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Der Fall von Sewastopol

»Mein lieber Vater«, schrieb Pierre de Castellane, ein Adjutant von General Bosquet, am 14. Juli. »All meine Briefe sollten, glaube ich, mit den gleichen Worten beginnen: ›Nichts Neues‹, was bedeutet: Wir graben, wir organisieren unsere Batterien, und jeden Abend sitzen und trinken wir am Lagerfeuer; jeden Tag werden genug Männer für zwei Kompanien ins Krankenhaus gebracht.«1

Nach dem Scheitern der Angriffe auf den Malachow und den Redan kehrte die Belagerung zur monotonen Routine des Schaufelns von Gräben und des Artilleriefeuers zurück, und nichts deutete auf einen Durchbruch hin. Nach neun Monaten dieses Stellungskriegs herrschte Erschöpfung auf beiden Seiten; alle hatten das demoralisierende Gefühl, die Pattsituation könnte sich endlos fortsetzen. Die Sehnsucht nach einem Ende des Krieges war so stark, dass alle möglichen Vorschläge zur Überwindung des toten Punktes gemacht wurden. Fürst Urussow, ein erstklassiger Schachspieler und ein Freund von Tolstoi, versuchte, Graf Osten-Sacken, den Befehlshaber der Garnison von Sewastopol, zu überreden, den Alliierten eine Herausforderung zu schicken: Man solle eine Schachpartie um den vordersten Schützengraben veranstalten, der viele Male den Besitzer gewechselt und mehrere Hundert Opfer gefordert hatte. Tolstoi schlug vor, den Krieg durch ein Duell zu entscheiden.2 Obwohl es sich um den ersten modernen Krieg handelte, eine Generalprobe für die Grabenkämpfe des Ersten Weltkriegs, wurde er in einem Zeitalter ausgefochten, in dem sich noch einige Vorstellungen von Ritterlichkeit erhalten hatten.

Die Demoralisierung setzte den alliierten Soldaten sehr bald zu. Niemand glaubte, dass ein weiterer Angriff hohe Erfolgsaussichten hatte, denn die Russen bauten immer stärkere Verteidigungsanlagen, und die Männer befürchteten, einen zweiten Winter auf den Hügeln über Sewastopol verbringen zu müssen. Sämtliche Soldaten erwähnten in ihren Briefen nun den Wunsch heimzukehren. »Ich habe mich fest entschlossen, irgendwie in die Heimat zurückzukehren«, schrieb Oberstleutnant Mundy seiner Mutter am 9. Juli. »Ich kann und will keinen zweiten Winter ertragen. Ich weiß, dass ich sonst in einem Jahr ein hinfälliger alter Mann wäre, und ich möchte lieber ein lebendiger Esel als ein toter Löwe sein.« Die Soldaten beneideten ihre verwundeten Kameraden, die nach Hause transportiert wurden. Ein britischer Offizier erklärte: »Manch einer würde freudig einen Arm verlieren, um diese Anhöhen und diese Belagerung hinter sich zu lassen.«3

Die Verzweiflung darüber, dass der Krieg nie enden würde, ließ viele den Sinn der Kämpfe in Frage stellen. Je länger das Gemetzel andauerte, desto mehr sahen sie in den Feinden leidende Soldaten wie sie selbst und desto sinnloser erschien alles. Der französische Militärgeistliche André Damas schilderte den Fall eines Zuaven, der mit religiösen Zweifeln am Krieg zu ihm gekommen sei. Man hatte den Zuaven (wie allen Soldaten) versichert, dass die Alliierten gegen »Barbaren« kämpften. Aber während der Waffenruhe zur Bergung der Toten und Verwundeten nach der Attacke vom 18. Juni hatte er einem schwer verletzten russischen Offizier geholfen. Zum Zeichen der Dankbarkeit hatte der Russe seinen Lederanhänger, in den das Bild der Madonna mit Kind eingeprägt war, abgenommen und ihn dem Zuaven geschenkt. »Dieser Krieg muss aufhören«, sagte der Zuave zu Damas. »Er ist feige. Wir alle sind Christen, wir alle glauben an Gott und die Religion, denn sonst wären wir nicht so mutig.«4

Die Grabenkrankheit war in den Sommermonaten der größte Feind. Im zehnten Belagerungsmonat waren die Soldaten durch den ständigen Beschuss so zerrüttet und durch den Schlafmangel so erschöpft, dass viele nicht mehr mit den Umständen fertig werden konnten. In ihren Erinnerungen schrieben manche vom »Schützengrabenwahnsinn« und meinten damit vermutlich diverse psychische Symptome oder Krankheitsbilder, von Klaustrophobie bis hin zu dem, was später als »Granatenschock« oder »Kriegsneurose« bekannt wurde. Louis Noir erinnerte sich an viele Beispiele dafür, dass »ganze Kompanien« schlachtenerprobter Zuaven »plötzlich mitten in der Nacht aufstanden, nach ihren Gewehren griffen und andere hysterisch um Hilfe gegen imaginäre Feinde baten. Diese nervöse Übererregung steckte zahlreiche Männer an; bemerkenswerterweise wirkte sie sich vor allem auf diejenigen aus, die körperlich und seelisch am stärksten waren.« Jean Cler, ein Oberst der Zuaven, sprach ebenfalls von erfahrenen Kämpfern, die »plötzlich verrückt wurden« und zu den Russen überliefen oder sich aus Verzweiflung erschossen. Selbstmorde werden von etlichen Memoirenschreibern erwähnt. Einer nannte das Beispiel eines Zuaven, »eines Veteranen unserer afrikanischen Kriege«, der in guter Verfassung zu sein schien, bis er eines Tages, neben seinem Zelt sitzend und Kaffee mit seinen Kameraden trinkend, erklärte, er habe genug; dann ergriff er sein Gewehr, ging davon und schoss sich eine Kugel in den Kopf.5

Der Verlust von Kameraden war eine der größten Belastungen für die Soldaten. Doch über solche Dinge äußerten Männer sich selten, selbst in der britischen Armee, wo Briefe in die Heimat kaum zensiert wurden. Man erwartete, dass Soldaten den Tod in der Schlacht stoisch hinnahmen, und vielleicht war diese Haltung erforderlich, um zu überleben. Hinter den Bekundungen von Trauer über den Verlust von Freunden verbergen sich aber möglicherweise tiefere und beunruhigendere Emotionen, als sie die Verfasser zum Ausdruck bringen wollten. So war Michel Gilbert überrascht über die Sorge und Reue, die sein Offizierskamerad Henri Loizillon am 19. Juni in einem Brief an seine Angehörigen erkennen ließ. Der Brief, ein Teil von Loizillons veröffentlichter Korrespondenz, enthielt eine lange Namensliste der Soldaten, die am Vortag beim Angriff auf den Malachow gefallen waren, und Gilbert kommentierte, man spüre, »wie sehr seine [Loizillons] Seele vom Atem des Todes (souffle de la mort) verfolgt wird. Die Liste der Namen setzt sich immer weiter fort, erfüllt von endloser Verzweiflung über Freunde, die verschwanden, mit den Namen von Offizieren, die getötet wurden.« Loizillon schien von Kummer und Schuldgefühlen verzehrt zu werden (weil er überlebt hatte), und erst in den letzten launigen Zeilen seines Briefes, in denen er die erfolglosen Gebete eines Kameraden beschreibt, »tauchte [sein] kraftvoller Selbsterhaltungstrieb wieder auf«:

Mein armer Freund Conegliano [schrieb Loizillon] ließ mich wissen, als wir zum Angriff aufbrachen (er ist sehr religiös): »Ich habe meinen Rosenkranz mitgebracht, der vom Papst gesegnet worden ist. Außerdem habe ich ein Dutzend Gebete für den General [Mayran], ein Dutzend für meinen Bruder und auch für dich gesprochen.« Armer Junge! Von diesen drei Männern war ich der Einzige, den seine Gebete zu retten halfen.6

Abgesehen davon, dass sie Zeugen so vieler Todesfälle wurden, müssen die Soldaten in den Schützengräben von dem horrenden Ausmaß und der Art der Verwundungen, die alle Armeen bei der Belagerung davontrugen, erschüttert gewesen sein. Bis zum Ersten Weltkrieg sollte der menschliche Körper keine derart schlimmen Verletzungen erfahren wie während der Kämpfe bei Sewastopol. Technische Verbesserungen der Geschütze und Gewehre führten zu viel schwereren Wunden als denen, welche die Soldaten der Napoleonischen Kriege und der Algerienkriege erlitten hatten. Die moderne verlängerte, kegelförmige Gewehrkugel hatte eine viel höhere Durchschlagskraft als die alte runde Kugel und war zudem schwerer. Ungebremst durchfuhr sie den Körper und brach alle Knochen, die ihr in den Weg gerieten, während die leichtere runde Kugel meistens von ihrer Bahn abgelenkt wurde, ohne einen Knochen zu beschädigen. Zu Beginn der Belagerung benutzten die Russen eine kegelförmige, 50 Gramm wiegende Kugel, doch vom Frühjahr 1855 an verwendeten sie größere und schwerere Gewehrkugeln, die 5 Zentimeter lang waren und doppelt so viel wogen wie die britischen und französischen Geschosse. Wenn diese neuen Kugeln menschliche Weichteile trafen, hinterließen sie ein größeres Loch, das weiterhin heilen konnte, doch wenn sie auf Knochen prallten, wurden diese stärker beschädigt, und ein Arm- oder Beinbruch führte fast immer zur Amputation. Die russische Praxis, erst in letzter Sekunde aus nächster Nähe auf den Feind zu schießen, hatte zur Folge, dass ihre Gewehre maximalen Schaden anrichteten.7

In den Krankenhäusern der Alliierten lagen Soldaten mit grausigen Wunden, doch genauso viele fand man in den russischen Lazaretten, Opfer des noch wirkungsvolleren Geschütz- und Gewehrfeuers der Briten und Franzosen. Christian Gjubbenet, ein Chirurgieprofessor, der im Militärkrankenhaus in Sewastopol arbeitete, schrieb im Jahr 1870:

Ich glaube nicht, dass ich je so furchtbare Verletzungen gesehen habe wie die, mit denen ich mich in der letzten Phase der Belagerung beschäftigen musste. Die schlimmsten waren zweifellos die häufig auftretenden Bauchwunden, bei denen die blutigen Eingeweide der Männer heraushingen. Wenn solche Unglücklichen in die Verbandsstationen gebracht wurden, konnten sie noch sprechen, waren noch bei Bewusstsein und blieben noch einige Stunden am Leben. In anderen Fällen waren die Gedärme und das Becken im Rücken herausgerissen. Die Männer konnten den Unterkörper nicht bewegen, doch sie blieben bei Bewusstsein, bis sie innerhalb von ein paar Stunden starben. Für den schrecklichsten Eindruck aber sorgten gewiss diejenigen, deren Gesicht von einer Granate zerfetzt worden war, so dass sie keinen menschlichen Anblick mehr boten. Man stelle sich ein Geschöpf vor, dessen Gesicht und Kopf durch eine blutige, verworrene Masse aus Fleisch und Knochen ersetzt worden sind – Ohren, Nase, Mund, Wangen, Zunge, Kinn und Ohren sind nicht mehr zu sehen, und doch steht dieses Wesen weiterhin auf eigenen Beinen, bewegt sich, schwenkt die Arme und lässt uns annehmen, dass es noch ein Bewusstsein besitzt. In anderen Fällen waren dort, wo man ein Gesicht erwartet hätte, nur noch blutige Fetzen herabhängender Haut.8

Die Russen hatten viel schwerere Verluste zu beklagen als die Alliierten. Bis Ende Juli waren 65 000 russische Soldaten in Sewastopol getötet oder verwundet worden mehr als doppelt so viele wie bei den Alliierten , die Opfer von Krankheiten oder Seuchen nicht mitgerechnet. Durch die Bombardierung der Stadt im Juni waren mehrere Tausend Verwundete hinzugekommen, nicht nur Soldaten, sondern auch Zivilisten, die in den bereits überfüllten Krankenhäusern untergebracht werden mussten (allein am 17. und 18. Juni waren 4000 Opfer zu verzeichnen). In der Adelsversammlung »wurden die Verwundeten auf dem Parkettboden nicht nur Seite an Seite, sondern auch übereinander hingelegt«, erinnerte sich Dr. Gjubbenet. »Das Stöhnen und die Schreie von tausend sterbenden Männern erfüllten den düsteren Saal, der durch die Kerzen der Krankenwärter nur schwach beleuchtet war.« In der Pawlowsk-Batterie drängten sich weitere 5000 verwundete russische Soldaten auf den nackten Fußböden der Löschplätze und Lagerhäuser genauso dicht aneinander. Um die Überfüllung zu verringern, bauten die Russen im Juli ein großes Feldlazarett unweit des Flusses Belbek, sechs Kilometer von Sewastopol entfernt, wohin die weniger schwer Verwundeten gebracht wurden, wie es Pirogows Triagesystem vorsah. Weitere Reservekrankenhäuser gab es am Inkerman, auf den Mackenzie-Höhen und im früheren Khanspalast in Bachtschisserai. Einige Verwundete transportierte man mit Pferd und Wagen auf Landstraßen bis nach Simferopol und sogar bis in das 650 Kilometer entfernte Charkow. Auch in diesen Städten waren sämtliche Krankenhäuser mit Opfern der Belagerung überfüllt. All das genügte trotzdem nicht, um der ständig wachsenden Zahl von Kranken und Verwundeten Herr zu werden. Im Juni und Juli kamen täglich mindestens 250 Russen hinzu. In den letzten Belagerungswochen waren pro Tag bis zu 800 Verluste zu beklagen zweimal so viele, wie Gortschakow nach Aussage späterer russischer Kriegsgefangenen der Alliierten offiziell meldete.9

Die Russen gerieten zunehmend in Bedrängnis. Nach der alliierten Besetzung von Kertsch und der Unterbrechung der russischen Nachschublinien im Asowschen Meer litten sie seit Anfang Juni unter erheblichen Engpässen bei Munition und Geschützen. Kleine Mörsergranaten waren das Hauptproblem. Batteriekommandeure erhielten den Befehl, ihr Feuer auf ein Viertel der Schüsse des Feindes zu begrenzen. Gleichzeitig erreichte das Bombardement der Alliierten ein Ausmaß, wie man es in einem Belagerungskrieg noch nie erlebt hatte. Ihre Fabriken und Transportsysteme ermöglichten es der Artillerie, bis zu 75 000 Salven pro Tag abzugeben.10 Dies war eine neue Form der industriellen Kriegführung, der Russland mit seiner rückständigen Leibeigenenwirtschaft nichts Gleichwertiges entgegensetzen konnte.

