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Die Türken landen den ersten Treffer

Im März 1854 traf ein junger Artillerieoffizier namens Leo Tolstoi im Hauptquartier von General Michail Gortschakow ein. Er hatte sich 1852 zur Armee gemeldet in dem Jahr, als er die literarische Welt durch die Veröffentlichung seines autobiografischen Romans Die Kindheit in der Zeitschrift Sowremennik (Zeitgenosse), dem damals wichtigsten Monatsjournal Russlands, auf sich aufmerksam gemacht hatte. Unzufrieden mit seinem leichtfertigen Leben als Aristokrat in St. Petersburg und Moskau, hatte er beschlossen, einen Neubeginn zu machen und seinem Bruder Nikolai in den Kaukasus zu folgen, als dieser nach einem Urlaub zu seiner dortigen Einheit zurückkehrte. Tolstoi wurde einer Artilleriebrigade in dem Kosakendorf Starogladskaja im Nordkaukasus zugewiesen. Er nahm an Angriffen auf Schamils muslimische Kämpfer teil und entging der Gefangennahme durch die Rebellen mehrere Male nur knapp. Nach dem Ausbruch des Krieges gegen die Türkei beantragte er jedoch seine Versetzung an die Donaufront. Wie er seinem Bruder Sergej im November 1853 schrieb, wollte er in einem wirklichen Krieg aktiv sein: »Fast ein Jahr lang habe ich nur den einen Gedanken, mein Schwert in die Scheide zu stecken, und doch vermag ich es nicht. Da ich aber gezwungen bin, am Kriege teilzunehmen, so halte ich es für angenehmer, statt hier, in der Türkei zu kämpfen «1

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Leo Tolstoi im Jahr 1854

Im Januar bestand Tolstoi die Fähnrichsprüfung, womit er den niedrigsten Offiziersrang in der Zarenarmee bekleidete, und brach in die Walachei zur 12. Artilleriebrigade auf. Er fuhr sechzehn Tage lang mit dem Schlitten durch den Schnee Südrusslands, bis er sein Gut Jasnaja Poljana am 2. Februar erreichte. Am 3. März reiste er erneut mit dem Schlitten weiter und dann, als der Schnee zu Schlamm wurde, mit einem Pferdegespann durch die Ukraine nach Kischinjow, bevor er am 12. März in Bukarest ankam. Zwei Tage später wurde Tolstoi von Fürst Gortschakow persönlich empfangen, der den jungen Grafen wie einen Verwandten behandelte. »Er umarmte mich, lud mich ein täglich zum Mittag zu kommen und will mich seinem Stab aggregieren«, ließ Tolstoi seine Tante Toinette am 17. März wissen.

Aristokratische Beziehungen hatten im russischen Heeresstab einen hohen Wert. Tolstoi wurde rasch in den gesellschaftlichen Wirbel von Bukarest einbezogen: Er besuchte Diners im Haus des Fürsten, erschien zu Kartenspielen und musikalischen Soireen in den Salons, besuchte die italienische Oper und das französische Theater eine vollkommen andere Welt als die blutigen Schlachtfelder der nur ein paar Kilometer entfernten Donaufront. »Während Sie mich all den Gefahren des Krieges ausgesetzt wähnen, habe ich noch kein türkisches Pulver gerochen, sondern ich halte mich sehr ruhig in Bukarest auf, spaziere umher, mache Musik und esse Eiskrem«, schrieb er seiner Tante Anfang Mai.2

Tolstoi traf in Bukarest rechtzeitig zum Beginn der Frühjahrsoffensive an der Donau ein. Der Zar war entschlossen, so bald wie möglich südwärts nach Warna und zur Schwarzmeerküste vorzustoßen, damit die Westmächte keine Zeit hatten, ihre Soldaten landen zu lassen und den russischen Marsch auf Konstantinopel zu stoppen. Der Schlüssel zu dieser Offensive war die Einnahme der türkischen Festung Silistra. Damit hätten die Russen einen dominierenden Stützpunkt im Donaugebiet, der ihnen erlauben würde, den Fluss zu einer Nachschublinie vom Schwarzen Meer bis ins Innere des Balkans zu machen; außerdem hätten sie dann eine Basis, um die Bulgaren zum Kampf gegen die Türken anzuwerben. Dies war der Plan, den der Zar auf Paskewitschs Zureden akzeptiert hatte, um die Österreicher nicht zu beunruhigen, die gegen eine russische Offensive durch die überwiegend von Serben bewohnten Donaugebiete weiter im Westen einschreiten könnten, da serbische Aufstände zugunsten der Russen von dort womöglich auf Habsburger Terrain übergreifen würden. »Die Engländer und Franzosen können ihre Männer mindestens weitere vierzehn Tage nicht landen lassen«, schrieb Nikolaus am 26. März an Gortschakow, »und ich nehme an, dass sie in Warna an Land gehen werden, um nach Silistra zu eilen Wir müssen die Feste erobern, bevor sie dort eintreffen Wenn Silistra in unserer Hand ist, werden Freiwillige Zeit haben, mehr Soldaten unter den Bulgaren auszuheben, aber wir dürfen die Serben nicht anrühren, um die Österreicher nicht zu alarmieren.«3

Der Zar hoffte, nicht nur bei den Bulgaren, sondern auch bei anderen Slawen neue Kämpfer mobilisieren zu können. Obwohl er zögerte, serbische Leidenschaften gegen die Österreicher zu entfachen, erwartete er, dass seine Offensive christliche Rebellionen auslösen und zum Zusammenbruch des Osmanischen Reiches führen würde, wonach das siegreiche Russland dem Balkan eine neue religiöse Ordnung auferlegen konnte. »Sämtliche christlichen Teile der Türkei«, ließ er im Frühjahr 1854 verlauten, »müssen notwendigerweise unabhängig und damit das werden, was sie früher waren, Fürstentümer, christliche Staaten, und als solche in die Familie der christlichen Staaten Europas zurückkehren.« Nikolaus engagierte sich derart für seine religiöse Sache, dass er sogar bereit war, Revolutionen gegen Österreich auszunutzen, sollte dies durch die Opposition der Österreicher gegen eine russische Lösung der Orientalischen Frage erforderlich werden. »Es ist sehr wahrscheinlich, dass unsere Siege zu slawischen Revolten in Ungarn führen werden«, teilte er dem russischen Botschafter in Wien mit. »Wir werden sie nutzen, um das Herz des Österreichischen Reiches zu bedrohen und seine Regierung zur Annahme unserer Bedingungen zu zwingen.« Mittlerweile schickte sich der Zar an, fast alle legitimistischen Prinzipien im Interesse seines heiligen Krieges aufzugeben. Erbost über die antirussische Haltung der europäischen Mächte, sprach er davon, die revolutionären Unruhen in Spanien anzuheizen, damit französische Einheiten aus dem Orient umgeleitet wurden, und dachte sogar daran, ein Bündnis mit Mazzinis Befreiungsbewegung in der Lombardei und in Venedig zu schließen, um den Österreichern zu schaden. Doch in beiden Fällen brachte man den Zaren davon ab, revolutionäre Demokraten zu unterstützen.4

Der Beginn der Frühjahrsoffensive wurde von Slawophilen freudig als Anbruch einer neuen religiösen Ära in der Weltgeschichte begrüßt, als erster Schritt zur Auferstehung des ostchristlichen Reiches mit Zargrad, wie sie Konstantinopel nannten, als Hauptstadt. In »An Russland« (1854) feierte der Dichter Chomjakow die Offensive mit einem »Aufruf zum heiligen Krieg«:

Steh auf, mein Vaterland!

Für unsere Brüder! Gott befiehlt euch

Die Wellen der stürmischen Donau zu überqueren

In einem früheren Gedicht mit demselben Titel hatte Chomjakow 1839 von der russischen Mission gesprochen, den Völkern der Welt die wahre orthodoxe Religion zu überbringen, doch hatte er die Russen vor Hochmut gewarnt. Nun, in seinen Versen von 1854, forderte er sie auf, »blutige Kämpfe« zu führen und »mit dem Schwert dem Schwert Gottes zuzuschlagen«. 5

Die Russen rückten langsam vor, ehe sie an mehreren Stellen am Nordufer der Donau auf hartnäckigen türkischen Widerstand stießen und praktisch zum Stehen kamen. Bei Ibrail waren 20 000 russische Grenadiere, unterstützt von Flusskanonenbooten und Dampfern, nicht in der Lage, die gut verschanzten türkischen Festungen zu überwinden. Bei Maçin lagerten 60 000 Russen außerhalb der Festungsstadt, konnten sie jedoch nicht einnehmen. Während sie von den Türken aufgehalten wurden, bauten die Russen Flöße und Pontonbrücken aus Kiefernstämmen, um die Donau überraschend bei Galati zu überqueren. Dies gelang ihnen Ende März widerstandslos.6

Auf dem Vormarsch nach Süden in Richtung Silistra blieben die Russen in den Sumpfgebieten des Donaudeltas stecken, wo so viele ihrer Landsleute 1828/29 durch Cholera und Typhus dahingerafft worden waren. In dieser spärlich besiedelten Gegend gab es keine Lebensmittel für die Angreifer, die bald von Hunger und Krankheit heimgesucht wurden. Von 210 000 russischen Soldaten in den Fürstentümern ging es 90 000 im April so schlecht, dass sie nicht mehr kämpfen konnten. Ihre Rationen aus Trockenbrot waren so wenig nahrhaft, dass nicht einmal Ratten und Hunde sie anrühren wollten (laut Aussage eines französischen Offiziers, der zurückgelassene Rationen in dem Festungsort Giurgewo entdeckte, nachdem die russischen Streitkräfte im Sommer 1854 zurückgewichen waren). Ein deutscher Arzt in der Armee des Zaren meinte, »die schlechte Qualität des Essens, das den russischen Soldaten gewohnheitsmäßig aufgetischt wird«, sei einer der Hauptgründe dafür, dass sie »starben wie die Fliegen«, sobald sie verwundet wurden oder erkrankten. »Der russische Soldat hat ein so schwaches Nervensystem, dass er durch den Verlust von ein paar Unzen Blut umfällt und häufig an Wunden stirbt, die, würden sie Personen mit einer besseren Verfassung zugefügt, gewiss heilen würden.« 7

Viele Soldaten beklagten sich in Briefen an ihre Angehörigen in der Heimat über die schrecklichen Bedingungen für die unteren Ränge und baten um Geld. Manche dieser Briefe wurden abgefangen und von der Polizei, die sie für eine politische Gefahr hielt, an Gortschakow weitergeleitet, wodurch sie im Archiv landeten. Diese schlichten Mitteilungen bieten einen einzigartigen Einblick in die Welt des einfachen russischen Soldaten. Grigori Subjanka, ein Fußsoldat in der 8. Husarenschwadron, schrieb seiner Frau Maria am 24. März:

Wir sind in der Walachei an den Ufern der Donau und stehen unserem Feind auf der anderen Seite gegenüber … Jeden Tag wird über den Fluss hinweg geschossen, und jede Stunde und jede Minute erwarten wir zu sterben, aber wir beten zu Gott, dass wir gerettet werden, und an jedem Tag, der vergeht und an dem wir noch lebendig und gesund sind, danken wir Gott, dem Schöpfer aller Dinge, für diesen Segen. Aber wir müssen Tag und Nacht hungern und frieren, denn sie geben uns nichts zu essen, und wir überleben so gut wir können, indem wir für uns selbst sorgen, Gott helfe uns.

Nikifor Burak vom 2. Bataillon des Tobolsker Infanterieregiments berichtete seinen Eltern, seiner Frau und seinen Kindern in dem Dorf Sidorowka in der Provinz Kiew:

Wir sind nun sehr weit von Russland weg, die Umgebung ist überhaupt nicht wie Russland, wir sind fast in der Türkei, und in jeder Stunde warten wir auf den Tod. Ehrlich gesagt, fast unser ganzes Regiment ist von den Türken vernichtet worden, aber durch die Gnade des größten Schöpfers bin ich noch am Leben und wohlauf … Ich hoffe, in die Heimat zurückzukehren und Euch alle wiederzusehen. Ich werde mich Euch zeigen und mit Euch reden, aber nun sind wir in großer Gefahr, und ich habe Angst zu sterben. 8

Während die russischen Verluste zunahmen, betrachtete Paskewitsch die Offensive immer kritischer. Obwohl er den Marsch auf Silistra ursprünglich befürwortet hatte, machte er sich Sorgen wegen der Massierung österreichischer Einheiten an der serbischen Grenze. Da die Briten und Franzosen jederzeit an der Küste landen konnten, da die Türken ihre Stellungen im Süden hielten und die Österreicher im Westen mobilmachten, bestand die Gefahr, dass die Russen in den Fürstentümern von feindlichen Heeren umzingelt wurden. Paskewitsch drängte den Zaren, den Rückzug anzuordnen. Ungeachtet des Befehls von Nikolaus, so schnell wie möglich vorzustoßen, verzögerte er die Offensive gegen Silistra, weil er fürchtete, bei einem Angriff der Österreicher keine ausreichenden Reserven zu haben.

