte-Plan liest sich fast wie ein Entwurf der umfassenderen britischen Ziele gegenüber Russland während des Krimkriegs:

1. Man unterbinde den Handel mit Russland, damit die Adligen ihre Gewinne einbüßen und sich gegen die zaristische Regierung wenden.

2. Man zerstöre die Flottendepots in Kronstadt, Sewastopol etc.

3. Man lanciere eine Reihe »räuberischer und angemessen unterstützter Überfälle an seinen Meeresgrenzen, besonders am Schwarzen Meer, wo es an den Küsten und sogar in der Etappe hinter seinen Militärposten eine Vielzahl ungebändigter, bewaffneter, unbezähmbarer im Gebirge lebender Feinde hat «

4. Man helfe den Persern, den Kaukasus zurückzugewinnen.

5. Man entsende ein großes Korps und eine Flotte zum Finnischen Meerbusen, »um die Flanken und die Reserven der russischen Heere in Polen und Finnland zu bedrohen«.

6. Man finanziere Revolutionäre, damit diese »Aufstände und einen Leibeigenenkrieg anzetteln«.

7. Man bombardiere St. Petersburg, »wenn das praktikabel ist«.

8. Man entsende Heere nach Polen und Finnland, »um diese Staaten von Russland zu befreien«.17

David Urquhart, der berühmte Turkophile, sprach sich ebenfalls für einen Präventivkrieg gegen Russland aus. Kein Schriftsteller trug stärker als er dazu bei, die britische Öffentlichkeit auf den Krimkrieg vorzubereiten. Dieser in Oxford als Altphilologe ausgebildete Schotte begegnete der Orientalischen Frage zum ersten Mal 1827, als er im Alter von 22 Jahren einer Gruppe von Freiwilligen beitrat, um für die griechische Sache zu kämpfen. Er unternahm lange Reisen durch die europäische Türkei, begeisterte sich für die Tugenden der Bevölkerung, lernte Türkisch und zeitgenössisches Griechisch, trug türkische Kleidung und erwarb sich 1831 durch seine Berichte im Morning Courier rasch einen Ruf als Türkeiexperte. Urquhart nutzte seine Familienbeziehung zu Sir Herbert Taylor, dem Privatsekretär von König William IV., und ließ sich an Stratford Cannings Botschaft in Konstantinopel versetzen, wo er im November 1831 eine endgültige griechische Grenzregelung aushandelte. Während seines dortigen Aufenthalts gelangte er zu der Überzeugung, dass eine russische Intervention in der Türkei bedrohlich sein würde. Ermutigt von seinen Gönnern am Hof, schrieb er Turkey and Its Resources (1833), worin er bestritt, dass das Osmanische Reich dem Zusammenbruch nahe sei. Vielmehr hob er die geschäftlichen Möglichkeiten hervor, die sich Großbritannien bieten würden, falls es der Türkei Hilfe leistete und sie vor russischen Aggressionen schützte. Der Erfolg des Buches brachte Urquhart das Wohlwollen von Lord Palmerston, dem Außenminister in der Regierung von Lord Grey (1830–1834), und eine neuerliche Berufung in die türkische Hauptstadt ein, wo er im Rahmen einer Geheimmission die Aussichten für den britischen Handel mit dem Balkan, der Türkei, Persien, Südrussland und Afghanistan untersuchen sollte.

In Konstantinopel wurde Urquhart zu einem engen politischen Verbündeten des britischen Botschafters Lord John Ponsonby, eines Russenhassers, der unerschütterlich in seinem Glauben war, dass der Zar die Türkei unterjochen wolle. Ponsonby drängte die britische Regierung, Kriegsschiffe ins Schwarze Meer zu schicken und den muslimischen Stämmen des Kaukasus in ihrem Kampf gegen Russland beizustehen (1834 erhielt er sogar von Palmerston die »Ermessensfreiheit«, britische Kriegsschiffe ins Schwarze Meer zu beordern, doch diese wurde bald vom Herzog von Wellington rückgängig gemacht, der es nicht für ratsam hielt, einem derart notorischen Russlandfeind die Macht zur Kriegführung einzuräumen). Unter Ponsonbys Einfluss widmete sich Urquhart zunehmend politischen Aktivitäten. Er beschränkte sich nicht auf schriftliche Ratschläge, sondern bemühte sich tatsächlich, einen Krieg gegen die Russen herbeizuführen. Im Jahr 1834 besuchte er die Tscherkessenstämme und sicherte ihnen britische Hilfe gegen die russische Besatzung zu ein Akt der Provokation gegenüber Russland, der Palmerston zwang, ihn nach London zurückzubeordern.

Dort verschärfte Urquhart seine Anstrengungen, die Briten in der Türkei zu militärischen Schritten gegen Russland zu veranlassen. Das Pamphlet England, France, Russia and Turkey, das er zusammen mit Ponsonby geschrieben hatte, erschien im Dezember 1834. Es erhielt sehr positive Besprechungen und erfuhr innerhalb eines Jahres fünf Auflagen. Durch diesen Erfolg bestätigt, gründete Urquhart im November 1835 eine Zeitschrift, The Portfolio, in der er seine russlandfeindlichen Ansichten zum Ausdruck brachte. Die folgende ist typisch: »Die Ignoranz des russischen Volkes trennt es von der Gemeinschaft mit den Gefühlen anderer Nationen und veranlasst es, jede Kritik an der Ungerechtigkeit seiner Herrscher als Angriff auf sich selbst zu verstehen, und die Regierung hat durch ihre Handlungen bereits ihre Entschlossenheit deutlich gemacht, sich keinem moralischen Einfluss von außerhalb zu unterwerfen.«18

Auf eine weitere Provokation lief es hinaus, dass Urquhart in The Portfolio die vermeintlichen Kopien russischer diplomatischer Urkunden veröffentlichte, die angeblich während des Warschauer Aufstands vom November 1830 aus dem Palast des Großfürsten Konstantin, des Gouverneurs von Polen, gestohlen und durch polnische Emigranten an Palmerston weitergegeben worden waren. Die meisten, wenn nicht alle dieser Dokumente hatte Urquhart gefälscht, darunter einen »unterdrückten Abschnitt einer Rede«, in der Zar Nikolaus behauptet haben soll, dass Russland seine repressiven Maßnahmen erst einstellen werde, wenn es Polen vollständig unterjocht und eine angeblich von den Tscherkessenstämmen verkündete »Unabhängigkeitserklärung« erreicht habe. Das Klima der Russophobie war jedoch so ausgeprägt, dass die britische Presse die Dokumente großenteils als authentisch anerkannte.19

Im Jahr 1836 kehrte Urquhart als Botschaftssekretär nach Konstantinopel zurück. Sein wachsender Ruhm und Einfluss in britischen diplomatischen und politischen Kreisen hatten Palmerston genötigt, ihn wieder mit einem Posten zu betrauen, obwohl seine Rolle in der türkischen Hauptstadt recht begrenzt war. Erneut trat Urquhart für die Tscherkessen ein und versuchte, einen Konflikt zwischen Russland und Großbritannien anzuzetteln. Seine bis dahin unverschämteste Tat bestand darin, einen britischen Schoner, die Vixen, nach Tscherkessien zu entsenden und so das russische Embargo gegen ausländische Schiffe an der östlichen Schwarzmeerküste, das im Rahmen des Vertrags von Adrianopel verhängt worden war, bewusst zu verletzen. Die Vixen gehörte der Reederei George and James Bell aus Glasgow und London, die bereits mit den Russen wegen deren lästiger Quarantänebestimmungen auf der Donau in Konflikt geraten war. Offiziell hatte die Vixen Salz geladen, doch in Wirklichkeit beförderte sie eine große Menge an Waffen für die Tscherkessen. Ponsonby war in Konstantinopel über die geplante Reise unterrichtet worden und tat nichts, um sie zu verhindern; andererseits reagierte er auch nicht auf die Anfragen der Bells, ob das Foreign Office das Embargo anerkenne und ob Großbritannien ihre Schifffahrtsrechte verteidigen werde, wie Urquhart ihnen versichert hatte. Die Russen waren über Urquharts Pläne informiert: Im Sommer 1836 hatte sich der Zar bereits beim britischen Botschafter in St. Petersburg über einen von Urquharts Anhängern beschwert, der nach Tscherkessien gereist war und britischen Beistand für den Krieg gegen Russland versprochen hatte. Die Vixen stach im Oktober in See. Wie Urquhart erwartet hatte, wurde sie an der Kaukasusküste, bei Soujouk Kalé, von einem russischen Kriegsschiff aufgebracht, was in der Times und anderen Zeitungen lauten Tadel und Aufrufe zum Krieg auslöste. Ponsonby bedrängte Palmerston, eine Flotte ins Schwarze Meer zu entsenden. Obwohl der Außenminister zögerte, das Embargo Russlands und seine Ansprüche auf Tscherkessien anzuerkennen, war er gleichwohl nicht bereit, sich von Urquhart, Ponsonby und der britischen Presse in einen Krieg treiben zu lassen. Er gab zu, dass die Vixen die russischen Bestimmungen verletzt hatte, die von Großbritannien akzeptiert wurden, jedoch nur in Bezug auf Soujouk Kalé, nicht auf die gesamte Kaukasusküste.