Die Moral der Truppe sank auf einen gefährlichen Tiefpunkt. Im Juni verloren die Russen ihre beiden vorbildhaften Führer in Sewastopol: Totleben wurde während des Beschusses vom 22. Juni schwer verwundet und musste in den Ruhestand treten; und sechs Tage später traf eine Kugel Nachimow ins Gesicht, während er die Batterien am Redan inspizierte. Man brachte ihn in sein Quartier, wo er zwei Tage im Koma lag und am 30. Juni starb. An seiner feierlichen Beerdigung nahm die gesamte Stadtbevölkerung teil, und die Alliierten stellten ihr Bombardement ein, um zuzuschauen, wie der Leichenzug unter ihnen an den Stadtmauern vorbeischritt. »Ich finde keine Worte, um Euch die tiefe Trauer der Beerdigung zu beschreiben«, berichtete eine Sewastopoler Krankenschwester ihren Angehörigen.

Das Meer mit der großen Flotte unserer Feinde, die Hügel mit unseren Bastionen, wo Nachimow seine Tage und Nächte verbrachte – all das bedeutete mehr, als sich durch Worte ausdrücken lässt. Von den Hügeln, von denen seine Batterien Sewastopol bedrohen, konnte der Feind den Leichenzug sehen und direkt beschießen. Doch sogar seine Kanonen bewahrten respektvolles Schweigen, und keine einzige Kugel wurde während des Gottesdienstes abgefeuert. Stellt Euch das Bild vor – und vor allem die dunklen Sturmwolken, die sich der Trauermusik, dem betrübten Läuten der Glocken und den Klagegesängen anpassten. So bestatteten die Matrosen ihren Helden von Sinope, so bettete Sewastopol seinen furchtlosen und heroischen Verteidiger zur Ruhe.11

Ende Juni war die Situation in Sewastopol so hoffnungslos geworden nicht nur die Munitions-, sondern auch die Lebensmittel- und Wasservorräte wurden gefährlich knapp , dass Gortschakow die Räumung der Stadt vorzubereiten begann. Ein großer Teil der Bevölkerung war bereits aufgebrochen aus Angst, zu verhungern oder von Cholera oder Typhus, die in den Sommermonaten zu Epidemien wurden, dahingerafft zu werden. Ein Sonderausschuss zur Seuchenbekämpfung in Sewastopol meldete im Juni täglich 30 Todesfälle allein durch Cholera. Die meisten der Zurückgebliebenen hatten ihre ausgebombten Häuser längst verlassen und Zuflucht in Fort Nikolaus, am anderen Ende der Stadt neben dem Eingang zum Seehafen, suchen müssen; dort waren die Hauptkaserne, die Büros und Läden von den Festungsmauern umschlossen. Andere fanden eine sicherere Bleibe an der Nordseite. »Sewastopol begann einem Friedhof zu ähneln«, berichtete der Artillerieoffizier Jerschow.

Mit jedem Tag wurden sogar seine Hauptstraßen immer leerer und düsterer – es sah aus wie eine Stadt, die von einem Erdbeben zerstört worden war. Die Jekaterinskaja, im Mai noch eine lebhafte und hübsche Durchgangsstraße, war nun, im Juli, verlassen und verwüstet. Weder dort noch auf dem Boulevard sah man ein weibliches Gesicht oder überhaupt jemanden, der einfach spazieren ging; nur ernste Gruppen von Soldaten … Jedes Gesicht trug den gleichen traurigen Ausdruck der Müdigkeit und der bangen Ahnung. Es hatte keinen Zweck, in die Stadt zu gehen, denn nirgendwo hörte man den Klang von Freude, nirgends fand man irgendeine Unterhaltung.

In Tolstois »Sewastopol im August«, einer auf wahren Ereignissen und Gestalten basierenden Geschichte, erkundigt sich ein Soldat am Fluss Belbek bei einem Kameraden, der gerade aus der belagerten Stadt gekommen ist, ob sein Quartier noch unzerstört sei. »Ach wo, mein Lieber!«, erwidert der andere. »Das ganze Haus ist längst von Bomben zertrümmert. Sie werden Sewastopol nicht wiedererkennen; Frauen sind überhaupt nicht mehr da, keine Musik, keine Restaurants gibt es mehr das letzte ist gestern weggezogen. Es ist jetzt furchtbar trübselig geworden.«12

Nicht nur Zivilisten ließen Sewastopol im Stich. Auch Soldaten desertierten während der Sommermonate in immer größerer Zahl. Diejenigen, die zu den Alliierten überliefen, behaupteten, Desertion sei ein Massenphänomen, und dies wird durch die fragmentarischen Angaben der russischen Militärbehörden bestätigt. Zum Beispiel hieß es in einem Bericht vom August, dass sich die Zahl der Desertionen seit Juni »drastisch erhöht« habe, besonders unter den Reservisten, die zur Krim eingezogen worden waren: Hundert Mann waren der 15. Reserve-Infanteriedivision davongelaufen, ebenso wie drei von vier Soldaten der Verstärkungen aus dem Warschauer Militärbezirk. Aus Sewastopol selbst verschwanden täglich rund zwanzig Mann, hauptsächlich bei Ausfällen oder Bombardements, wenn ihre Offiziere nicht ganz so aufmerksam auf sie achteten. Laut den Franzosen, die in den Sommermonaten einen stetigen Strom von Deserteuren empfingen, nannten die Männer als Grund für ihr Handeln vorwiegend die Tatsache, dass sie praktisch keine Nahrung oder nur verfaultes Fleisch erhalten hätten. Verschiedene Gerüchte über einen Aufstand der Reservisten in der Garnison von Sewastopol wurden in der ersten Augustwoche laut, doch die Russen schlugen die Rebellion brutal nieder und unterdrückten jegliche Information darüber. »Ein Bericht besagt, dass hundert russische Soldaten nach der Verurteilung durch ein Kriegsgericht in der Stadt wegen Meuterei erschossen worden seien«, schrieb Henry Clifford seinem Vater kurz darauf. Mehrere Regimenter wurden aufgelöst und der Reserve zugewiesen, weil sie nicht mehr zuverlässig waren.13

* * *

Auch der Zar sah ein, dass Sewastopol der Belagerung nicht viel länger standhalten konnte, und er befahl Gortschakow, ein letztes Mal zu versuchen, den alliierten Ring zu durchbrechen. Gortschakow hatte Zweifel. Eine Offensive »gegen einen zahlenmäßig überlegenen und so stark verschanzten Feind wäre töricht«, widersprach der Oberbefehlshaber. Doch der Zar beharrte darauf, dass irgendetwas getan werden müsse. Er suchte nach einem Weg, den Krieg unter Bedingungen zu beenden, die für die nationale Ehre und Integrität Russlands akzeptabel waren, und er brauchte einen militärischen Erfolg, um Friedensverhandlungen mit den Briten und Franzosen aus einer stärkeren Position beginnen zu können. Alexander entsandte drei seiner Reservedivisionen zur Krim und wies Gortschakow immer wieder an, anzugreifen (ohne allerdings ein Ziel zu nennen), bevor die Alliierten mehr Soldaten herbeiholten, was sie seiner Meinung nach beabsichtigten. »Ich bin überzeugt, dass wir die Offensive ergreifen müssen«, schrieb er Gortschakow am 30. Juli, »denn sonst werden sämtliche Verstärkungen, die ich Ihnen geschickt habe, wie schon früher in Sewastopol, jenem Fass ohne Boden, versickern.«14

Die einzige Vorgehensweise, die nach Gortschakows Ansicht eine gewisse Erfolgschance bot, war ein Angriff auf die französischen und sardinischen Stellungen an der Tschornaja. Indem »wir die Wasserstellen des Feindes besetzen, können wir vielleicht seine Flanke bedrohen und seine Attacken auf Sewastopol einschränken, was uns den Weg zu weiteren vorteilhaften Aktionen bahnen könnte«, teilte er dem Zaren mit. »Aber wir sollten uns keine Illusionen machen, denn eine solche Initiative birgt wenig Hoffnung auf Erfolg.« Alexander wollte Gortschakows Vorbehalte nicht hören. Am 3. August schrieb er ihm erneut: »Ihre täglichen Verluste in Sewastopol bekräftigen das, was ich Ihnen viele Male in meinen Briefen dargelegt habe: die Notwendigkeit, etwas Entscheidendes zu tun, um dieses schreckliche Gemetzel zu beenden [Hervorhebung durch den Zaren].« Alexander wusste, dass Gortschakow im Grunde ein Höfling war, ein Schüler des vorsichtigen Paskewitsch, und argwöhnte, dass es dem General widerstrebe, die Verantwortung für eine Offensive zu übernehmen. Er schloss mit den Worten: »Ich wünsche eine Schlacht, aber wenn Sie als Oberbefehlshaber die Verantwortung scheuen, dann sollten Sie einen Militärrat einberufen, der sie Ihnen abnehmen wird.«15

Ein Kriegsrat trat am 9. August zusammen, um über einen möglichen Angriff zu diskutieren. Viele der höchsten Offiziere lehnten eine Offensive ab. Osten-Sacken, der von Nachimows Tod sehr betroffen war und den Verlust von Sewastopol nun für unvermeidlich hielt, machte geltend, dass genug Männer geopfert worden seien und der Marinestützpunkt nun geräumt werden müsse. Die meisten der anderen Generale teilten Osten-Sackens pessimistischen Standpunkt, doch keiner war mutig genug, ihn offen zu unterstützen. Stattdessen akzeptierten sie den Gedanken einer Offensive, um den Zaren zufriedenzustellen, obwohl kaum einer Vertrauen in einen detaillierten Plan setzte. Der aberwitzigste kühnste Vorschlag kam von dem übereifrigen General Chruljow, der den fehlgeschlagenen Angriff auf Jewpatorija geleitet hatte. Nun befürwortete er die völlige Zerstörung Sewastopols (was sogar das Beispiel Moskaus von 1812 übertroffen hätte), gefolgt von einem Massenangriff aller verfügbaren Soldaten auf die feindlichen Stellungen. Als Osten-Sacken einwandte, der selbstmörderische Plan werde mit Zehntausenden unnötiger Todesopfer enden, gab Chruljow zurück: »Na und? Sollen doch alle sterben! Wir werden unseren Stempel auf der Karte hinterlassen!« Kühlere Köpfe setzten sich durch, und die Besprechung endete mit einem Votum für Gortschakows Vorschlag, die französischen und sardinischen Stellungen an der Tschornaja zu attackieren, obgleich Gortschakow selbst äußerst skeptisch blieb. »Ich marschiere gegen den Feind, weil Sewastopol, wenn ich es nicht tue, bald verloren sein wird«, schrieb er dem Kriegsminister, Fürst Dolgoruki, am Vorabend der Offensive. Sollte der Angriff aber scheitern, »wäre es nicht [seine] Schuld«, und er werde »versuchen, Sewastopol unter möglichst geringen Verlusten zu räumen«.16

Man plante die Offensive für den frühen Morgen des 16. August. Am Abend zuvor hatten die Franzosen die fête de l’empereur gefeiert, die (was kein Zufall war) an Mariä Himmelfahrt stattfand, einem wichtigen Feiertag für die Italiener, die, wie die Franzosen, bis spätnachts getrunken hatten. Um vier Uhr, kurz nachdem sie sich hingelegt hatten, wurden sie vom Donnern russischer Kanonen geweckt.

Im Schutz eines frühmorgendlichen Nebels rückten die Russen mit den vereinigten Kräften von 47 000 Infanteristen, 10 000 Kavalleristen und 270 Feldgeschützen zur Traktir-Brücke vor. Sie befanden sich unter dem Kommando von General Liprandi auf der linken Seite (den Sardiniern gegenüber) und General Read, dem Sohn eines schottischen Ingenieurs, der nach Russland emigriert war, auf der russischen rechten Seite (den Franzosen gegenüber). Die beiden Generale waren angewiesen worden, den Fluss erst zu überqueren, wenn Oberbefehlshaber Gortschakow das Signal dazu gab. Gortschakow war unschlüssig, ob er seine Reserven gegen die Franzosen auf den Fedjuchin-Höhen oder die Sardinier auf dem Gasfort-Hügel einsetzen sollte. Er baute darauf, dass die ersten Artilleriesalven ihm helfen würden, die feindlichen Stellungen zu entblößen und eine klare Entscheidung zu treffen.