Paskewitsch war zu Recht besorgt über die Österreicher, welche die wachsende Bedrohung Serbiens durch Russland erschrocken beobachteten. Sie hatten ihre Truppen an der serbischen Grenze mobilisiert, um etwaige serbische Aufstände zugunsten der Russen niederschlagen und russische Streitkräfte abwehren zu können, die sich den von Habsburg kontrollierten serbischen Gebieten von Osten her näherten. Das Frühjahr hindurch verlangten die Österreicher einen russischen Rückzug aus den Fürstentümern und drohten, sich andernfalls mit den Westmächten zusammenzutun. Die Briten waren genauso verärgert über den russischen Einfluss auf Serbien. Laut ihrem Konsul in Belgrad wurde den Serben »eingeschärft, mit russischen Soldaten in Serbien zu rechnen, sobald Silistra gefallen ist und sich einer Expedition gegen die südslawischen Provinzen Österreichs anzuschließen«. Auf Anweisung Palmerstons warnte der Konsul die Serben, dass Großbritannien und Frankreich jeglichen Aufrüstungsversuch Serbiens zur Unterstützung der Russen mit Waffengewalt bekämpfen würden.9

Unterdessen begannen die westlichen Flotten am 22. April, Ostersonntag im orthodoxen Kalender, ihren ersten Direktangriff auf russischem Boden, indem sie den wichtigen Schwarzmeerhafen Odessa beschossen. Die Briten hatten von gefangen genommenen Matrosen der Handelsmarine erfahren, dass die Russen in Odessa 60 000 Soldaten und ein großes Waffenarsenal zur Weiterbeförderung an die Donaufront angesammelt hätten (in Wirklichkeit spielte der Hafen keine militärisch bedeutsame Rolle und besaß nur ein halbes Dutzend Batterien zur Verteidigung gegen die alliierten Flotten). Sie schickten dem Gouverneur der Stadt, General Osten-Sacken, ein Ultimatum, in dem sie die Übergabe all seiner Schiffe verlangten. Als eine Antwort ausblieb, begannen sie das Bombardement mit einer Flotte aus neun Dampfern, sechs Raketenbooten und einer Fregatte. Der Beschuss dauerte elf Stunden lang und richtete enorme Schäden im Hafen an, zerstörte mehrere Schiffe und tötete Dutzende von Zivilisten. Sie verschonte auch Woronzows neoklassischen Palast auf der Klippe über dem Hafen nicht; eine Kanonenkugel traf die Statue des Duc de Richelieu, des ersten Gouverneurs von Odessa, doch ausgerechnet das Hotel London am Primorski-Boulevard trug von allen Gebäuden die schwersten Schäden davon.

Während eines zweiten Bombardements am 12. Mai lief eines der britischen Schiffe, der Dampfer Tiger, in dichtem Nebel auf Grund und wurde vom Ufer her heftig beschossen. Einer kleinen Kosakenkompanie unter dem Befehl des jungen Fähnrichs Schtschegolow gelang es, die Besatzung gefangen zu nehmen. Die Briten versuchten, ihr Schiff zu verbrennen, während die Damen von Odessa, mit Sonnenschirmen ausgerüstet, das Gefecht vom Uferdamm her beobachteten, wo später Wrackteile, darunter Kästen mit englischem Rum, angeschwemmt wurden. Die Kosaken ließen die britische Mannschaft (24 Offiziere und 201 Matrosen) in die Stadt marschieren, wo man sie inhaftierte und demütigendem Spott durch russische Seeleute und Zivilisten aussetzte. Deren Empörung über den Zeitpunkt des Angriffs zur Osterzeit war durch ihre Priester geschürt worden. Immerhin erhielt der Kapitän des Schiffes, Henry Wells Giffard, der durch Artilleriefeuer verwundet worden war und am 1. Juni an Gangrän starb, in Odessa eine Bestattung mit vollen militärischen Ehren, und in einem Akt der Ritterlichkeit aus einem vergangenen Zeitalter schickte man seiner Witwe eine seiner Haarlocken nach England. Die Geschütze der Tiger wurden in Odessa als Kriegstrophäen ausgestellt.*

Die Priester erklärten die Kaperung des britischen Dampfers zum Symbol göttlicher Rache für den Überfall am Karsamstag, der den Beginn eines Religionskriegs markiere. Der angeschwemmte Alkohol wurde rasch von den russischen Matrosen und Arbeitern an den Docks konsumiert, wonach es zu Schlägereien kam, bei denen mehrere Männer starben. Alsbald verkaufte man Schiffsteile als Souvenirs, und der Kosakenfähnrich Schtschegolow wurde über Nacht zum Volkshelden und später geradezu als Heiliger gefeiert. Armbänder und Medaillons mit seinem Konterfei standen selbst im fernen Moskau oder in St. Petersburg zum Verkauf, und es gab sogar eine neue Zigarettenmarke mit Schtschegolows Namen und seinem Bild auf der Schachtel.10

Der Beschuss von Odessa kündigte das Eintreffen der Westmächte in der Nähe der Donaufront an. Nun war die Frage, wie bald die Briten und Franzosen den Türken in Silistra zu Hilfe kommen würden. Paskewitsch, der befürchtete, dass die Fortsetzung der Offensive nach Konstantinopel übel für Russland ausgehen würde, plädierte für den Rückzug. Am 23. April schrieb er Menschikow, dem neu ernannten Oberbefehlshaber der russischen Streitkräfte auf der Krim:

Unglücklicherweise sehen wir uns nun nicht nur mit den Seemächten konfrontiert, sondern auch mit Österreich, dem anscheinend von Preußen Beistand geleistet wird. England wird keine Ausgabe scheuen, um Österreich auf seine Seite zu bringen, denn ohne die Deutschen kann es nichts gegen uns unternehmen … Wenn uns ganz Europa gegenübersteht, werden wir nicht an der Donau kämpfen.

Das ganze Frühjahr über zögerte Paskewitsch, die Befehle des Zaren zur Belagerung von Silistra auszuführen. Gegen Mitte April hatten 50 000 Soldaten die Donauinseln gegenüber der Stadt besetzt, doch Paskewitsch begann immer noch nicht mit der Belagerung. Nikolaus war wütend über die mangelnde Tatkraft seines Kommandeurs. Obwohl er selbst einräumte, dass Österreich zu den Gegnern Russlands stoßen könne, schickte er Paskewitsch ein aufgebrachtes Schreiben, in dem er ihn ermahnte, den Angriff einzuleiten. »Wenn die Österreicher uns heimtückisch attackieren«, erläuterte er am 29. April, »müssen Sie sie mit dem 4. Korps und den Dragonern abwehren; das wird bestimmt für sie ausreichen! Kein Wort mehr, ich habe nichts mehr hinzuzufügen!«

Erst am 16. Mai, nachdem die Russen durch dreiwöchige Scharmützel die Anhöhen südwestlich von Silistra in ihren Besitz gebracht hatten, begannen sie mit der Beschießung des Ortes, und selbst dann konzentrierte sich Paskewitsch auf die äußeren Verteidigungsanlagen, einen Halbkreis aus Stein- und Erdwällen mehrere Kilometer von der eigentlichen Festung entfernt. Er hoffte, die Türken zu zermürben, damit seine Männer den Ort ohne große Verluste einnehmen konnten. Die für die Details der Belagerung zuständigen Offiziere wussten freilich, dass dies eine vergebliche Hoffnung war. Die Türken hatten die Monate seit der Kriegserklärung der Hohen Pforte an Russland genutzt, um ihre Verteidigung auszubauen. Ihre Befestigungen waren durch den preußischen Obersten Grach, einen Experten für Verschanzung und Bergbau, erheblich verstärkt worden, und die russischen Kanonen hatten relativ wenig Schaden angerichtet, wenn auch die wichtigste Redoute, der als Arab-Tabia bekannte Erdwall, von russischen Granaten und Minen so zugerichtet wurde, dass man ihn während der Belagerung mehrere Male erneuern musste. Die 18 000 Soldaten, hauptsächlich Ägypter und Albaner, in den türkischen Befestigungen kämpften mit einer verblüffenden Verbissenheit. An der Spitze der osmanischen Einheiten in der Arab-Tabia standen zwei erfahrene britische Artillerieoffiziere, Hauptmann James Butler von den Ceylon Rifles und Leutnant Charles Nasmyth von der Bombay Artillery. »Es war unmöglich, den kühlen Gleichmut der Türken gegenüber der Gefahr nicht zu bewundern«, sagte Butler.

Drei Soldaten wurden innerhalb von fünf Minuten erschossen, während sie Erde für die neue Brüstung aufschütteten, an der nur zwei Männer gleichzeitig arbeiten konnten, wenn sie einen gewissen Schutz haben wollten; ihnen folgte der am nächsten stehende Zuschauer, der dem sterbenden Mann den Spaten aus der Hand nahm und sich so gelassen an die Arbeit machte, als würde er einen Graben am Straßenrand ausheben.

Da Paskewitsch einsah, dass die Russen den Befestigungen näher rücken mussten, um sie ernsthaft zu beschädigen, befahl er General Schilder, komplizierte Erdarbeiten einzuleiten, das heißt, Gräben ausschachten zu lassen, damit Geschütze an die Mauern geschoben werden konnten. Die Belagerung entwickelte sich bald zu einem monotonen, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang dauernden Bombardement durch die russischen Batterien, die durch die Kanonen einer Flussflotte verstärkt wurden. Niemals zuvor in der Geschichte der Kriegführung waren Soldaten so lange derart permanenter Gefahr ausgesetzt. Aber nichts deutete auf einen Durchbruch hin.11

Butler führte ein Tagebuch der Belagerung. Er meinte, man habe die Kapazität der schweren russischen Geschütze »stark überschätzt«; die leichtere türkische Artillerie stehe ihnen keineswegs nach, obwohl die Türken alles »auf schlampige Art« erledigten. Laut Butler spielte die Religion eine wichtige Rolle für die türkische Seite. Bei den täglichen Morgengebeten am Stambul-Tor forderte Garnisonskommandeur Musa Pascha seine Soldaten stets auf, Silistra so zu verteidigen, »wie es den Nachfahren des Propheten geziemt«, worauf »die Männer mit dem Ruf ›Lob sei Allah!‹ antworteten«.** In der Stadt gab es keine sicheren Gebäude, doch die Bewohner hatten Höhlen gegraben, die ihnen tagsüber während der Bombardierung als Zuflucht dienten. Bei Sonnenuntergang sah Butler von den Festungsmauern aus zu, wie die letzte Salve russischer Kanonenkugeln heranflog: »Ich bemerkte mehrere kleine Bengel, vielleicht neun oder zehn Jahre alt, die tatsächlich so unbekümmert hinter den Querschlägern herjagten, als wären es Kricketbälle. Die Jungen rannten um die Wette, um sie als Erste zu erreichen, denn der Pascha zahlte eine Belohnung von 20 Pera für jede abgelieferte Kanonenkugel.« Nach Einbruch der Dunkelheit konnte er die Russen in ihren Schützengräben singen hören, und »wenn sie die Nacht zum Tage machten, ließen sie sogar von einem Orchester Polkas und Walzer spielen«.

