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Alma

Bald zogen sich die alliierten Flotten auf dem Schwarzen Meer dahin wie ein beweglicher Wald aus Schiffsmasten, durchsetzt von mächtigen schwarzen Rauch- und Dampfwolken. Es war ein prächtiger Anblick »wie eine riesige Industriestadt auf dem Wasser«, bemerkte Jean Cabrol, der Arzt des französischen Befehlshabers Marschall Saint-Arnaud, der nun todkrank auf der Ville de France ruhte. Jeder französische Soldat hatte in seinem Rucksack Rationen Reis, Zucker, Kaffee, Schmalz und Zwieback für acht Tage bei sich, und an Bord der Transportschiffe erhielt er eine große Decke, die er zum Schlafen auf den Dielen ausbreitete. Die Briten besaßen viel weniger. »Das Schlimmste ist«, schrieb John Rose, ein Gemeiner im 50. Regiment, seinen Eltern aus Warna, »dass wir mit unserem Geld kein Glas Grog kaufen können. Wir leben von anderthalb Pfund Graubrot und einem Pfund Fleisch pro Tag, aber das reicht für Männer nicht.«1

Die Soldaten auf den Schiffen hatten keine Ahnung, wohin sie gebracht wurden. In Warna hatte man sie über die Kriegspläne im Dunkeln gelassen, weshalb alle möglichen Gerüchte kursierten. Manche glaubten, sie seien nach Tscherkessien unterwegs, andere tippten auf Odessa oder die Krim, doch keiner wusste wirklich Bescheid. Ohne Karten oder Kenntnisse der russischen Südküste, die sie von den Schiffen her betrachteten, als hätten sie die Gestade Afrikas vor sich, kam ihnen die Unternehmung vor wie ein Abenteuer aus dem Zeitalter der Entdeckungsreisen. Das Unwissen beflügelte die Fantasie der Männer, von denen einige glaubten, sie würden sich »im Dschungel« von Russland mit Bären und Löwen auseinandersetzen müssen. Kaum einer konnte sich ausmalen, wofür er kämpfte abgesehen davon, dass es galt, »die Russen zu schlagen« und »den Willen Gottes zu erfüllen«, um die Briefe von zwei französischen Soldaten in die Heimat zu zitieren. Nach den Ausführungen des Gemeinen Rose zu schließen, wussten viele Soldaten nicht einmal, wer ihre Verbündeten waren. »Wir sind 48 Segelstunden von Seebastopol entfernt«, schrieb er seinen Eltern, wobei sich sein West-Country-Dialekt auf seine Orthografie auswirkte,

und der Ort, wo wir landen, ist 6 Mailen von Seebastepol entfernt, und unser erster Einsatz wird gegen die Turken und russen sein. Es giebt 30 000 Turken und 40 000 östriecher außer den Frantsosen und Englendern und bald geht es los und wir alle glauben der Feint wird seine Wafen niederlegen, wenn er siet, welche Krefte er gegen sich hat. Und ich hoffe es gefällt Gott uns sicher aus der Schwiriegkeit rauszuholen und mich zu verschonen damit ich in die Heimat zurückkehren kann, dann werd ich euch vom Krieg erzälen.2

Beim Start der Expedition waren ihre Anführer unschlüssig, wo sie auf der Krim landen sollten. Am 8. September beratschlagte sich Raglan von dem Dampfer Caradoc mit Saint-Arnaud auf der Ville de France (Raglan, der nur einen Arm hatte, konnte nicht an Bord des französischen Schiffes gehen, und Saint-Arnaud, der unter Magenkrebs litt, war nicht in der Lage, sein Bett zu verlassen, weshalb ihr Gespräch über Mittelsmänner geführt werden musste). Saint-Arnaud erklärte sich schließlich mit Raglans Vorschlag für den Landeplatz einverstanden: der Kalamita-Bucht, einem ausgedehnten Sandstrand 45 Kilometer nördlich von Sewastopol. Am 10. September machte sich die Caradoc mit einer Gruppe hoher Offiziere auf, darunter Saint-Arnauds Stellvertreter General François Canrobert, um die Westküste der Krim auszukundschaften. Die Alliierten hatten geplant, Sewastopol durch einen Überraschungsangriff zu erobern, doch dies kam nach der Entscheidung, an einem so fernen Ort wie der Kalamita-Bucht vor Anker zu gehen, nicht mehr in Frage.

Um die Landungstrupps vor einer möglichen Attacke der Russen an ihrer Flanke zu schützen, beschlossen die alliierten Kommandeure, zuerst die Stadt Jewpatorija zu besetzen, den einzigen sicheren Ankerplatz an jenem Teil der Küste und eine nützliche Süßwasser- und Nachschubquelle. Vom Meer her war das auffälligste Merkmal des Ortes seine große Zahl von Windmühlen. Das wohlhabende Jewpatorija diente als Handels- und Getreideverarbeitungszentrum für die Bauernhöfe der Krimsteppe. Seine Bevölkerung von 9000 Menschen bestand hauptsächlich aus Krimtataren, Russen, Griechen, Armeniern und karaitischen Juden, die sich in der Ortsmitte eine stattliche Synagoge gebaut hatten.3

Die Besetzung von Jewpatorija die erste Landung der alliierten Heere auf russischem Boden war von geradezu komischer Einfachheit. Am Mittag des 13. September näherten sich die alliierten Flotten dem Hafen. Die Ortsbewohner versammelten sich am Kai oder schauten aus Fenstern und von Dächern zu, wie sich der kleine, weißhaarige Nikolai Iwanowitsch Kasnatschejew, der Kommandant, Gouverneur, Quarantäne- und Zollamtsvorsteher von Jewpatorija, in Galauniform und angetan mit allen Insignien zusammen mit einer Gruppe russischer Offiziere auf dem Hauptpier postierte, um die französischen und britischen »Parlamentäre« zu empfangen, die mit ihrem Dolmetscher zu dem Zweck an Land gingen, die Übergabe des Ortes auszuhandeln. In Jewpatorija gab es außer ein paar Soldaten im Genesungsurlaub kein russisches Militär, weshalb Kasnatschejew den bewaffneten Flotten der Westmächte allenfalls mit den Reglements seiner Ämter Widerstand leisten konnte. Genau das tat er gelassen, wenn auch sinnlos , indem er verlangte, dass sich die Besatzungstruppen zum Lazaretto begaben, um die Quarantäne zu durchlaufen. Am folgenden Tag wurde die Stadt von einer kleinen alliierten Einheit besetzt. Diese Männer verbürgten sich für die persönliche Sicherheit der Bevölkerung, versprachen, alles, was sie konsumierten, zu bezahlen, und stellten es den Bewohnern frei, sich innerhalb eines Tages zu entfernen. Viele in der Region Ansässige waren bereits geflüchtet, besonders die Russen, die Hauptverwalter und Grundbesitzer der Gegend, die in den Tagen seit der ersten Sichtung der westlichen Schiffe ihre Sachen auf Wagen gepackt und sich nach Perekop aufgemacht hatten, um zum Festland zurückzukehren, bevor die Krim abgeschnitten war. Die Russen hatten nicht weniger Angst vor den Tataren 80 Prozent der Krimbevölkerung als vor den Besatzern. Sobald die alliierten Flotten von der Krimküste aus entdeckt worden waren, hatten sich große Gruppen tatarischer Dorfbewohner gegen die russischen Herren erhoben und bewaffnete Banden gebildet, um den Westmächten zu helfen. Auf dem Weg nach Perekop wurden viele Russen von diesen Tatarenbanden, die behaupteten, Eigentum für die neu gegründete »türkische Regierung« in Jewpatorija zu beschlagnahmen, ausgeraubt und umgebracht.4