1837 wurde Urquhart erneut aus Konstantinopel zurückbeordert, aus dem auswärtigen Dienst entlassen und von Palmerston der Verletzung der Schweigepflicht bezichtigt. Urquhart behauptete stets, Palmerston habe von dem Vixen-Plan gewusst, und empfand jahrelang tiefen Groll auf den Außenminister, der ihn angeblich verraten hatte. Während London auf eine Entente mit Russland zusteuerte, wurde Urquhart immer frustrierter und verlangte einen extremen antirussischen Kurs (einen Krieg nicht ausgeschlossen), um den Handel Großbritanniens und seine Interessen in Indien zu schützen. Er warf Palmerston sogar vor, im Sold der russischen Regierung zu stehen. Diese Anklage wurde von seinen Parteigängern in der Presse aufgegriffen, etwa von der Times, die wesentlichen Einfluss auf die mittelständische Meinung ausübte und sich dem Urquhart-Lager anschloss, um Palmerstons »prorussische« Außenpolitik zu bekämpfen. 1839 errang eine lange Reihe von Leserbriefen an die Times der Verfasser war »Anglicus«, ein Pseudonym von Urquharts Anhänger Henry Parish fast den Status von Leitartikeln; darin warnte Parish vor einem gefährlichen Kompromiss mit einem Reich, das die Herrschaft über Europa und Asien anstrebe.

Urquhart setzte seine Angriffe auf Russland im Unterhaus fort, in das er 1847 als unabhängiger Kandidat gewählt wurde (wobei er das Grün und Gelb von Tscherkessien zu seiner Fahne machte). Mittlerweile war Palmerston Außenminister in Lord John Russells Whig-Regierung, die ihr Amt 1846 antrat, nachdem sich die Konservativen wegen der Aufhebung von Importzöllen für Getreideprodukte (Korn-Gesetze) gespalten hatten. Urquhart erneuerte die Vorwürfe an Palmerstons Adresse und führte 1848 sogar eine Kampagne mit dem Ziel an, ihn wegen seiner nicht hinreichend aggressiven Politik gegenüber Russland des Amtes zu entheben. In einer fünfstündigen Rede im Unterhaus hielt Urquharts Hauptverbündeter, der Abgeordnete Thomas Anstey, Palmerston eine schändliche Außenpolitik vor, welche die nationale Sicherheit Großbritanniens gefährde, da sie die Freiheit Europas nicht gegen russische Feindseligkeit verteidige. Anstey bezog sich insbesondere auf die konstitutionellen Freiheiten Polens, deren Aufrechterhaltung auf dem Wiener Kongress von 1815 von den anderen Mächten zur Bedingung dafür gemacht worden war, dass sie das polnische Königreich der Protektion des Zaren unterstellten. Durch Russlands brutale Niederschlagung des Warschauer Aufstands von 1831, erklärte Anstey, sei Großbritannien die Verpflichtung auferlegt worden, in Polen zugunsten der Rebellen einzugreifen, selbst auf das Risiko hin, einen europäischen Krieg gegen Russland zu riskieren. Palmerston erwiderte, es sei unrealistisch gewesen, die Polen mit Waffengewalt zu unterstützen. Gleichzeitig legte er die allgemeinen Prinzipien des liberalen Interventionismus dar, auf die er sich für den britischen Eintritt in den Krimkrieg erneut berufen sollte:

Ich meine, dass es die wirkliche Politik Englands ist – abgesehen von Fragen, die seine eigenen politischen oder geschäftlichen Interessen betreffen –, Vorkämpfer von Recht und Gerechtigkeit zu sein; diesen Kurs mit Mäßigung und Besonnenheit zu verfolgen, nicht zum Quixote der Welt zu werden, sondern das Gewicht seiner moralischen Sanktion und Hilfe dort einzusetzen, wo immer es die Gerechtigkeit vermutet und wo immer seiner Ansicht nach Unrecht begangen worden ist.20

Urquharts Russophobie mag im Konflikt mit der britischen Außenpolitik der vierziger Jahre gestanden haben, doch sie fand erheblichen Zuspruch im Parlament, wo eine mächtige Lobby seinen Forderungen nach einem härteren Kurs gegenüber Russland beipflichtete darunter Lord Stanley und Stratford Canning, der Ponsonby 1842 als Botschafter in Konstantinopel ablöste. Außerhalb des Parlaments fand Urquhart durch seinen Einsatz für den Freihandel (das wichtigste Reformproblem der vierziger Jahre) zahlreiche Bewunderer unter Geschäftsleuten aus den Midlands und dem Norden Englands. Diese Männer konnte er durch seine häufigen öffentlichen Reden davon überzeugen, dass die russischen Zölle eine Hauptursache der Wirtschaftsflaute Großbritanniens seien. Zudem war er in der Lage, sich auf einflussreiche Diplomaten und Schriftsteller zu stützen, darunter Henry Bulwer, Sir James Hudson und Thomas Wentworth Beaumont, Mitbegründer der British and Foreign Review, die durch Urquharts Einwirkung immer feindseliger gegenüber Russland wurde.

Im Lauf des Jahrzehnts war sogar in den gemäßigtsten intellektuellen Kreisen eine wachsende Russlandfeindlichkeit festzustellen. Anspruchsvolle Zeitschriften wie die Foreign Quarterly Review, welche die »schwarzseherischen« Warnungen vor einer russischen Gefahr für die Freiheit Europas und für die britischen Interessen im Orient vorher abgetan hatte, wurden nun ebenfalls von der antirussischen Stimmung ergriffen. Was die breitere Öffentlichkeit in Kirchen, Gasthäusern, Vorlesungssälen und auf Chartistenversammlungen*** anging, so wurde die Feindseligkeit gegenüber Russland rasch zu einem zentralen Bezugspunkt im politischen Diskurs über Freiheit, Kultur und Fortschritt, der dazu beitrug, die nationale Identität zu gestalten.

* * *

Neben den Sympathien für die Türkei und den Ängsten um Indien schürte nichts in Großbritannien die Russophobie so sehr wie die polnische Sache. In ganz Europa von Liberalen als gerechter und edler Freiheitskampf gegen die russische Tyrannei befürwortet, war der polnische Aufstand und seine brutale Niederwerfung maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Briten in die Angelegenheiten des Kontinents einbezogen wurden und dass sich die Spannungen verschärften, die zum Krimkrieg führten.

Die Geschichte Polens hätte kaum qualvoller verlaufen können. Im vorhergehenden halben Jahrhundert war das große alte polnische Gemeinwesen (das Königreich Polen, vereinigt mit dem Großherzogtum Litauen) nicht weniger als dreimal geteilt worden: zweimal (1772 und 1795) von allen drei Nachbarmächten (Russland, Österreich und Preußen) und einmal (1742) von den Russen und Preußen mit der Begründung, dass Polen eine Bastion revolutionärer Stimmungen geworden sei. Infolge dieser Teilungen hatte das polnische Königreich mehr als zwei Drittel seines Territoriums verloren. Aus verzweifelter Sorge, ihre Unabhängigkeit nie wiederzuerlangen, wandten sich die Polen 1806 Napoleon zu, nur um zu erleben, dass ihre Gebiete nach seiner Niederlage erneut zerstückelt wurden. Im Jahr 1815 schufen die europäischen Mächte durch den Vertrag von Wien Kongresspolen (dessen Fläche ungefähr jener des napoleonischen Herzogtums Warschau entsprach) und unterstellten es dem Zaren mit dem Vorbehalt, dass er die konstitutionellen Freiheiten Polens wahrte. Alexander erkannte die politische Autonomie des neuen Staates jedoch nie zur Gänze an es war schließlich viel verlangt, die Autokratie in Russland und den Konstitutionalismus in Polen miteinander zu verbinden , und die unterdrückerische Herrschaft von Nikolaus I. sorgte dann weiter dafür, dass sich viele Polen empörten. Während der zwanziger Jahre verstieß Russland immer wieder gegen die Vertragsbedingungen: Es schränkte die Freiheit der Presse ein, verhängte eigenmächtig Steuern und nutzte Sondervollmachten, um die liberalen Gegner der Zarenherrschaft zu verfolgen. Das Fass lief im November 1830 über, als der Vizekönig von Polen und Bruder des Zaren, Großfürst Konstantin, polnische Soldaten zur Niederschlagung der Revolutionen in Frankreich und Belgien einziehen wollte.

Der Aufstand begann damit, dass eine Gruppe polnischer Offiziere an der russischen Militärakademie in Warschau gegen den Befehl des Großfürsten rebellierte. Die Offiziere entwendeten Waffen aus ihrer Garnison und attackierten den Belvedere-Palast, den Hauptwohnsitz des Großfürsten, dem es jedoch gelang (in Frauenkleidung) zu entkommen. Die Rebellen besetzten das Warschauer Arsenal und vertrieben, unterstützt von bewaffneten Zivilisten, die russischen Einheiten aus der Hauptstadt. Das polnische Heer schloss sich dem Aufstand an, eine provisorische Regierung mit Fürst Adam Czartoryski an der Spitze wurde eingesetzt und ein nationales Parlament einberufen. Die Radikalen, welche die Kontrolle übernahmen, riefen einen Befreiungskrieg gegen Russland aus, hielten im Januar 1831 eine Zeremonie zur Entthronung des Zaren ab und verkündeten die polnische Unabhängigkeit. Innerhalb von Tagen nach der Proklamation überschritt das russische Heer die polnische Grenze und bewegte sich auf die Hauptstadt zu. Die Soldaten wurden von General Iwan Paskewitsch angeführt, der bereits in den Kriegen gegen die Türken und die kaukasischen Bergstämme gedient hatte. Seine rücksichtslosen Unterdrückungsmaßnahmen ließen seinen Namen in der nationalen Erinnerung Polens zu einem Synonym für russische Grausamkeit werden. Am 25. Februar schlug eine polnische Streitmacht von 40000 Mann an der Weichsel 60000 Russen zurück und rettete Warschau. Doch bald trafen russische Verstärkungen ein, die den polnischen Widerstand allmählich überwanden. Sie umzingelten die Stadt, in der hungrige Bürger zu plündern begannen und gegen die provisorische Regierung randalierten. Warschau fiel am 7. September nach schweren Straßenkämpfen. Statt sich den Russen zu ergeben, flohen die Überreste des polnischen Heeres, rund 20000 Mann, nach Preußen. Dort wurden sie interniert, denn auch Preußen herrschte über polnisches Gebiet und war mit Russland verbündet. Fürst Czartoryski gelangte nach Großbritannien, während etliche andere Rebellen Zuflucht in Frankreich und Belgien suchten, wo sie als Helden empfangen wurden.