Unter dem wachsenden Druck seitens des Zaren, Silistra einzunehmen, ließ Paskewitsch zwischen dem 20. Mai und dem 5. Juni über zwanzig Infanterieangriffe ausführen, aber der Durchbruch blieb immer noch aus. »Die Türken kämpfen wie die Teufel«, meldete ein Artilleriehauptmann am 30. Mai. Häufig kletterten kleine Gruppen von Männern die Festungswälle hinauf, nur um von den Verteidigern im Nahkampf zurückgeschlagen zu werden. Am 9. Juni kam es zu einer größeren Schlacht vor den Hauptfestungsmauern, nachdem ein groß angelegter russischer Angriff abgewehrt worden war und die Türken einen Ausfall gegen die russischen Stellungen unternommen hatten. Am Ende der Kämpfe lagen 2000 Russen tot auf dem Schlachtfeld. Am folgenden Tag, verzeichnete Butler,

gingen etliche Stadtbewohner hinaus, schnitten den Gefallenen die Köpfe ab und nahmen sie als Trophäen mit, für die sie hofften eine Belohnung zu erhalten, doch man erlaubte den Barbaren nicht, sie durch die Tore zu bringen. Ein Haufen Köpfe blieb jedoch lange unbestattet direkt vor den Toren liegen. Während wir mit Musa Pascha zusammensaßen, kam ein Rüpel und warf ihm ein Paar Ohren, die er vom Kopf eines russischen Soldaten abgeschnitten hatte, vor die Füße; ein anderer prahlte, ein russischer Offizier habe ihn im Namen des Propheten um Gnade gebeten, er aber habe sein Messer gezogen und ihm kaltblütig die Kehle durchgeschnitten.

Die toten Russen lagen mehrere Tage lang herum, bis die Ortsbewohner ihnen alles geraubt hatten. Auch albanische Irreguläre beteiligten sich an der Verstümmelung und Plünderung der Leichen. Butler bekam diese ein paar Tage später zu Gesicht. Es war »ein abscheulicher Anblick«, schrieb er. »Der Gestank wurde bereits sehr abstoßend. Die Toten im Graben waren alle entkleidet worden und lagen in unterschiedlicher Haltung da: einige als kopflose Rümpfe, andere mit halb herausgerissener Kehle, die Arme im Fallen in die Luft gereckt oder nach oben weisend.«12

Tolstoi traf am Tag dieser Schlacht in Silistra ein. Er war als Nachschuboffizier beim Stab von General Serschputowski dorthin versetzt worden. Dieser richtete sein Hauptquartier in den Gärten von Musa Paschas Bergresidenz ein. Von diesem ungefährdeten Aussichtspunkt genoss Tolstoi das Schauspiel der Schlacht, das er in einem Brief an seine Tante beschrieb:

Abgesehen von der Donau, ihren Inseln und Ufern, von denen das eine von uns, das andere von den Türken besetzt waren, lagen auch die Stadt, die Festung, die kleinen Forts von Silistria vor einem, wie auf einer flachen Hand. Man hörte die Kanonen und Flintenschüsse, die weder Tag noch Nacht aufhörten, und mit einem Fernrohr konnte man sogar die türkischen Soldaten unterscheiden. Es ist allerdings ein seltsames Vergnügen, zuzusehen, wie sich die Menschen gegenseitig totschiessen und doch setzte ich mich jeden Abend und jeden Morgen auf meinen Wagen und konnte stundenlang zusehen – und das tat nicht nur ich allein. Das Bild war in der Tat grossartig, namentlich in der Nacht. Dann begannen meine Soldaten gewöhnlich die Tranchéearbeiten, die Türken stürzten sich auf sie, um sie daran zu hindern und dann hätte man dieses Feuer sehen und hören müssen. In der ersten Nacht … brachte ich die Zeit damit zu, mit der Uhr in der Hand die Kanonenschüsse zu zählen. Ich zählte auf diese Weise 110 Schüsse in der Minute. Indessen war die Sache in der Nähe nicht so schrecklich. Nachts, wenn nichts zu sehen war, bedeutete es einfach eine Pulververschwendung. Mit über 1000 Schüssen wurden auf beiden Seiten nur etwa dreissig Mann getötet.13

Paskewitsch behauptete, er sei während der Kämpfe am 10. Juni von einem Geschosssplitter getroffen worden (in Wirklichkeit war er unverletzt), und übergab General Gortschakow das Kommando. Froh darüber, nicht mehr die Verantwortung für eine Offensive tragen zu müssen, die er mittlerweile ablehnte, fuhr er mit seiner Kutsche davon und überquerte die Donau nach Jassy.

Am 14. Juni erhielt der Zar die Nachricht, dass Österreich mobilmache und sich bis zum Juli dem Krieg gegen Russland anschließen könne. Außerdem musste er damit rechnen, dass die Briten und Franzosen in jedem Moment eintreffen konnten, um Silistra zu helfen. Er wusste, dass die Zeit knapp wurde, doch er befahl einen letzten Angriff auf die Festungsstadt, den Gortschakow für die frühen Morgenstunden des 22. Juni vorbereitete.14

* * *

Unterdessen versammelten die Briten und Franzosen ihre Heere in der Gegend von Warna. Seit Anfang April hatten sie ihre Streitkräfte bei Gallipoli an Land gebracht, um Konstantinopel vor einem möglichen Angriff der Russen zu schützen. Bald aber wurde deutlich, dass die Gegend eine so große Armee nicht ernähren konnte, weshalb die alliierten Truppen, nachdem sie mehrere Wochen nach knappen Vorräten gesucht hatten, ihre Lager in der Nachbarschaft der türkischen Hauptstadt aufschlugen. Schließlich zogen sie recht weit nach Norden zum Hafen Warna, wo sie von der französischen und der britischen Flotte versorgt werden konnten.

Die beiden Heere errichteten angrenzende Lager auf den Ebenen über dem alten befestigten Hafen und beäugten einander vorsichtig. Es war ein unbehagliches Bündnis. Zu viele Vorfälle in ihrer jüngeren Geschichte machten die Partner misstrauisch. Tatsächlich bezeichnete Lord Raglan, der hochbetagte Oberbefehlshaber der Briten, der während des Spanischen Unabhängigkeitskriegs von 1808–1814 als militärischer Sekretär des Herzogs von Wellington gedient und bei Waterloo einen Arm verloren hatte,*** des Öfteren nicht die Russen, sondern die Franzosen als Feind der Briten.

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Lord Raglan

Von Anfang an hatte man sich über die Strategie gestritten: Die Briten bevorzugten eine Landung bei Gallipoli, um dann vorsichtig ins Landesinnere vorzurücken, während die Franzosen in Warna hatten landen wollen, um den russischen Vormarsch nach Konstantinopel zu verhindern. Außerdem hatten die Franzosen mit Bedacht vorgeschlagen, dass die Briten die Seekampagne, worauf sie sich am besten verstanden, leiten sollten, während sie selbst den Landfeldzug lenken würden, bei dem sie die Lehren aus ihrem Eroberungskrieg in Algerien anwenden konnten. Die Briten schauderte es jedoch bei dem Gedanken, Befehle von den Franzosen entgegenzunehmen. Sie misstrauten Marschall Saint-Arnaud, dem bonapartistischen Kommandeur der französischen Streitkräfte, dessen notorische Börsenspekulationen viele in den herrschenden Kreisen Großbritanniens vermuten ließen, dass er seine eigenen Interessen über die Sache der Alliierten stellen würde (Prinz Albert hielt es sogar für möglich, dass Saint-Arnaud fähig sei, sich von den Russen bestechen zu lassen). Solche Meinungen drangen zu den Offizieren und Soldaten durch. »Ich hasse die Franzosen«, schrieb Hauptmann Nigel Kingscote, der wie die meisten von Raglans Adjutanten auch einer seiner Neffen war. »Alle von Saint-Arnauds Stabsmitgliedern, mit ein oder zwei Ausnahmen, sind genau wie Affen, so straff wie möglich gegürtet und oben und unten prall wie Ballons.«15

Die Franzosen hielten ihrerseits nicht viel von ihren britischen Verbündeten. »Besuche im englischen Lager erfüllen mich mit Stolz darauf, dass ich Franzose bin«, teilte Hauptmann Jean-Jules Herbé seinen Eltern aus Warna mit.

Die britischen Soldaten sind enthusiastische, starke und gut gebaute Männer. Ich bewundere ihre eleganten Uniformen, die sämtlich neu sind, und ihr erlesenes Verhalten, die Präzision und Regelmäßigkeit ihrer Manöver und die Schönheit ihrer Pferde, doch ihre große Schwäche besteht darin, dass sie viel zu sehr an den Komfort gewöhnt sind. Es wird schwierig sein, ihre zahlreichen Ansprüche zu befriedigen, wenn wir auf dem Marsch sind.16

Louis Noir vom ersten Bataillon der Zuaven, der während des Algerienkriegs gegründeten Elite-Infanterie,**** schilderte seinen kläglichen Eindruck von den britischen Soldaten in Warna. Er war besonders schockiert über die Auspeitschungen, die von den Offizieren häufig wegen Disziplinlosigkeit und Trunkenheit beides verbreitete Probleme bei den Briten verabreicht wurden. Dies erinnerte ihn an das alte, nun verschwundene französische Feudalsystem:

Die englischen Anwerber schienen den Abschaum der Gesellschaft hervorgeholt zu haben, denn die unteren Klassen sind empfänglicher für ihre Geldangebote. Wären die Söhne der Wohlhabenderen einberufen worden, hätte man die Schläge, die englische Soldaten von ihren Offizieren erhielten, längst durch die Militärstrafgesetzgebung verboten. Das Bild dieser Prügelstrafen stieß uns ab und erinnerte uns daran, dass nach der Revolution von [17]89 mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht Auspeitschungen in der Armee abgeschafft worden waren … Das französische Heer besteht aus einer speziellen Schicht von Bürgern, die den Militärgesetzen unterliegen. Diese sind streng, werden jedoch gleichermaßen auf alle Ränge angewandt. In England ist der Soldat im Grunde nichts als ein Leibeigener und damit lediglich das Eigentum der Regierung. Sie treibt ihn durch zwei widersprüchliche Impulse an. Der erste ist der Stock, der zweite ist das materielle Wohl. Die Engländer haben einen Instinkt für Komfort entwickelt; gut in einem bequemen Zelt zu leben, mit einer schönen großen Portion Roastbeef, einer Flasche Rotwein und einem reichlichen Rumvorrat – das ist das Desideratum des einfachen englischen Soldaten. Es ist die entscheidende Vorbedingung seiner Tapferkeit … Wenn aber diese Vorräte nicht rechtzeitig eintreffen, wenn er draußen im Schlamm schlafen, Feuerholz suchen und ohne Rindfleisch und Grog auskommen muss, scheut der Engländer die Schlacht, und Demoralisierung breitet sich in den Reihen aus.17

Die französische Armee war der britischen in vieler Hinsicht überlegen. Ihre Offiziersakademien hatten eine ganz neue Schicht von Berufssoldaten hervorgebracht, die technisch weiter fortgeschritten, taktisch versierter und auch sozial mit ihren Männern viel vertrauter waren als die aristokratischen Offiziere der Briten. Ausgerüstet mit dem modernen Minié-Gewehr, das mit tödlicher Präzision Schnellfeuer bis zu einer Distanz von 1600 Metern abgeben konnte, wurde die französische Infanterie für ihren Angriffsschwung gefeiert. Insbesondere die Zuaven waren Meister der schnellen Attacke und des taktischen Rückzugs, einer Kampfweise, die sie in Algerien entwickelt hatten. Ihr Mut inspirierte die übrigen französischen Infanteristen, die ihnen ausnahmslos in die Schlacht folgten. Die Zuaven waren erfahrene Soldaten, die auf dem schwierigsten und gebirgigsten Terrain kämpfen konnten, und sie verband ein ausgeprägtes Kameradschaftsgefühl, das sich in Jahren gemeinsamer Schlachten in Algerien (und in vielen Fällen auf den Revolutionsbarrikaden von Paris im Jahr 1848) gebildet hatte. Paul de Molènes, ein Offizier in einem der Spahi-Kavallerieregimenter, die Saint-Arnaud in Algerien angeworben hatte, war der Meinung, dass die Zuaven eine »spezielle verführerische Kraft« auf die jungen Männer von Paris ausübten, die ihnen 1854 in Scharen zuliefen. »Die eindrucksvollen Uniformen der Zuaven, ihre lockere und kühne Erscheinung, ihr legendärer Ruhm all das verlieh ihnen einen ritterlichen Charme, den man seit den Tagen Napoleons nicht mehr gesehen hatte.«18