Überall an der Küste ergriff die russische Bevölkerung, gefolgt von den Griechen, in Panik die Flucht. Die Straßen waren verstopft, weil die Flüchtlinge mit ihren Karren und ihrem Vieh nach Norden zogen, dem Strom der russischen Soldaten entgegen, die sich von Perekop nach Süden vorarbeiteten. Simferopol war überfüllt mit Menschen aus den Küstengegenden, die fantastische Geschichten über die Größe der westlichen Flotten erzählten. »Viele Bewohner verloren den Kopf und wussten nicht, was sie tun sollten«, erinnerte sich Nikolai Michno, der in Simferopol, der Verwaltungshauptstadt der Halbinsel, wohnte. »Andere packten so rasch wie möglich ihre Sachen, um die Krim zu verlassen Sie stellten erschreckende Mutmaßungen darüber an, dass die Alliierten geradewegs nach Simferopol, das sich nicht verteidigen könne, weitermarschieren würden.«5

Dieses Gefühl der Schutzlosigkeit verstärkte die panische Flucht. Menschikow, der Befehlshaber der russischen Streitkräfte auf der Krim, war überrascht worden. Er hatte nicht damit gerechnet, dass die Alliierten so kurz vor Winterbeginn angreifen würden, und hatte es versäumt, genug Männer für die Verteidigung der Krim zu mobilisieren. Er verfügte über 38 000 Soldaten und 18 000 Seeleute an der Südwestküste sowie 12 000 Mann in Kertsch und Theodosia weit weniger als die Zahl der Angreifer, auf die sich die verängstigte Bevölkerung der Krim eingestellt hatte. Simferopol besaß nur ein einziges Bataillon.6

Am 14. September an diesem Tag waren die Franzosen 1812 in Moskau einmarschiert , gingen die alliierten Flotten in der Kalamita-Bucht südlich von Jewpatorija vor Anker. Von den Alma-Höhen noch weiter südlich, wo Menschikow seine Hauptmacht postiert hatte, um die Straße nach Sewastopol zu verteidigen, beschrieb Robert Chodasiewicz, der Hauptmann eines Kosakenregiments, das beeindruckende Schauspiel:

Als wir unsere Position auf den Anhöhen erreichten, hatten wir eines der schönsten Bilder vor uns, die es anzusehen mir je beschieden war. Die gesamte alliierte Flotte lag vor den Salzseen südlich von Jewpatorija, und nachts wurden ihre Mastenwälder mit verschiedenfarbenen Laternen beleuchtet. Männer wie Offiziere waren stumm vor Erstaunen über eine so große Zahl von nebeneinander ankernden Schiffen, zumal viele von ihnen das Meer kaum jemals zu Gesicht bekommen hatten. Die Soldaten sagten: »Sehet, der Ungläubige hat noch ein heiliges Moskau auf den Wellen erbaut!«, wobei sie die Schiffsmasten mit den Kirchtürmen jener Stadt verglichen.7

Die Franzosen gingen als Erste von Bord, und ihre Vorauskommandos schlugen in regelmäßigen Abständen voneinander bunte Zelte am Strand auf, um die unterschiedlichen Landeplätze für die Infanteriedivisionen von Canrobert, General Pierre Bosquet und Prinz Napoleon, dem Cousin des Kaisers, zu markieren. Vor Einbruch des Abends waren alle mit ihren Geschützen an Land. Die Männer hissten die französische Flagge und machten sich auf die Suche nach Feuerholz und Nahrung. Einige kehrten mit Enten und Hühnern zurück und hatten ihre Wasserbehälter in nahegelegenen Höfen mit Wein gefüllt. Paul de Molènes und seine Spahis-Kavallerie verfügten für ihre erste Mahlzeit auf russischem Boden weder über Fleisch noch Brot, »aber wir hatten ein paar Zwiebäcke und eine Flasche Champagner, die wir zur Feier unseres Sieges aufbewahrt hatten«.8

Die britische Landung war ein Chaos, verglichen mit jener der Franzosen ein Kontrast, der während des Krimkriegs nur zu vertraut werden sollte. Man hatte keine Pläne für eine friedliche Landung getroffen, sondern vorausgesetzt, dass man sich auf dem Strand vorkämpfen müsse, weshalb die Infanterie bei noch ruhiger See als Erste von Bord ging; zu dem Zeitpunkt, als die Briten versuchten, ihre Kavallerie an Land zu bringen, war Wind aufgekommen, und die Pferde mühten sich in der starken Brandung ab. Saint-Arnaud, der mit seiner Zeitung bequem auf einem Stuhl am Strand saß, beobachtete die Szene mit steigender Frustration, da seine Pläne für einen Überraschungsangriff auf Sewastopol durch die Verzögerung durchkreuzt wurden. »Die Engländer haben die unerfreuliche Angewohnheit, sich stets zu verspäten«, schrieb er dem Kaiser.9

Es dauerte fünf Tage, bis die britische Infanterie und Kavallerie die Schiffe verlassen hatten. Viele der Männer waren an Cholera erkrankt und mussten von Bord getragen werden. Da man keine Transportmittel für Gepäck und Ausrüstung besaß, wurden Trupps ausgesandt, die auf den Höfen der örtlichen Tataren Wagen und Karren beschlagnahmten. Außer den drei Tagesrationen, die sie in Warna erhalten hatten, hatten die Männer weder Nahrungsmittel noch Wasser, und von den Schiffen wurden keine Zelte und Rucksäcke entladen, so dass die Soldaten ihre ersten Nächte ohne Schutz vor dem heftigen Regen und die folgenden Tage in sengender Hitze verbringen mussten. »Wir nahmen nichts außer unseren Decken und Mänteln mit an Land«, schrieb George Lawson, ein Militärarzt, seinen Angehörigen. »Wir leiden schrecklich unter Wassermangel. Am ersten Tag war es sehr heiß; wir hatten nichts zu trinken außer Wasser aus Pfützen vom Regen der Vornacht; und auch jetzt ist das Wasser so schmutzig, dass du, wenn du es in ein Glas gießt, den Boden nicht sehen kannst.«10