Die Reaktion der britischen Öffentlichkeit war nicht weniger positiv. Nach dem Scheitern des Aufstands fanden Massenversammlungen statt und wurden Gesuche eingereicht, in denen Bürger gegen das russische Vorgehen protestierten und ein Eingreifen Großbritanniens forderten. Dem Aufruf zum Krieg gegen Russland schlossen sich viele Teile der Presse an, darunter die Times, die im Juli 1831 fragte: »Wie lange soll es Russland gestattet werden, gegen die alte und ehrwürdige Nation der Polen Krieg zu führen, die Verbündeten Frankreichs, die Freunde Englands, die natürlichen und vor Jahrhunderten bewährten siegreichen Beschützer des zivilisierten Europa vor den türkischen und moskowitischen Barbaren?« Vereinigungen der Freunde Polens wurden in London, Nottingham, Birmingham, Hull, Leeds, Glasgow und Edinburgh gegründet, um die Unterstützung für die polnische Sache zu organisieren. Radikale Parlamentsabgeordnete (darunter viele Iren) verlangten, dass Großbritannien die »geknechteten Polen« verteidigte. Chartistengruppen aus Arbeitern und Arbeiterinnen (die sich am Kampf für demokratische Rechte beteiligten) erklärten ihre Solidarität mit dem polnischen Freiheitskampf und brachten manchmal sogar ihre Bereitschaft zum Ausdruck, für die Verteidigung der Freiheit im In- und Ausland ins Feld zu ziehen. »Wenn sich die englische Nation nicht aufrafft«, hieß es im chartistischen Northern Liberator, »werden wir das grässliche Schauspiel einer russischen Flotte erleben, bis an die Zähne bewaffnet und mit Soldaten vollgestopft, die es wagt, durch den Kanal zu segeln und wahrscheinlich bei Spithead oder im Plymouth Sound Anker zu werfen!«21

Der Freiheitskampf in Polen faszinierte die britische Öffentlichkeit, denn diese brachte die Vorgänge mit den Idealen in Verbindung, die sie nur zu gern für ihre eigenen hielt: insbesondere Freiheitsliebe und die Bereitschaft, den »kleinen Mann« gegen die »Tyrannen« zu verteidigen (das Prinzip, auf dessen Grundlage die Briten, wie sie sich einredeten, 1854, 1914 und 1939 in den Krieg zogen). In einer Zeit liberaler Reformen und neuer Freiheiten für den britischen Mittelstand wurden durch diese Verknüpfung mit der polnischen Sache mächtige Emotionen geweckt. Kurz nach der Verabschiedung des Parlamentsreformgesetzes von 1832 verkündete der Herausgeber der Manchester Times auf einem Treffen der Vereinigung der Freunde Polens, dass Briten und Polen den gleichen Freiheitskampf führten:

Es war unser eigener Kampf (hört, hört). Wir kämpften im Ausland für das gleiche Prinzip wie gegen die Wahlkreishändler**** in der Heimat. Polen war nur einer unserer Außenposten. Sämtliche Sorgen Englands und des Kontinents lassen sich bis zur ersten Teilung von Polen zurückverfolgen. Wäre jenes Volk frei und ungefesselt geblieben, hätten wir nie erlebt, wie die Barbarenhorden Russlands ganz Europa verwüsteten; wie die Kalmücken und Kosaken des Despoten auf den Straßen und in den Gärten von Paris lagerten … Gab es einen einzigen Matrosen in unserer Flotte oder einen einzigen Infanteristen, der nicht froh darüber gewesen wäre, ausgesandt zu werden, um die Hand für die Sache der Freiheit und zur Unterstützung der unglücklichen Polen zu erheben? (Jubel) Die Kosten wären nicht hoch, wenn wir dem russischen Despoten das Schloss von Kronstadt um die Ohren jagen wollten. (Jubel) In einem Monat … könnte unsere Marine jedes russische Handelsschiff von jedem Meer auf der Oberfläche des Globus hinwegfegen. (Jubel) Lasst eine Flotte in die Ostsee fahren, um die russischen Häfen zu schließen, und was würde dann aus dem Kaiser Russlands werden? Er wäre ein Kalmück, umgeben von ein paar Barbarenstämmen (Jubel), ein Wilder mit nicht mehr Macht auf den Meeren, wenn ihm England und Frankreich gegenüberstehen, als sie der Kaiser von China hatte (Jubel).22

Die Anwesenheit von Fürst Czartoryski, dem »ungekrönten König Polens«, in London verstärkte die britische Sympathie für die polnische Sache. Die Tatsache, dass der im Exil lebende Pole ein früherer russischer Außenminister war, verlieh seinen Warnungen vor der Bedrohung Europas durch Russland noch größere Glaubwürdigkeit. Czartoryski war 1803, im Alter von 33 Jahren, unter Zar Alexander I. in den auswärtigen Dienst eingetreten. Er glaubte, Polen könne seine Unabhängigkeit und ein Gutteil seiner Gebiete zurückgewinnen, wenn es freundschaftliche Beziehungen zum Zaren unterhielt. Als Mitglied des kaiserlichen Geheimkomitees hatte er einmal ein ausführliches Memorandum vorgelegt, das auf die völlige Umgestaltung Europas abzielte: Russland würde durch ein wiederhergestelltes und wiedervereinigtes Königreich Polen unter der Protektion des Zaren von der österreichischen und preußischen Gefahr abgeschirmt werden; die europäische Türkei würde zu einem Balkankönigreich unter der Vorherrschaft der Griechen werden, während Russland die Kontrolle über Konstantinopel und die Dardanellen erhalten sollte; die Slawen würden sich unter dem Schutz Russlands die Freiheit von den Österreichern sichern; Deutschland und Italien würden unabhängige Nationalstaaten werden, föderal organisiert wie die USA; Großbritannien und Russland würden gemeinsam das Gleichgewicht auf dem Kontinent aufrechterhalten. Der Plan war jedoch unrealistisch (denn kein Zar hätte der Wiederherstellung des alten polnisch-litauischen Königreichs zugestimmt).

Nachdem die nationalen Bestrebungen Polens durch Napoleons Niederlage gescheitert waren, fand sich Czartoryski im Exil in Europa wieder, doch er kehrte rechtzeitig zum Novemberaufstand nach Polen zurück. Er schloss sich dem revolutionären Exekutivausschuss an, wurde zum Vorsitzenden der provisorischen Regierung gewählt und berief das nationale Parlament ein. Nach der Unterdrückung der Rebellion floh er nach London, wo er zusammen mit anderen polnischen Emigranten den Kampf gegen Russland fortsetzte. Czartoryski versuchte, die britische Regierung zur Intervention in Polen und, wenn nötig, zu einem europäischen Krieg gegen Russland zu überreden. Er versicherte Palmerston, dass ein unvermeidlicher Kampf zwischen dem liberalen Westen und dem despotischen Osten bevorstehe. Ihm pflichteten mehrere einflussreiche Liberale und Russlandfeinde bei, darunter George de Lacy Evans, Thomas Attwood, Stratford Canning und Robert Cutlar Fergusson, die alle im Unterhaus nach einem Krieg gegen Russland riefen. Palmerston hatte Verständnis für die polnische Sache und verurteilte die Aktionen des Zaren, doch angesichts der Situation der Österreicher und Preußen, denen ebenfalls Teile von Polen gehörten und die sich deshalb schwerlich gegen Russland wenden würden, hielt er es nicht für »klug, dem von England bezogenen Standpunkt durch Waffengewalt Nachdruck zu verleihen« und »die Einbeziehung Europas in einen allgemeinen Krieg« zu riskieren. Die Berufung des Russlandgegners Stratford Canning zum Botschafter in St. Petersburg (die Ernennung, die der Zar ablehnte) war wohl die extremste Maßnahme, zu der die britische Regierung bereit war, um ihre Missbilligung des russischen Vorgehens in Polen zu demonstrieren. Enttäuscht über die Untätigkeit der Briten, reiste Czartoryski im Herbst 1832 nach Paris ab. »Sie kümmern sich jetzt nicht mehr um uns«, schrieb er. »Sie achten auf ihre eigenen Interessen und werden nichts für uns tun.«23

Czartoryski ließ sich im Hôtel Lambert nieder, dem Zentrum der polnischen Emigration in Paris und gewissermaßen dem inoffiziellen Sitz der polnischen Exilregierung. Die Gruppe im Hôtel Lambert hielt die konstitutionellen Überzeugungen und die Kultur der Emigranten am Leben, die sich dort versammelt hatten, unter ihnen der Dichter Adam Mickiewicz und der Komponist Frédéric Chopin. Czartoryski pflegte weiterhin enge Beziehungen zu britischen Diplomaten und Politikern, die sich für einen Krieg gegen Russland einsetzten. Er schloss vor allem mit Stratford Canning eine feste Freundschaft und dürfte dessen wachsende Russophobie in den dreißiger und vierziger Jahren beeinflusst haben. Czartoryskis Hauptvertreter in London, Władisław Zamoyski, ein ehemaliger Adjutant des Großfürsten Konstantin und ein wichtiger Akteur während des polnischen Aufstands, hatte gute Verbindungen zu Ponsonby und dem Urquhart-Lager (er half sogar, das Vixen-Abenteuer zu finanzieren). Ohne Zweifel wirkte Czartoryski durch Stratford Canning und Zamoyski stark auf Palmerstons Vorstellungen während der dreißiger und vierziger Jahre ein, in denen der künftige britische Anführer des Krimkriegs allmählich den Gedanken eines europäischen Bündnisses gegen Russland akzeptierte. Außerdem dürfte Czartoryski enge Beziehungen zu den liberalen Köpfen der Juli-Monarchie in Frankreich gepflegt haben, vor allem zu Adolphe Thiers, dem Ministerpräsidenten von 1836 bis 1839, und zu François Guizot, dem Außenminister der frühen vierziger Jahre und von 1847 bis 1848 letzten Ministerpräsidenten der Juli-Monarchie. Die beiden französischen Staatsmänner wussten den polnischen Emigranten als freundschaftliche Kontaktperson zur britischen Regierung und zur öffentlichen Meinung in England zu schätzen, die Frankreich damals kühl gegenüberstanden. Durch seine Bemühungen in London und Paris sollte Czartoryski erheblich zum Zustandekommen der anglofranzösischen Allianz beitragen, die 1854 gegen Russland in den Krieg zog.