Die ersten russischen Kanonenschüsse verfehlten jedoch ihr Ziel. Sie sorgten lediglich dafür, dass die 18 000 französischen und 9000 sardinischen Soldaten in Alarmbereitschaft versetzt wurden, während sich diejenigen in vorgeschobenen Stellungen der Traktir-Brücke näherten. Frustriert über die mangelnden Fortschritte, beauftragte Gortschakow seinen Adjutanten, Leutnant Krassowski, zu Read und Liprandi zu eilen und sie zu informieren, es sei »Zeit anzufangen«. Als die Botschaft Read erreichte, war ihr Sinn keineswegs klar. »Zeit, was anzufangen?«, fragte Read, aber Krassowski hatte keine Antwort. Read entschied, die Nachricht könne sich nicht auf das Artilleriefeuer beziehen, das bereits begonnen hatte, sondern nur auf den Beginn der Infanterieattacke. Also befahl er seinen Männern, den Fluss zu überqueren und die Fedjuchin-Höhen zu stürmen, obwohl die Kavallerie- und Infanteriereserven, die einen Angriff unterstützen sollten, noch nicht eingetroffen waren. Mittlerweile hatte Gortschakow beschlossen, seine Reserven auf die linke Seite zu konzentrieren, wozu er durch die Leichtigkeit ermutigt worden war, mit der Liprandis Plänkler die sardinischen Außenposten vom Telegrafenhügel (bei den Italienern als Roccia dei Piemontesi bekannt) vertrieben hatten. Als er das Musketenfeuer von Reads Männern vor den Fedjuchin-Höhen hörte, lenkte Gortschakow einige seiner Reserven zu deren Unterstützung um, doch wie er später zugab, wusste er bereits, dass die Schlacht verloren war: Seine Truppen waren geteilt und griffen an zwei Fronten an, obgleich der Sinn der Offensive darin bestanden hatte, einen einzigen mächtigen Schlag zu landen.17

Reads Männer überquerten den Fluss in der Nähe der Traktir-Brücke. Ohne Beistand durch Kavallerie und Artillerie marschierten sie dem fast sicheren Tod entgegen, da sie dem Feuer der französischen Kanoniere und Gewehrschützen von den Hängen der Fedjuchin-Höhen ausgesetzt waren. Innerhalb von zwanzig Minuten wurden 2000 russische Infanteristen niedergeschossen. Reserven trafen in Gestalt der 5. Infanteriedivision ein. Ihr Befehlshaber schlug vor, die gesamte Division angreifen zu lassen, und vielleicht hätte sie allein aufgrund ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit durchbrechen können. Doch Read beschloss, sie nach und nach, Regiment für Regiment, in die Schlacht ziehen zu lassen. Danach wurde ein Regiment nach dem anderen von den Franzosen niedergemäht, die inzwischen völlig sicher waren, die russischen Kolonnen besiegen zu können, und den Feind dicht herankommen ließen, bevor sie feuerten. »Unsere Artillerie schoss die Russen kurz und klein«, berichtete Octave Cullet, ein französischer Infanteriehauptmann, der auf den Fedjuchin-Höhen kämpfte.

Unsere Soldaten, selbstbewusst und stark, feuerten aus zwei Reihen mit einer ruhigen und tödlichen Salve, wie sie nur kampferprobten Männern gelingt. Jeder hatte am Morgen 80 Patronen erhalten, doch wenige waren verbraucht worden; niemand achtete auf das Feuer von unseren Flanken her, sondern jeder konzentrierte sich nur auf die heranrückenden russischen Soldaten … Erst als sie direkt vor uns waren und drohten, uns zu umschließen, eröffneten wir das Feuer – keine Kugel wurde gegenüber diesem riesigen Halbkreis von Angreifern verschwendet. Unsere Männer zeigten bewundernswerte Fassung (sang-froid), und keiner dachte daran zurückzuweichen.18

Schließlich setzte Gortschakow Reads Stümperei ein Ende und befahl der ganzen Division, am Angriff teilzunehmen. Zunächst drängten sie die Franzosen wieder den Hügel hinauf, aber die tödlichen Gewehrsalven des Feindes zwangen die Russen am Ende, sich zurückzuziehen und ans andere Flussufer überzuwechseln. Read wurde beim Rückzug durch einen Granatsplitter getötet, woraufhin Gortschakow das Kommando übernahm und acht Bataillonen von Liprandis Streitkräften auf der linken Seite befahl, ihn am östlichen Ende der Fedjuchin-Höhen zu unterstützen. Diese Männer gerieten jedoch unter schweres Gewehrfeuer der Sardinier, die über den Gasfort-Hügel angerückt waren, um die offene Flanke zu schützen, und mussten zum Telegrafenhügel zurückweichen. Die Situation war hoffnungslos. Kurz nach zehn Uhr ordnete Gortschakow den allgemeinen Rückzug an, und nach einer letzten Salve all ihrer Kanonen gewissermaßen ein Zeichen der Herausforderung trotz der Niederlage räumten die Russen das Feld, um sich die Wunden zu lecken.19

Die Alliierten verloren 1800 Mann an der Tschornaja. Die Russen zählten 2273 Tote, fast 4000 Verwundete und 1742 Vermisste, zumeist Deserteure, die den Morgennebel und die Verwirrung der Schlacht genutzt hatten, um davonzulaufen.* Erst mehrere Tage später wurden die Toten und Verwundeten geborgen (die Russen machten sich nicht einmal die Mühe, ihre Männer einzusammeln). In diesem Zeitraum erschienen viele Besucher, um sich die grässliche Szene anzuschauen nicht nur Krankenschwestern, die den Verwundeten halfen, sondern auch Kriegstouristen, die Trophäen von den Leichen mitnahmen. Mindestens zwei britische Armeegeistliche beteiligten sich an den Plündereien, um sich Souvenirs zu verschaffen. Mary Seacole beschreibt den »dicht mit Verwundeten übersäten [Boden]. Einige wirkten ruhig und resigniert, andere ungeduldig und rastlos, manche erfüllten die Luft mit ihren Schmerzensschreien alle wollten Wasser und waren denen dankbar, die es ihnen verabreichten.« Thomas Buzzard, ein britischer Arzt bei der türkischen Armee, war erstaunt darüber, dass die meisten der Toten »auf dem Gesicht lagen und buchstäblich, um Homers Ausdrucksweise zu benutzen, ›ins Gras bissen‹«. Dies wich von klassischen Schlachtgemälden ab, auf denen die Toten gewöhnlich auf dem Rücken liegend dargestellt sind (die meisten Russen waren frontal erschossen worden, während sie die Hügel hinaufstiegen, und auf natürliche Weise nach vorn gestürzt).20

Irgendwie war es den Russen gelungen, sich von einem nicht einmal halb so starken Feind besiegen zu lassen. In seiner Erklärung dem Zaren gegenüber schob Gortschakow dem unglücklichen General Read die gesamte Schuld zu, denn dieser habe den Befehl missverstanden, als er seine Männer gegen die Franzosen auf den Fedjuchin-Höhen vorrücken ließ. »Es ist schmerzlich, sich vorzustellen, dass wir, hätte Read meine Befehle Wort für Wort ausgeführt, einen gewissen Erfolg zu verzeichnen hätten und dass mindestens ein Drittel jener tapferen Soldaten, die getötet wurden, heute noch am Leben sein könnte«, schrieb er dem Zaren am 17. August. Alexander hatte wenig Sympathie für Gortschakows Versuch, die Verantwortung auf den toten General abzuwälzen. Er hatte sich einen Erfolg gewünscht, um unter günstigen Bedingungen mit Friedensangeboten an die Alliierten herantreten zu können, und dieser Rückschlag hatte all seine Pläne ruiniert. »Unsere tapferen Soldaten«, antwortete er Gortschakow, »haben enorme Verluste ohne jeglichen Gewinn erlitten [Hervorhebung durch den Zaren].« In Wirklichkeit trugen beide Männer die Schuld an dem sinnlosen Gemetzel: Alexander, weil er auf einer nicht durchführbaren Offensive bestanden hatte, und Gortschakow, weil er sich dem Drängen des Zaren auf einen Angriff nicht widersetzt hatte.21

Die Niederlage an der Tschornaja war eine Katastrophe für die Russen. Nun schien es lediglich eine Frage der Zeit zu sein, wann Sewastopol an die Alliierten fallen würde. »Ich bin sicher, dass dies der vorletzte blutige Akt unserer Operationen auf der Krim gewesen ist«, schrieb Herbé seinen Eltern am 25. August, nachdem er an der Tschornaja verwundet worden war. »Der letzte wird die Eroberung von Sewastopol sein.« Laut Nikolai Miloschewitsch, einem der Verteidiger des Marinestützpunkts, »verloren die russischen Soldaten« nach der Niederlage »jegliches Vertrauen zu ihren Offizieren und Generalen«. Einer seiner Kameraden schrieb: »Der Morgen des 16. August war unsere letzte Hoffnung. Am Abend hatte sie sich aufgelöst. Wir begannen, von Sewastopol Abschied zu nehmen.«22

Angesichts der hoffnungslosen Lage schickten sich die Russen nun an, Sewastopol zu evakuieren. Genau davor hatte Gortschakow am Tag vor der Schlacht in seinem Brief an den Kriegsminister gewarnt, wenn es zu einer Niederlage an der Tschornaja käme. Der Evakuierungsplan konzentrierte sich auf den Bau einer Schwimmbrücke über den Seehafen hinweg zur Nordseite, wo die Russen eine beherrschende Position gegenüber den alliierten Streitkräften haben würden, wenn diese die Südseite der Stadt besetzten. Die Idee, eine Brücke zu benutzen, war in der ersten Juliwoche von General Buchmeier, einem brillanten Ingenieur, geäußert worden. Dutzende anderer Techniker hatten den Vorschlag abgelehnt, weil es unmöglich sei, eine solche Brücke zu bauen, erst recht an der von Buchmeier vorgesehenen Stelle, nämlich zwischen Fort Nikolaus und der Michailow-Batterie, wo der Seehafen 960 Meter breit war (was das Bauwerk zu einer der längsten Pontonbrücken aller Zeiten machen sollte) und wo oftmals heftige Winde das Wasser aufwühlten. Aber die Dringlichkeit der Situation ließ Gortschakow keine andere Wahl, als den gefährlichen Plan zu unterstützen. Daraufhin organisierte Buchmeier den Bau mit mehreren Hundert Soldaten, die Holz beispielsweise aus dem 300 Kilometer entfernten Cherson herbeiholten, und mit riesigen Mannschaften von Matrosen, welche die Balken an den Pontons befestigten. Am 27. August war die Brücke vollendet.23

* * *

Unterdessen bereiteten die Alliierten einen weiteren Angriff auf den Malachow und den Redan vor. Ende August hatten sie begriffen, dass die Russen nicht viel länger durchhalten konnten. Nach der Niederlage an der Tschornaja war das Rinnsal der Deserteure aus Sewastopol zu einem Strom geworden, und alle hatten das Gleiche über die schrecklichen Zustände in der Stadt zu erzählen. Nachdem die alliierten Befehlshaber erkannt hatten, dass eine neue Attacke wahrscheinlich Erfolg haben würde, waren sie umso entschlossener, so bald wie möglich zur Tat zu schreiten. Der September nahte, das Wetter würde bald umschlagen, und vor nichts hatten sie mehr Angst als vor einem zweiten Winter auf der Krim.

Pélissier ergriff die Initiative. Seine Position war durch die Vernichtung der Russen an der Tschornaja erheblich gestärkt worden. Napoleon hatte seine Zweifel an Pélissiers Taktik der fortgesetzten Belagerung gehabt er selbst war für eine Direktaktion gewesen , doch nach dem neuen Sieg schob er seine Vorbehalte beiseite und überließ es seinem Befehlshaber, auf den ersehnten Triumph hinzuarbeiten.

Den Briten blieb nichts anderes übrig, als dem französischen Kommandeur zu folgen. Ihnen fehlten die Soldaten und die nachweisbaren Erfolge, um ihre Militärtaktik durchsetzen zu können. Nach der Katastrophe vom 18. Juni wollte Panmure eine Wiederholung des gescheiterten britischen Angriffs auf den Redan unbedingt vermeiden, und eine Zeitlang schien es, als wäre eine neue Offensive unter Einbeziehung der Briten ausgeschlossen worden. Aber nach dem Sieg an der Tschornaja sah die Lage ganz anders aus, und der Lauf der Ereignisse sorgte für eine neue Logik, die die Teilnahme der Briten an einer erneuten Attacke vorsah.

Inzwischen hatten sich die Franzosen bis zu den Abatis des Malachow, nur 20 Meter vom Festungsgraben entfernt, vorgearbeitet und erlitten schwere Verluste durch die russischen Geschütze. Sie hatten ihren Laufgraben so dicht an den Malachow vorangetrieben, dass sogar ihre Gespräche deutlich von den Russen zu hören waren. Auch die Briten hatten sich so weit wie auf dem felsigen Untergrund möglich zum Redan vorgeschoben sie waren 200 Meter vom Fort entfernt und verloren ebenfalls zahlreiche Männer. Aus dem Obergeschoss der Marinebibliothek konnten die Russen die Gesichtszüge der britischen Soldaten in den exponierten Gräben erkennen. Ihre Scharfschützen im Redan hatten keine Mühe, die Briten zu treffen, sobald diese den Kopf hoben. Täglich hatten die alliierten Armeen 250 bis 300 Opfer zu beklagen. Die Situation war unhaltbar. Es hatte keinen Sinn, den Angriff hinauszuschieben, denn wenn er jetzt scheiterte, würde er wahrscheinlich nie gelingen, und dann empfahl es sich, die Belagerung vor Beginn des Winters aufzugeben. Aufgrund dieser Überlegung gestattete nun die britische Regierung Raglans Nachfolger, General James Simpson, zusammen mit Pélissier einen letzten Versuch zur Eroberung Sewastopols durch eine Infanterieattacke zu planen.24

Als Termin für die Aktion setzte man den 8. September an. Im Gegensatz zu dem stümperhaften Versuch vom 18. Juni ging dem Angriff diesmal ein massives Bombardement der russischen Verteidigungsanlagen voraus. Es begann am 5. September, wenngleich das alliierte Artilleriefeuer bereits seit den letzten Augusttagen stetig an Intensität zugenommen hatte. Die französischen und britischen Geschütze richteten mit 50 000 Granaten pro Tag aus einer viel größeren Nähe als je zuvor ungeheuren Schaden an. Kaum ein Gebäude blieb im Stadtzentrum stehen, das aussah, als wäre es von einem Erdbeben erschüttert worden. Die Zahl der Opfer war entsetzlich seit der letzten Augustwoche wurden jeden Tag rund 1000 Russen getötet oder verwundet (fast 8000 in den ersten drei Tagen der Bombardierung), doch die letzten tapferen Verteidiger von Sewastopol dachten nicht daran, die Stadt aufzugeben. »Im Gegenteil«, versicherte Jerschow,

obwohl wir ein halb zerstörtes Sewastopol verteidigten, im Grunde eine Geisterstadt, die abgesehen von ihrem Namen keine Bedeutung mehr hatte, waren wir bereit, bis zum letzten Mann auf den Straßen für sie zu kämpfen. Wir verlegten unsere Vorräte auf die Nordseite, errichteten Barrikaden und gingen daran, jede Ruine zu einer bewaffneten Zitadelle umzugestalten.25