Endlich, am 19. September, waren die Briten so weit vorbereitet, dass der Vormarsch auf Sewastopol bei Tagesanbruch beginnen konnte. Die Franzosen marschierten rechts, dem Meer am nächsten, und ihre blauen Uniformen hoben sich von den scharlachroten Uniformröcken der Briten ab, während sich die Flotte neben ihnen südwärts bewegte. Sechseinhalb Kilometer breit und knapp fünf Kilometer lang, war die vorrückende Kolonne »emsig und geschäftig«, schrieb Frederick Oliver, Kapellmeister des 20. Regiments, in seinem Tagebuch. Den kompakten Reihen der Soldaten folgte ein riesiger Tross aus »Kavallerie, Geschützen, Munition, Pferden, Jungstieren, Packpferden, Mulis, Dromedarherden, einer Ochsenherde und einer enormen Herde aus Schafen und Ziegen, die alle von Suchtrupps in der Umgebung konfisziert worden waren«. Gegen Mittag löste sich die Kolonne unter der prallen Sonne auf, denn durstige Soldaten blieben zurück oder suchten Wasser in nahen Tatarensiedlungen. Als sie mitten am Nachmittag den Fluss Bulganak, 12 Kilometer von der Kalamita-Bucht entfernt, erreichten, brach die Disziplin völlig zusammen, und die britischen Soldaten warfen sich in den »schlammigen Strom«.11

An den Hängen, die südlich vom Fluss anstiegen, bot sich den Briten der erste Blick auf die Russen: auf 2000 Kosaken-Kavalleristen, die das Feuer auf einen Kundschaftertrupp von den 13. Leichten Dragonern eröffneten. Der Rest der Leichten Brigade, des Stolzes der britischen Kavallerie, schickte sich an, die Kosaken anzugreifen, die ihnen zahlenmäßig um das Doppelte überlegen waren, doch Raglan erspähte hinter den russischen Reitern eine beachtliche Infanterieeinheit, die von seinen Kavalleriebefehlshabern, Lord Lucan und Lord Cardigan, die sich weiter unten am Hügel befanden, nicht wahrgenommen werden konnte. Raglan ordnete den Rückzug an, und die Leichte Brigade führte seinen Befehl aus, während die Kosaken sie verhöhnten und beschossen, wobei sie mehrere Kavalleristen verwundeten,* bevor sie ihrerseits zurück nach Süden zum Fluss Alma galoppierten, wo die Russen ihre Stellungen auf den Anhöhen bezogen hatten. Der Vorfall war eine Demütigung für die Leichte Brigade, die einer Auseinandersetzung mit den zerlumpt wirkenden Kosaken hatte ausweichen müssen, und das vor den Augen der britischen Infanterie. Diese Männer aus verarmten Familien und aus der Arbeiterklasse reagierten schadenfroh auf die Erniedrigung der elegant gekleideten und bequem auf ihren Pferden sitzenden Kavalleristen. »Geschieht ihnen ganz recht, den albernen, eingebildeten Mistkerlen«, schrieb ein gemeiner Soldat in einem Brief nach Hause.12

Die Briten übernachteten an den Südhängen des Bulganak, von wo sie die fünf Kilometer entfernten russischen Truppen, die an den Alma-Höhen konzentriert waren, erkennen konnten. Am folgenden Morgen würden sie ins Tal hinuntermarschieren und die Russen angreifen, deren Verteidigungspositionen sich auf der anderen Seite der Alma befanden.

Menschikow hatte beschlossen, die Mehrheit seiner Landstreitkräfte zur Verteidigung der Alma-Höhen aufzubieten, des letzten natürlichen Hindernisses auf dem Weg des Feindes nach Sewastopol, das seine Soldaten seit dem 15. September besetzten, doch seine Sorge vor einer zweiten alliierten Landung bei Kertsch oder Theodosia (eine Sorge, die der Zar teilte) veranlasste ihn, eine große Reserve zurückzuhalten. Mithin warteten 35 000 russische Soldaten mit 100 Geschützen auf den Alma-Höhen weniger als die 60 000 westlichen Kämpfer, doch mit dem wesentlichen Vorteil der Hügelposition. Die schwersten Geschütze waren auf einer Reihe von Befestigungen oberhalb der Straße nach Sewastopol aufgestellt, die den Fluss drei Kilometer landeinwärts überquerte, doch es gab keine Kanonen auf den Klippen in Richtung Meer, die nach Menschikows Ansicht zu steil waren, als dass der Feind sie hätte erklimmen können. Die Russen hatten es sich bequem gemacht, nachdem sie die Tataren aus dem nahegelegenen Dorf Burljuk vertrieben und es geplündert hatten. Sie schleppten Bettwäsche, Türen, Holzbretter und Äste hinauf auf die Höhen, wo sie provisorische Hütten für sich selbst bauten und sich an Weintrauben aus den verlassenen Höfen gütlich taten. Sie füllten die Häuser mit Heu und Stroh, um sie niederbrennen zu können, wenn der Feind vorrückte. Die russischen Befehlshaber waren zuversichtlich, dass sie ihre Stellungen wenigstens eine Woche lang behaupten konnten Menschikow hatte dem Zaren schriftlich versprochen, dass er die Anhöhen sechsmal so lange halten werde , um kostbare Zeit zu gewinnen, in der man die Befestigung von Sewastopol verstärken und den Feldzug in den Winter, die beste Waffe der Russen gegen die Angreifer, verlagern konnte. Viele Offiziere waren siegessicher. Sie scherzten darüber, dass die Briten nur dazu taugten, gegen »Wilde« in ihren Kolonien zu kämpfen, brachten Trinksprüche zum Gedenken an 1812 aus und sprachen davon, die Franzosen zurück ins Meer zu treiben. Menschikow hatte so wenig Zweifel, dass er Gruppen von Sewastopoler Damen einlud, sich die Schlacht zusammen mit ihm von den Alma-Höhen anzuschauen.13

Die russischen Soldaten waren nicht so selbstbewusst. Ferdinand Pflug, ein deutscher Arzt in der Armee des Zaren, meinte: »Alle schienen überzeugt zu sein, dass die Schlacht am folgenden Tag mit einer Niederlage enden würde.«14 Kaum einer der Männer hatte je gegen die Armee einer europäischen Großmacht gekämpft. Der Anblick der gewaltigen alliierten Flotte, die unmittelbar vor der Küste lag und bereit war, die Landstreitkräfte des Feindes mit ihren schweren Kanonen zu unterstützen, machte ihnen deutlich, dass sie es mit einem überlegenen Gegner zu tun hatten. Während sich die meisten ihrer hohen Offiziere an die Kriege gegen Napoleon erinnerten, konnten die jüngeren Männer, die tatsächlich in die Kämpfe verwickelt sein würden, nicht auf solche Erfahrungen zurückgreifen.