Czartoryski und die polnischen Exilanten der Hôtel-Lambert-Gruppe spielten außerdem eine bedeutende Rolle für den Aufstieg der französischen Russlandgegner, die in den beiden Jahrzehnten vor dem Krimkrieg an Stärke gewannen. Bis 1830 waren die französischen Ansichten über Russland relativ gemäßigt. Viele Franzosen waren unter Napoleon nach Russland gezogen und mit positiven Eindrücken von dessen Volkscharakter zurückgekehrt, weshalb die Schriften von Russlandfeinden keine große Wirkung entfalteten. Zu den Letzteren gehörten der katholische Publizist und Staatsmann François-Marie de Froment, der in Observations sur la Russie (1817) vor den Gefahren des russischen Expansionismus warnte, sowie der Priester und Politiker Dominique-Georges-Frédéric de Pradt, der Russland in seiner überaus erfolgreichen polemischen Schrift Parallèle de la puissance anglaise et russe relativement à l’Europe (1823) als »asiatischen Feind der Freiheit in Europa« bezeichnete.24 Mit seinem Widerstand gegen die Juli-Revolution von 1830 aber hatte sich der Zar bei Liberalen und Linken verhasst gemacht, während wiederum die traditionellen Verbündeten Russlands, die legitimistischen Anhänger der Bourbon-Dynastie, einen festen katholischen Standpunkt vertraten, womit sie sich in der Polenfrage von den Russen distanzierten.

In der franko-katholischen Vorstellung verfestigte sich das Bild Polens als einer Märtyrernation in den dreißiger Jahren durch eine Reihe von Werken über polnische Geschichte und Kultur. Keines war einflussreicher als Mickiewiczs Livre des pèlerins polonais (»Buch polnischer Pilger«), das der radikal katholische Journalist Charles Montalembert aus dem Polnischen übersetzte und das der Priester und Schriftsteller Félicité de Lamennais mit einer zusätzlichen »Hymne an Polen« veröffentlichte.25 Der französische Einsatz für die nationale Befreiung Polens wurde durch religiöse Solidarität untermauert, die auch die ruthenischen (unierten) Katholiken von Weißrussland und der westlichen Ukraine einbezog, Gebieten, die ehemals von Polen beherrscht wurden und in denen Katholiken nach 1831 gezwungen wurden, zur russischen Kirche überzutreten. Die religiöse Verfolgung der Ruthenen erregte in den dreißiger Jahren wenig Aufmerksamkeit, doch als sie in den frühen vierziger Jahren auf Kongresspolen übergriff, waren die Katholiken außer sich. In Pamphleten forderte man einen heiligen Krieg zur Verteidigung der »fünf Millionen« polnischen Katholiken, die Russland zur Aufgabe ihres Glaubens genötigt habe. Ermutigt durch eine päpstliche Erklärung »Über die Verfolgung der katholischen Religion im Russischen Reich und in Polen« von 1842, fiel die französische Presse in die Verurteilung Russlands ein. »Da von Polen heutzutage nur noch der Katholizismus übriggeblieben ist, hat Zar Nikolaus ihn zu seiner Zielscheibe gemacht«, hieß es im Oktober 1842 in einem Leitartikel des Journal des débats. »Er möchte die katholische Religion als letztes und stärkstes Prinzip der polnischen Nationalität vernichten, als letzte Freiheit und letztes Zeichen von Unabhängigkeit, die dieses unglückliche Volk besitzt, und als letztes Hindernis für die Herstellung einer Einheit von Gesetzen und Moral, von Ideen und Glauben in seinem riesigen Reich.«26

Der französische Zorn über die Verfolgung der Katholiken durch den Zaren erreichte 1845 einen Höhepunkt, als Berichte über die brutale Behandlung der Nonnen von Minsk eintrafen. Im Jahr 1839 hatte die Synode von Polozk in Weißrussland die Auflösung der griechisch-katholischen Kirche bekannt gegeben, deren prorömische Geistlichkeit den polnischen Aufstand von 1831 aktiv unterstützt hatte, und befohlen, deren gesamten Besitz auf die russisch-orthodoxe Kirche zu übertragen. Der Vorsitzende der Synode von Polozk war ein prorussischer Bischof namens Semaschko, der zuvor als Kaplan eines Nonnenklosters in Minsk fungiert hatte. Nach seiner Übernahme des Episkopats ordnete er unverzüglich an, dass sich die 245 Nonnen dort der russischen Kirche unterwerfen sollten. Laut Berichten, die nach Frankreich gelangten, ließ Semaschko die Frauen verhaften, als sie sich weigerten. Man legte ihre Hände und Füße in Eisen und brachte sie nach Witebsk, wo fünfzig von ihnen inhaftiert wurden, in ihren Ketten schwere körperliche Arbeit verrichten mussten und von den Wächtern brutal gefoltert und geprügelt wurden. Dann, im Frühjahr 1845, gelang es vier Schwestern zu entkommen. Eine von ihnen, die Äbtissin des Klosters, Mutter Makrena Mieczysławska, damals 61 Jahre alt, schlug sich nach Polen durch, wo der Erzbischof von Posen ihr half und sie von seinen Mitarbeitern nach Paris bringen ließ. Sie erzählte den polnischen Emigranten des Hôtel Lambert ihre furchtbare Geschichte und wurde als Nächstes von Papst Gregor XVI. in Rom empfangen, kurz bevor der Zar den Vatikan im Dezember 1845 besuchte. Angeblich zeigte sich Nikolaus nach seiner Audienz beim Papst beschämt und verwirrt, denn die Verfolgung der katholischen Ruthenen war seinen Dementis zum Trotz durch Dokumente widerlegt worden, in denen er persönlich die »heiligen Taten« von Semaschko pries.

Die Geschichte der »Märtyrernonnen« von Minsk wurde erstmals im Mai 1846 von der französischen Zeitung Le Correspondant veröffentlicht und später viele Male in populären Schriften wiederholt. Sie verbreitete sich rasch überall in der katholischen Welt. Russische Diplomaten und Regierungsagenten in Paris versuchten, Makrenas Darstellung der Ereignisse zu diskreditieren, doch durch eine medizinische Untersuchung der päpstlichen Behörden wurde bestätigt, dass man sie tatsächlich jahrelang geschlagen hatte. Die Geschichte hinterließ bei den französischen Katholiken einen bleibenden Eindruck und diente als Illustration dafür, wie der Zar »die Orthodoxie nach Westen vorschob« und Katholiken »mit Waffengewalt« bekehrte.27 Dies wirkte sich entscheidend auf die französische Meinungsbildung im Disput mit Russland über das Heilige Land aus.*****

Die Furcht vor religiöser Verfolgung wurde begleitet von der Angst, dass ein gigantisches Russland die europäische Kultur hinwegfegen könne. Einer von Czartoryskis Mitexilanten, Graf Valerian Krasinski, hatte in einer Reihe von Schriften vor den Gefahren für den Westen gewarnt, die ein Russisches Reich, das sich von der Ostsee und der Adria bis zum Pazifik erstrecke, verursachen könne. »Russland ist eine aggressive Macht«, erklärte Krasinski in einem seiner populärsten Bücher, »und ein einziger Blick auf seine Neuerwerbungen im Lauf eines Jahrhunderts genügt, um diese Tatsache zweifelsfrei zu untermauern.« Seit der Zeit Peters des Großen habe sich Russland mehr als die Hälfte von Schweden, polnische Gebiete von der Größe des Österreichischen Reiches, türkische Ländereien, die größer als das Königreich Preußen seien, und persische Territorien mit den Ausmaßen Großbritanniens einverleibt. Seit der ersten polnischen Teilung von 1772 habe Russland seine Grenze um 1370 Kilometer in Richtung Wien, Berlin, Dresden, München und Paris vorgeschoben, um 520 Kilometer nach Konstantinopel, bis auf ein paar Kilometer an die schwedische Hauptstadt heran, und es habe die polnische Hauptstadt besetzt. Die einzige Möglichkeit, den Westen vor dieser russischen Bedrohung zu schützen, sei die Wiederherstellung eines starken und unabhängigen polnischen Staates.28

Die Einschätzung russischer Aggressivität wurde in Frankreich durch den Marquis de Custine verstärkt, dessen lesenswerter Reisebericht La Russie en 1839 die europäische Einstellung gegenüber Russland im 19. Jahrhundert stärker prägte als jede andere Veröffentlichung. Diese Eindrücke und Reflexionen des Adligen von einer Russlandreise erschienen 1843 in Paris, wurden viele Male neu aufgelegt und entwickelten sich rasch zu einem internationalen Bestseller. De Custine hatte sich mit dem erklärten Ziel nach Russland aufgemacht, ein populäres Reisebuch zu schreiben und sich einen Namen als Autor zu machen. Vorher hatte er sich ohne großen Erfolg an Romanen und Theaterstücken versucht, weshalb die Reiseliteratur ihm die letzte Chance bot, sich eine Reputation aufzubauen.