Die Russen rechneten mit einem Angriff das Bombardement ließ keinen Zweifel an den Plänen der Alliierten , aber sie glaubten, er würde am 7. September stattfinden, dem Jahrestag der Schlacht von Borodino, ihres berühmten Sieges über die Franzosen im Jahr 1812, bei dem ein Drittel von Napoleons Armee vernichtet worden war. Als die Offensive ausblieb, ließ die Wachsamkeit der Verteidiger nach. Noch verwirrter waren sie am Morgen des 8. September, als der Beschuss um fünf Uhr mit wütender Intensität fortgesetzt wurde (die französischen und britischen Kanonen feuerten mehr als 400 Geschosse pro Minute ab) und um zehn Uhr plötzlich aufhörte. Wieder fand der Angriff nicht statt. Die Russen hatten erwartet, dass die Alliierten entweder im Morgengrauen oder in der Abenddämmerung, wie sie es immer getan hatten, in Aktion treten würden. Folglich deutete das neue Bombardement ihrer Meinung nach auf eine mögliche Attacke an jenem Abend hin. Diese Annahme erhielt um elf Uhr weitere Nahrung, als die russischen Posten auf den Inkerman-Höhen meldeten, dass alliierte Schiffe allem Anschein nach dabei waren, sich zu rüsten und zu formieren. Sie irrten sich nicht, denn der alliierte Plan hatte vorgesehen, dass die Flotte an der Offensive teilnehmen und die Küstenverteidigung der Stadt beschießen solle, doch an jenem Morgen schlug das klare, heiße Wetter um, wonach ein starker Nordwestwind und eine schwere See diesen Teil der Operation in letzter Minute verhinderten. Folglich machten die Schiffe, die sich am Eingang des Seehafens versammelt hatten, nicht den Eindruck, als würden sie eine baldige Offensive unterstützen können. Und doch waren die Alliierten drauf und dran loszuschlagen. Bosquet hatte klugerweise gefordert, den Angriff am Mittag beginnen zu lassen, wenn die Russen die Wache wechseln und am wenigsten mit einem Überfall rechnen würden.26

Der Plan der Alliierten war schlicht: Sie wollten die Aktionen vom 18. Juni wiederholen, allerdings mit einer größeren Streitmacht und ohne die damaligen Fehler. Diesmal würden die Franzosen statt der drei Divisionen, die sie am 18. Juni verwendet hatten, zehneinhalb Divisionen einsetzen (fünfeinhalb gegen den Malachow und fünf gegen die anderen Bastionen an der Vorderseite der Stadt). Es handelte sich um eine enorme Streitmacht von 35 000 Mann, der 2000 mutige Sardinier zur Seite standen. Die französischen Kommandeure, die das Angriffssignal geben sollten, hatten ihre Uhren aufeinander abgestimmt, um eine Wiederholung des Durcheinanders zu vermeiden, das durch General Mayrans Verwechslung des entscheidenden Raketensignals ausgelöst worden war. Am Mittag erteilten sie den Befehl zum Sturm: Die Trommler schlugen auf ihre Trommeln ein, die Hörner ertönten, die Kapelle spielte die Marseillaise, und mit dem weithin hallenden Ruf »Vive l’Empereur!« preschte General MacMahons Division, insgesamt rund 9000 Mann, aus den Schützengräben vor; ihnen folgte der Rest der französischen Infanterie. Mit den beherzten Zuaven an der Spitze rannten sie auf den Malachow zu, überquerten den Festungsgraben mit Hilfe von Brettern und Leitern und kletterten die Mauern hinauf. Die Russen wurden überrumpelt, denn sie wechselten gerade die Garnison, und viele Soldaten hatten sich zum Mittagessen zurückgezogen, da sie sich nach der Einstellung des Bombardements sicher wähnten. »Die Franzosen waren im Malachow, bevor unsere Jungen nach ihren Gewehren greifen konnten«, berichtete Prokofi Podpalow, der vom Redan aus entsetzt zusah. »Innerhalb von Sekunden war das Fort mit Hunderten ihrer Männer gefüllt, und unsere Seite gab kaum einen Schuss ab. Minuten später wurde die französische Fahne am Turm gehisst.«27

Die Russen, von der schieren Wucht des französischen Angriffs überwältigt, flohen in panischer Angst aus dem Malachow. Die meisten Soldaten der Bastion waren Halbwüchsige aus der 15. Reserve-Infanteriedivision, die keine Gefechtserfahrung besaßen und den Zuaven nichts entgegensetzen konnten.

Nachdem MacMahons Männer den Malachow gestürmt hatten, schwärmten sie über die Verteidigungsanlagen aus und schlossen sich den Zuaven zu einem furchterregenden Nahkampf mit den Russen in der Scherwe-(Gervais-)Batterie links vom Malachow an, während andere Verbände die Bastionen entlang der Linie attackierten. Die Zuaven besetzten die Scherwe-Batterie, doch an der rechten Flanke konnten sie das Kasaner Regiment nicht verdrängen, das tapfer standhielt, bis Verstärkungen aus Sewastopol eintrafen und den Russen einen Gegenangriff ermöglichten. Nun folgten einige der erbittertsten Kämpfe des Krieges. »Immer wieder stürmten wir mit unseren Bajonetten auf sie zu«, erinnerte sich Anatoli Wjasmitinow, einer der russischen Soldaten. »Wir hatten keine Ahnung, was unser Ziel war, und fragten uns zu keinem Zeitpunkt, ob wir Erfolg haben könnten. Wir stürzten einfach vorwärts, völlig berauscht von der Aufregung der Schlacht.« Innerhalb von Minuten war der Boden zwischen der Scherwe-Batterie und dem Malachow mit toten Russen und Franzosen, alle durcheinander, bedeckt; mit jedem neuen Ansturm kamen weitere Gefallene dazu, so dass beide Seiten beim Kampf buchstäblich auf den Verwundeten und Toten herumtrampelten, bis das Schlachtfeld zu einem wahren »Leichenberg« wurde, wie Wjasmitinow später schrieb. »Die Luft füllte sich mit dichtem rotem Staub von der blutigen Erde, so dass wir den Feind nicht mehr sehen konnten. Uns blieb nichts anderes übrig, als durch den Staub in seine Richtung zu feuern und darauf zu achten, dass wir unsere Musketen parallel zum Boden vor uns hielten.« Immer mehr Soldaten rückten nach, und schließlich überwältigte MacMahons Infanterie die Russen durch ihr stärkeres Gewehrfeuer und zwang sie zum Rückzug. Dann festigten die Franzosen ihre Kontrolle über den Malachow, indem sie behelfsmäßige Barrikaden bauten dazu benutzten sie tote und sogar verwundete Russen als menschliche Sandsäcke sowie Gabionen, Faschinen und Schießscharten von den halb zerstörten Verteidigungsanlagen , hinter denen sie ihre schweren Geschütze auf Sewastopol richteten.28

Gleichzeitig starteten die Briten ihren eigenen Angriff auf den Redan. Dieser war in mancher Hinsicht viel schwerer zu erobern als der Malachow. Die Briten konnten ihre Gräben nicht in den Felsboden vor der Bastion treiben und würden deshalb unter dem Nahbeschuss des Feindes über die offene Fläche laufen und über die Verhaue klettern müssen. Aufgrund der breiten Keilform des Redan würden die Angreifer auch dem Flankenfeuer der Russen ausgesetzt sein, während sie den Graben überquerten und die Brüstung erklommen. Zudem gab es Gerüchte, die Russen hätten den Redan vermint. Immerhin aber war der Redan nach der Eroberung des Malachow durch die Franzosen angreifbarer geworden.

Wie im Juni warteten die Briten, bis die Franzosen die Führung übernommen hatten, doch sobald sie die Trikolore auf dem Malachow sahen, rannten sie auf den Redan zu. Etliche der tausend Anstürmenden überlebten den Hagel aus Kanonenkugeln, Kartätschen- und Musketenfeuer, überquerten die Verhaue und stiegen in den Graben hinunter, obwohl mindestens die Hälfte der Leitern unterwegs verloren gegangen war. Im Graben brach Chaos aus, denn die Männer wurden aus kürzester Entfernung von den russischen Artilleristen auf der Brüstung über ihnen beschossen. Einige zögerten, die Mauer hinaufzuklettern, andere versuchten, am Boden des Grabens Schutz zu finden. Am Ende gelang es jedoch einer Gruppe von Männern, über die Mauer in die Festung einzudringen. Die meisten wurden getötet, doch sie hatten ein Beispiel gesetzt, und andere folgten ihnen. Zu dieser zweiten Gruppe gehörte Leutnant Griffith von den 23. (Royal Welch) Fusiliers:

Wir hasteten wie verrückt die Gräben entlang, wobei uns Kartätschenkugeln um die Ohren flogen. Mehrere Offiziere, die verwundet zurückkamen, sagten, sie seien im Redan gewesen und man brauche die Verstärkungen nur noch, um den Sieg zu vollenden. Wir eilten weiter und wurden immer stärker durch verwundete Offiziere und Männer behindert, die man von der Front zurücktrug … »Weiter, das 23.! Hier lang!«, riefen die Stabsoffiziere. Wir kletterten aus dem Graben ins offene Gelände. Das war ein banger Moment. Ich hastete ungefähr 200 Meter, glaube ich, über die Fläche hinweg; Kartätschenfeuer wühlte unablässig die Erde auf, und Männer stürzten an allen Seiten zu Boden. Als ich den Rand des Grabens vor dem Redan erreichte, fand ich unsere Männer völlig verwirrt vor, wenngleich sie immer noch stetig auf den Feind feuerten … [Im Graben] kauerten zahlreiche Soldaten von verschiedenen Regimentern; Sturmleitern, auf denen sich unsere Kameraden drängten, waren gegen die Brüstung gelehnt. Radcliffe und ich packten eine Leiter und stiegen zur Brüstung hinauf, wo wir durch das Gewühl aufgehalten wurden – Verwundete und Tote stürzten pausenlos auf uns herunter. Es war wahrhaft eine aufregende und furchtbare Szene.29

Der Graben und die Hänge, die zur Brüstung hinaufführten, füllten sich rasch mit Neuankömmlingen wie Griffith, die wegen des »Gewühls« der über ihnen Kämpfenden nicht hinaufklettern konnten. Das Innere des Redan wurde mit Hilfe einer Reihe von Quergängen effektiv verteidigt. Diese waren mit Russen bemannt, die von hinten ständig Nachschub erhielten. Die wenigen Angreifer, die sich in die Festung vorkämpfen konnten, wurden so aufgehalten, waren hoffnungslos in der Minderheit und mussten ein verheerendes Kreuzfeuer von beiden Flanken am Nordende des Keils über sich ergehen lassen. Der Kampfeswille der im Graben zusammengepferchten Soldaten wurde immer schwächer. Sie ignorierten die Befehle ihrer Offiziere, die Brüstung hinaufzuklettern, und »drängten sich zu Hunderten an der unteren Kante«, berichtete Leutnant Colin Campbell, der die Situation aus den Schützengräben beobachtete, »obgleich sie zu Dutzenden vom Flankenfeuer weggefegt wurden«. Viele verloren vollends die Nerven und rannten zurück zu den Schützengräben. Diese waren jedoch voll von Männern, die ihrerseits auf den Angriffsbefehl warteten. Die Disziplin brach zusammen, und es kam zu einer panischen Flucht nach hinten, an der auch Griffith teilnahm:

Ich fühlte mich beschämt, obwohl ich mein Bestes getan hatte, und drehte mich widerwillig um, um den Männern zu folgen. In einiger Entfernung sah ich unseren Schützengraben, doch ich erwartete nicht, ihn je zu erreichen. Das Feuer war schrecklich, und ich stolperte über die Toten und Verwundeten hinweg, die den Boden buchstäblich zudeckten. Schließlich erreichte ich zu meiner großen Freude unser Gelände und ließ mich irgendwie in den Schützengraben fallen … Ich hätte erwähnen sollen, dass eine Kugel meine Wasserflasche traf, deren Riemen ich über die Schulter geschlungen hatte, das Wasser auslaufen ließ und abprallte. Ein Stein, der von einem Kartätschenschuss aufgewirbelt wurde, traf mich am Bein, ohne mir große Schmerzen zu bereiten. Kurz darauf trafen wir auf … einige Männer und versammelten nach und nach die meisten der Unverletzten. Es war sehr traurig, dass so viele fehlten.