Die Erfahrung der Kämpfe in Algerien war ein entscheidender Vorteil für die Franzosen, verglichen mit den Briten, die seit Waterloo keine bedeutende Schlacht mehr geschlagen hatten und in vieler Hinsicht ein halbes Jahrhundert hinter der Zeit zurückgeblieben waren. Bis zu einem Drittel der 350 000 französischen Armeeangehörigen war in Algerien eingesetzt worden. Dort hatten die Franzosen gelernt, wie wesentlich eine kleine kollektive Einheit für die Aufrechterhaltung von Disziplin und Ordnung auf dem Schlachtfeld war ein Gemeinplatz für Militärtheoretiker des 20. Jahrhunderts, den Ardant du Picq, ein Absolvent der École spéciale militaire de Saint-Cyr in Fontainebleau bei Paris, als Erster propagierte. Er diente als Hauptmann während der Warna-Expedition und entwickelte seine Ideen durch die Beobachtung der französischen Soldaten im Krimkrieg. Außerdem hatten die Franzosen gelernt, ein Heer auf dem Marsch effektiv zu versorgen eine Aufgabe, bei der ihre Überlegenheit gegenüber den Briten von dem Moment an, als die beiden Armeen bei Gallipoli landeten, deutlich wurde. Zweieinhalb Tage lang durften die britischen Soldaten nicht von Bord gehen, »weil nichts für sie fertig war«, berichtete William Russell von der Times, der Pionierarbeit leistende Korrespondent, der sich der Expedition in den Orient angeschlossen hatte. Dagegen waren die Franzosen mit einer riesigen Flottille von Versorgungsschiffen beneidenswert gut vorbereitet: »Lazarette, Brot- und Keksbäckereien, Planwagenzüge für die Beförderung von Vorräten und Gepäck alles Notwendige und sogar jeder Komfort war zur Hand, sobald die Schiffe einliefen. Auf unserer Seite war keine einzige britische Flagge im Hafen zu sehen! Unser großer Marinestaat wurde durch einen einzigen Dampfer repräsentiert, der einem Privatunternehmen gehörte.«19

Der Ausbruch des Krimkriegs hatte die britische Armee unvorbereitet getroffen. Der Militärhaushalt war seit vielen Jahren gesunken, und erst in den Anfangswochen des Jahres 1852, nach Napoleons Staatsstreich und dem Schock eines möglichen Krieges mit Frankreich, hatte die Regierung Russell im Parlament die notwendigen Stimmen für eine bescheidene Ausgabenerhöhung erhalten. Von den 153 000 Soldaten dienten zwei Drittel im Frühjahr 1854 in fernen überseeischen Teilen des Empire, weshalb in aller Eile Männer für die Schwarzmeerexpedition rekrutiert werden mussten. Ohne das Wehrpflichtsystem der Franzosen war die britische Armee vollkommen auf die Anwerbung von Freiwilligen angewiesen, die mit einem Handgeld gelockt wurden. In den 1840er Jahren war die Zahl der verfügbaren diensttauglichen Männer aufgrund großer industrieller Bauvorhaben und durch Emigration in die Vereinigten Staaten und Kanada stark zurückgegangen, so dass die Armee auf die erwerbslosen und ärmsten Gesellschaftsschichten zurückgreifen musste. Dies waren zum Beispiel die Opfer der irischen Hungersnot, die das Handgeld in ihrer Verzweiflung annahmen, um ihre Schulden zu begleichen und ihre Familien vor dem Armenhaus zu retten. Die wichtigsten Rekrutierungsstätten für die britische Armee waren Pubs, Jahrmärkte und Rennbahnen, wo sich mittellose Männer betranken und verschuldeten.20

Während der britische Soldat aus den ärmsten Gesellschaftsschichten stammte, rekrutierte man das Offizierskorps hauptsächlich aus der Aristokratie ein Zustand, der durch den Kauf von Patenten nahezu garantiert wurde. In den höchsten Rängen dominierten alte Gentlemen, die über gute Beziehungen zum Hof, aber wenig militärische Erfahrung oder Fachkenntnis verfügten; es war eine ganz andere Welt als die der professionellen französischen Armee. Lord Raglan war 65, Sir John Burgoyne, der Geniekommandeur des Heeres, 72 Jahre alt. Fünf der höchsten Offiziere in Raglans Hauptquartier gehörten zu seiner Verwandtschaft. Der jüngste, der Herzog von Cambridge, war ein Cousin der Königin. Diese Armee war wie die russische in Bezug auf militärisches Denken und soldatische Kultur noch dem 18. Jahrhundert verhaftet.

Raglan bestand darauf, seine Männer in eng anliegenden Uniformröcken und mit hohen Tschakos in die Schlacht zu schicken. Dies mochte eindrucksvoll ausgesehen haben, wenn sie in strenger Formation auf dem Exerzierplatz marschierten, doch im Kampf erwies es sich als völlig unpraktisch. Als Kriegsminister Sidney Herbert ihm im Mai vorschlug, die Kleiderordnung zu lockern und den Männern vielleicht auch die tägliche Rasur zu erlassen, erwiderte Raglan:

Ich sehe Ihren Vorschlag zur Einführung von Bärten in einem etwas anderen Licht, und es kann nicht notwendig sein, ihn gegenwärtig anzunehmen. Ich habe recht altmodische Vorstellungen und hänge dem Wunsch an, dass ein Engländer wie ein Engländer aussehen sollte, ungeachtet dessen, dass die Franzosen bemüht sind, sich den Anschein von Afrikanern, Türken und Ungläubigen zu geben. Ich habe bei den unteren Schichten in England stets bemerkt, dass es ihrem ersten Begriff von Reinlichkeit entspricht, sich zu rasieren, und ich würde meinen, dass dieses Gefühl auch in unseren Reihen zumeist vorherrscht, wenngleich einige unserer Offiziere die behaarten Männer unter unseren Verbündeten beneiden mögen. Falls ich jedoch, wenn wir zu marschieren beginnen und großer Hitze und Schmutz ausgesetzt sind, feststelle, dass die Sonne Furchen auf den Gesichtern der Männer hinterlässt, werde ich darüber nachdenken, ob es wünschenswert ist, die Vorschriften zu lockern oder nicht, aber lassen Sie uns als Engländer auftreten.21

Das Verbot von Bärten überdauerte die Julihitze nicht, doch der britische Soldat trug immer noch lächerlich formelle Kleidung, verglichen mit den leichten und schlichten Uniformen der Russen und Franzosen, wie Oberstleutnant George Bell vom 1st (Royal) Regiment klagte:

Den Anzug auf dem Rücken & Kleidung zum Wechseln im Gepäck, mehr brauchen die Männer nicht, doch sie sind trotzdem wie Esel beladen – Mantel und Decke, straffe … Gürtel, die sich wie der Tod an ihre Lungen klammern, ihre Waffen samt Zubehör, 60 Patronen Minié-Munition, Tornister & Inhalt. Die steifen Lederstehkragen haben wir dank »Punch« und »Times« abgeschafft. Die Erkenntnisse vierzigjähriger Erfahrung konnten die Militärbehörden nicht davon abbringen, den Soldaten erst dann ins Feld ziehen zu lassen, wenn er halb erwürgt und unfähig war, sich unter seiner Last zu bewegen, bis die öffentliche Meinung und die Zeitungen ihm zu Hilfe kamen. Das Nächste, was ich ausrangieren möchte, ist der grässliche Albert,***** wie man ihn nennt, auf dem ein Mann in diesem Klima seine Rindfleischration am Mittag braten kann. Denn da das Oberteil aus Lackleder ist, zieht es einen zehnfach größeren Teil der Sonnenstrahlen an, um sein Gehirn rasend zu machen.22

Auf den Ebenen um Warna lagernd, hatten die Briten und Franzosen kaum mehr zu tun, als auf Nachrichten über die Kämpfe bei Silistra zu warten, weshalb sie Unterhaltung in den Kneipen und Bordellen des Ortes suchten. Das heiße Wetter und die Warnungen, kein Wasser zu trinken, führten zu einer wüsten Sauforgie, in der man besonders den lokalen sehr billigen und starken Raki trank. »Tausende von Engländern und Franzosen drängten sich in den notdürftigen Schänken«, notierte Paul de Molènes, »wo sich all die Weine und Spirituosen unserer Länder in lärmende Trunkenheit ergossen Die Türken standen vor ihren Türen und betrachteten ohne Emotion oder Erstaunen diese seltsamen Verteidiger, welche die Vorsehung ihnen geschickt hatte.« Schlägereien unter Alkoholeinfluss waren ein tägliches Problem in der Stadt. Hugh Fitzhardinge Drummond, ein Adjutant bei den Scots Fusilier Guards, schrieb seinem Vater aus Warna:

Unsere Freunde vom Hochlandregiment saufen wie Löcher, und unsere Männer … trinken mehr als früher in Scutari. Die Zuaven sind die unverschämtesten und ungezügeltsten Schurken, die Du Dir vorstellen kannst; sie begehen jedes denkbare Verbrechen. Vorgestern haben sie wieder einen Mann hingerichtet. Letzte Woche wurde ein Chasseur de Vincennes von einem dieser Übeltäter in einem wilden Alkoholrausch mit einem Kurzschwert fast entzweigeteilt. Franzosen trinken eine Menge – ich glaube, so viel wie unsere Männer – und sind dann aufsässiger.

Die Beschwerden der Bewohner von Warna häuften sich. Die Ortsbevölkerung bestand überwiegend aus Bulgaren, aber es gab eine beträchtliche türkische Minderheit. Die Türken waren verärgert darüber, dass Soldaten in muslimischen Cafés Alkohol verlangten und gewalttätig wurden, wenn sie erfuhren, dass keine Spirituosen zum Verkauf standen. Sie hätten sich zu Recht fragen können, ob ihre Verteidiger nicht eine größere Gefahr für sie darstellten als die Russen, wie der britische Marineoffizier Adolphus Slade in Konstantinopel beobachtete:

Französische Soldaten lungerten während der Gebete in den Moscheen herum, begafften wollüstig die verschleierten Damen, vergifteten die Straßenhunde … schossen auf die Möwen am Hafen und die Tauben auf den Straßen, verspotteten die Muezzins, die den Azan von den Minaretten riefen, und zerbrachen bedenkenlos gemeißelte Grabsteine, um sie als Straßenpflaster zu benutzen … Die Türken hatten von der Zivilisation gehört und sahen sie nun, wie sie glaubten, erstaunt vor sich. Raub, Trunkenheit, Glücksspiel und Prostitution gediehen unter dem Gleißen einer orientalischen Sonne.23

Die Briten bildeten sich rasch eine schlechte Meinung von den türkischen Soldaten, die auf den Ebenen um Warna ihr Lager neben ihnen aufschlugen. »Das wenige, was ich von den Türken gesehen habe, lässt mich vermuten, dass sie sehr schlechte Verbündete sind«, schrieb Raglans Adjutant Kingscote seinem Vater. »Ich bin sicher, dass sie die größten Lügner auf dieser Erde sind. Wenn sie behaupten, sie hätten 150 000 Mann, stellt man bei näherer Nachforschung fest, dass es nur 30 000 sind. So etwas geschieht immer wieder, und nach allem, was ich höre, kann ich nicht verstehen, warum die Russen sie noch nicht niedergetrampelt haben.« Auch die Franzosen hielten nicht viel von den türkischen Soldaten, obwohl die Zuaven, die einen hohen Anteil an Algeriern aufwiesen, gute Beziehungen zu den Türken knüpften. Louis Noir meinte, die britischen Soldaten hätten eine rassistische und imperialistische Einstellung den Türken gegenüber, weshalb sie von den Männern des Sultans weithin gehasst würden.

Die englischen Soldaten dachten, sie seien nicht in die Türkei gekommen, um sie zu retten, sondern um sie zu erobern. Bei Gallipoli machten sie sich oft einen Spaß daraus, einen türkischen Herrn am Strand anzusprechen; sie zogen einen Kreis um ihn und erklärten ihm, das sei die Türkei. Dann forderten sie ihn auf, den Kreis zu verlassen, und teilten diesen, um die eine Hälfte als »England« und die andere als »Frankreich« zu bezeichnen, bevor sie den Türken in etwas hinüberstießen, das sie »Asien« nannten.24

Koloniale Vorurteile beschränkten den Einsatz, den die Westmächte den türkischen Streitkräften zutrauten. Napoleon III. hielt die Türken für träge und korrupt, während Lord Cowley, der britische Botschafter in Paris, Raglan warnte, dass »keinem Türken« eine für die nationale Sicherheit wichtige militärische Aufgabe anvertraut werden könne. Die anglofranzösischen Befehlshaber waren der Ansicht, die Türken verstünden sich nur darauf, hinter Befestigungen zu kämpfen. Man war bereit, sie für Hilfsarbeiten wie das Ausheben von Gräben einzusetzen, nahm jedoch an, dass ihnen Disziplin und Mut fehlten, um auf dem offenen Schlachtfeld an der Seite europäischer Soldaten anzutreten.25 Der Erfolg der Türken bei der Abwehr der Russen vor Silistra (den man vor allem den britischen Offizieren zugutehielt) änderte nichts an den rassistischen Einstellungen, die noch deutlicher werden sollten, als sich das Kampfgeschehen auf die Krim verlagerte.