Wie alle Soldaten am Vorabend einer großen Schlacht versuchten sie, ihre Furcht vor den Kameraden zu verbergen. Als die Tageshitze von der Kälte des Abends verdrängt wurde, bereiteten sich die Männer beider Heere auf den Morgen vor. Für viele würden dies die letzten Stunden sein. Sie zündeten Feuer an, kochten sich ihr Essen und warteten. Die meisten nahmen wenig zu sich. Manche widmeten sich dem Ritual, ihre Musketen zu reinigen, andere schrieben Briefe nach Hause, viele beteten. Der folgende Tag war das Datum, an dem man nach dem orthodoxen Kalender die Geburt der Heiligen Jungfrau feierte; Gottesdienste wurden abgehalten, in denen man ihren Segen erbat. Gruppen von Soldaten saßen an den Feuern und unterhielten sich bis spät in die Nacht. Die älteren erzählten den jüngeren Geschichten über vergangene Schlachten. Man trank und rauchte, scherzte und versuchte, ruhig zu wirken. Hin und wieder trieben die Klänge von Gesang über die Ebene hinweg. Von der Sewastopoler Straße her, wo Menschikow sein Zelt hatte aufschlagen lassen, waren das Orchester und der Chor des Tarutiner-Regiments zu hören. Tiefe Bässe sangen die Zeilen eines von General Gortschakow komponierten Liedes:

Er allein ist wert des Lebens,

Der stets bereit zu sterben;

Der rechtgläubige russische Krieger

Schlägt stracks auf den Feind ein.

Die Franzosen, die Engländer na und?

Und die dummen türkischen Reihen?

Kommt schon, ihr Ungläubigen,

Wir fordern euch zum Kampf heraus!

Wir fordern euch zum Kampf heraus!

Allmählich füllte sich der dunkle Himmel mit Sternen, die Feuer erstarben, und das Summen der Gespräche wurde leiser. Die Männer legten sich hin, versuchten meist vergebens zu schlafen, und ein gespenstisches Schweigen, durchbrochen nur vom Bellen hungriger, durch das verlassene Dorf streifender Hunde, breitete sich im Tal aus.15

Um drei Uhr konnte Chodasiewicz nicht mehr schlafen. Es war noch dunkel. Im russischen Lager hatten sich die Soldaten »um die riesigen Feuer versammelt, die mit der Beute aus dem Dorf Burljuk angezündet worden waren«.

Nach kurzer Zeit stieg ich den Hügel hinauf (denn unser Bataillon war in einer Schlucht stationiert), um einen Blick auf das Feldlager der alliierten Heere zu werfen. Doch kaum etwas außer den Feuern – und hin und wieder einem dunklen Schatten, wenn jemand an ihnen vorbeiging – war zu sehen. Die Stille barg wenig Anzeichen des kommenden Haders. Beide Armeen lagen sozusagen Seite an Seite. Wie viele – oder welche – zu ihrer letzten Ruhe geschickt werden würden, war nicht zu beantworten. Unwillkürlich drängte sich mir die Frage auf, ob ich einer von ihnen sein würde.16

Um vier Uhr rührte sich das französische Lager. Die Männer kochten ihren Kaffee und witzelten über die Prügel, die sie den Russen verabreichen würden. Dann erging der Befehl, die Rucksäcke zu schultern und Aufstellung zu nehmen, um den Befehlen der Offiziere zu lauschen. »Zum Donnerwetter!«, begann der Hauptmann des 22. Regiments. »Sind wir Franzosen oder nicht? Das 22. wird sich heute auszeichnen, oder ihr alle seid Schurken. Wenn einer von euch heute zurückbleibt, werde ich ihm mein Schwert in den Bauch jagen. Reiht euch nach rechts auf!« Im russischen Lager waren die Männer ebenfalls im Morgengrauen aufgestanden und hörten den Reden ihrer Kommandeure zu: »Also, Leute, der Augenblick ist endlich gekommen, obwohl wir lange darauf warten mussten; wir werden unser russisches Land nicht entehren; wir werden den Feind zurücktreiben und unseren guten Vater, Batjuschka den Zaren, erfreuen; dann können wir mit den Lorbeeren, die wir verdient haben, in unsere Heime zurückkehren.« Um sieben Uhr wurde im russischen Lager zur Mutter Gottes gebetet, damit sie gegen den Feind Hilfe leiste. Priester trugen Ikonen durch die Reihen, während sich Soldaten tief verneigten und im Gebet bekreuzigten.17

* * *

Kurz darauf versammelten sich die alliierten Heere auf der Ebene, die Briten zur Linken der Sewastopoler Straße, die Franzosen und Türken zur Rechten, bis hin zu den Küstenfelsen. Es war ein klarer, sonniger Tag mit lauer Luft. Vom Telegrafenhügel aus, wo Menschikows elegant gekleidete Zuschauer in Kutschen eingetroffen waren, um sich das Drama anzusehen, waren Details der britischen und französischen Uniformen gut zu erkennen; auch konnten sie die Trommeln, Signalhörner und Dudelsäcke und sogar das Klirren von Metall und das Wiehern der Pferde hören.18

Die Russen eröffneten das Feuer, als sich die Alliierten auf 1800 Meter genähert hatten die Stelle war mit Stangen markiert, damit die Kanoniere wussten, dass sich die vorrückenden Soldaten in Schussweite befanden , aber die Briten und Franzosen marschierten weiterhin auf den Fluss zu. Nach dem Plan, auf den sich die Alliierten am Vortag geeinigt hatten, würden die beiden Heere gleichzeitig auf breiter Front vorrücken und versuchen, die Flanke des Feindes zur Linken, also landeinwärts, aufzurollen. Doch im letzten Moment beschloss Raglan, den britischen Vormarsch zu verzögern, bis die Franzosen auf der rechten Seite durchgebrochen waren. Er befahl seinen Soldaten, sich in Reichweite der russischen Geschütze auf den Boden zu legen, damit sie, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen war, zum Fluss laufen konnten. Sie blieben anderthalb Stunden lang, von 13.15 bis 14.45 Uhr, liegen und verloren Männer, da sich die russischen Kanoniere allmählich einschossen. Es war ein erstaunliches Beispiel für Raglans Unschlüssigkeit.19