Henry Clifford gehörte zu den Offizieren, die sich vergebens bemühten, die Disziplin wiederherzustellen: »Als die Männer von der Brüstung des Redan zurückrannten , zogen wir unsere Schwerter, schlugen damit die Männer und flehten sie an, stehen zu bleiben, weil sonst alles verloren wäre. Trotzdem flohen viele. Der Schützengraben, zu dem sie liefen, war so überfüllt, dass wir uns nicht bewegen konnten, ohne auf die Verwundeten unter unseren Füßen zu treten.«30

Es war aussichtslos, den Angriff mit diesen von Panik erfassten Soldaten die meisten waren junge Reservisten zu erneuern. General Codrington, der Befehlshaber der Leichten Division, der die Offensive leitete, stellte weitere Aktionen für den Rest des Tages ein eines Tages, an dem die Briten 2610 Opfer, darunter 550 Tote, zu beklagen hatten. Codrington plante, den Angriff am folgenden Tag mit den schlachterprobten Soldaten der Hochlandbrigade fortzusetzen. Doch dazu sollte es nicht kommen. Später am Abend entschieden die Russen, dass sie den Redan nicht gegen die französischen Geschütze auf dem Malachow verteidigen konnten, und räumten die Festung. Ein russischer General erklärte in dem wohl frühesten Bericht über diese Ereignisse, dass der Malachow »nur eine einzelne Festung [war], doch den Schlüssel zu Sewastopol lieferte, denn die Franzosen würden in der Lage sein, die Stadt von dort aus nach Belieben zu bombardieren, Tausende unserer Soldaten und Zivilisten zu töten und wahrscheinlich die Pontonbrücke zu zerstören und unsere Flucht zur Nordseite zu vereiteln«.31

Gortschakow befahl, die gesamte Südseite von Sewastopol zu evakuieren. Militäreinrichtungen wurden gesprengt, Vorratslager in Brand gesteckt, und Scharen von Soldaten und Zivilisten schickten sich an, die Schwimmbrücke zur Nordseite zu überqueren. Eine beträchtliche Zahl von russischen Soldaten hielt die Entscheidung, die Stadt zu räumen, für Verrat. Sie meinten, am Vortag einen Teilsieg errungen zu haben, da sie die feindlichen Angriffe auf alle Bastionen mit Ausnahme des Malachow zurückgeschlagen hatten, und sie wollten nicht verstehen oder zugeben, dass dessen Verlust die fortgesetzte Verteidigung der Stadt unmöglich machte. Viele Matrosen wollten Sewastopol, wo sie ihr Leben verbracht hatten, nicht verlassen, und einige protestierten sogar. »Wir können nicht weggehen, denn niemand hat die Befehlsgewalt über uns«, verkündete eine Gruppe von Seeleuten; damit spielten sie auf das Fehlen eines Flottenbefehlshabers nach dem Tod von Nachimow an.

Die Soldaten können abziehen, aber wir haben unsere Marinebefehlshaber, und sie haben uns nicht zur Räumung aufgefordert. Wie könnten wir Sewastopol verlassen? Der Angriff ist doch überall abgeschlagen worden, nur der Malachow ist den Franzosen in die Hände gefallen, und morgen können wir ihn zurückerobern. Wir werden auf unseren Posten bleiben … Wir müssen hier sterben. Wir dürfen nicht abziehen, was würde Russland über uns sagen?32

Die Evakuierung begann um 19 Uhr und setzte sich die ganze Nacht hindurch fort. Am Seehafenkai bei Fort Nikolaus versammelte sich eine große Zahl von Soldaten und Zivilisten, um die Schwimmbrücke zu überqueren. Verwundete und Kranke, Frauen mit kleinen Kindern und alte Menschen mit Gehstöcken standen inmitten von Soldaten und Matrosen, Pferden und Geschützen auf Lafetten. Der Abendhimmel war von den Flammen brennender Gebäude erleuchtet, und das Dröhnen der Geschütze in den fernen Bastionen war kaum von den Explosionsgeräuschen in Sewastopol, in den Forts und auf den Schiffen zu unterscheiden, denn die Russen sprengten alles für den Feind Nützliche, das sie nicht mitnehmen konnten, in die Luft. Die Menschen in der Menge rechneten damit, dass die Briten und Franzosen jeden Moment eintreffen könnten, gerieten in Panik, schoben und drängelten einander, um näher an die Brücke heranzukommen. »Man konnte die Angst förmlich riechen«, erinnerte sich Tatjana Tolytschewa, die mit ihrem Mann und ihrem Sohn an der Brücke wartete. »Es war ein schlimmer Krawall Menschen schrien, weinten, heulten, die Verwundeten stöhnten, und Granaten flogen durch die Luft.« Unablässig fielen Bomben auf den Hafen, und ein Volltreffer tötete acht alliierte Kriegsgefangene am überfüllten Kai. Soldaten, Pferde und Geschütze sollten die Brücke als Erste überqueren, gefolgt von Ochsenkarren, die mit Kanonenkugeln, Heuballen und Verwundeten beladen waren. Auf der Brücke herrschte Schweigen, denn niemand konnte sicher sein, die andere Seite zu erreichen. Das Meer war rau, der Nordwestwind blies immer noch heftig, und der Regen peitschte die Gesichter der Menschen auf dem Weg über den Seehafen. Die Zivilisten, die nur mitnehmen durften, was sie tragen konnten, bildeten eine Reihe. Unter ihnen war auch Tolytschewa:

Auf der Brücke herrschte ein Gedränge – nichts als Verwirrung, Panik, Furcht! Die Brücke gab unter dem Gewicht von uns allen fast nach, und das Wasser erreichte unsere Knie. Plötzlich verlor jemand die Nerven und brüllte: »Wir ertrinken!« Manche drehten sich um und versuchten, zum Ufer zurückzukehren. In dem Gerangel trampelten Menschen übereinander hinweg, die Pferde erschraken und bäumten sich auf … Ich dachte, wir würden sterben, und sprach ein Gebet.

Um acht Uhr am folgenden Morgen hatten alle die Brücke überquert. Die letzten Verteidiger wurden durch ein Signal angewiesen, die Bastionen zu verlassen und die Stadt in Brand zu stecken. Mit den wenigen noch zurückgebliebenen Geschützen versenkten sie die letzten Schiffe der russischen Schwarzmeerflotte im Seehafen, bevor sie sich ebenfalls zur Nordseite aufmachten.33

Aus dem Sternfort beobachtete Tolstoi den Niedergang von Sewastopol. Während des Angriffs hatte er eine der Fünf-Kanonen-Batterien befehligt und war einer der letzten Verteidiger gewesen, welche die Pontonbrücke hinter sich ließen. Es war sein 27. Geburtstag, doch der Anblick, der sich ihm bot, brach ihm das Herz. »Ich habe geweint, als ich die Stadt in Flammen und französische Fahnen auf unseren Bastionen sah«, schrieb er seiner Tante, »und überhaupt war dieser Tag in vieler Hinsicht sehr traurig.«34

An jenem Morgen schaute auch Alexandra Stachowa, eine Krankenschwester, die bei der Räumung der Verwundeten aus Sewastopol half, auf die brennende Stadt zurück. Sie beschrieb die Szene am folgenden Tag in einem Brief an ihre Angehörigen:

Die ganze Stadt war in Flammen gehüllt – von überall ertönten Explosionen. Es war ein Bild des Schreckens und des Chaos! … Eine schwarze Rauchdecke lag über Sewastopol, unsere eigenen Soldaten steckten die Stadt in Brand. Das Schauspiel ließ mir Tränen in die Augen steigen (ich weine selten), und dies minderte die Last auf meiner Seele, wofür ich Gott danke … Wie schwer es war, das alles zu erleben und zu sehen. Es wäre leichter gewesen zu sterben.35

Das Große Feuer von Sewastopol gleichsam eine Wiederholung des Moskauer Feuers von 1812 loderte mehrere Tage lang. Teile der Stadt brannten noch, als die alliierten Heere am 12. September einzogen. Sie fanden entsetzliche Szenen vor. Wegen des Mangels an Transportmitteln waren nicht alle Verwundeten aus Sewastopol herausgeschafft worden; ungefähr 3000 hatte man ohne Nahrung oder Wasser in der Stadt zurückgelassen. Dr. Gjubbenet, der für die Evakuierung der Krankenhäuser verantwortlich gewesen war, hatte erwartet, dass die Männer sehr bald von den Alliierten aufgefunden werden würden. Er konnte nicht ahnen, dass es vier Tage dauern sollte, bis der Feind die Stadt besetzte. Später las er zu seiner Bestürzung westliche Presseberichte wie den folgenden Times-Artikel von Russell:

Von allen Bildern der Gräuel des Krieges, die der Welt je geboten wurden, lieferte das Krankenhaus von Sewastopol die herzzerreißendsten und abscheulichsten. Nachdem ich durch eine dieser Türen getreten war, bot sich mir ein Anblick, den wenige Menschen, Gott sei Dank, haben ertragen müssen: … die verfaulten und verwesenden Leichen der Soldaten, die man unter extremen Qualen hatte sterben lassen, unbehütet, unversorgt, so dicht aneinander gedrängt, wie man sie hatte verstauen können … gesättigt mit Blut, das auf den Fußboden sickerte und tröpfelte, wo es sich mit den Ausscheidungen der Fäulnis vermischte. Vielen, die noch lebendig dalagen, krochen Maden über die Wunden. Einige andere, nahezu wahnsinnig angesichts dessen, was um sie herum vorging, oder unter Todesqualen davor flüchtend, hatten sich unter die Betten gerollt und starrten die untröstlichen Zuschauer an. Manche, Arme und Beine gebrochen und verdreht, mit gezackten Splittern, die sich durch das rohe Fleisch gebohrt hatten, flehten um Hilfe, Wasser, Nahrung oder Mitleid oder deuteten, wenn sie durch das Nahen des Todes oder durch furchtbare Verletzungen am Kopf oder Rumpf der Sprache nicht mehr mächtig waren, auf die tödliche Stelle. Einige schienen nur noch ihren Frieden mit dem Himmel machen zu wollen. Etliche hatten eine so grässlich absurde Haltung angenommen, dass man durch eine schreckliche Faszination wie angewurzelt stehen blieb. Die Leichen mancher Männer waren unglaublich geschwollen und aufgebläht; die Gesichtszüge, zu gigantischer Größe verzerrt, wiesen aus den Höhlen tretende Augen und geschwärzte, aus dem Mund hängende Zungen auf, fest zusammengedrückt von den im Todesröcheln auf sie beißenden Zähnen. All das ließ den Betrachter schaudern und sich abwenden.36

Der Anblick der verwüsteten Stadt flößte allen, die sie betraten, Ehrfurcht ein. »Sewastopol bietet das bemerkenswerteste Schauspiel, das man sich vorstellen kann«, schrieb Baron Bondurand, der französische Militärinspekteur, am 21. September an Marschall de Castellane.

Wir selbst ahnten nichts von den Auswirkungen unserer Artillerie. Die Stadt ist buchstäblich zermalmt. Es gibt kein einziges Haus, das unsere Geschosse verfehlt haben. Kein Dach ist noch vorhanden, und fast alle Wände sind zerstört worden. Die Garnison muss während dieser Belagerung, in der all unsere Schläge folgenreich waren, enorme Verluste erlitten haben. Dies ist ein Zeugnis für die unbestreitbare Moral und Ausdauer der Russen, die so lange standhielten und erst kapitulierten, als ihre Position durch unsere Eroberung des Malachow unhaltbar geworden war.

Überall gab es Anzeichen der Zerstörung, und doch war Thomas Buzzard erstaunt über die Schönheit der Ruinenstadt:

In einer der hübschesten Straßen stand ein prächtiges klassisches Gebäude, anscheinend eine aus Stein gebaute Kirche, im Stil dem Parthenon von Athen ähnlich. Einige der mächtigen Säulen waren fast in Stücke geschmettert worden. Im Innern stellten wir fest, dass eine Granate das Dach durchdrungen hatte, dann auf dem Boden explodiert war und ihn zertrümmert haben musste. Es war seltsam, sich davon abzuwenden und in einen daneben liegenden kühlen und friedlichen Garten mit den Bäumen in vollem Laub zu schauen.37

Für die Soldaten bot die Besetzung von Sewastopol eine Gelegenheit zum Plündern. Die Franzosen gingen dabei organisiert und mit Unterstützung ihrer Offiziere vor, die ebenfalls russische Besitztümer ausraubten und Trophäen nach Hause schickten, als wäre dies ein ganz normaler Bestandteil des Krieges. In einem Brief vom 16. Oktober stellte Leutnant Vanson ein langes Verzeichnis der Souvenirs auf, die er seinen Angehörigen schicken würde, darunter ein Silber- und ein Goldmedaillon, ein Porzellanservice und den Säbel eines russischen Offiziers. Ein paar Wochen später schrieb er erneut: »Wir sind immer noch dabei, Sewastopol zu plündern. Wirkliche Raritäten sind nicht mehr zu finden, aber es gab ein Objekt, das ich mir wirklich wünschte, einen schönen Stuhl, und ich freue mich, Euch mitteilen zu können, dass ich gestern einen entdeckt habe. Ihm fehlen ein Fuß und die gepolsterte Sitzfläche, doch die Lehne ist wunderbar geschnitzt.« Verglichen mit den Franzosen, waren die Briten ein wenig zurückhaltender. Am 22. September schrieb Thomas Golaphy seiner Familie einen Brief auf der Rückseite eines russischen Dokuments. Er sprach davon, dass

wir alles mitnahmen, was uns in die Hände fiel, und es an jeden Interessierten verkauften. Einige prächtige Gegenstände wurden sehr billig abgegeben, aber außer den Griechen waren keine Käufer vorhanden. Wir durften die Stadt nicht so plündern wie die Franzosen. Sie konnten alle Viertel betreten, doch wir durften nur einen Teil unseren Quartieren gegenüber aufsuchen.38

Während die Briten den Franzosen beim Plündern nachstanden, waren sie ihnen weit überlegen, was Sauforgien betraf. Die Besatzer fanden riesige Alkoholvorräte in Sewastopol vor, und insbesondere die Briten machten sich daran, diese auszutrinken, wozu sie, wie sie annahmen, die Erlaubnis ihrer Offiziere als Belohnung für den hart erkämpften Sieg erhalten hatten. Schlägereien, Ungehorsam und Disziplinlosigkeit infolge von Alkohol wurden zu einem bedeutenden Problem im britischen Lager. Beunruhigt durch Berichte über »Massentrunkenheit« unter den Soldaten, schrieb Panmure an Codrington und warnte ihn vor der »extremen Gefahr, der Ihre Armee physisch ausgesetzt sein muss, wenn dieses Übel nicht bald beseitigt wird, sowie vor der Schande, mit der unser Nationalcharakter täglich überhäuft wird«. Er forderte, die Kriegszulage der Soldaten zu kürzen und das Kriegsrecht in vollem Maße anzuwenden. Von Oktober bis März stellte man 4000 britische Soldaten wegen Trunkenheit vor Militärgerichte; die meisten wurden wegen ihres Fehlverhaltens zu fünfzig Peitschenhieben verurteilt, und viele verloren bis zu einem Monatssold, aber die Trinkerei ging weiter, bis die Alkoholvorräte versiegten und die Soldaten die Krim hinter sich ließen.39

* * *

Der Fall Sewastopols wurde von Menschenmengen in London und Paris bejubelt. Man tanzte auf den Straßen, betrank sich und sang ausgiebig patriotische Lieder. Viele dachten, der Krieg sei nun beendet. Die Eroberung des Marinestützpunkts und die Zerstörung der Schwarzmeerflotte des Zaren hatten im Mittelpunkt der alliierten Kriegspläne gestanden, jedenfalls so weit diese der Öffentlichkeit mitgeteilt wurden, und diese Ziele waren nun erreicht. In Wirklichkeit aber war der Verlust von Sewastopol keine entscheidende militärische Niederlage für Russland. Dazu benötigte man einen groß angelegten Einmarsch durch Bodentruppen, um Moskau zu erobern, oder einen Sieg in der Ostsee über St. Petersburg.