* * *

Nach Lage der Dinge behaupteten die Türken sich wacker gegen die Russen, die am 22. Juni einen letzten Ansturm auf Silistra begannen. Am Morgen des 21. inspizierte Gortschakow mit seinem Stab die Gräben vor der Arab-Tabia, wo der Angriff eingeleitet werden sollte. Tolstoi war beeindruckt von seinem Befehlshaber (den er später für sein Porträt von General Kutusow in Krieg und Frieden heranzog). »An diesem Morgen sah ich ihn zum ersten Mal im Feuer«, schrieb er seinem Bruder Nikolai. »Man merkte, dass er von dem allgemeinen Gang der Ereignisse in Anspruch genommen war; dass die Flinten- und Kanonenkugeln für ihn nicht existierten.« Den ganzen Tag hindurch beschossen 500 russische Kanonen die Befestigungen, um den Widerstand der Türken zu schwächen; das Feuer dauerte bis spät in die Nacht, denn der Angriff war für drei Uhr morgens geplant. »Wir waren alle dort«, fuhr Tolstoi fort, »und gaben uns, wie das am Vorabend einer Schlacht immer zu sein pflegt, den Anschein, als dächten wir an den folgenden Tag nicht mehr als an jeden andern; bei alledem bin ich überzeugt, dass unser Herz sich heimlich bei dem Gedanken an den Sturm ein wenig, vielleicht auch heftig zusammenkrampfte.«

Wie Du weisst, Nikolas, ist die Zeit vor einem Gefecht die unangenehmste, ja die einzige, wo man Musse hat, sich zu fürchten, und Furcht ist eins der unangenehmsten Gefühle. Gegen Morgen und je näher der entscheidende Moment heranrückte, nahm das Gefühl der Furcht ab, und gegen drei Uhr, als alle den Raketenstrauss, das Angriffssignal erwarteten, geriet ich in so gute Stimmung, dass ich es sicherlich bedauert hätte, wenn jemand gekommen wäre und mir gesagt hätte, der Sturm würde nicht stattfinden.

Doch was Tolstoi befürchtete, trat ein. Um 2 Uhr überbrachte ein Adjutant Gortschakow den Befehl, die Belagerung von Silistra aufzuheben. »Ich kann ruhig behaupten«, berichtete Tolstoi seinem Bruder,

dass diese Nachricht von allen – Soldaten, Offizieren und Generalen – wie ein wahres Unglück aufgenommen wurde, besonders da man von Spionen, die häufig aus Silistria zu uns kamen und mit denen ich mich oft unterhalten konnte, erfahren hatte, dass Silistria sich nach Einnahme dieses Forts … nicht länger als zwei oder drei Tage hätte halten können.26

Was Tolstoi nicht wusste oder nicht berücksichtigen wollte, war die Tatsache, dass sich mittlerweile 30 000 französische, 20 000 britische und 20 000 türkische Soldaten anschickten, die Verteidigung von Silistra zu verstärken, und dass Österreich, das 100 000 Mann an der serbischen Grenze bereithielt, dem Zaren ein Ultimatum überreicht hatte, sich aus den Donaufürstentümern zurückzuziehen. Österreich hatte gewissermaßen eine Politik der bewaffneten Neutralität zugunsten der Alliierten eingeschlagen, indem es die Habsburger Truppen mobilisierte, um die Russen zum Abzug von der Donau zu zwingen. Die Österreicher, die mit Aufständen ihrer eigenen Slawen rechnen mussten, beobachteten die russische Präsenz in den Fürstentümern, die mit jedem Tag mehr nach einer Annexion aussah, mit Sorge. Wenn sie die Russen von Westen her angriffen, bestand eine reale Möglichkeit, dass sie ihnen die Nachschublinien auf der Donau abschneiden, ihre wichtigste Rückzugsroute blockieren und sie den Attacken der alliierten Heere aus südlicher Richtung aussetzen würden. Dem Zaren blieb nichts anderes übrig, als zurückzuweichen, bevor seine Armee vernichtet wurde.

Nikolaus fühlte sich von den Österreichern, deren Reich er 1849 vor den Ungarn gerettet hatte, zutiefst verraten. Er hatte eine väterliche Zuneigung zu dem mehr als dreißig Jahre jüngeren Kaiser Franz Joseph entwickelt und meinte, dessen Dankbarkeit verdient zu haben. Sichtlich betrübt und erschüttert über das Ultimatum, drehte er Franz Josephs Porträt zur Wand und schrieb auf die Rückseite: »Du Undankbarer!« Im Juli erklärte er dem österreichischen Gesandten Graf Esterházy, Franz Joseph habe völlig vergessen, was der Zar für ihn getan habe, und »da das Vertrauen, das bisher zum Glück ihrer Reiche zwischen den beiden Souveränen geherrscht habe, nun zerstört sei, könnten nicht mehr die gleichen innigen Beziehungen zwischen ihnen existieren«.27

Der Zar ließ Gortschakow in einem ungewöhnlich persönlichen Brief, der vieles über seine Denkweise enthüllte, wissen, weshalb er die Belagerung aufgehoben hatte:

Wie traurig und schmerzlich es für mich ist, mein lieber Gortschakow, zur Übereinstimmung mit den hartnäckigen Argumenten von Fürst Iwan Fjodorowitsch [Paskewitsch] gezwungen zu werden … und von der Donau zurückzuweichen, nachdem so viele Anstrengungen unternommen und so viele mutige Seelen ohne Gewinn verloren wurden. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, was das für mich bedeutet. Urteilen Sie selbst!!! Aber wie kann ich anderer Meinung sein als er, wenn ich auf die Karte schaue. Nun ist die Gefahr nicht so groß, denn Sie sind in einer Position, in der Sie den unverschämten Österreichern eine schwere Strafe auferlegen können. Ich befürchte nur, dass der Rückzug die Moral unserer Soldaten schädigen könnte. Sie müssen ihre Stimmung heben und jedem von ihnen klarmachen, dass es besser ist, rechtzeitig zurückzuweichen, damit wir später – wie 1812 – angreifen können.28

Die Russen zogen sich von der Donau zurück, wobei sie sich der Türken, die rachedurstig waren und sie verfolgten, erwehren mussten. Die Soldaten des Zaren waren müde und demoralisiert, viele hatten seit Tagen nichts gegessen, und die Zahl der Kranken und Verwundeten war so hoch, dass nicht alle auf Karren mitgenommen werden konnten. Tausende wurden den Türken ausgeliefert. Bei dem Festungsort Giurgewo verloren die Russen am 7. Juli 3000 Mann in einer Schlacht mit den Türken (teils unter dem Kommando britischer Offiziere), die den Fluss von Rusçuk her überquerten und die Armee des Zaren mit Unterstützung eines britischen Kanonenboots angriffen. Gortschakow traf nach der aufgegebenen Belagerung von Silistra mit Verstärkungen ein, musste jedoch bald den Rückzug anordnen. Der Union Jack wurde auf der Festung Giurgewo aufgepflanzt, wonach die Türken brutale Rache an den Russen nahmen. Sie töteten über 1400 Verwundete, schnitten ihnen die Köpfe ab und verstümmelten ihre Leichen, während Omer Pascha und die britischen Offiziere zuschauten.29

Die türkischen Vergeltungsmaßnahmen hatten einen eindeutig religiösen Charakter. Sobald die Russen die Stadt geräumt hatten, plünderten türkische Soldaten (Baschi-Basuks und Albaner) die Häuser und Kirchen der christlichen, überwiegend bulgarischen Bevölkerung. Sämtliche Christen hatten ihre Habseligkeiten eilig auf Wagen gepackt und Giurgewo zusammen mit den russischen Infanteriekolonnen in Richtung Norden verlassen. Ein französischer Offizier beschrieb die Szenerie, die er ein paar Wochen später in Giurgewo vorfand:

Die Russen hatten nach ihrem Rückzug lediglich 25 Bewohner von 12 000 zurückgelassen! Nur einige wenige Häuser waren unversehrt … Die Plünderer gaben sich nicht damit zufrieden, nur Wohnhäuser auszurauben. Auch mehrere Kirchen wurden verwüstet. Ich sah mit eigenen Augen eine griechische Kirche, die in einem schrecklichen Zustand war. Ein alter bulgarischer Küster versuchte, zwischen den zerbrochenen Ikonen und Kirchenfenstern, den Skulpturen, Lampen und anderen sakralen Gegenständen, die im Altarraum aufgehäuft waren, Ordnung zu schaffen. Ich fragte ihn in Zeichensprache, wer diese Gräueltaten begangen habe, die Russen oder die Türken. »Turkos«, erwiderte er nur, mit zusammengebissenen Zähnen und in einem Tonfall, der dem ersten Baschi-Basuk, der ihm in die Hände fiel, nichts Gutes verhieß.30

In jedem Ort und Dorf, durch welche die Russen zogen, schlossen sich ihnen weitere Flüchtlinge an, die Angst vor türkischer Rache hatten. Auf den Straßen spielten sich Szenen des Chaos und der Panik ab, während Tausende von bulgarischen Bauern mit ihrem Vieh die Dörfer verließen und sich zu den unablässig wachsenden Flüchtlingskolonnen gesellten. Die Straßen waren so sehr von Bauernwagen blockiert, dass sich der russische Rückzug verlangsamte und Gortschakow daran dachte, die Bulgaren zurücktreiben zu lassen. Seine Führungsoffiziere stimmten ihn jedoch um, und am Ende wurden etwa 7000 bulgarische Familien nach Russland evakuiert. Tolstoi schilderte die Situation, die er in einem Dorf vorfand, in einem Brief an seine Tante, den er am 19. Juli nach seiner Ankunft in Bukarest schrieb:

Ein Dorf, das ich öfter vom Lager aus aufsuchte, um Milch und Früchte zu besorgen, wurde auf diese Weise [von den Türken] zerstört. Sobald also der Fürst [Gortschakow] den Bulgaren kund tat, dass jeder, der Lust hätte, die Donau mit der Armee zu überschreiten, russischer Untertan werden könne, erhob sich das ganze Land und alles stürmte mit Frauen, Kindern, Pferden, Vieh zur Brücke. Da es nicht möglich war, alle mitzunehmen, sah sich der Fürst genötigt, die Zuletztgekommenen abzuweisen. Man muss gesehen haben, wie schwer ihm das fiel! Er empfing alle Deputationen der Unglücklichen, sprach mit jedem, bemühte sich, ihnen die Unmöglichkeit ihres Vorhabens klarzumachen, schlug ihnen vor, die Fuhren und das Vieh zurückzulassen, während er die Sorge um ihren Unterhalt, bis zum Moment, wo sie nach Russland kommen würden, auf sich nehmen wollte. Er bezahlte, aus eigenen Mitteln, Schiffe für die Ueberfahrt, kurz, er tat alles Mögliche für das Wohl dieser Leute.31

In Bukarest herrschte ein ähnliches Durcheinander. Viele der unzufriedenen russischen Soldaten nutzten die Gelegenheit zu desertieren und versteckten sich in der Stadt, woraufhin die Militärbehörden der Bevölkerung mit harschen Strafen drohten, wenn sie Deserteure nicht auslieferte. Die walachischen Freiwilligen, die sich den Russen nach der Besetzung des Fürstentums angeschlossen hatten, schwanden nun dahin; viele von ihnen flohen nach Süden zu den Alliierten. Beim Verlassen der Stadt bedachten die Russen die »verräterischen Walachen« in einem Manifest des Zaren mit einer düsteren Warnung:

Seine Majestät der Zar glaubt nicht, dass sich jene, die sich zur selben Religion bekennen wie der orthodoxe Kaiser, einer Regierung, die nicht christlich ist, unterwerfen können. Wenn die Walachen das nicht begreifen, weil sie zu stark von Europa beeinflusst werden und sich falschen Überzeugungen hingeben, kann der Zar trotzdem nicht der Mission entsagen, mit der Gott ihn als Führer der Rechtgläubigen betraut hat: nämlich der, all jene, die sich zum wahren christlichen Glauben bekennen, also die Griechen, für immer von der Oberhoheit der Osmanen zu befreien. Dieser Gedanke beschäftigt den Zaren seit dem Beginn seiner glorreichen Herrschaft, und der Moment ist gekommen, da Seine Majestät ein seit vielen Jahren geplantes Projekt verwirklichen wird, unabhängig davon, was die machtlosen europäischen Staaten, die einem falschen Glauben anhängen, beabsichtigen mögen. Die Zeit wird kommen, da die rebellischen Walachen, die sich den Zorn Seiner Majestät zugezogen haben, teuer für ihre Untreue bezahlen werden.