Während die Briten auf dem Boden lagen, erreichte Bosquets Division den Fluss unweit des Meeres, wo die Felsen so steil, fast 50 Meter, anstiegen, dass Menschikow es für unnötig gehalten hatte, die Position mit Artillerie zu verteidigen. An der Spitze von Bosquets Division war ein Regiment Zuaven, hauptsächlich aus Nordafrika, die in Algerien Erfahrung mit Gebirgskämpfen gesammelt hatten. Sie ließen ihre Rucksäcke am Ufer zurück, schwammen durch den Fluss und kletterten unter dem dichten Schutz der Bäume die Klippen hinauf. Die Russen waren erstaunt über die Behändigkeit der Zuaven und verglichen sie mit Affen, da sie die Bäume nutzen konnten, um die Felsen zu erklimmen. Auf dem Plateau versteckten sich die Zuaven hinter Steinen und Büschen, um die Verteidiger vom Moskauer Regiment einen nach dem anderen abzuschießen, bis ihre eigenen Verstärkungen eintrafen. »Die Zuaven waren so gut versteckt«, erinnerte sich Noir, der die Anhöhe als einer der Ersten erreichte, »dass ein gut ausgebildeter Offizier, der den Schauplatz betrat, kaum in der Lage gewesen wäre, sie mit eigenen Augen zu entdecken.« Dem Beispiel der Zuaven folgend, kletterten weitere französische Soldaten die Klippen hinauf. Sie zogen zwölf Geschütze durch eine Schlucht nach oben die Männer schlugen ihre Pferde mit Schwertern, wenn die Tiere sich weigerten, den felsigen Pfad hinaufzusteigen und trafen gerade rechtzeitig ein, um die zusätzlichen Infanteristen und Artilleristen abzuwehren, die Menschikow bei dem verzweifelten Versuch, seine linke Flanke nicht aufrollen zu lassen, aus dem Zentrum herangezogen hatte.20

Die Lage der Russen war so gut wie hoffnungslos. Als ihre Artillerie erschien, hatten Bosquets gesamte Division und viele Türken bereits das Plateau erklommen. Die Russen besaßen mehr Geschütze 28, verglichen mit 12 der Franzosen , doch die französischen Waffen hatten ein größeres Kaliber und eine größere Reichweite. Außerdem hielten Bosquets Gewehrschützen die russischen Kanoniere in einer Distanz, aus der nur die schwereren französischen Geschütze Wirkung zeitigten. Einige der Zuaven, im Bewusstsein ihres Vorteils und vom Kampf berauscht, tanzten eine Polka auf dem Schlachtfeld, um den Feind zu verhöhnen, weil die russischen Waffen sie nicht erreichen konnten. Unterdessen hämmerten die Kanonen der alliierten Flotte auf die russischen Stellungen an den Felsen ein, was die Moral vieler Soldaten und Offiziere schwächte. Als die erste russische Artilleriebatterie eintraf, stellten die Männer fest, dass sich die Reste des Moskauer Regiments bereits unter dem schweren Feuer der Zuaven zurückzogen, denn deren Minié-Gewehre besaßen eine größere Reichweite und Präzision als die altmodischen Musketen der russischen Infanterie. Der Kommandeur der linken Flanke, Generalleutnant W. I. Kirjakow, war einer der unfähigsten in der zaristischen Armee und selten in einem nüchternen Zustand. Mit einer Flasche Champagner in der Hand, befahl Kirjakow dem Minsker Regiment, auf die Franzosen zu schießen, setzte es jedoch irrtümlich gegen die Kiewer Husaren ein, die unter dem Feuer zurückfielen. Das Minsker Regiment, das kein Vertrauen zu seinem betrunkenen Kommandeur hatte und durch die tödliche Genauigkeit der französischen Gewehre entnervt wurde, wich ebenfalls zurück.21

Im Zentrum des Schlachtfelds waren inzwischen die zwei anderen französischen Divisionen, angeführt von Canrobert und Prinz Napoleon, angesichts des schweren russischen Feuers vom direkt gegenüberliegenden Telegrafenhügel nicht in der Lage, die Alma zu überqueren. Prinz Napoleon schickte General de Lacy Evans zu seiner Linken eine Mitteilung, in der er die Briten aufforderte, vorzurücken und den Druck auf die Franzosen zu mindern. Raglan wartete immer noch auf den Erfolg des französischen Angriffs, bevor er britische Soldaten ins Feld schickte, und wies Evans zunächst an, keine Befehle der Franzosen entgegenzunehmen. Schließlich gab er aber Evans’ Forderungen nach und ließ die Infanterie der Leichten sowie der 1. und 2. Division vorrücken, ohne jedoch zu erklären, zu welchem Zweck. Der Befehl war typisch für Raglans Denkweise, die im vergangenen Zeitalter der Napoleonischen Kriege wurzelte, als die Infanterie für primitive Direktangriffe auf vorbereitete Positionen eingesetzt wurde.

Sobald sich die Männer vom Boden erhoben, steckten die russischen Kosaken-Plänkler, die sich in den Weingärten versteckt hatten, das Dorf Burljuk in Brand, um die Briten aufzuhalten, doch in Wirklichkeit ließen sie so nur eine Rauchwolke aufwirbeln, die den russischen Schützen das Zielen erschwerte. Die Briten rückten in schmalen Reihen vor, um die Leistung ihrer Gewehre zu maximieren; allerdings war es in dieser Formation nicht leicht, die Männer ohne effektive Linienkommandeure auf unebenem Terrain zusammenzuhalten. Die Russen waren verblüfft beim Anblick der dünnen roten Linie, die aus dem Rauch auftauchte. »Es war höchst ungewöhnlich«, erinnerte sich Chodasiewicz. »Wir hatten noch nie Soldaten gesehen, die in zwei Mann tiefen Reihen kämpften. Auch hielten wir es nicht für möglich, Soldaten mit so stabiler Moral zu finden, dass sie unsere massiven Kolonnen in dieser scheinbar schwachen Formation angreifen konnten.«