Wenn einige westliche Führer gehofft hatten, dass die Einnahme von Sewastopol den Zaren zwingen würde, um Frieden nachzusuchen, so wurden sie rasch enttäuscht. Die kaiserliche Verlautbarung, mit der dem russischen Volk der Verlust mitgeteilt wurde, hatte etwas Herausforderndes an sich. Am 13. September begab sich Alexander nach Moskau, um den dramatischen Auftritt Alexanders I. in der »nationalen« Hauptstadt nach Napoleons Invasion im Juli 1812 nachzustellen, als jubelnde Menschenmengen den Zaren auf dem Weg zum Kreml begrüßt hatten. »Denken Sie an 1812«, schrieb er seinem Oberbefehlshaber Gortschakow am 14. September. »Sewastopol ist nicht Moskau. Die Krim ist nicht Russland. Zwei Jahre nach dem Brand von Moskau waren unsere siegreichen Soldaten in Paris. Wir sind immer noch dieselben Russen, und Gott ist auf unserer Seite.«40

Alexander überlegte sich, wie er den Krieg fortsetzen konnte. Ende September entwarf er einen detaillierten Plan für eine neue Balkan-Offensive im Jahr 1856: Er würde den Krieg zu den Feinden Russlands auf europäischen Boden tragen, indem er russlandfreundliche und nationalistische Revolten unter den Slawen und Rechtgläubigen entfachte. Laut Tjutschewa »wies [Alexander] alle zurecht, die davon sprachen, Frieden zu schließen«. Nesselrode befürwortete zweifellos Friedensverhandlungen und ließ die Österreicher wissen, dass er Vorschläge der Alliierten begrüßen würde, wenn sie »mit unserer Ehre vereinbar« seien. Vorläufig jedoch war in St. Petersburg und Moskau nur davon die Rede, den Krieg fortzuführen, wenngleich es sich dabei in erster Linie um einen Bluff handelte, der die Alliierten veranlassen sollte, Russland bessere Friedensbedingungen anzubieten. Der Zar wusste, dass die Franzosen kriegsmüde waren und dass Napoleon den Frieden befürwortete, da er nun den »glorreichen Sieg«, den der Fall von Sewastopol symbolisierte, errungen hatte. Alexander war jedoch klar, dass die Briten weniger geneigt sein würden, den Krieg zu beenden. Palmerston hatte den Krim-Feldzug stets als Beginn eines größeren Krieges betrachtet, der die Macht des Russischen Reiches in der Welt einschränken sollte, und die britische Öffentlichkeit schien den Konflikt generell fortsetzen zu wollen. Auch Königin Viktoria konnte den Gedanken nicht ertragen, dass das Scheitern der britischen Armee auf dem Redan »our last fait d’armes« sein sollte.41

Nachdem Großbritannien die Fronten in Kleinasien und im Kaukasus so lange vernachlässigt hatte, war seine Hauptsorge die russische Belagerung von Kars. Alexander erhöhte den Druck auf die türkische Festungsstadt, um nach dem Fall von Sewastopol seine Verhandlungsposition für Friedensgespräche mit den Briten zu stärken. Die Einnahme von Kars würde den Truppen des Zaren ermöglichen, nach Erzurum und Anatolien vorzustoßen und die britischen Interessen am Landweg nach Indien zu bedrohen. Alexander hatte den Angriff auf Kars im Juni in der Hoffnung befohlen, dass die Alliierten einen Teil ihrer Verbände von Sewastopol abziehen würden. Eine russische Streitmacht von 21 000 Infanteristen, 6000 Kosaken und 88 Geschützen, geführt von General Murawjow, rückte von der russisch-türkischen Grenze aus zu dem 70 Kilometer entfernten Kars vor, wo 18 000 türkische Soldaten unter dem Kommando des britischen Generals William Williams in dem Wissen, dass sie in einer offenen Feldschlacht besiegt werden würden all ihre Energie für die Befestigung der Stadt aufgewandt hatten. Unter den vielen ausländischen Offizieren in der türkischen Armee in Kars eine Legion setzte sich aus polnischen, italienischen und ungarischen Flüchtlingen der gescheiterten Aufstände von 1848/49 zusammen befanden sich viele fähige Ingenieure. Die Russen starteten ihren ersten Angriff am 16. Juni, doch nachdem sie vehement zurückgeschlagen worden waren, beschlossen sie, die Stadt zu belagern und die Verteidiger durch Aushungern zur Kapitulation zu zwingen. Die Russen betrachteten ihre Aktion bei Kars als Antwort auf die alliierte Belagerung von Sewastopol.

Die Türken waren dafür, ein Expeditionskorps zur Entlastung von Kars zu entsenden. Omer Pascha bat die Briten und Franzosen um Erlaubnis, seine türkischen Streitkräfte in Kertsch und Jewpatorija (rund 25 000 Infanteristen und 3000 Kavalleristen) zu verlegen und »mich irgendwo auf die Küste von Tscherkessien zu stürzen, von dort die Verbindungslinien der Russen zu bedrohen und sie so zur Aufgabe der Belagerung von Kars zu nötigen«. Die alliierten Befehlshaber zögerten, eine Entscheidung zu treffen, und reichten die Angelegenheit weiter an die Politiker in London und Paris. Diese wollten das türkische Kontingent zuerst nicht von der Krim abziehen, billigten den Plan dann doch in groben Zügen, stritten sich aber darüber, wie man am besten nach Kars gelangte. Erst am 6. September brach Omer Pascha nach Suchumi an der georgischen Küste auf, von wo seine aus 40 000 Mann bestehende Armee mehrere Wochen zur Überquerung des südlichen Kaukasus benötigen würde.

Inzwischen wurde Murawjow vor Kars unruhig. Die Belagerung hatte einen schrecklichen Blutzoll von den Verteidigern der Stadt gefordert, die unter Lebensmittelmangel und Cholera litten. Aber Sewastopol war gefallen, der Zar brauchte Kars so schnell wie möglich, und Murawjow konnte, da Omer Paschas Armee unterwegs war, nicht warten, bis die Moral der Türken durch die Blockade gebrochen war. Am 29. September begannen die Russen einen Generalangriff auf die Bastionen der Stadt. Die türkischen Soldaten, obwohl geschwächt, kämpften hervorragend und setzten ihre Artillerie sehr effektiv ein. Dadurch mussten die Russen schwere Verluste hinnehmen: ungefähr 2500 Tote und doppelt so viele Verwundete, verglichen mit rund 1000 türkischen Opfern. Murawjow kehrte daraufhin zu seiner Belagerungstaktik zurück. Mitte Oktober, als Omer Pascha nach mehreren Verzögerungen endlich seinen langen Marsch von Suchumi aus nach Süden begann, waren die Verteidiger von Kars dem Hungertod nahe, und im Krankenhaus drängten sich die Skorbutopfer. Frauen brachten ihre Kinder zur Residenz von General Williams, um sie von ihm ernähren zu lassen. Sämtliche Pferde der Stadt waren geschlachtet und verzehrt worden, und den Menschen blieb nichts, als Gras und Wurzeln zu essen.

Am 22. Oktober traf die Nachricht ein, dass Selim Pascha, Omer Paschas Sohn, mit einer Armee von 20 000 Mann an der Nordküste der Türkei gelandet sei und nun nach Erzurum marschiere. Doch als er die nur wenige Tagesmärsche entfernte Stadt erreichte, hatte sich die Lage in Kars noch weiter verschlimmert: Täglich starben hundert Menschen, und unablässig desertierten Soldaten. Bei denen, die noch in der Lage waren weiterzukämpfen, sank die Moral auf den Tiefpunkt. Schwere Schneefälle gegen Ende Oktober machten es den türkischen Verstärkungen so gut wie unmöglich, nach Kars vorzudringen. Omer Paschas Armee wurde von den russischen Streitkräften in Mingrelien aufgehalten und zeigte dann keine Eile, nach Kars weiterzuziehen, sondern ruhte sich fünf Tage lang in der mingrelischen Hauptstadt Sugdidi aus, wo die Soldaten durch Plünderei und Entführung von Kindern für den Sklavenmarkt abgelenkt wurden. Danach kam man bei sehr starkem Regen nur mühsam auf dem dicht bewaldeten und sumpfigen Gelände voran. Selim Paschas Truppen rückten aus Erzurum sogar noch langsamer vor. Wie sich herausstellte, verfügte er nicht über 20 000 Mann, sondern über weniger als die Hälfte, also keineswegs genug, um Murawjows Armee im Alleingang zu besiegen. Daher beschloss Selim Pascha, gar nicht erst den Versuch zu machen. Am 22. November überbrachte ein britischer Diplomat General Williams eine Note, aus der hervorging, dass Selim Paschas Heer nicht nach Kars kommen werde. Da nun jegliche Hoffnung geschwunden war, übergab Williams die Garnison an Murawjow, der verdienstvollerweise sicherstellte, dass die 4000 kranken und verwundeten türkischen Soldaten gut versorgt wurden, und der Lebensmittel an die 30 000 Soldaten und Zivilisten verteilen ließ, die er durch Aushungern zur Kapitulation getrieben hatte.42

Nach der Einnahme von Kars kontrollierten die Russen mehr feindliches Territorium als die Alliierten. Alexander meinte, der Verlust von Sewastopol sei durch seinen Sieg bei Kars wettgemacht, und hielt dies für den richtigen Zeitpunkt, um bei Österreich und Frankreich wegen eines Friedens vorzufühlen. Ende November ergab sich ein direkter Kontakt zwischen Paris und St. Petersburg, als Graf Walewski, Napoleons Cousin und Außenminister, an Baron von Seebach, Nesselrodes Schwiegersohn, herantrat, der die russischen Interessen in der französischen Hauptstadt wahrnahm. Walewski sei »persönlich sehr aufgeschlossen« gegenüber Friedensgesprächen mit Russland, meldete Seebach seinem Schwiegervater, doch habe er zu bedenken gegeben, dass Napoleon »von seiner Furcht vor England beherrscht« werde und sein Bündnis mit London unbedingt aufrechterhalten wolle. Wenn Russland Frieden wünsche, müsse es Vorschläge machen angefangen mit der Begrenzung der russischen Flottenstärke im Schwarzen Meer , die es Frankreich ermöglichten, den britischen Widerwillen gegen Gespräche zu überwinden.43

Das würde keine leichte Aufgabe sein. Nach dem Fall von Kars war die britische Regierung noch entschlossener, den Krieg fortzusetzen und ihn auf neue Schauplätze zu verlagern. Im Dezember diskutierte das Kabinett darüber, die Hälfte der Streitkräfte auf der Krim nach Trapezunt zu schicken, um einen potenziellen russischen Vormarsch von Kars nach Erzurum und Anatolien zu unterbinden. Operationspläne wurden vorbereitet, die der alliierte Kriegsrat im Januar erörtern sollte. Außerdem sprach man von einer großen neuen Kampagne in der Ostsee, wo die Zerstörung des Marinestützpunkts Sveaborg am 9. August den alliierten Führern vor Augen geführt hatte, was sich mit dampfgetriebenen Panzerschiffen und Ferngeschützen erreichen ließ. Außerhalb von Westminster herrschte nahezu Konsens darüber, dass der Fall von Sewastopol den Beginn eines größeren Krieges gegen Russland darstellen solle. Sogar Gladstone, ein energischer Befürworter des Friedens, musste einräumen, dass die britische Öffentlichkeit eine Beendigung des Krieges ablehnte. Die russlandfeindliche Presse forderte Palmerston auf, eine Frühjahrskampagne in der Ostsee einzuleiten. Sie verlangte die Zerstörung von Kronstadt, die Blockade von St. Petersburg und die Vertreibung der Russen aus Finnland. Russland solle keine Bedrohung mehr für die europäische Freiheit und die britischen Interessen im Vorderen Orient darstellen.44

Palmerston und seine »Kriegspartei« hatten ihre eigene Agenda für einen umfassenden Kreuzzug gegen Russland. Sie ging weit über das ursprüngliche Kriegsziel die Verteidigung der Türkei hinaus, denn sie sah die permanente Eindämmung und Schwächung Russlands als eines imperialen Rivalen der Briten vor. »Das entscheidende und wirkliche Ziel des Krieges ist es, den aggressiven Ehrgeiz von Russland zu dämpfen«, hatte Palmerston am 25. September an Clarendon geschrieben. »Wir zogen nicht so sehr deshalb in den Krieg, um den Sultan und seine Muselmanen in der Türkei verweilen zu lassen, sondern um die Russen aus der Türkei herauszuhalten. Aber wir haben ein genauso starkes Interesse daran, die Russen nicht in Norwegen und Schweden Fuß fassen zu lassen.« Palmerston schlug vor, den Krieg im paneuropäischen Maßstab und in Asien fortzusetzen, »um die Macht Russlands einzudämmen«. Seiner Einschätzung nach würden die baltischen Staaten, wenn sie sich diesem erweiterten Krieg anschlossen, wie die Türkei »Teil einer langen Zirkumvallationslinie gegen die künftige Ausdehnung Russlands« werden. Palmerston behauptete, Russland sei »nicht halb so vernichtend wie nötig geschlagen worden«, und forderte, den Krieg mindestens um ein weiteres Jahr zu verlängern bis die Krim und der Kaukasus von Russland getrennt und die polnische Unabhängigkeit errungen seien.45