Der Marquis war frommer Katholik und hatte viele Freunde in der Hôtel-Lambert-Gruppe. Durch einen seiner polnischen Bekannten, dessen Halbschwester als Hofdame in St. Petersburg weilte, erhielt er Zugang zu den höchsten Kreisen der russischen Gesellschaft und wurde sogar vom Zaren empfangen, womit das westliche Interesse an seinem Buch garantiert war. De Custines Sympathien für Polen sorgten dafür, dass er von Anfang an Vorurteile gegenüber Russland hegte. In St. Petersburg und Moskau verbrachte er viel Zeit in Gesellschaft liberaler Adliger und Intellektueller (von denen mehrere zur katholischen Kirche übergetreten waren), die über die reaktionäre Politik von Nikolaus I. zutiefst enttäuscht waren. Die Unterdrückung des polnischen Aufstands nur sechs Jahre nach der Niederschlagung der Dekabristenrevolte in Russland hatte diese Männer die Hoffnung aufgeben lassen, dass ihr Land je den westlichen konstitutionellen Weg einschlagen würde. Ihr Pessimismus dürfte seine Spuren in de Custines finsteren Ansichten über das zeitgenössische Russland hinterlassen haben. Alles daran erfüllte den Franzosen mit Verachtung und Entsetzen: der Despotismus des Zaren, die Untertänigkeit der Aristokraten, die im Grunde selbst kaum mehr als Sklaven waren, ihre anmaßenden europäischen Sitten, die lediglich einen dünnen kulturellen Schleier bildeten, hinter dem sie ihr asiatisches Barbarentum vor dem Westen verbargen, der Mangel an individueller Freiheit und Würde sowie schließlich die Scheinheiligkeit und Verachtung der Wahrheit, welche die Gesellschaft zu durchdringen schienen. Wie viele Russlandreisende vor ihm war der Marquis erstaunt über die gewaltigen Dimensionen all dessen, was die Regierung hatte bauen lassen. St. Petersburg selbst sei »ein Denkmal, geschaffen, um die Ankunft Russlands auf der Weltbühne zu verkünden«. Er hielt diesen Prunk für den Ausdruck des russischen Ehrgeizes, den Westen zu überholen und zu beherrschen. Russland, so de Custine, beneide Europa und empfinde ihm gegenüber Groll, »wie der Sklave seinem Herrn grollte«, und darin liege die Gefahr seiner Aggressivität:

Ein maßloser ungeheurer Ehrgeiz, ein Ehrgeiz, der nur in der Seele der Unterdrückten aufkeimen, sich nur durch das Unglück einer ganzen Nation nähren kann, gährt in dem Herzen des russischen Volkes. Diese wesentlich erobernde, in Folge von Entbehrungen habsüchtige Nation büßt im Voraus in der Heimath durch erniedrigende Unterthänigkeit die Hoffnung ab, die Tyrannei über andere auszuüben; der Ruhm, der Reichthum, den sie erwartet, läßt sie die Schmach vergessen, die sie erträgt, und um sich reinzuwaschen von der gotteslästerlichen Aufopferung jeder öffentlichen und persönlichen Freiheit, träumt sie, die Sclavin, kniend von der Weltherrschaft.

Russland scheine dazu »bestimmt zu sein, die schlechte Zivilisation Europas durch einen neuen Einfall zu strafen«. Es diene dem Westen als Warnung und als Lektion, und Europa werde seiner Barbarei erliegen, »wenn unsere Extravaganzen und Ungerechtigkeiten uns einer solchen Züchtigung wert machen«. In der berühmten letzten Passage seines Buches schloss de Custine:

Man muß in dieser Einsamkeit ohne Ruhe, in diesem Kerker ohne Muße, den man Rußland nennt, gelebt haben, um ganz die Freiheit zu fühlen, die man in den anderen Ländern Europas genießt Ist Ihr Sohn unzufrieden in Frankreich, so wenden Sie mein Mittel an; sagen Sie zu ihm: reise nach Rußland. Diese Reise ist jedem Ausländer von Nutzen; wer dieses Land recht genau besehen hat, wird in jedem andern zufrieden leben.29

Innerhalb weniger Jahre nach seiner Erstveröffentlichung erlebte La Russie en 1839 mindestens sechs Auflagen in Frankreich; es wurde als Raubdruck in mehreren anderen Versionen in Brüssel herausgebracht, ins Deutsche, Dänische und Englische übersetzt und in verkürzter Form in verschiedenen anderen europäischen Sprachen gedruckt. Insgesamt wurden wahrscheinlich mehrere Hunderttausend Exemplare verkauft, wodurch das Buch kurz vor dem Krimkrieg zu dem mit Abstand beliebtesten und einflussreichsten Werk eines Ausländers über Russland wurde. Der Schlüssel zu seinem Erfolg bestand darin, dass es die Ängste und Vorurteile gegenüber Russland, die damals in Europa im Schwange waren, zum Ausdruck brachte.

Überall auf dem Kontinent war man zutiefst besorgt über das rasche Wachstum und die Militärmacht Russlands. Der Einmarsch nach Polen und in die Donaufürstentümer, verbunden mit der zunehmenden russischen Bedeutung auf dem Balkan, ließen die Furcht vor einer slawischen Bedrohung der westlichen Kultur aufkommen, wie sie La Russie artikuliert hatte. Insbesondere in den deutschen Ländern, in denen de Custines Buch ein sehr positives Echo fand, war in der Pamphletpresse vielfach zu lesen, dass sich Nikolaus zum Kaiser der Slawen in ganz Europa aufwerfen wolle und dass die deutsche Einheit nicht ohne einen Krieg, durch den Russland zurückgedrängt werden müsse, zu erreichen sei. Derlei Gedanken wurden durch das Erscheinen von Russland und die Zivilisation weiter genährt, einer anonym veröffentlichten Schrift, die in den frühen dreißiger Jahren in verschiedenen deutschen Ausgaben herauskam und 1840 als Werk von Graf Adam Gurowski ins Französische übersetzt wurde. Als eine der frühesten publizierten Ausdrucksformen der panslawistischen Ideologie erregte sie heftige Diskussionen auf dem Kontinent. Gurowski behauptete, in der europäischen Geschichte habe es bis dahin nur zwei Kulturen gegeben, die lateinische und die deutsche, doch die Vorsehung habe Russland die göttliche Mission übertragen, der Welt eine dritte slawische Kultur zu bescheren. Unter deutscher Herrschaft seien sämtliche slawischen Nationen (Tschechen, Slowaken, Serben, Slowenen und so weiter) im Niedergang begriffen, aber sie würden unter russischer Führung vereinigt und neu belebt und schließlich die beherrschende Rolle auf dem Kontinent spielen.30

In den vierziger Jahren richteten sich die westlichen Ängste vor dem Panslawismus insbesondere auf den Balkan, wo der russische Einfluss zu wachsen schien. Die Österreicher waren misstrauisch gegenüber den Plänen Russlands in Serbien und den Donaufürstentümern, genau wie die Briten, die Konsulate in Belgrad, Braila und Jassy einrichteten, um ihren eigenen Handel zu fördern und Russland im Auge zu behalten. Ein Anlass zu besonderer Besorgnis war dessen Einmischung in die serbische Politik. Im Jahr 1830 hatte Serbien Selbstverwaltung unter osmanischer Oberhoheit errungen; zugleich wurde Miloš Obrenović als Erbfürst eingesetzt. Die »russische Partei« in Belgrad Slawophile, die sich wünschten, dass Russland eine aggressivere Außenpolitik zugunsten der Balkanslawen einschlug fand rasch Zuspruch bei serbischen Honoratioren, der Geistlichkeit, der Armee und sogar bei Mitgliedern des Fürstenhofes, die Miloš’ diktatorische Politik missbilligten. Die Briten unterstützten daraufhin sein Regime, weil sie meinten, dass ein probritischer Despot einer von Russland kontrollierten Oligarchie aus serbischen Würdenträgern vorzuziehen sei, und sie drängten den Fürsten, seine Position durch Verfassungsreformen zu stärken. Russland bedrohte Miloš jedoch mit einer Rebellion und presste den osmanischen Behörden im Jahr 1838 ein sogenanntes Organisches Statut als Alternative zum britischen Verfassungsmodell ab. Das Statut gewährte Bürgerfreiheiten, sah jedoch keine gewählten Versammlungen vor, die der Macht des Fürsten stärker entgegengewirkt hätten, sondern auf Lebenszeit ernannte Staatsräte. Da die meisten Staatsräte prorussisch eingestellt waren, konnte der Zar in den vierziger Jahren erheblichen Druck auf die serbische Regierung ausüben.31

Die Motive des Zaren auf dem Balkan waren schwer zu ergründen. Er behauptete, jegliche panslawistische oder nationalistische Bewegung abzulehnen, welche die legitimen Souveräne des Kontinents, darunter auch die Osmanen und Miloš, in Frage stellte. Seine Intervention auf dem Balkan diene lediglich dazu, die Möglichkeit zu nationalen Revolutionen auszulöschen, die auf die slawischen Völker unter seiner eigenen Herrschaft (insbesondere die Polen) übergreifen könnten. In seiner Heimat verurteilte er die Panslawisten offen als gefährliche Liberale und Revolutionäre. »Hinter dem Mitgefühl mit der Unterdrückung der Slawen in anderen Staaten«, schrieb er, »verbergen sie die rebellische Idee der Vereinigung mit diesen Stämmen, trotz deren legitimer Zugehörigkeit zu benachbarten und verbündeten Staaten; und sie erwarten, dass dies nicht durch Gottes Willen, sondern durch gewalttätige Versuche herbeigeführt wird, die den Untergang Russlands selbst nach sich ziehen werden.«32 Die »russische Partei« wurde von Nikolaus als große Gefahr eingeschätzt und in den dreißiger und vierziger Jahren aufmerksam von der Dritten Abteilung, das heißt der Geheimpolizei, beobachtet. Im Jahr 1847 schloss die Polizei die Bruderschaft der heiligen Kyrill und Method, das Zentrum der panslawistischen Bewegung in Kiew.33

Gleichwohl ging der Zar bei seiner Einhaltung legitimistischer Grundsätze pragmatisch vor. Er wandte sie auf christliche, jedoch nicht unbedingt auf muslimische Staaten an, wenn dies die Parteinahme gegen orthodoxe Christen erfordert hätte, wie er durch seine Hilfe für die im Osmanischen Reich rebellierenden Griechen demonstrierte. Im Lauf der Jahre legte Nikolaus mehr Gewicht auf die Verteidigung der orthodoxen Religion und der Interessen Russlands die seiner Meinung nach so gut wie identisch waren als auf das Europäische Konzert oder auf die internationalen Prinzipien der Heiligen Allianz. Während er also die reaktionäre Ideologie der Habsburger teilte und ihr Reich unterstützte, hinderte ihn dies nicht daran, die nationalistischen Gefühle der rechtgläubigen Serben, Rumänen und Ukrainer innerhalb des Österreichischen Reiches zu fördern. Seine Haltung gegenüber den katholischen Slawen unter der Habsburger Herrschaft (Tschechen, Slowenen, Slowaken, Kroaten und Polen) war dagegen weniger ermutigend.