Die vorrückenden Reihen lösten sich auf, als sie das brennende Dorf und die Weingärten durchquerten. Ein Windhund, der Hasen jagte, lief um sie herum. Die Briten schoben sich in kleinen Gruppen vor und vertrieben die russischen Plänkler aus dem Dorf und den Weingärten. »Wir eilten weiter und jagten die Plänkler des Feindes vor uns her«, wusste der Gemeine Bloomfield vom Derbyshire Regiment zu berichten. »Einige der Plänkler stiegen sogar auf Bäume, um besser auf uns schießen zu können, doch wir entdeckten sie und holten sie von ihren Ästen herunter. Manche blieben beim Sturz mit den Füßen oder der Kleidung an einem Teil des Baumes hängen und verharrten dort stundenlang.« In der Nähe des Flusses gerieten die Briten in die Reichweite der russischen Waffen. Männer fielen schweigend um, wenn sie getroffen wurden, doch der Rest der Linie bewegte sich weiter. »Am erstaunlichsten war für mich die Stille, mit welcher der Tod sein Werk tat«, erinnerte sich Generalleutnant Brown von der Leichten Division. »Kein Laut ließ die Ursache erkennen; ein Mann stürzte, rollte auf die Seite oder fiel aus den Reihen in den Staub. Man wusste, dass die kleine Kugel ihr Ziel gefunden hatte, doch es schien in rätselhafter Stille zu geschehen sie verschwanden und blieben zurück, während wir weitergingen.«22

Unter schwerem Beschuss erreichten die Männer den Fluss und kamen in Gruppen am Rand des Wassers zusammen, um ihr Gepäck abzuladen, da sie nicht wussten, wie tief der Fluss war. Ihre Gewehre und Patronentaschen über den Kopf hebend, wateten einige zum anderen Ufer, aber andere mussten schwimmen, und manche ertranken in der schnellen Strömung. Gleichzeitig beschossen die Russen sie mit Kartätschen und Granaten. Vierzehn russische Kanonen befanden sich auf den Erdwällen und 24 auf beiden Seiten der Straßenbrücke. Als der Gemeine Bloomfield in der Nähe der Brücke an der Alma ankam, »war der Fluss rot vor Blut«. Viele Soldaten waren zu verängstigt, um in das mit Leichen übersäte Wasser zu steigen. Sie drängten sich am Ufer, während Offiziere hin und her galoppierten, auf die Männer einbrüllten, zur anderen Seite zu schwimmen, und manchmal sogar drohten, sie mit ihren Säbeln niederzuschlagen. Nachdem sie den Fluss überquert hatten, ging jegliche Ordnung verloren. Kompanien und Regimenter vermischten sich miteinander, und aus zwei Mann tiefen Reihen war nichts als eine Menschenmenge geworden. Die Russen eilten auf beiden Seiten der Großen Redoute den Hügel hinunter und feuerten auf die Briten. Deren berittene Offiziere trieben die Männer an, sich neu zu formieren. Aber die Soldaten waren nach der Überquerung des Flusses zu erschöpft und blieben im Schutz des Flussufers, wo sie von den Anhöhen aus nicht gesehen werden konnten. Manche setzten sich hin und holten ihre Wasserkanister hervor; andere begannen, Brot und Fleisch zu essen.

Generalmajor Codrington, der die 1. Brigade der Leichten Division befehligte, war sich der Gefahr der Situation bewusst und unternahm einen verzweifelten Versuch, seine Männer neu zu formieren. Er gab seinem weißen Araberhengst die Sporen, jagte den Hügel hinauf und schrie die Infanteristen an: »Bajonette aufpflanzen! Das Ufer rauf und vorwärts zum Angriff!« Bald kletterte Codringtons gesamte Brigade die Regimenter bunt durcheinandergewürfelt in einer dichten Menge den Kurgan-Hügel hinauf. Subalternoffiziere versuchten nicht mehr, Linien zu bilden dazu fehlte die Zeit , sondern drängten ihre Männer: »Nun kommt schon!« Nachdem sie auf die offenen Hänge geklettert waren, rannten die meisten Männer unter Gebrüll auf die russischen Geschütze in der 500 Meter hügelaufwärts gelegenen Großen Redoute zu. Die russischen Kanoniere staunten beim Anblick dieser britischen Horde 2000 Mann, die den Hügel hinaufstürmten und fanden mühelos ihre Ziele. Ein Teil der Vorhut der Leichten Division erreichte die Verschanzungen der Großen Redoute. Soldaten kletterten über die Brüstungen und durch die Schießscharten, nur um von den Russen, die hastig ihre Kanonen zurückzogen, niedergeschossen oder umgehauen zu werden. Innerhalb von Minuten wimmelte es in der Großen Redoute von Männern, die auf den Brüstungen kämpften oder jubelnd ihre Fahnen schwenkten, als zwei russische Kanonen in alldem Durcheinander erbeutet wurden.

Plötzlich jedoch standen die Briten vier Bataillonen (rund 3000 Mann) des Wladimir-Regiments gegenüber, die vom offenen höheren Terrain in die Redoute strömten, während weitere russische Kanonen von oben am Kurgan-Hügel Granaten abfeuerten. Mit einem lauten »Hurra!« stürmte die russische Infanterie, die Bajonette erhoben, voran, trieb die Briten den Hügel hinunter und beschoss sie beim Rückzug. Die Leichte Division machte kehrt, um sich zur Wehr zu setzen, doch plötzlich ertönte ein Signal, wiederholt von den Trompetern aller Regimenter, mit dem das Feuer eingestellt wurde. Ein paar fatale Augenblicke lang kam es zu einer versehentlichen Feuerpause auf britischer Seite: Ein ungenannter Offizier hatte die Russen mit den Franzosen verwechselt und seinen Männern befohlen, die Waffen ruhen zu lassen. Als man den Fehler korrigierte, hatten die Wladimir-Soldaten bereits die Oberhand gewonnen; sie marschierten stetig den Hügel hinunter, und überall lagen tote und verwundete Briten. Nun gaben die Trompeter tatsächlich den Befehl zum Rückzug, und die ganze Horde der Leichten Division (oder was noch von ihr übrig war) rannte bergab zum schützenden Flussufer.