Am 26. Juli wurde die Proklamation vor den versammelten Bojaren in Bukarest von Gortschakow verlesen, der seine eigenen Abschlussworte hinzufügte: »Meine Herren, wir verlassen Bukarest vorläufig, doch wir hoffen, bald zurückzukehren denken Sie an 1812.«32

Die Nachricht vom Rückzug war ein gewaltiger Schock für die Slawophilen in Moskau und St. Petersburg, die den russischen Vormarsch auf dem Balkan als Befreiungskrieg für die Slawen betrachtet hatten. Nun verzweifelten sie, da ihre Ideale anscheinend aufgegeben worden waren. Konstantin Aksakow hatte von einer slawischen Föderation unter russischer Führung geträumt und erwartet, dass am Ende des Krieges ein Kreuz auf der Hagia Sophia in Konstantinopel aufgepflanzt würde. Nun erfüllte ihn der Rückzug von der Donau »mit Gefühlen des Abscheus und der Scham«, wie er seinem Bruder Iwan schrieb:

Es ist so, als zögen wir uns von unserem orthodoxen Glauben zurück. Wenn dies der Fall ist, weil wir Misstrauen hegen oder weil wir einem heiligen Krieg den Rücken kehren, dann hat es seit der Gründung Russlands nie einen solch schändlichen Moment in unserer Geschichte gegeben – wir haben Feinde besiegt, nicht jedoch unsere eigene Furcht. Und was nun! … Wir weichen aus Bulgarien zurück, aber was wird aus den armen Bulgaren werden, aus den Kreuzen an den Kirchen Bulgariens? … Russland! Wenn du Gott verlässt, dann wird Gott dich verlassen! Du hast die heilige Mission verleugnet, mit der Er dich betraut hat, damit du den heiligen Glauben verteidigst und deine leidenden Brüder befreist, und nun wird Gottes Zorn dich ereilen, Russland!

Wie viele Slawophile machten auch die Aksakows den »deutschen« Außenminister Nesselrode für die Entscheidung zum Rückzug verantwortlich. Man beschimpfte ihn nun in nationalistischen Kreisen als Verräter Russlands und als »österreichischen Agenten«. Zusammen mit dem Panslawistenführer Pogodin zettelten die Nationalisten in den Salons von St. Petersburg und Moskau eine Kampagne an, durch die der Zar bewogen werden sollte, den Abzug rückgängig zu machen und allein gegen die Österreicher und die Westmächte zu kämpfen. Sie frohlockten im Grunde darüber, dass Russland ohne fremde Hilfe gegen Europa kämpfen würde, hielten sie doch einen heiligen Krieg zur Befreiung der Slawen von westlichem Einfluss für die Erfüllung der messianischen Rolle Russlands.33

Während die Russen die Walachei hinter sich ließen, rückten die Österreicher vor, um wieder für Ordnung im Fürstentum zu sorgen. Ein Kontingent von 12 000 Mann unter General Coronini erreichte gar Bukarest, wo es zu einem Zusammenstoß mit den Türken kam, welche die Stadt bereits nach dem Abmarsch der Russen okkupiert hatten. Omer Pascha, der sich zum »Statthalter der wiederbesetzten Fürstentümer« ernannt hatte, war nicht bereit, Bukarest dem österreichischen Befehlshaber zu überlassen. Als ehemaliger Habsburger Untertan, der sich den Türken angeschlossen hatte, konnte er sich schwerlich damit einverstanden erklären, seine mühevoll erkämpften Gebiete einem Höfling wie Coronini zu übergeben, der als Hauslehrer des Kaisers gearbeitet hatte und all das an der Habsburger Welt repräsentierte, was Omer Pascha bei seinem Wechsel zu den Osmanen zurückgewiesen hatte. Die Briten und Franzosen pflichteten dem türkischen Befehlshaber bei. Nachdem die Alliierten so lange versucht hatten, die Österreicher in den Kampf um die Fürstentümer einzubeziehen, betrachteten sie die Habsburger Intervention nun als zweischneidiges Schwert. Sie waren erfreut darüber, dass die Österreicher mitgeholfen hatten, die russische Okkupation zu beenden, doch sie argwöhnten zugleich, dass Wien seinerseits beabsichtigte, die Fürstentümer langfristig zu besetzen entweder in der Hoffnung, das nach dem Abzug der Russen entstandene Vakuum zu füllen, oder in dem Glauben, seine eigene Lösung des russisch-türkischen Konflikts auf Kosten des Westens realisieren zu können. Ihr Argwohn verstärkte sich, als die Österreicher Omer Paschas Streitkräfte daran hinderten, die Russen nach Bessarabien zu verfolgen (die von Napoleon III. bevorzugte Taktik). Hinzu kam, dass die Habsburger die von den Russen nominierten Hospodaren erneut an die Macht brachten, womit sie offenbar den Zaren besänftigen wollten. Für die Briten und Franzosen lag auf der Hand, dass die Österreicher den Donaufürstentümern weder als Gendarmen des Europäischen Konzerts noch als Verfechter der türkischen Souveränität zu Hilfe gekommen waren, sondern nur zur Verwirklichung ihrer eigenen politischen Motive.34

Teils, um der österreichischen Bedrohung entgegenzuwirken, und teils, um die Schwarzmeerküste für einen Angriff auf Südrussland und die Krim in ihren Besitz zu bringen, entsandten die Franzosen Ende Juli eine Expeditionsstreitmacht in die Region Dobrudscha im Donaudelta. Die Streitmacht bestand aus irregulären Baschi-Basuks (von den Franzosen als Spahis d’Orient bezeichnet) unter dem Kommando von General Yusuf sowie aus Infanteristen der 1. Division (unter General Canrobert), der 2. Division (unter General Bosquet) und der 3. Division (unter Prinz Napoleon). Yusuf, der 1815 als sechsjähriger Giuseppe Vantini auf Elba von den Berberkorsaren gefangen genommen wurde und im Palast des Beys von Tunis aufgewachsen war, befehligte die von ihm gegründete Spahis-Kavallerie, welche die Franzosen bei ihrer Eroberung Algeriens eingesetzt hatten. Sein dortiger Erfolg machte ihn zum idealen Kandidaten dafür, die Baschi-Basuks unter französischem Kommando zu organisieren. Am 22. Juli versammelte er in Warna eine Kavalleriebrigade von 4000 Baschi-Basuks, welche die Osmanen den Franzosen überlassen hatten, sowie verschiedene andere irreguläre Einheiten, darunter eine kurdische Reitertruppe unter dem Befehl von Fatima Khanum. Bekannt als Jungfrau von Kurdistan, führte die siebzigjährige Khanum ihre Stammesmitglieder, die mit Schwertern, Dolchen und Pistolen bewaffnet waren, unter dem grünen Banner eines muslimischen Krieges an. Auch Yusuf beschwor den Dschihad herauf, um seine Männer gegen die Russen anzustacheln und ihnen ein anderes Motiv zum Kampf zu geben als die übliche Aussicht auf Plünderung (welche die Franzosen unbedingt unterbinden wollten). »Wir sind gekommen, um den Sultan, unseren Kalifen, zu retten«, erfuhr Louis Noir, dessen Zuaven-Brigade sich Yusufs Streitmacht auf dem Marsch nach Norden von Warna her anschloss, von einer Gruppe Baschi-Basuks. »Sollten wir sterben, wenn wir ohne Sold für ihn kämpfen, werden wir direkt in den Himmel aufsteigen; würden wir für den Kampf bezahlt, hätte keiner von uns ein Anrecht aufs Paradies, denn wir hätten unsere Entschädigung auf Erden erhalten.«35

Aber nicht einmal die Verheißung des Paradieses konnte die Disziplin von Yusufs Kavallerie gewährleisten. Sobald die Baschi-Basuks den Befehl erhielten, aus Warna aufzubrechen, begannen sie unter dem Vorwand zu desertieren, dass sie nicht für ausländische Offiziere kämpfen wollten (Yusuf sprach ein tunesisches Arabisch, das die Syrer, Türken und Kurden unter seinem Kommando nicht verstehen konnten). Ein Kavalleriespähtrupp ergriff beim ersten Anblick der Kosaken bei Tulcea en masse die Flucht, so dass die französischen Offiziere allein in den Kampf zogen (sie fielen ausnahmslos). Am 28. Juli besiegten Yusufs Streitkräfte die Kosaken und zwangen sie zum Rückzug, bevor sie selbst jegliche Disziplin verloren, Dörfer plünderten, Christen ermordeten und ihre Köpfe in der Hoffnung auf eine Belohnung zu General Yusuf zurückbrachten (die türkische Armee zahlte in der Regel eine Prämie für die Köpfe von Ungläubigen, darunter auch Zivilisten, die in einem heiligen Krieg besiegt wurden). Einige Männer ermordeten sogar christliche Frauen und Kinder und zerstückelten ihre Leichen, ebenfalls um eine Belohnung zu erhalten.36

Am folgenden Tag erlagen die ersten Soldaten von Yusufs Truppe der Cholera. Die Sümpfe und Seen in der Donaumündung waren von der Krankheit verseucht, und die Zahl der Todesopfer erwies sich als alarmierend. Durch die Cholera und tagelange Märsche in der sengenden Hitze dehydriert, brachen Männer zusammen und starben am Straßenrand. Die Streitmacht löste sich rasch auf, denn Soldaten flohen, um der Krankheit zu entgehen, oder legten sich im Schatten eines Baumes hin, um sich dem Tod zu überlassen. Yusuf ordnete den Rückzug nach Warna an, wo die Reste seiner Armee, rund 1500 Mann, am 7. August eintrafen.

Auch in Warna stießen sie auf die Krankheit, denn ganz Südosteuropa war im Sommer 1854 von der Cholera ereilt worden. Sie suchte zuerst das französische und kurz darauf das britische Lager heim. Ein heißer Wind blies aus dem Innern des Landes, so dass die Lagerplätze von weißem Kalkpulver und einer Decke aus toten Fliegen überzogen wurden. Viele Männer litten unter Übelkeit und Durchfall und legten sich dann in ihre Zelte, um zu sterben. In Unkenntnis der Ursachen tranken die Soldaten in der Sommerhitze weiterhin Wasser, obwohl sich einige, wie die Zuaven, welche die Krankheit aus Algerien kannten, auf Wein beschränkten oder das Wasser für die Zubereitung von Kaffee (wovon die Franzosen enorme Mengen konsumierten) kochten. In den 1830er und 1840er Jahren kam es in London und anderen britischen Städten regelmäßig zu Choleraepidemien, doch erst in den 1880er Jahren sollte man den Zusammenhang mit den sanitären Verhältnissen erkennen. Ein Londoner Arzt namens John Snow hatte zwar bereits entdeckt, dass die Cholera durch das Kochen von Trinkwasser verhindert werden konnte, doch man nahm seine Befunde kaum zur Kenntnis. Stattdessen wurden giftige Ausdünstungen aus den Seen um Warna, übermäßiger Alkoholgenuss und der Verzehr von Beeren für die Krankheit verantwortlich gemacht. Die Militärbehörden ließen elementare Hygienevorschriften außer Acht: Latrinen liefen über, und Kadaver verwesten in der Sonne. Die Kranken wurden zu einer von Ratten verseuchten Kaserne in Warna transportiert, wo sich erschöpfte Pfleger um sie kümmerten, denen sich im August eine kleine Gruppe französischer Nonnen anschloss. Die Toten wurden in Decken gewickelt und in Massengräbern beerdigt (später gruben die Türken sie wieder aus, um die Decken zu stehlen). In der zweiten Augustwoche waren schon 500 britische Soldaten der Krankheit zum Opfer gefallen, und die Sterbeziffer unter den Franzosen erhöhte sich auf mehr als sechzig pro Tag.37

Dann brach ein Feuer in Warna aus. Es begann am Abend des 10. August in den alten Handelsvierteln der Stadt und griff rasch auf den benachbarten Hafen über, wo die Vorräte der alliierten Heere auf Schiffe verladen werden sollten. Das Feuer war nahezu sicher von griechischen und bulgarischen Brandstiftern gelegt worden, die mit der russischen Sache sympathisierten (man nahm mehrere Männer mit Streichhölzern in der Gegend fest, wo die Feuersbrunst ausgebrochen war). Die halbe Stadt stand in Flammen, bevor französische und britische Soldaten mit Wasserpumpen eintrafen. Läden und Kais, auf denen sich Kästen mit Rum und Wein stapelten, explodierten in der Hitze, und Alkoholbäche flossen durch die Straßen, wo sich Feuerwehrleute aus der Gosse betranken. Als das Feuer eingedämmt war, hatte die Versorgungsbasis der alliierten Armee starke Schäden davongetragen. »Warna enthielt all die Munition, all den Nachschub und Proviant, die ein Heer während eines Feldzugs benötigt«, schrieb Herbé seinen Eltern am 16. August. »Die Pulverkammern der Franzosen, der Engländer und der Türken befanden sich in der Mitte der Feuersbrunst. Große Teile der Stadt verschwanden und mit ihnen die Hoffnungen der auf der Ebene lagernden Soldaten.«38

* * *

Nach dem Feuer reichten die in der Stadt vorhandenen Vorräte nur noch dazu aus, die alliierten Armeen acht Tage lang zu ernähren. Offensichtlich mussten die Soldaten Warna und dessen Umgebung verlassen, bevor sie von Cholera und Hunger aufgerieben wurden.