Was die Slawen innerhalb des Osmanischen Reiches betraf, so schwächte sich sein anfänglicher Widerwille, für ihre Befreiung einzutreten, allmählich ab, da sich seine Überzeugung festigte, dass der Zusammenbruch der europäischen Türkei unvermeidlich war und bald bevorstand und dass die russischen Interessen den Aufbau von Bündnissen mit den slawischen Nationen erforderten, wenn er für die kommende Teilung gewappnet sein wollte. Es handelte sich eher um einen Strategiewechsel des Zaren, nicht um eine fundamentale Änderung seiner Ideologie: Wenn Russland nicht auf dem Balkan eingriff, würden die Westmächte es tun, genau wie zuvor in Griechenland, um die christlichen Nationen gegen Russland zu wenden und zu westlich orientierten Staaten zu machen. Andererseits schien Nikolaus in den vierziger Jahren allmählich auch eine gewisse Sympathie für die religiösen und nationalistischen Gefühle der Slawophilen und der Panslawisten zu empfinden, deren mystische Vorstellungen von einem Heiligen Russland als Reich der Rechtgläubigen zunehmend mit Nikolaus’ eigenem Verständnis von seiner internationalen Mission als Zar übereinstimmten:

Moskau und Peters Stadt und Konstantins Byzanz

als hehre Metropolen des Russischen Reiches glänzen.

Wo aber hört es auf? und wo sind seine Grenzen

Nach Norden, Ost und Süd, im Raum des Abendlands?

Wo einst sie enden wird, liegt an der Zukunft ganz.

Der Meere sieben und sieben Ströme, gross und breit.

Vom Nil zur Newa, von der Elbe bis nach China,

vom Euphrat bis zur Wolga, vom Ganges bis zur Donau

Das ist das Russische Reich in Ewigkeit gefeit,

wie Daniel vorausgeseh’n und prophezeit.

(Fjodor Tjutschew, »Russische Geographie«, 1849)34

Der führende panslawistische Ideologe war Michail Pogodin, Professor an der Universität Moskau und Gründungsherausgeber der einflussreichen Zeitschrift Moskwitjanin (Moskowiter). Pogodin hatte Zugang zum Hof und zu hohen Amtsträgern durch den Bildungsminister Sergej Uwarow, der ihn vor der Polizei in Schutz nahm und viele seiner Ministerkollegen davon überzeugte, dass Russland die Befreiung der Slawen aus religiösen Gründen vorantreiben solle. Bei Hof hatte Pogodin eine aktive Anhängerin in Gräfin Antonina Bludowa, der Tochter eines hochgestellten Staatsmanns. Außerdem fand er offene Ohren bei Großfürst Alexander, dem Thronerben. 1838 legte Pogodin seine Ideen in einem Memorandum an den Zaren nieder. Er behauptete, dass die Geschichte durch eine Abfolge erwählter Personen voranschreite und dass die Zukunft den Slawen gehöre, wenn Russland seine göttliche Mission auf sich nehme, ein slawisches Reich zu schaffen und es seinem Schicksal entgegenzuführen. 1842 schrieb er erneut an den Zaren:

Dies ist unsere Bestimmung russisch, slawisch, europäisch, christlich! Als Russen müssen wir Konstantinopel um seiner eigenen Sicherheit willen erobern. Als Slawen müssen wir Millionen unserer älteren Angehörigen, Glaubensbrüder, Erzieher und Wohltäter befreien. Als Europäer müssen wir die Türken vertreiben. Als rechtgläubige Christen müssen wir die Ostkirche beschützen und der heiligen Sophia ihr ökumenisches Kreuz zurückgeben.35

Offiziell lehnte Nikolaus solche Gedanken weiterhin ab. Sein Außenminister Karl Nesselrode beteuerte, dass jegliches Anzeichen der Ermutigung für die Balkanslawen die Österreicher, die ältesten Verbündeten Russlands, verärgern und die Entente mit den Westmächten zerstören würde, wonach Russland isoliert in der Welt dastünde. Nach den Notizen zu schließen, die der Zar am Rand von Pogodins Schriften machte, schien er dessen Ideen jedoch zumindest privat mit Wohlwollen aufgenommen zu haben.

* * *

Die westlichen Ängste vor Russland verstärkten sich durch dessen heftige Reaktion auf die Revolutionen von 1848. In Frankreich, wo die Revolutionswelle im Februar mit dem Sturz der Juli-Monarchie und der Gründung der Zweiten Republik ihren Ausgang nahm, teilte die gesamte Linke die Furcht, russische Streitkräfte könnten der konterrevolutionären Rechten zu Hilfe kommen und die »Ordnung« in Paris wiederherstellen. Alle warteten auf den russischen Einmarsch. »Ich lerne Russisch«, schrieb der Dramatiker Prosper Mérimée einem Freund in Italien. »Vielleicht kann ich mich dann mit den Kosaken in den Tuilerien verständigen.« Während demokratische Revolutionen auf die deutschen und Habsburger Länder übergriffen, rechneten viele damit, dass (wie Napoleon vorausgesagt hatte) Europa entweder republikanisch oder von den Kosaken überwältigt werden würde. Den kontinentalen Revolutionen schien ein Kampf auf Leben und Tod gegen Russland und Nikolaus, den »Gendarmen Europas«, beschieden zu sein. In Deutschland plädierten die neu gewählten Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung, des ersten deutschen Parlaments, für einen Zusammenschluss mit Frankreich und für die Schaffung eines europäischen Heeres, um den Kontinent gegen eine russische Invasion verteidigen zu können.36

Für Deutsche und Franzosen war Polen die erste Verteidigungslinie gegen Russland. Im Frühjahr 1848 waren in der Nationalversammlung in Paris immer wieder Beistandserklärungen und Rufe nach einem Krieg zur Restauration des unabhängigen Polen zu hören. Am 15. Mai drang eine Schar von Demonstranten ins Nationalversammlungsgebäude ein. Sie waren wütend über (zutreffende) Gerüchte, wonach Außenminister Alphonse de Lamartine Einvernehmen mit den Russen über Polen erzielt habe. Unter »Vive la Pologne!«-Rufen der Menge sprach sich ein radikaler Abgeordneter nach dem anderen leidenschaftlich für einen Befreiungskrieg aus, durch den Polen seine Grenzen der Zeit vor der Teilung zurückerhalten und die Russen von polnischem Boden vertrieben werden sollten.37

Dann, im Juli, wandten sich die Russen gegen die rumänische Revolution in der Moldau und der Walachei, was den Westen noch mehr erzürnte. Die Revolution in den Fürstentümern war von Beginn an antirussisch gewesen. Rumänische Liberale und Nationalisten lehnten die von Russland dominierte Regierung ab, welche die abziehenden zaristischen Truppen nach ihrer Okkupation der Moldau und der Walachei von 1829 bis 1834 zurückgelassen hatten. Die liberale Opposition konzentrierte sich zuerst auf die Bojarenversammlungen, deren politische Rechte durch das règlement organique eingeführt von den Russen, bevor sie die Fürstentümer wieder der Souveränität der Osmanen überließen stark beschnitten worden waren. Beispielsweise wurden die Herrscher nicht mehr von den Versammlungen gewählt, sondern vom Zaren ernannt. In den vierziger Jahren, als sich gemäßigte Führer wie Ion Campineanu im Exil befanden, ging die nationale Bewegung in die Hände einer jüngeren Generation von Aktivisten über darunter viele in Paris ausgebildete Bojarensöhne , die sich in geheimen revolutionären Gesellschaften nach dem Vorbild der Carbonari und Jakobiner organisierten.

Die größte dieser Geheimgesellschaften, die Fratja (Bruderschaft), sorgte dann im Frühjahr 1848 für Aufsehen. In Bukarest und Jassy forderte man auf öffentlichen Veranstaltungen, dass die alten, vom règlement organique aufgehobenen Rechte wiederhergestellt wurden, und man bildete Revolutionskomitees. In Bukarest wurde Fürst Gheorghe Bibescu durch Massendemonstrationen, welche die Fratja veranstaltet hatte, gezwungen, zugunsten einer provisorischen Regierung abzudanken. Man rief eine Republik aus, und eine liberale Verfassung ersetzte das règlement organique. Der russische Konsul floh ins österreichische Siebenbürgen, und die rumänische Trikolore wurde von jubelnden Menschenmengen, deren Anführer den Zusammenschluss der Fürstentümer zu einem unabhängigen Nationalstaat verlangten, durch die Straßen von Bukarest getragen.

Beunruhigt über diese Entwicklungen und voller Sorge, dass der Geist der Rebellion auf ihre eigenen Gebiete übergreifen könnte, besetzten die Russen die Moldau im Juli mit 14000 Soldaten, um die Gründung einer Revolutionsregierung wie jener in Bukarest zu verhindern. Daneben verlegten sie 30000 Mann aus Bessarabien an die walachische Grenze, um einen Schlag gegen die provisorische Regierung vorzubereiten.