Der Ansturm war unter anderem deshalb gescheitert, weil es keine zweite Welle gegeben hatte. Da weitere Befehle von Raglan ausblieben (noch ein Fehler seinerseits), hatte der Herzog von Cambridge die Gardisten davon abgehalten, die Leichte Division zu unterstützen. Evans, zu seiner Rechten, setzte die Gardisten erneut in Bewegung, indem er dem Herzog den Befehl zum Vormarsch erteilte. Dabei tat er so, als sei die Anordnung von Raglan ausgegangen, der jedoch nirgends zu sehen war.**

Die drei Regimenter der Gardebrigade (Grenadiers, Scots Fusiliers und Coldstream) wateten durch den Fluss. Mit ihren roten Waffenröcken und ihren Bärenfellmützen boten sie einen imponierenden Anblick, doch auf der anderen Seite des Flusses brauchten sie lange, um sich neu zu formieren. Verärgert über ihr Zaudern, ordnete Sir Colin Campbell, der Befehlshaber der Hochlandbrigade, den sofortigen Vormarsch an. Campbell, der den Ansturm mit Bajonetten schätzte, befahl seinen Männern, ihre Gewehre erst abzufeuern, wenn sie »weniger als einen Meter von den Russen« entfernt waren. Die Scots Fusiliers, die den Fluss vor den anderen Gardisten überquert hatten, eilten sogleich den Hügel hinauf und wiederholten damit den Fehler der Leichten Division, die in jenem Moment von der russischen Infanterie verfolgt wurde und den Hügel hinunterlief. Die beiden Menschenmengen stießen direkt aufeinander, wobei die Scots Fusiliers die Hauptleidtragenden der Kollision waren. Männer wurden umgeworfen, Bärenfellmützen flogen in alle Richtungen, weshalb das Regiment, als es nach dem Zusammenstoß weiter in Richtung der Großen Redoute eilte, nur noch die halbe Mannschaftsstärke aufwies und in einem chaotischen Zustand war. Mitten in dieser Schar befand sich Hugh Annesley, ein 23-jähriger Fähnrich, der die dann folgenden Ereignisse beschrieb:

Plötzlich schienen die Russen die Redoute erneut zu bemannen, ihr Feuer wurde heftiger, und das 23. kam geballt herunter und rannte direkt auf unsere Reihe zu … Ich rief immer wieder: »Vorwärts, Gardisten«, und wir waren 30 oder 40 Meter von der Verschanzung entfernt, als eine Musketenkugel mich voll in den Mund traf und ich dachte, es sei mit mir vorbei. Da ritt unser Adjutant mit dem Revolver in der Hand heran und gab uns den Befehl zum Rückzug. Ich drehte mich um und lief so schnell ich konnte den Hügel hinunter zum Fluss. Die Kugeln wurden nun heftiger als je auf uns abgefeuert, und ich war sicher, dass ich nicht davonkommen würde, ohne noch einmal getroffen zu werden. Auf halber Strecke stolperte ich, fiel hin und war überzeugt, wieder angeschossen worden zu sein, doch ich konnte aufstehen und rannte weiter. Hier verlor ich mein Schwert und meine Mütze. Schließlich erreichte ich das Ufer und fand Schutz. Dort waren schon Mengen von Soldaten.

Annesley war schwer verwundet: Die Kugel, die in seine linke Wange eingedrungen war, hatte seinen rechten Mundwinkel durchbohrt, 23 seiner Zähne zertrümmert und einen Teil seiner Zunge abgerissen. Ihn umgab der Rest seines zerschlagenen Regiments, das bis zum Ende der Schlacht am Flussufer blieb und wiederholte Befehle zum Vormarsch ignorierte.23

Die beiden anderen Regimenter (Grenadiers und Coldstream Guards) füllten die von den Scots Fusiliers hinterlassene Lücke, verweigerten jedoch den Befehl, den Hügel hinaufzusteigen. Stattdessen formierten sich die 2000 Gardisten auf eigene Initiative zu Reihen und feuerten vierzehn Minié-Gewehr-Salven auf die russische Infanterie ab. Diese Salven hatten die gleiche Schlagkraft wie die eines halben Dutzends Maschinengewehre. Sie überraschten die russischen Infanteristen, die in Scharen zu Boden stürzten und sich dann den Hügel hinauf zurückzogen. Dadurch, dass die Gardisten ihren Kommandeuren, die ihnen befohlen hatten, mit Bajonetten anzugreifen, den Gehorsam verweigerten, hatten sie eine wichtige Neuerung vorführen können: die weitreichende Feuerkraft des modernen Gewehrs, die sich in sämtlichen frühen Schlachten des Krimkriegs als entscheidend erweisen sollte. Das Minié-Gewehr war eine neue Waffe. Die meisten Regimenter waren erst auf der Reise zur Krim damit ausgerüstet worden und hatten nur eine hastige Ausbildung in seinem Gebrauch erhalten. Sie hatten keine Ahnung von seiner taktischen Bedeutung seiner Fähigkeit, mit tödlicher Genauigkeit über eine viel größere Distanz als die russischen Musketen und Geschütze zu feuern , bis die Gardisten dies von allein an der Alma herausfanden. Der russische Militärtechniker Eduard Totleben schrieb in seiner Geschichte des Krimkriegs über die Auswirkungen des Minié-Gewehrs:

Wenn die britischen Soldaten sich selbst überlassen waren, um die Rolle von Scharfschützen zu spielen, zögerten sie nicht unter Feuer und benötigten keine Befehle und keine Aufsicht. Damit [mit dem Minié-Gewehr] ausgerüstete Männer waren von Selbstbewusstsein erfüllt, nachdem sie die Präzision und ungeheure Reichweite ihrer Waffe entdeckt hatten … Unsere Infanterie konnte den Feind mit ihren Musketen nicht über eine Entfernung von mehr als 300 Schritten erreichen, während er aus 1200 Schritten auf uns feuerte. Der Feind, völlig überzeugt von der Überlegenheit seiner Handfeuerwaffen, vermied den Nahkampf; wann immer unsere Bataillone angriffen, zog er sich auf eine gewisse Distanz zurück und feuerte eine mörderische Salve ab. Wenn unsere Kolonnen den Angriff fortsetzten, mussten sie schreckliche Verluste hinnehmen. Es war ihnen unmöglich, den überwältigenden Kugelhagel zu durchdringen, und sie mussten zurückweichen, bevor sie den Feind erreichen konnten.