Nachdem die Russen gezwungen worden waren, sich von der Donau zurückzuziehen, hätten Briten und Franzosen den Sieg für sich beanspruchen und heimkehren können. Es wäre denkbar gewesen, den Krieg in diesem Stadium zu beenden. Die Österreicher und Türken hätten die Fürstentümer als Friedenstruppe besetzen können (bis Mitte August hatten sie separate Besatzungszonen festgelegt und sich geeinigt, die Kontrolle über Bukarest gemeinsam auszuüben), während die Westmächte den Russen mit der Interventionsdrohung das Versprechen hätten abringen können, sich nicht mehr auf türkischen Boden zu begeben. Warum also bemühten sich die Alliierten nicht um Frieden, als die russischen Truppen die Fürstentümer verlassen hatten? Warum beschlossen sie, in Russland einzumarschieren, obwohl der Krieg bereits gewonnen war? Warum kam es überhaupt zum Krimkrieg?

Die alliierten Befehlshaber waren frustriert über den Rückzug der Russen. Nachdem sie mit ihren Armeen eine so große Entfernung zurückgelegt hatten, fühlten sie sich »um den Sieg gebracht«, wie Saint-Arnaud es ausdrückte, und wollten ein militärisches Ziel erreichen, um ihre Anstrengungen rechtfertigen zu können. In den sechs Monaten seit ihrer Mobilmachung hatten die alliierten Streitkräfte kaum die Waffen gegen den Feind erhoben. Sie wurden von den Türken verspottet und in der Heimat lächerlich gemacht. »Da sind in Varna«, schrieb Karl Marx in einem Leitartikel in der New York Times vom 17. August, »80 000 bis 90 000 englische und französische Soldaten unter dem Befehl des ehemaligen Kriegssekretärs des alten Wellington [Raglan] und eines Marschalls von Frankreich [Saint-Arnaud] (dessen größte Heldentaten allerdings in Londoner Leihhäusern vollbracht wurden) da sind die Franzosen, die nichts tun, und die Briten, die ihnen dabei soviel wie möglich helfen.«39

In London war das britische Kabinett ebenfalls der Meinung, dass der Rückzug der Russen aus dem Donaugebiet nicht ausreichte, um die bereits gebrachten Opfer zu rechtfertigen. Palmerston und seine »Kriegspartei« waren nicht bereit, Friedensverhandlungen zu führen, solange die russischen Streitkräfte intakt blieben. Sie wollten Russland schweren Schaden zufügen und seine militärische Schlagkraft am Schwarzen Meer zerstören, um einerseits die Türkei abzusichern und andererseits der russischen Bedrohung britischer Interessen im Vorderen Orient ein Ende zu setzen. Bereits im April hatte der Herzog von Newcastle, der kampflustige Kriegsminister, erklärt, die Vertreibung der Russen aus den Fürstentümern, »ohne ihre künftigen Angriffsmittel gegen die Türkei lahmzulegen, ist kein Ziel, das der großen Bemühungen Englands und Frankreichs wert wäre«.40

Was aber würde Russland schweren Schaden zufügen? Das Kabinett hatte verschiedene Möglichkeiten erwogen. Es sah wenig Sinn darin, die Russen nach Bessarabien zu verfolgen, wo die alliierten Soldaten der Cholera ausgesetzt wären, und der französische Vorschlag eines Kontinentalkriegs zur Befreiung von Polen würde unweigerlich auf den Widerstand der Österreicher stoßen, selbst wenn (was unwahrscheinlich war) die konservativen Mitglieder des britischen Kabinetts von den Vorzügen eines Revolutionskriegs überzeugt werden konnten. Auch glaubte niemand, dass die Flottenaktion in der Ostsee die Russen in die Knie zwingen würde. Kurz nach dem Beginn der Kampagne im Frühjahr war Charles Napier, der Admiral, der die alliierte Ostseeflotte befehligte, zu dem Schluss gelangt, dass es fast unmöglich sein würde, die Verteidigungsanlagen des Kriegshafens Kronstadt, der St. Petersburg bewachte, oder auch nur die schwächere Festung Sveaborg, knapp außerhalb des Hafens von Helsingfors (Helsinki), zu bezwingen, solange man nicht über neue Kanonenboote und Mörserschiffe verfügte, welche die Untiefen um diese Bollwerke befahren konnten.****** Eine Zeitlang war davon die Rede, die Russen im Kaukasus anzugreifen. Eine Delegation tscherkessischer Rebellen suchte die Alliierten in Warna auf und versprach, überall im Kaukasus einen muslimischen Kampf gegen die Russen anzuzetteln, falls die Alliierten ihre Heere und Flotten entsandten. Omer Pascha unterstützte diese Idee.41 Andererseits galt keiner der Pläne als so potenziell schädlich für Russland, wie es der Verlust Sewastopols und der Schwarzmeerflotte gewesen wäre. Zu dem Zeitpunkt, als die Russen aus den Fürstentümern abgezogen waren, war das britische Kabinett zu der Auffassung gelangt, dass eine Invasion auf der Krim die einzige realistische Möglichkeit bot, Russland einen entscheidenden Schlag zu versetzen.

Der Krim-Plan war ursprünglich im Dezember 1853 vorgebracht worden, als Graham im Zuge der Reaktion auf Sinope eine Flottenstrategie entwickelt hatte, mit der Sewastopol durch einen einzigen raschen Schlag ausgeschaltet werden sollte. »Mein Vorsatz steht fest«, schrieb der Erste Lord der Admiralität. »Der Reißzahn des Bären muss gezogen werden; und bevor seine Flotte und sein Marinearsenal im Schwarzmeer nicht zerstört sind, gibt es weder Schutz für Konstantinopel noch Sicherheit für den Frieden Europas.«42 Grahams Plan wurde dem Kabinett nie formell vorgelegt, doch dieses akzeptierte ihn als Grundlage seiner Strategie. Am 29. Juni übermittelte der Herzog von Newcastle Raglan die Kabinettsanweisungen für den Überfall auf die Krim. Seine Depesche war eindeutig: Die Expedition müsse so bald wie möglich beginnen, und »nur unüberwindliche Hindernisse« dürften die Belagerung von Sewastopol und die Zerstörung der russischen Schwarzmeerflotte hinauszögern, obwohl auch ein paar Folgeangriffe auf die Russen im Kaukasus notwendig sein könnten. Die Formulierung der Depesche hinterließ bei Raglan den Eindruck, dass es keine Meinungsverschiedenheit im Kabinett und keine Alternative zu einer Invasion der Krim gab.43 In Wirklichkeit jedoch herrschten sehr wohl konträre Auffassungen über die Zweckmäßigkeit des Krim-Plans, und seine Annahme war ein Kompromiss zwischen den Kabinettsmitgliedern, die sich, wie Aberdeen, einen begrenzteren Feldzug zur Wiederherstellung der türkischen Souveränität wünschten, und denen, wie Palmerston, welche die Krim-Expedition als Gelegenheit für einen größeren Krieg gegen Russland sahen. Mittlerweile verstärkte die britische Presse den Druck auf das Kabinett, einen tödlichen Schlag gegen Russland zu führen, und die Zerstörung der Schwarzmeerflotte in Sewastopol war zu dem symbolischen Sieg geworden, den die kriegslüsterne Öffentlichkeit ersehnte. Es war fast unvorstellbar, von einer Invasion auf der Krim nur deshalb abzulassen, weil sie durch den Rückzug der Russen von der Donau unnötig erschien.

»Das wichtigste und reale Ziel des Krieges«, räumte Palmerston 1855 ein, »war es, den aggressiven Ehrgeiz Russlands zu dämpfen. Wir zogen nicht in erster Linie deshalb in den Krieg, damit der Sultan und die Muslime in der Türkei an der Macht bleiben, sondern um Russland aus der Türkei herauszuhalten.« Palmerston stellte sich den Angriff auf die Krim als erstes Stadium eines langfristigen Kreuzzugs gegen die zaristische Macht in der Schwarzmeerregion und im Kaukasus, in Polen und im Ostseegebiet vor. Dies entsprach seiner Kabinettsvorlage vom 19. März, in der er seinen ambitiösen Plan zur Zerstückelung des Russischen Reiches umrissen hatte. Ende August nun hatte er im Kabinett beträchtliche Unterstützung für diesen erweiterten Krieg gewonnen. Außerdem hatte er eine inoffizielle Absprache mit dem französischen Außenminister Drouyn de Lhuys darüber getroffen, dass »kleine Resultate« nicht ausreichen würden, um die unvermeidlichen Menschenverluste des Krieges wettzumachen, und dass nur »große territoriale Veränderungen« in der Donauregion, im Kaukasus, in Polen und an der Ostsee einen Feldzug auf der Krim rechtfertigen konnten.44

Solange jedoch Aberdeen als Premierminister amtierte, war es für Palmerston unmöglich, dafür zu sorgen, dass solche Pläne als alliierte Politik akzeptiert wurden. Die Vier Punkte, auf die sich die Westmächte nach mehreren Verhandlungsmonaten am 8. August mit den Österreichern einigten, sahen bescheidenere Ziele vor. Ein Frieden zwischen Russland und den alliierten Mächten könne nur vereinbart werden, wenn

1.Russland auf alle Sonderrechte in Serbien und den Donaufürstentümern verzichte, deren Schutz die europäischen Mächte zusammen mit der Hohen Pforte garantieren würden;

2.die Donauschifffahrt jeglichem Handel offenstehe;

3.der Meerengenvertrag von 1841 »im Interesse des Machtgleichgewichts in Europa« revidiert werde (um die russische Flottenvorherrschaft auf dem Schwarzen Meer zu beenden);

4.die Russen ihren Anspruch auf ein Protektorat für die christlichen Untertanen der Türkei aufgäben. Deren Sicherheit solle durch die fünf Großmächte (Österreich, Großbritannien, Frankreich, Preußen und Russland) in Absprache mit der türkischen Regierung garantiert werden.