Es ging nicht nur darum, Russland mit westlich orientierten Staaten zu umgeben, sondern um einen größeren »Krieg der Nationalitäten«, der das Russische Reich von innen her zerbrechen sollte. Die Idee hatte Palmerston erstmals in einer Kabinettsvorlage vom März 1854 vorgebracht. Damals hatte er angeregt, dem Osmanischen Reich die Krim und den Kaukasus zurückzugeben; Finnland sollte an Schweden gehen, die baltischen Provinzen an Preußen und Bessarabien an Österreich, während Polen als von Russland unabhängiges Königreich wiederhergestellt werden sollte. Verschiedene Vertreter des Establishments von Westminster hatten diese Vorschläge während des Krimkriegs diskutiert und sie stillschweigend als inoffizielle Kriegsziele des britischen Kabinetts anerkannt.Wie der Herzog von Argyll im Oktober 1854 in einem Brief an Clarendon erklärte, seien die Vier Punkte als Kriegsziele zwar »ausreichend«, da sie »einen beliebigen Spielraum für Änderung und Erweiterung« böten, doch könne die Zerstückelung Russlands wünschenswert und möglich werden, »falls ein erfolgreicher Krieg sie für uns erreichbar macht«. Nach der Eroberung von Sewastopol wurden diese Überlegungen erneut im inneren Zirkel von Palmerstons Kriegskabinett angesprochen. »Ich vermute, Palmerston würde sich wünschen, dass der Krieg unmerklich in einen sogenannten Krieg der Nationalitäten übergeht, aber er würde es zurzeit nicht offen eingestehen wollen«, notierte der politische Tagebuchschreiber Charles Greville am 6. Dezember.46

Den Herbst 1855 über vertrat Palmerston den Standpunkt, dass man sich auf eine Fortsetzung des Krieges im folgenden Frühjahr vorbereiten solle, schon allein um den Druck auf die Russen aufrechtzuerhalten, damit sie die ihm vorschwebenden strengen Friedensbedingungen akzeptierten. Er war wütend auf die Franzosen und die Österreicher, da sie direkte Gespräche mit den Russen aufgenommen hatten und vergleichsweise gemäßigte Bedingungen auf der Grundlage der Vier Punkte ins Auge fassten. Wie er Clarendon am 9. Oktober mitteilte, war er überzeugt, dass »Nesselrode und seine Spione in Paris und Brüssel auf die Franzosen einwirkten« und dass es, »da die Österreicher und Preußen Nesselrodes Bemühungen entgegenkommen , all unsere Beharrlichkeit und all unser Geschick« erfordere, »nicht in einen Frieden hineingezogen zu werden, der die ursprünglichen Erwartungen des Landes enttäuschen und die eigentlichen Kriegsziele unverwirklicht lassen würde«. In demselben Schreiben umriss Palmerston seine Minimalbedingungen für eine Einigung: Russland müsse seine Einmischungen in den Donaufürstentümern beenden, wo der Sultan »den Fürsten eine gute, zuvor mit England und Frankreich abgesprochene Verfassung gewähren« solle; das Donaudelta solle von Russland an die Türkei abgetreten werden; auch müssten die Russen sämtliche Marinestützpunkte am Schwarzen Meer aufgeben, dazu alle »Teile von Gebieten, die in ihrem Besitz Ausgangspunkte für Angriffe auf ihre Nachbarn darstellen«; dazu gehörten auch die Krim und der Kaukasus. Im Hinblick auf Polen war sich Palmerston nicht mehr sicher, ob Großbritannien einen Unabhängigkeitskrieg unterstützen könne, doch meinte er, die Franzosen sollten an dem von Walewski vorgeschlagenen Plan festhalten, um die Russen weiter unter Druck zu setzen, damit sie eine Beschneidung ihrer Macht in der Welt akzeptierten.47

Die Franzosen zeigten sich jedoch weniger enthusiastisch. Nachdem sie den Löwenanteil der Kämpfe bestritten hatten, besaß ihre Meinung mindestens so viel Gewicht wie die Palmerstons. Ohne französischen Beistand konnte Großbritannien nicht daran denken, den Krieg fortzusetzen, geschweige denn neue Verbündete unter den europäischen Staaten zu gewinnen, die zumeist der französischen Führung den Vorzug gegenüber der britischen gaben.

Frankreich hatte stärker unter dem Krieg gelitten als Großbritannien. Abgesehen von den Verlusten auf dem Schlachtfeld, wurde die französische Armee im Herbst und Winter 1855 heftig von verschiedenen Krankheiten, hauptsächlich Skorbut und Typhus, doch auch Cholera, heimgesucht. Die Probleme glichen denen der Briten im Winter zuvor, das heißt, die Situation der beiden Armeen hatte sich umgekehrt. Während die Briten die Hygiene und die medizinische Versorgung im vorangegangenen Jahr erheblich verbessert hatten, hatte sich die Lage bei den Franzosen verschlechtert, da es an Mitteln fehlte, der erhöhten Nachfrage durch die wachsende Zahl von Soldaten auf der Krim gerecht zu werden.

Unter diesen Umständen war es unrealistisch für Napoleon weiterzukämpfen. Er konnte die Aktivitäten bis zum folgenden Frühjahr einstellen und hoffen, dass sich seine Armee bis dahin erholt haben würde. Aber die Moral unter den Soldaten sank in bedenklichem Maße, wie aus ihren Heimatbriefen hervorging, und sie würden sich nicht mit einem weiteren Winter auf der Krim abfinden. So schrieb etwa Hauptmann Charles Thoumas am 13. Oktober, dass eine Rebellion nicht auszuschließen sei, wenn die Armee nicht bald nach Frankreich zurückgeholt werde. Frédéric Japy, ein Zuaven-Leutnant, glaubte ebenfalls, dass die Soldaten sich gegen ihre Offiziere erheben würden, denn sie seien nicht bereit, einen Krieg fortzusetzen, der, wie sie nun meinten, hauptsächlich britischen Interessen diene. Henri Loizillon befürchtete, die Franzosen würden durch einen neuen Feldzug in einen endlosen Krieg gegen ein Land verwickelt werden, das seiner schieren Größe wegen nicht zu besiegen sei. Diese Lektion hätte man seiner Ansicht nach bereits im Jahr 1812 lernen müssen.48

Die öffentliche Meinung in Frankreich würde den Feldzug nicht viel länger unterstützen. Die französische Wirtschaft war durch den Krieg stark in Mitleidenschaft gezogen worden: Der Handel war zurückgegangen; in der Landwirtschaft herrschte Arbeitskräftemangel infolge der Einberufungen, durch die bereits 310 000 Franzosen auf die Krim geschickt worden waren; und in den Städten kam es zu Engpässen bei der Lebensmittelversorgung, die sich im November 1855 weithin bemerkbar machten. Laut den Berichten der Präfekten und Bevollmächtigten drohten Bürgerunruhen, wenn der Krieg im Winter fortdauerte. Sogar die Provinzpresse, die 1854 am lautesten nach dem Krieg gerufen hatte, wollte ihn nun beendet sehen.49

Der auf öffentlichen Druck stets sensibel reagierende Napoleon verbrachte den Herbst damit, nach einer Möglichkeit zur Beendigung des Krieges zu suchen, mit der er die Briten nicht gegen sich aufbringen würde. Er war darauf bedacht, den »glorreichen Sieg«, symbolisiert durch den Fall von Sewastopol, politisch maximal zu nutzen, aber er wollte sein Bündnis mit Großbritannien, den Grundpfeiler seiner Außenpolitik, nicht gefährden. Napoleon lehnte die Idee eines umfassenderen Kriegs nicht grundsätzlich ab, und er war aufgeschlossen für Palmerstons Vision, mit Hilfe des Kriegs gegen Russland die europäischen Grenzen neu zu ziehen; er wollte dabei nationale Revolutionen fördern, um das System von 1815 zu beenden und Frankreich auf Kosten Russlands und der Heiligen Allianz eine beherrschende Position auf dem Kontinent zu verschaffen. Es widerstrebte ihm jedoch, sich an einem Feldzug gegen Russland im Kaukasus und in Kleinasien zu beteiligen, womit in erster Linie britischen Interessen gedient war. Nach Napoleons Ansicht konnte er die Fortsetzung eines groß angelegten Kriegs gegen Russland nur dann rechtfertigen, wenn sich seine großen Träume für den europäischen Kontinent verwirklichen ließen. Am 22. November schrieb er an Königin Viktoria und nannte drei Möglichkeiten: einen begrenzten, defensiven Zermürbungskrieg; Friedensverhandlungen auf der Grundlage der Vier Punkte; oder einen »Appell an alle Nationalitäten, die Wiederherstellung Polens, die Unabhängigkeit Finnlands und Ungarns«. Napoleon erklärte, er persönlich bevorzuge den Frieden, doch er sei bereit, über die Möglichkeit eines größeren europäischen Krieges zu sprechen, falls Großbritannien einen Frieden im Einklang mit den Vier Punkten nicht für akzeptabel halte. »Ich könnte eine Strategie verstehen«, schrieb er Viktoria, »die eine gewisse grandeur hätte und die angestrebten Ergebnisse auf ein Niveau mit den zu bringenden Opfern stellen würde.«

Napoleons Vorschlag war aller Wahrscheinlichkeit nach unaufrichtig ein geschicktes Manöver, um die Briten zur Teilnahme an Friedensgesprächen zu bewegen. Er wusste, dass sie einen nationalen Befreiungskrieg à la Napoleon auf dem Kontinent nicht dulden würden. Gleichwohl gibt es Anzeichen dafür, dass er sich mit dem umfassenderen Krieg einverstanden erklärt hätte, wäre er von Palmerston gezwungen worden, Farbe zu bekennen. 1858 sollte er Cowley mitteilen, dass Frankreich Frieden gewünscht habe und er den Krieg deshalb habe beenden müssen; andererseits wäre er, wenn Palmerston ihn zur Erneuerung des Krieges genötigt hätte, entschlossen gewesen, »erst dann Frieden zu schließen, wenn ein besseres Gleichgewicht für Europa hergestellt« worden wäre.50

Ungeachtet der Absichten des Kaisers nutzte sein Außenminister Walewski, der einen sofortigen Frieden nachdrücklich befürwortete, die Drohung, dass Napoleon einen Revolutionskrieg unterstützen werde, offenbar dazu, Großbritannien, Österreich und Russland auf der Basis der Vier Punkte an den Verhandlungstisch zu bringen. Napoleon beteiligte sich an diesem Spiel der Drohungen. Er schrieb an Walewski und Clarendon:

Ich möchte Frieden. Wenn Russland der Neutralisierung des Schwarzen Meeres zustimmt, werde ich allen Einwänden Englands zum Trotz mit ihm Frieden schließen. Aber wenn im Frühjahr kein Ergebnis vorliegt, werde ich mich an die Nationalitäten wenden, vor allem an die Nation der Polen. Der Krieg wird dann nicht auf dem Prinzip der Rechte Europas, sondern auf dem der Interessen individueller Staaten beruhen.

Napoleons Drohung mit einem Revolutionskrieg dürfte hohl gewesen sein, doch dies galt nicht für seine Ankündigung eines Separatfriedens mit Russland. Hinter der Aufnahme direkter Kontakte mit St. Petersburg stand die einflussreiche Partei, die vom Halbbruder des Kaisers, dem Duc de Morny, angeführt wurde. Dieser Eisenbahnspekulant betrachtete Russland als »Bergwerk, das von Frankreich ausgebeutet werden muss«. Im Oktober hatte Morny sich an Fürst Gortschakow gewandt, den russischen Botschafter in Wien und baldigen Außenminister, um ihm einen frankorussischen Handel anzubieten.51

Beunruhigt über diese französischen Initiativen, schalteten sich die Österreicher ein. Graf Buol, ihr Außenminister, trat an Bourqueney, den französischen Botschafter in Wien, heran. Zusammen mit Morny, der bei Gortschakow ermittelte, welche Bedingungen die Russen mutmaßlich akzeptieren würden, arbeiteten sie eine Reihe von Friedensvorschlägen aus, die Russland als österreichisches Ultimatum mit französischer und britischer Unterstützung »für die Integrität des Osmanischen Reiches« auferlegt werden sollten. Die frankoösterreichischen Bedingungen waren im Wesentlichen eine Neuformulierung der Vier Punkte, wenngleich Russland nun einen Teil Bessarabiens aufgeben sollte, damit es gänzlich von der Donau abgetrennt war. Zudem sollte die Neutralisierung des Schwarzen Meeres durch ein russisch-türkisches Abkommen statt durch einen allgemeinen Friedensvertrag erreicht werden. Obwohl die Russen die Vier Punkte bereits als Verhandlungsbasis akzeptiert hatten, wurde nun ein fünfter Punkt hinzugefügt, der den Siegermächten das Recht vorbehielt, auf der Friedenskonferenz »im Interesse Europas« weitere undefinierte Bedingungen geltend zu machen.52

Die französischen und österreichischen Friedensvorschläge trafen am 18. November in London ein. Die britische Regierung, die man lediglich über den Fortgang der österreichisch-französischen Vermittlungen informiert hatte, fühlte sich gekränkt durch die Art und Weise, wie die Vereinbarung zwischen den beiden katholischen Mächten zustande gekommen war, denn Palmerston argwöhnte, dass die vorgeschlagenen Bedingungen, die er auf jeden Fall ablehnen wollte, durch russischen Einfluss abgemildert worden seien. Von der Ostsee war keine Rede, und es gab keine Garantie gegen russische Aggressionen am Schwarzen Meer. »Wir halten uns an die großen Vertragsprinzipien, die für die künftige Sicherheit Europas erforderlich sind«, schrieb er am 1. Dezember an Clarendon. »Wenn die französische Regierung ihren Standpunkt ändert, wird sie die Verantwortung dafür tragen müssen und die Völker der beiden Länder werden darüber unterrichtet werden.« Clarendon ging wie immer behutsamer vor. Er befürchtete, Frankreich könnte einen Separatfrieden schließen und Großbritannien würde dann nicht in der Lage sein, allein weiterzukämpfen. Der Außenminister erwirkte ein paar geringfügige Zusätze die Neutralisierung des Schwarzen Meeres würde durch einen allgemeinen Vertrag festgelegt werden, und der fünfte Punkt sollte »besondere Bedingungen« enthalten , doch im Übrigen sprach er sich dafür aus, die französischen und österreichischen Vorschläge anzunehmen. Mit Hilfe der Königin überredete er Palmerston, sich auf den Plan einzulassen, zumindest vorläufig, um einen separaten frankorussischen Frieden zu verhindern. Der Zar, so Clarendon, werde die Vorschläge wahrscheinlich ohnehin ablehnen, so dass Großbritannien die Feindseligkeiten wiederaufnehmen und auf härtere Bedingungen hinwirken könne.53