Die Revolutionäre in Bukarest baten Großbritannien um Hilfe. Robert Colquhoun, der britische Konsul, hatte die nationale Opposition gegen Russland aktiv gefördert, nicht weil das Foreign Office die rumänische Unabhängigkeit befürwortete, sondern weil es Russland zurückdrängen und die türkische Oberherrschaft auf liberalerer Grundlage wiederherstellen wollte, damit die britischen Interessen in den Fürstentümern effektiver vertreten werden konnten. Das Konsulat in Bukarest war einer der Haupttreffpunkte für die Revolutionäre gewesen. Großbritannien hatte sogar polnische Exilanten eingeschleust, die eine gemeinsame antirussische Bewegung von Polen, Ungarn, Moldauern und Walachen unter britischer Führung organisieren sollten.38

Da die walachische Unabhängigkeit nur zustande kommen konnte, wenn eine russische Intervention unterblieb, agierte Colquhoun als Vermittler zwischen den Revolutionsführern und den osmanischen Behörden, wobei er hoffte, dass die Türken die provisorische Regierung anerkennen würden. Er versicherte dem osmanischen Bevollmächtigten Suleiman Pascha, dass die Regierung in Bukarest loyal zum Sultan stehen werde eine kalkulierte Lüge und dass ihr Hass auf die Russen der Türkei in künftigen Kriegen nützlich sein könne. Suleiman ließ sich von Colquhouns Argumenten überzeugen und hielt vor jubelnden Menschenmengen in Bukarest eine Rede, in der er die »rumänische Nation« feierte und von der Möglichkeit sprach, eine »Union zwischen der Moldau und der Walachei als Pfahl in den Eingeweiden Russlands« zu schaffen.39

Dies war ein rotes Tuch für die Russen. Wladimir Titow, der Botschafter in Konstantinopel, verlangte, dass der Sultan die Verhandlungen mit den Revolutionären einstellte und für Ordnung in der Walachei sorgte andernfalls werde Russland eingreifen. Dies genügte, um die Türken Anfang September zu einer Kehrtwende zu veranlassen. Ein neuer Bevollmächtigter, Fuad Efendi, wurde entsandt, um dem Aufstand mit Hilfe des russischen Generals Alexander Duhamel ein Ende zu setzen. Fuad überquerte die Grenze zur Walachei und lagerte mit 12000 türkischen Soldaten vor Bukarest, während Duhamel die 30000 russischen Soldaten heranführte, die in Bessarabien mobilisiert worden waren. Am 25. September zogen sie gemeinsam in Bukarest ein und besiegten die kleinen Gruppen von Rebellen, die sich ihnen auf den Straßen entgegenstellten, ohne große Mühe. Die Revolution war vorbei.

Die Russen übernahmen die Kontrolle der Stadt und führten eine Reihe von Massenverhaftungen durch, woraufhin Tausende von Rumänen die Flucht ins Ausland ergriffen. Auch britische Bürger wurden festgenommen. Die von den Besatzungstruppen eingesetzte prorussische Regierung untersagte öffentliche Versammlungen. Sich über politische Angelegenheiten schriftlich zu äußern wurde strafbar; die Polizei überprüfte sogar persönliche Briefe. »Hier ist ein Spionagesystem eingerichtet worden«, meldete Colquhoun. »Niemand darf über Politik sprechen, deutsche und französische Zeitungen sind verboten Der türkische Bevollmächtigte sieht sich genötigt anzuordnen, dass jedermann aufhört, sich an öffentlichen Orten über politische Themen zu äußern.«40

Nachdem die Ordnung in den Fürstentümern wiederhergestellt war, verlangte der Zar für seine Dienste einen neuen Vertrag mit den Osmanen, um die russische Kontrolle über die Territorien zu verstärken. Diesmal waren seine Bedingungen überzogen: Die russische Militärbesatzung solle sieben Jahre dauern; die beiden Großmächte würden die Herrscher der Fürstentümer ernennen, und russische Truppen dürften die Walachei durchqueren, um die fortdauernde ungarische Revolution in Siebenbürgen niederzuschlagen. Da Stratford Canning argwöhnte, dass die Russen in Wirklichkeit auf die Annexion der Fürstentümer abzielten, riet er den Türken, sich nicht vom Zaren einschüchtern zu lassen. Allerdings konnte er ihnen keine britische Intervention versprechen, falls ein Krieg zwischen der Türkei und Russland ausbrach. Er forderte Palmerston auf, Russland abzuschrecken und den britischen Beistand für das Osmanische Reich deutlich zu machen, indem London eine Flotte entsandte diese Maßnahme hielt Stratford Canning für unerlässlich, um Feindseligkeiten zu vermeiden. Hätte Palmerston seinen Rat befolgt, wäre der militärische Konflikt zwischen Großbritannien und Russland womöglich schon sechs Jahre vor dem Krimkrieg ausgebrochen. Abermals jedoch war Palmerston nicht bereit zu handeln. Trotz seines harten Kurses gegenüber Russland akzeptierte er (vorläufig) die Motive des Zaren in den Fürstentümern, er glaubte nicht an eine russische Annexion und begrüßte vielleicht sogar die Tatsache, dass die Russen für Ordnung in den chaotischen osmanischen und Habsburger Gebieten sorgten.

Ohne britische Hilfe blieb der türkischen Regierung kaum etwas anderes übrig, als mit den Russen zu verhandeln. Durch den Vertrag von Balta-Liman, der im April 1849 unterzeichnet wurde, setzte der Zar die meisten seiner Forderungen durch: Die Herrscher der Fürstentümer würden von den Russen und den Türken ernannt werden; an die Stelle der Bojarenversammlungen würden Beiräte treten, welche die beiden Mächte nominieren und beaufsichtigen sollten; und die russische Besatzung würde bis 1851 andauern. Die Vertragsklauseln liefen im Grunde auf die Wiederherstellung der russischen Kontrolle und auf eine erhebliche Minderung der Autonomie hinaus, welche die Fürstentümer sogar unter den Einschränkungen durch das règlement organique genossen hatten.41 Der Zar zog den Schluss, dass die Fürstentümer fortan zur russischen Einflusssphäre gehörten, dass die Türken sie nur nach seinem Gutdünken behielten und dass er auch nach 1851 jederzeit in sie einrücken konnte, um der Hohen Pforte weitere Zugeständnisse abzupressen.

Der Erfolg der russischen Intervention in den Donaufürstentümern wirkte sich auf die Entscheidung des Zaren aus, im Juni 1849 in Ungarn einzugreifen. Die ungarische Revolution hatte im März 1848 begonnen, als das ungarische Parlament, inspiriert durch die Ereignisse in Frankreich und Deutschland und angeführt von dem brillanten Redner Lajos Kossuth, die Autonomie Ungarns vom Habsburger Reich proklamierte und eine Reihe von Reformen verabschiedete, darunter die Abschaffung der Leibeigenschaft, die Übernahme der ungarischen Aufsicht über den Staatshaushalt und über die ungarischen Regimenter in der zaristischen Armee. Konfrontiert mit einem Volksaufstand in Wien, erkannte die österreichische Regierung die ungarische Autonomie zunächst an, doch nachdem die Revolution in der Hauptstadt unterdrückt worden war, befahl man die Auflösung des ungarischen Parlaments und erklärte Ungarn den Krieg. Unterstützt von den slowakischen, deutschen und ruthenischen Minderheiten Ungarns und von einer großen Zahl polnischer und italienischer Freiwilliger, welche die Habsburger Herrschaft genauso vehement ablehnten, waren die Ungarn den österreichischen Streitkräften durchaus gewachsen, und im April 1849, nach einer Reihe unentschiedener Gefechte, erklärten sie Österreich ihrerseits einen Unabhängigkeitskrieg. Daraufhin bat der gerade inthronisierte achtzehnjährige Kaiser Franz Joseph den Zaren um Hilfe.

Nikolaus war bereit, ohne Bedingungen gegen die Revolution einzuschreiten. Für ihn war das Ganze im Wesentlichen eine Frage der Solidarität mit der Heiligen Allianz der Zusammenbruch des Habsburger Reiches hätte dramatische Folgen für das europäische Machtgleichgewicht gehabt , aber auch das Eigeninteresse Russlands spielte dabei eine Rolle. Der Zar konnte es sich nicht leisten, beiseite zu stehen und der Ausbreitung der revolutionären Bewegungen in Zentraleuropa zuzuschauen, die womöglich zu einer neuen Erhebung in Polen führen konnten. In den Reihen der ungarischen Armee dienten viele polnische Exilanten; einige ihrer besten Kommandeure waren Polen, darunter General Jozef Bem, einer der Militärführer des Aufstands von 1830 und in den Jahren 1848/49 Befehlshaber der siegreichen ungarischen Streitkräfte in Siebenbürgen. Wenn die ungarische Revolution nicht eingedämmt wurde, bestand die Gefahr, dass sie auf Galizien (ein weitgehend polnisches, von Österreich kontrolliertes Gebiet) übergriff, womit sich die polnische Frage im Russischen Reich erneut stellen würde.

Am 17. Juni 1849 überquerten 190000 russische Soldaten die ungarische Grenze in die Slowakei und nach Siebenbürgen. Sie wurden von General Paskewitsch befehligt, der 1831 den Straffeldzug gegen die Polen geführt hatte. Die Russen gingen mehrfach brutal gegen die Bevölkerung vor, doch wurden viele von ihnen ihrerseits während einer nur acht Wochen dauernden Kampagne von Krankheiten, besonders Cholera, heimgesucht. Das ungarische Heer war dem russischen hoffnungslos unterlegen und kapitulierte in weiten Teilen am 13. August bei Vilàgos. Rund 5000 Soldaten (darunter 800 Polen) entkamen jedoch ins Osmanische Reich hauptsächlich in die Walachei, wo einige türkische Einheiten dem Vertrag von Balta-Liman zum Trotz gegen die russische Besatzung kämpften.