Die Vier Punkte waren recht schonend (nichts anderes hätten die Österreicher akzeptiert), zugleich jedoch so vage, dass die Briten (welche die Macht Russlands einschränken wollten, aber keine rechte Vorstellung davon hatten, wie sie dies in konkrete politische Maßnahmen umsetzen sollten) im Verlauf des Krieges weitere Bedingungen hinzufügen konnten. In einem geheimen fünften Punkt, auf den sich Briten und Franzosen ohne Wissen der Österreicher geeinigt hatten, wurde ihnen die Möglichkeit eingeräumt, je nach Ausgang des Krieges zusätzliche Forderungen zu stellen. Für Palmerston waren die Vier Punkte ein Weg, Österreich und Frankreich an eine große europäische Allianz zu binden, die einen unbefristeten Krieg gegen Russland führen würde ein Krieg, der sich selbst nach der Eroberung der Krim noch ausweiten ließe.45

Palmerston ging sogar so weit, einen breit angelegten Plan für die Krim zu formulieren. Er schlug vor, das Gebiet den Türken zu übergeben und es mit den neuen türkischen Territorien zu verknüpfen, welche die Russen am Asowschen Meer, in Tscherkessien, Georgien und im Donaudelta verloren hatten. Doch kaum jemand anders war bereit, so ehrgeizige Pläne zu schmieden. Napoleon wollte Sewastopol in erster Linie als Symbol für den »glorreichen Sieg« einnehmen, den er sich wünschte, und um die Russen für ihren Angriff auf die Fürstentümer zu bestrafen. Und im britischen Kabinett vertraten die meisten den gleichen Standpunkt. Man nahm allgemein an, dass der Fall von Sewastopol Russland niederzwingen und den Westmächten gestatten würde, den Sieg für sich zu reklamieren und den Russen ihre Bedingungen aufzuerlegen. Das aber war wenig plausibel. Verglichen mit Kronstadt und den anderen Ostseefestungen, welche die russische Hauptstadt schützten, war Sewastopol ein ziemlich entlegener Außenposten im Reich des Zaren, und es gab keinen logischen Grund zu der Annahme, dass die Eroberung des Hafens durch die Alliierten Nikolaus zur Kapitulation zwingen würde. Die Folge dieser nie in Frage gestellten Hypothese war, dass die Alliierten im Lauf des Jahres 1855, als sich der Fall von Sewastopol nicht so rasch wie erwartet vollzog, die Stadt weiterhin unablässig beschossen und die damals längste und teuerste Belagerung der Militärgeschichte begannen, statt andere Strategien zur Schwächung der russischen Landheere zu entwickeln. Dabei waren Letztere und nicht nur die Schwarzmeerflotte der eigentliche Schlüssel zur Macht Russlands über die Türkei.46

Der Krimfeldzug war nicht nur falsch konzipiert, sondern auch schlecht geplant und vorbereitet. Die Entscheidung, die Krim zu besetzen, wurde ohne Kenntnisse der Lage vor Ort getroffen. Die alliierten Befehlshaber besaßen keine Karten der Region. Ihre Informationen stammten aus veralteten Reiseberichten, etwa aus Lord de Ros’ Tagebuch über seine Krimreisen und Generalmajor Alexander Macintoshs Journal of the Crimea, beide aus dem Jahr 1835. So glaubte man, die Winter auf der Krim seien extrem mild, obwohl in neueren Büchern auf die Kälte hingewiesen wurde, etwa in The Russian Shores of the Black Sea in the Autumn of 1852 von Laurence Oliphant, das 1853 erschienen war. Infolgedessen verzichtete man auf Winterkleidung und -unterkünfte, unter anderem auch wegen der optimistischen Annahme, der Feldzug werde nur von kurzer Dauer und der Sieg vor dem Einsetzen des Frostwetters errungen sein. Niemand wusste, wie viele russische Soldaten sich auf der Krim befanden (Schätzungen lagen zwischen 45 000 und 80 000) und wo auf der Halbinsel sie stationiert waren. Die alliierten Flotten konnten lediglich 60 000 von den 90 000 in Warna liegenden Kämpfer zur Krim befördern nach der optimistischsten Berechnung weniger als die Hälfte des Verhältnisses drei zu eins, das in Militärhandbüchern für eine Belagerung empfohlen wurde , und auch das nur, wenn man Ambulanzen, Zugtiere und andere wichtige Versorgungsgüter zurückließ. Die Alliierten vermuteten, dass die von der Donaufront zurückweichenden russischen Streitkräfte zur Krim verlegt werden würden, weshalb es die beste Lösung für sie sei, Sewastopol vor der Ankunft der Verstärkungen durch einen Überraschungsangriff im Handstreich einzunehmen und die Militäranlagen sowie die Schwarzmeerflotte zu zerstören. Ein weniger erfolgreicher Angriff auf Sewastopol würde ihrer Meinung nach wahrscheinlich die Besetzung des Perekop erfordern, der Landenge zwischen der Krim und dem Festland, damit man die russischen Verstärkungen und Nachschublieferungen blockieren konnte. In seiner Depesche vom 29. Juni hatte Newcastle Raglan befohlen, seine Aufgaben »ohne Verzug« auszuführen, doch Raglan weigerte sich mit dem Argument, seine Männer würden unter der Hitze der Krim-Ebene leiden.47

Während der Zeitpunkt der Invasion näher rückte, bekamen die Militärführer augenscheinlich kalte Füße. Vor allem die Franzosen hatten Bedenken. Newcastles Anweisungen an Raglan wurden von Marschall Vaillant, dem Kriegsminister, für Saint-Arnaud kopiert, doch der französische Befehlshaber war skeptisch. Seine Vorbehalte gegenüber dem Plan wurden von den meisten seiner Offiziere geteilt, die meinten, dass der Angriff Großbritannien als Seestreitmacht mehr Nutzen bringen werde als Frankreich. Derlei Zweifel wurden jedoch durch die Politiker in London und Paris beiseitegewischt, denn sie brauchten eine Offensive, um die Öffentlichkeit zufriedenzustellen, und waren zunehmend darauf bedacht, dass die Soldaten die mit Cholera verseuchte Gegend von Warna verließen. Gegen Ende August kam Saint-Arnaud zu dem Schluss, dass bei einem Angriff auf Sewastopol weniger Männer umkommen würden, als bereits der Cholera zum Opfer gefallen seien.48

Der Einschiffungsbefehl war wie eine Erlösung für die meisten Soldaten, die laut Herbé »lieber wie Männer kämpfen als durch Hunger und Krankheit verkümmern wollten«. Ende August schrieb Robert Portal, ein britischer Kavallerieoffizier:

Die Männer und Offiziere hadern täglich mehr mit ihrem Schicksal. Sie tun nichts, als ihre Kameraden zu beerdigen, und sagen laut, sie seien nicht zum Kämpfen hierher gebracht worden, sondern um dahinzusiechen und in diesem Land der Cholera und des Fiebers umzukommen … Wir hören, dass im französischen Lager gemeutert wird; die Soldaten schwören, sie würden überallhin marschieren und alles Mögliche unternehmen, aber bloß nicht hierbleiben, um zu sterben.

Die Gerüchte von einer Meuterei im französischen Lager wurden durch Oberst Rose, der dem französischen Stab zugeteilt war, bestätigt. Er meldete am 6. September nach London, das französische Oberkommando habe »keine hohe Meinung von der Stabilität und Widerstandskraft der französischen Soldaten«.49

Es wurde Zeit, die Männer in den Krieg zu schicken, bevor sie Krankheiten erlagen oder gegen ihre Offiziere rebellierten. Am 24. August begann die Einschiffung. Zuerst ging die Infanterie an Bord, gefolgt von der Kavallerie und ihren Pferden, Munitions- und Vorratswagen, Zugtieren und schließlich den schweren Geschützen. Viele der Männer, die zu den Kais marschierten, waren zu krank und zu schwach, um ihre eigenen Rucksäcke und Gewehre zu tragen, die daraufhin von kräftigeren Kameraden geschultert wurden. Die Franzosen hatten nicht genug Truppentransporter für ihre 30 000 Mann, und so packten sie diese auf Kriegsschiffe, die sich folglich nicht verteidigen konnten, sollten sie von der russischen Schwarzmeerflotte angegriffen werden. Damit war für den Schutz des Konvois ausschließlich die Royal Navy verantwortlich, deren Kriegsschiffe die 29 Dampfer und 56 Linienschiffe flankierten, welche die britischen Einheiten an Bord hatten. An den Anlegestellen spielten sich erschütternde Szenen ab, als bekannt gegeben wurde, dass nicht alle Soldatenfrauen, die aus Großbritannien angereist waren, zur Krim mitgenommen werden könnten.******* Die untröstlichen Frauen, die von ihren Männern getrennt werden sollten, versuchten, sich auf die Schiffe vorzuarbeiten. Einige wurden an Bord geschmuggelt. Im letzten Moment erbarmten sich die Befehlshaber der Frauen, nachdem sie erfahren hatten, dass in Warna keine Vorsorge für sie getroffen worden war, und ließen viele doch noch an Bord.

Am 2. September war die Einschiffung abgeschlossen, doch durch schlechtes Wetter verzögerte sich die Abfahrt bis zum 7. September. Die Flottille aus 400 Schiffen Dampfer, Kriegsschiffe, Truppentransporter, Segelschiffe, Schlepper und andere kleinere Gefährte wurde von Konteradmiral Sir Edmund Lyons auf der HMS Agamemnon befehligt, dem ersten Dampfschiff der Royal Navy mit Schraubenantrieb, das 11 Knoten erreichen konnte und mit 91 Geschützen bewaffnet war. »Die Männer erinnern sich an den wunderschönen Morgen des 7. September«, schrieb Kinglake:

Das Mondlicht schwebte noch auf dem Wasser, als die Männer, die von zahllosen Decks nach Osten blickten, den Tagesanbruch begrüßen konnten. Eine Sommerbrise wehte sanft vom Land herüber. Um Viertel vor fünf gab eine Kanone der Britannia das Signal zum Lichten der Anker. Die Luft wurde durch den emsigen Rauch der Maschinen verdunkelt, und es war schwer zu erkennen, wie und woher die Anordnungen ergehen würden. Doch bald schob sich die Agamemnon mit Signalflaggen an allen Masten vor, denn Lyons war an Bord und leitete und kommandierte den Konvoi. Die Kriegsdampfer der Franzosen fuhren mit ihren Transportern im Schlepptau hinaus, und ihre großen Schiffe formierten sich. Die Franzosen bewegten sich rascher und in besserer Schlachtordnung aus dem Hafen als die Engländer. Viele ihrer Transportschiffe waren sehr klein und bildeten notgedrungen einen Schwarm. Unsere Transporter fuhren in fünf Kolonnen mit jeweils nur dreißig Schiffen hinaus. Dann schob sich die englische Kriegsflotte, die alles überwachte, in einer einzigen Kolonne langsam aus der Bucht.50

* Eines von ihnen steht heute vor dem städtischen Dumagebäude am Primorski-Boulevard.

** Ihre religiöse Entschlossenheit steigerte sich noch, als Musa Pascha später von einer Granate getötet wurde, die direkt auf ihm landete, während er ein Abendgebet um Gottes Eingreifen zur Rettung von Silistra abhielt.

*** Nach der Amputation (ohne Narkose) hatte Raglan sich den Arm erbeten, um einen Ring, ein Geschenk seiner Frau, von den Fingern zu entfernen. Der Vorfall hatte seinen Ruf persönlicher Tapferkeit gefestigt.

**** Das erste Zuaven-Bataillon wurde von einem Berber-Gebirgsstamm namens Zuaoua rekrutiert. Spätere Zuaven-Bataillone, die aus Franzosen bestanden, übernahmen ihre Maurentracht und ihre grünen Turbane.

***** Ein hoher Tschako, benannt nach Prinz Albert, der ihn angeblich entworfen hatte.

****** Die Ereignisse sollten ihm recht geben. Am 8. August griff Napier die russische Festung Bomarsund auf den Åland-Inseln zwischen Schweden und Finnland an, hauptsächlich um Schweden in den Krieg einzubeziehen. Die Unterstützung durch schwedische Soldaten war für jegliche Aktion gegen die russische Hauptstadt erforderlich. Nach einem schweren Bombardement, das die Festung in Schutt und Asche legte, kapitulierten der russische Kommandeur und seine 2000 Mann vor den Alliierten. Doch Bomarsund stellte einen zweitrangigen Sieg dar nicht zu vergleichen mit Kronstadt oder St. Petersburg , und die Schweden blieben trotz starker Annäherungsversuche der Briten unbeeindruckt. Solange die Alliierten keine größeren Ressourcen für die Ostseekampagne aufbrachten, bestand wenig Aussicht, Schweden am Krieg zu beteiligen, geschweige denn St. Petersburg zu bedrohen. Die Alliierten konnten sich über die Bedeutung der Ostsee freilich nicht einigen. Die Franzosen hielten sie für weit weniger wichtig als die Briten insbesondere Palmerston, der davon träumte, Finnland im Rahmen seines umfassenderen Planes zur Zerstückelung des Russischen Reiches zu erobern , und sie zögerten, mehr Soldaten für ein Kriegsziel einzusetzen, das ihrer Ansicht nach hauptsächlich britischen Interessen diente. Für Napoleon war die Ostseekampagne höchstens eine nebensächliche Ablenkung, die den Zaren daran hindern sollte, eine noch größere Armee auf der Krim, dem eigentlichen Fokus der französischen Kampagne, ins Feld zu führen.

******* Die britische Armee hatte vier Ehefrauen pro Kompanie gestattet, ihre Männer nach Gallipoli zu begleiten. Die Frauen, die von der Armee versorgt wurden (als »zum Bestand gehörig«), leisteten Küchen- und Wäschereidienste.