Clarendon hatte mehr oder weniger recht. Der Zar war den Herbst hindurch in kriegerischer Stimmung. Laut einem hohen russischen Diplomaten hatte er »wenig Neigung, sich mit unseren Gegnern zu einigen«, wo diese kurz davor standen, die Mühsalen eines zweiten Winters auf der Krim zu erleiden. Napoleons Wunsch nach Frieden bewog den Zaren zu dem Schluss, dass Russland vielleicht noch immer eine Möglichkeit hatte, sich einen besseren Kriegsausgang zu sichern, wenn es so lange weiterkämpfte, bis sich die internen Probleme Frankreichs zuspitzten. In einem aufschlussreichen Brief an seinen Oberbefehlshaber Gortschakow erklärte Alexander, er habe keine Hoffnung auf eine baldige Beendigung der Feindseligkeiten. Russland werde den Krieg fortsetzen, bis Frankreich durch den Ausbruch von Unruhen aufgrund schlechter Ernten und der wachsenden Unzufriedenheit der unteren Schichten gezwungen sei, einen Friedensvertrag zu unterzeichnen:

Frühere Revolutionen haben stets auf diese Weise begonnen, und es könnte durchaus sein, dass eine allgemeine Revolution nicht fern ist. Dies betrachte ich als wahrscheinlichsten Ausgang des gegenwärtigen Krieges; weder von Napoleon noch von England erwarte ich ein aufrichtiges Verlangen nach Frieden zu Bedingungen, die mit unseren Ansichten vereinbar sind, und solange ich lebe, werde ich keine anderen akzeptieren.54

Niemand konnte den Zaren dazu bewegen, von seinem kriegerischen Standpunkt abzurücken. Seebach überbrachte ihm eine persönliche Botschaft Napoleons, der ihm dringend riet, die Vorschläge anzunehmen, denn falls die Feindseligkeiten gegen Russland wiederaufgenommen würden, riskiere er den Verlust der Hälfte seines Reiches. Dann traf die Nachricht ein, dass Schweden sich am 21. November schließlich auf einen Militärvertrag mit den Westmächten geeinigt habe eine bedrohliche Entwicklung für Russland, falls die Alliierten eine neue Kampagne in der Ostsee begannen. Sogar Friedrich Wilhelm IV. von Preußen erklärte, er könne genötigt sein, sich den Westmächten gegen Russland anzuschließen, wenn Alexander auf einem Krieg beharre, der »die Stabilität aller legitimen Regierungen« auf dem Kontinent bedrohe. »Ich bitte Dich, mein lieber Neffe«, schrieb er an Alexander, »bei Deinen Zugeständnissen so weit wie möglich zu gehen und die Konsequenzen für die wahren Interessen Russlands, für Preußen und ganz Europa sorgfältig abzuwägen, wenn dieser grässliche Krieg fortdauert. Einmal entfesselte subversive Leidenschaften könnten revolutionäre Folgen haben, die niemand abzusehen vermag.« Ungeachtet all dieser Warnungen blieb Alexander hartnäckig. »Wir haben die äußerste Grenze dessen erreicht, was möglich und mit Russlands Ehre vereinbar ist«, ließ er Gortschakow am 23. Dezember wissen. »Ich werde erniedrigende Bedingungen niemals akzeptieren, und ich bin überzeugt, dass jeder wahre Russe meine Einstellung teilt. Damit bleibt uns nur, uns zu bekreuzigen, geradeaus zu marschieren und unsere Heimat und unsere nationale Ehre durch unsere gemeinsamen Anstrengungen zu verteidigen.«55

Zwei Tage später erhielt Alexander endlich das österreichische Ultimatum mit den Bedingungen der Alliierten. Der Zar berief ein Treffen der bewährtesten Ratgeber seines Vaters ein, um die russische Antwort zu erörtern. Bei dieser Begegnung im Winterpalais von St. Petersburg setzten sich ältere und besonnenere Köpfe als der des Zaren durch. Den entscheidenden Beitrag lieferte Kisseljow, der reformistische Minister für Staatsdomänen, der für die 20 Millionen im Staatsbesitz befindlichen Bauern zuständig war. Er sprach offensichtlich auch für die anderen Berater: Russland habe nicht die Mittel, den Krieg fortzusetzen. Die neutralen Mächte seien dabei, Partei für die westliche Allianz zu ergreifen, und es wäre unüberlegt, das Risiko eines Kampfes gegen ganz Europa zu laufen. Auch die Wiederaufnahme der Feindseligkeiten gegen die Westmächte wäre unklug, denn Russland könne nicht siegen und werde den Feind veranlassen, ihm noch härtere Friedensbedingungen zu diktieren. Auch wenn die Mehrheit des russischen Volkes die patriotischen Gefühle des Zaren teile, könnten manche Elemente bei einem längeren Krieg durchaus ins Wanken geraten die Möglichkeit revolutionärer Unruhen sei nicht auszuschließen. Unter den Bauern, die die Hauptlast des Krieges trügen, seien bereits Anzeichen von Aufruhr zu beobachten. Man solle die österreichischen Vorschläge nicht ablehnen, sondern Ergänzungen ins Spiel bringen, um die territoriale Integrität des Landes zu bewahren. Der Rat stimmte Kisseljow zu. In der Antwort an die Österreicher akzeptierte man die Friedensbedingungen, wies jedoch die Abtretung Bessarabiens und die Hinzufügung des fünften Punktes zurück.

Die russischen Gegenvorschläge spalteten die Alliierten. Die Österreicher, die ein Interesse an Bessarabien hatten, drohten sogleich, die Beziehungen zu Russland abzubrechen. Die Franzosen hingegen waren nicht bereit, die Friedensverhandlungen »für ein paar Landfetzen in Bessarabien« zu gefährden, wie Napoleon in einem Brief vom 14. Januar an Viktoria erklärte. Die Königin war der Ansicht, man solle die Verhandlungen verschieben, um die Gegensätze zwischen Russland und Österreich auszunutzen. Es war ein guter Ratschlag, denn wie sein Vater fürchtete Alexander nichts mehr als einen Krieg mit Österreich, und vielleicht konnte nur diese Aussicht ihn bewegen, die Vorschläge anzunehmen. Am 12. Januar teilte Buol den Russen mit, dass Österreich die diplomatischen Beziehungen abbrechen werde, wenn sie die Friedensbedingungen nicht innerhalb von sechs Tagen akzeptierten. Friedrich Wilhelm tat seine Unterstützung für die österreichischen Vorschläge in einem Telegramm nach St. Petersburg kund. Nun war der Zar auf sich allein gestellt.

Am 15. Januar berief Alexander eine weitere Ratssitzung im Winterpalais ein. Diesmal kam der wichtigste Beitrag von Nesselrode. Er warnte den Zaren, dass die Alliierten ihre Streitkräfte im folgenden Jahr an der Donau und in Bessarabien, nahe der österreichischen Grenze, konzentrieren würden. Wahrscheinlich werde Österreich in die Kampfhandlungen gegen Russland hineingezogen, und Wiens Entscheidung könne Auswirkungen auf die neutralen Staaten haben, allen voran auf Schweden und Preußen. Wenn Russland sich weigere, nun Frieden zu schließen, laufe es Gefahr, einen Krieg gegen ganz Europa führen zu müssen. Der alte Fürst Woronzow, ehemals Vizekönig des Kaukasus, pflichtete Nesselrode bei. Mit emotionsgeladener Stimme bat er den Zaren, die österreichischen Bedingungen, so schmerzlich sie auch sein mochten, anzunehmen. Durch eine Fortsetzung des Kampfes sei nichts mehr zu erreichen, und Widerstand könne zu noch demütigenderen Bedingungen führen, vielleicht zum Verlust der Krim, des Kaukasus und gar Finnlands und Polens. Kisseljow setzte hinzu, dass das Volk von Wolhynien und Podolien in der Ukraine mit genauso hoher Wahrscheinlichkeit wie die Finnen und Polen gegen die russische Herrschaft aufbegehren werde, wenn der Krieg weitergehe und österreichische Soldaten sich jenen westlichen Grenzgebieten näherten. Verglichen mit diesen Gefahren, seien die in dem Ultimatum geforderten Opfer unerheblich. Ein Regierungsvertreter des Zaren nach dem anderen drängte ihn, die Friedensbedingungen zu akzeptieren. Nur Alexanders jüngerer Bruder, Großfürst Konstantin, sprach sich für den Krieg aus, aber er hatte kein Regierungsamt inne, und so patriotisch sein Appell an den Widerstandsgeist von 1812 auch geklungen haben mochte, fehlte ihm doch die Überzeugungskraft, um die Anwesenden umzustimmen. Der Zar hatte seine Entscheidung getroffen. Am folgenden Tag erhielten die Österreicher eine Note von Nesselrode, in der er sich mit ihren Friedensbedingungen einverstanden erklärte.56

* * *

In Sewastopol hatten sich die Soldaten auf einen zweiten Winter auf der Krim vorbereitet. Niemand wusste wirklich, ob sie erneut kämpfen mussten, aber allen möglichen Gerüchten zufolge sollten sie zu einem Frühjahrsfeldzug an die Donau oder in den Kaukasus oder in einen anderen Winkel des Russischen Reiches geschickt werden. »Was wird aus uns werden?«, schrieb der Bataillonskommandeur Joseph Fervel am 15. Dezember an Marschall de Castellane. »Wo werden wir uns nächstes Jahr wiederfinden? Das ist die Frage, die jeder stellt und die niemand beantworten kann.«57

Vorläufig widmeten sich die Männer auf den Anhöhen über Sewastopol dem täglichen Geschäft des Überlebens. Der Nachschub verbesserte sich, und man stellte den Soldaten stabilere Zelte und Holzhütten zur Verfügung. Die Bars und Läden von Kamiesch und Kadikoi waren stets gut besucht, und Mary Seacoles Hotel erfreute sich stürmischer Nachfrage. Verschiedene Amüsements dienten dem Zeitvertreib der Armee: Theater, Glücksspiel, Billard, Jagd und Pferderennen auf der Ebene, solange das Wetter es zuließ. Schiffsladungen von Touristen trafen aus Großbritannien ein, um die berühmten Schlachtstätten zu besichtigen und Souvenirs zu sammeln: ein russisches Gewehr oder Schwert oder einen Uniformfetzen, geplündert von den Leichen der Russen, die nach der Einnahme Sewastopols wochen- und sogar monatelang in den Schützengräben liegen blieben. »Nur die Engländer konnten auf solche Ideen kommen«, bemerkte ein französischer Offizier, der über die morbiden Marotten der Kriegstouristen erstaunt war.58

Gegen Ende Januar, als die Nachricht vom bevorstehenden Frieden eintraf, begannen die alliierten Soldaten immer häufiger mit den Russen zu fraternisieren. Prokofi Podpalow, der junge Mann, der an der Verteidigung des Redan teilgenommen hatte, gehörte zu den Russen, die an der Tschornaja lagerten, der Stätte der blutigen Schlacht vom August. »Täglich gingen wir freundschaftlicher mit den französischen Soldaten am anderen Flussufer um«, berichtete er. »Unsere Offiziere ermahnten uns, höflich zu ihnen zu sein. Gewöhnlich gingen wir zum Fluss und warfen ihnen ein paar Dinge hinüber (der Fluss war nicht breit): Kreuze, Münzen und so weiter; die Franzosen warfen uns Zigaretten, Lederbörsen, Messer, Geld zu. Und so sprachen wir miteinander: Die Franzosen sagten: ›Russki camarade!‹, und die Russen: ›Frantschi Brüder!‹« Irgendwann wagten die Franzosen, den Fluss zu überqueren und die Russen in deren Lager zu besuchen. Man trank und aß gemeinsam, sang einander Lieder vor und verständigte sich in Zeichensprache. Die Besuche wurden zu regelmäßigen Ereignissen. Eines Tages ließen die Franzosen Karten mit ihren Namen und Regimentern zurück und luden die Russen ihrerseits zu sich ein. Nach ein paar Tagen beschlossen Podpalow und mehrere seiner Kameraden, das französische Lager aufzusuchen. Sie waren verblüfft über den Anblick. »Überall war es sauber und ordentlich; an den Zelten der Offiziere wuchsen sogar Blumen«, erinnerte sich Podpalow. Die Russen machten ihre Freunde ausfindig und tranken in deren Zelten Rum mit ihnen. Danach begleiteten die französischen Soldaten ihre Gäste zurück zum Fluss, umarmten sie mehrmals und luden sie zu einem neuen Besuch ein. Eine Woche später begab sich Podpalow allein ins französische Lager, konnte seine Freunde jedoch nicht entdecken. Man teilte ihm mit, sie seien nach Paris abgereist.59

* Um der Fahnenflucht vorzubeugen, hatten die russischen Offiziere ihre Männer gewarnt, dass man ihnen, wenn sie zum Feind überliefen, die Ohren abschneiden und sie den Türken übergeben würde (deren militärischer Brauch es war, sich für abgetrennte Ohren eine Belohnung auszahlen zu lassen). Aber auch das hatte die Russen nicht daran gehindert, in großer Zahl zu desertieren.