Der Zar sprach sich für Milde gegenüber den ungarischen Führern aus und wandte sich gegen die grausamen Vergeltungsmaßnahmen der Österreicher. Aber er war entschlossen, die polnischen Flüchtlinge zu verfolgen, insbesondere die polnischen Generale der ungarischen Armee, die bei einem weiteren Freiheitskampf Polens gegen Russland eine maßgebliche Rolle spielen konnten. Am 28. August verlangte er von der türkischen Regierung die Auslieferung jener Polen, die zu seinen Untertanen gehörten. Daneben forderten die Österreicher, dass ihnen die von den Türken aufgenommenen Ungarn, darunter Kossuth, übergeben wurden. Das Völkerrecht sah die Auslieferung von Verbrechern vor, doch die Türken betrachteten die Exilanten nicht als soche: Sie empfingen die antirussischen Soldaten mit offenen Armen und gewährten ihnen politisches Asyl, womit sie dem Beispiel liberaler westlicher Staaten folgten, die 1831 unter gewissen Bedingungen polnische Flüchtlinge akzeptiert hatten. Bestärkt von den Briten und Franzosen, gaben die Türken den Drohungen der Russen und Österreicher nicht nach, die daraufhin ihre Beziehungen zur Pforte abbrachen. Im Oktober reagierte London auf türkische Bitten um Militärhilfe und entsandte sein maltesisches Geschwader zur Besika-Bucht außerhalb der Dardanellen, wo sich ihm später eine französische Flotte anschloss. Die Westmächte standen nun kurz vor einem Krieg mit Russland.

Mittlerweile war die britische Öffentlichkeit außer sich, was die ungarischen Flüchtlinge betraf. Deren heldenhafter Kampf gegen die mächtige Tyrannei des Zaren hatte die Fantasie der Briten beflügelt und wieder einmal ihre leidenschaftliche Abneigung gegen Russland bestärkt. In der Presse wurde die ungarische Revolution als Spiegelbild der Glorreichen Revolution von 1688 gefeiert, in deren Verlauf das britische Parlament König Jakob II. gestürzt und eine konstitutionelle Monarchie errichtet hatte. Kossuth galt als »sehr britischer« Revolutionär: als liberaler Gentleman und Anhänger einer aufgeklärten Aristokratie, als Kämpfer für die Prinzipien der Parlamentsherrschaft und der konstitutionellen Regierung (zwei Jahre später wurde er auf einer Vortragsreise durch Großbritannien von riesigen Zuhörerscharen als Held begrüßt). Die ungarischen und polnischen Flüchtlinge galten als romantische Freiheitskämpfer. Karl Marx, der 1849 nach London ins politische Exil gegangen war, leitete eine Kampagne gegen Russland als Feind der Freiheit ein. Berichte über Vergeltungsmaßnahmen und Gräueltaten russischer Soldaten in Ungarn und in den Donaufürstentümern erregten Abscheu, und die britische Öffentlichkeit war begeistert, als Palmerston bekannt gab, er werde Kriegsschiffe zu den Dardanellen schicken, um den Widerstand der Türken gegen den Zaren zu festigen. Genau eine solche unerschrockene Außenpolitik die Bereitschaft, überall auf der Welt zur Verteidigung der britischen liberalen Werte einzutreten erwartete die Mittelschicht von ihrer Regierung, wie die Don-Pacifico-Affäre zeigen sollte.******

Die Mobilisierung der britischen und der französischen Flotte bewog Nikolaus, in der Flüchtlingsfrage einen Kompromiss mit den osmanischen Behörden zu schließen. Die Türken verpflichteten sich, die polnischen Flüchtlinge fern von der russischen Grenze unterzubringen ein Zugeständnis, das weitgehend den Prinzipien politischen Asyls in westlichen Staaten entsprach , und der Zar bestand nicht mehr auf ihrer Auslieferung.

Doch gerade als eine Einigung erzielt wurde, traf die Nachricht aus Konstantinopel ein, Stratford Canning habe den Meerengenvertrag von 1841 so interpretiert, dass es der britischen Flotte gestattet sei, in den Dardanellen Zuflucht zu suchen, wenn starke Winde in der Besika-Bucht es erforderten und genau das war der Fall, als die Schiffe Ende Oktober eintrafen. Nikolaus tobte und befahl Titow, der Hohen Pforte mitzuteilen, dass Russland die gleichen Rechte am Bosporus habe wie die, die Großbritannien gerade in den Dardanellen für sich beansprucht hatte eine glänzende Reaktion, denn vom Bosporus aus würden russische Schiffe in der Lage sein, Konstantinopel anzugreifen, lange bevor die britische Flotte sie von den fernen Dardanellen her erreichen konnte. Palmerston machte einen Rückzieher, entschuldigte sich bei Russland und bekräftigte, dass sich seine Regierung dem Vertrag verpflichtet fühle. Die alliierten Flotten wurden fortgeschickt, und die Kriegsgefahr war abgewendet wieder einmal.

Bevor Palmerstons Entschuldigung eintraf, wurde der britische Gesandte in St. Petersburg jedoch vom Zaren gemaßregelt. Dessen Worte enthüllen recht viel über seine Denkweise, nur vier Jahre bevor er gegen die Westmächte in den Krieg zog:

Ich verstehe das Verhalten von Lord Palmerston nicht. Wenn er Krieg gegen mich führen will, soll er dies offen und loyal erklären. Es wäre ein großes Unglück für die beiden Länder, doch ich bin darauf eingestellt und bereit, es zu akzeptieren. Aber er sollte aufhören, mich immer wieder hinters Licht führen zu wollen. Eine solche Taktik ist einer Großmacht unwürdig. Wenn das Osmanische Reich noch existiert, dann nur durch mein Wirken. Wenn ich die Hand zurückziehe, die es beschützt und aufrechterhält, wird es im Nu zusammenbrechen.

Am 17. Dezember wies der Zar Admiral Putjatin an, einen Plan für einen Überraschungsangriff auf die Dardanellen vorzubereiten, falls es zu einer weiteren Krise wegen der russischen Präsenz in den Fürstentümern komme. Er wollte sicher sein, dass die Schwarzmeerflotte die Briten daran hindern konnte, erneut in die Dardanellen vorzustoßen. Zum Zeichen seiner Entschlossenheit billigte er den Bau von vier teuren neuen Kriegsdampfschiffen, die der Plan erforderte.42

Palmerstons Entscheidung, vor einem Konflikt zurückzuweichen, war ein schwerer Schlag für Stratford Canning, der sich eine energische Militäraktion gewünscht hatte, durch die der Zar davon abgehalten werden sollte, die türkische Souveränität in den Fürstentümern zu untergraben. Nach 1849 wirkte Canning noch resoluter darauf hin, die osmanische Autorität in der Moldau und der Walachei zu stärken, indem er trotz seiner wachsenden Zweifel am Tanzimat im Allgemeinen den Prozess liberaler Reformen in diesen Gebieten beschleunigte und die türkischen Streitkräfte besser ausrüsten ließ, um die zunehmende russische Bedrohung zu neutralisieren. Seine Ansicht über die Bedeutung der Fürstentümer wurde allmählich auch von Palmerston geteilt, der sich durch die Krise von 1848/49 veranlasst sah, eine aggressivere Verteidigung der türkischen Interessen gegen Russland zu befürworten.

Der nächste Einmarsch des Zaren in die Fürstentümer, mit dem er die Türkei zwingen wollte, sich seinem Willen im Streit um das Heilige Land zu beugen, sollte zum Krieg führen.

* Nach dem Ausbruch des Krimkriegs kehrte man zu dem Namen Gold Cup zurück.

** Hier bietet sich ein Vergleich mit der westlichen Meinung über Russland während des Kalten Krieges an. Die Russophobie der Ära des Kalten Krieges war zum Teil durch die Ansichten des 19. Jahrhunderts geprägt.

*** Chartisten: Angehörige einer politischen Reformbewegung in Großbritannien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts; sie setzten sich u.a. für die Zulassung von Gewerkschaften und ein erweitertes Wahlrecht ein (Anm. d. Übers.).

**** Anspielung auf die Käuflichkeit von britischen Wahlkreisen im größten Teil des 19. Jahrhunderts (Anm. d. Übers.).

***** Ebenso beeinflusste es die britische öffentliche Meinung am Vorabend des Krimkriegs. Im Mai 1854 erschien »Die wahre Geschichte der Nonnen von Minsk« in Charles Dickens’ Zeitschrift Household Words. Die Verfasserin des Artikels, Florence Nightingale, hatte Makrena 1848 in Rom kennengelernt und einen Bericht über ihre Qualen geschrieben, den sie dann in eine Schublade legte. Nach der Schlacht von Sinope, als die Russen die türkische Flotte im Schwarzen Meer zerstört hatten, holte Nightingale den Artikel hervor, der, wie sie glaubte, dazu beitragen konnte, die Öffentlichkeit gegen Russland einzunehmen, und schickte ihn an Dickens, der ihn kürzte und in Household Words abdrucken ließ.

****** Im Jahr 1850 begrüßten die Briten Palmerstons Entscheidung, den Hafen von Athen durch die Royal Navy zur Unterstützung von Don Pacifico blockieren zu lassen, einem britischen Staatsbürger, der die griechische Regierung um Entschädigung gebeten hatte, nachdem sein Haus bei einem antisemitischen Aufruhr in Athen niedergebrannt worden war. Don Pacifico diente zur Zeit des Überfalls als portugiesischer Konsul (er war seiner Herkunft nach portugiesischer Jude), doch durch seine Geburt in Gibraltar besaß er die britische Staatsbürgerschaft. Auf dieser Grundlage (»Civis britannicus sum«) rechtfertigte Palmerston seine Entscheidung, die Flotte zu entsenden.