Ohne Verschanzungen zum Schutz ihrer Infanterie und Artillerie waren die Russen nicht in der Lage, ihre Positionen auf den Anhöhen gegen die tödlichen Minié-Gewehre zu verteidigen. Bald wurde das Feuer der Gardisten durch das der 2. Division unter Evans an der britischen rechten Flanke verstärkt. Sein 30. Regiment konnte die Kanoniere von drei russischen Batterien vom Flussufer aus erkennen und sie mit ihren Minié-Gewehren erschießen, ohne dass die Russen auch nur wussten, woher das Feuer kam. Während die russische Infanterie und Artillerie zurückwich, rückten die Briten langsam den Hügel hinauf vor, wobei sie über die toten und verwundeten Feinde hinwegstiegen. »Die meisten Verwundeten riefen nach Wasser«, schrieb der Gemeine Bloomfield. »Ein Mann aus meiner Kompanie gab einem verwundeten Russen etwas Wasser zu trinken, und als er ihn zurückließ, stützte sich der Russe auf den Ellbogen, nahm seine Muskete in die Hand und schoss auf den Mann, der ihm geholfen hatte. Die Kugel pfiff dicht an dessen Kopf vorbei. Er drehte sich sofort um und durchbohrte den Russen mit seinem Bajonett.« Gegen 16 Uhr näherten sich die Briten den russischen Positionen aus allen Richtungen: Die Gardisten zur Linken machten die letzten russischen Reserven auf dem Kurgan-Hügel nieder, Codringtons Männer und die anderen Gardisten schoben sich dicht an die Große Redoute heran, und die 2. Division arbeitete sich an der Sewastopoler Straße vor. Da die Franzosen die Klippen über der Alma besetzt hatten, war die Schlacht unzweifelhaft gewonnen.24

Mittlerweile waren auf russischer Seite Anzeichen von Panik zu erkennen, während der Feind näher rückte und die vernichtende Wirkung seines Präzisionsgewehrs deutlich wurde. Priester gingen durch die Reihen, um die Soldaten zu segnen, und die Männer beteten mit wachsender Inbrunst, während berittene Offiziere die Knute einsetzten, um sie voranzupeitschen. Doch im Allgemeinen fehlte es den russischen Befehlshabern an Autorität. »Niemand gab Anweisungen, was zu tun sei«, berichtete Chodasiewicz. »In den fünf Stunden der Schlacht sahen und hörten wir nichts von unserem Divisions- oder Brigadegeneral oder Obersten. Wir erhielten keine Befehle von ihnen, entweder vorzurücken oder uns zurückzuziehen, und als wir den Rückzug antraten, wusste niemand, ob wir uns nach rechts oder links wenden sollten.« Der betrunkene Kirjakow erteilte den allgemeinen Befehl, die linke Seite der Anhöhen aufzugeben, doch dann verlor er die Nerven und verschwand mehrere Stunden lang (später fand man heraus, dass er sich in einem Erdloch versteckt hatte). Damit blieb es seinen Offizieren überlassen, den Rückzug von den Hügeln zu organisieren, aber »es fiel uns äußerst schwer, Ordnung unter unseren Männern zu halten«, erinnerte sich Chodasiewicz, der drohen musste, »den ersten Mann umzuhauen, der aus der Reihe tritt« eine Drohung, die er mehrere Male wahr machen musste.

Ziellos flohen die Russen in alle Richtungen und rannten den Hügel hinunter ins Tal, um dem Feind zu entkommen. Berittene Offiziere versuchten vergeblich, die panische Flucht zu unterbinden, indem sie die Männer peitschten wie Cowboys, die eine Viehherde zusammentrieben. Doch die Soldaten hatten jegliche Geduld mit ihren Kommandeuren verloren. Chodasiewicz hörte ein Gespräch zwischen zwei Männern:

Erster Soldat: »Ja, während der Kämpfe haben wir nichts von diesen Herrschaften [den Offizieren] gesehen, aber nun schwirren sie herum und brüllen: ›Ruhe! Schritt halten!‹«

Zweiter Soldat: »Du hast dauernd was zu meckern, genau wie ein Pole. Bring nicht die Vorsehung gegen uns auf, der wir für unser Leben danken sollten.«

Erster Soldat: »Dir ist alles egal, solange du nicht gepeitscht wirst.«

Chodasiewicz sprach von Chaos und Verwirrung, von kaum noch nüchternen Offizieren, »von den zehn Minuten der Furcht und des Zitterns in der zweiten Reihe auf dem Hügel, als wir die Kavallerie des Feindes heranreiten sahen, die die fliehenden Nachzügler, hauptsächlich Verwundete, niedersäbelte«.25

Am Ende wurden die Russen nicht nur durch die überlegene Feuerkraft des Minié-Gewehrs besiegt, sondern auch, weil sie die Nerven verloren hatten. Für Ardant du Picq, der seine Militärtheorie anhand von Fragebögen entwickelte, die er an der Alma-Schlacht beteiligten Franzosen geschickt hatte, war dieser moralische Faktor das entscheidende Element der modernen Kriegführung. Große Gruppen von Männern stießen selten physisch aufeinander, behauptete er, weil eine Seite kurz vor dem Zusammenprall fast immer den Mut verlor und davonlief. Wesentlich auf dem Schlachtfeld sei die Disziplin die Fähigkeit der Offiziere, ihre Männer zusammenzuhalten und an der Flucht aus Furcht zu hindern , denn wenn Soldaten dem Feind den Rücken zuwandten, sei die Wahrscheinlichkeit, getötet zu werden, am größten. Mithin sei die Unterdrückung der Furcht die Hauptaufgabe des Offiziers, die er nur durch seine eigene Autorität und die Geschlossenheit, die er seinen Männern beibrachte, erfüllen könne.

Was den Soldaten zu Gehorsam und Zielstrebigkeit im Feld befähigt, ist seine Disziplin. Dazu gehören: Respekt vor und Vertrauen zu seinen Vorgesetzten; Vertrauen zu seinen Kameraden und Angst vor ihren Vorwürfen und ihrer Vergeltung, wenn er sie in der Gefahr im Stich lässt; sein Wunsch, anderen zu folgen, ohne stärker als sie zu zittern; kurz, der gesamte esprit de corps. Allein Organisation kann diese Merkmale hervorbringen. Vier Männer kommen einem Löwen gleich.

Diese Ideen, die in den Mittelpunkt der Militärtheorie des 20. Jahrhunderts rücken sollten, wurden du Picq zum ersten Mal durch einen Brief deutlich, den er 1869 von einem Veteranen der Alma-Schlacht erhielt. Der Soldat hatte das entscheidende Eingreifen seines Kompaniekommandeurs geschildert, der die Panik seiner Männer beendete, nachdem ein hoher Offizier fälschlich mit einem Angriff der russischen Kavallerie gerechnet und dem Trompeter befohlen hatte, zum Rückzug zu blasen:

Zum Glück durchschaute ein besonnener Offizier, Hauptmann Daguerre, den groben Fehler und befahl mit Stentorstimme: »Vorwärts!« Dadurch gebot er dem Rückzug Einhalt und ließ uns erneut zum Angriff schreiten. Die Attacke brachte uns in den Besitz der Telegrafenleitung, und die Schlacht war gewonnen. Bei diesem zweiten Ansturm gaben die Russen auf, drehten sich um, und kaum einer von ihnen wurde mit dem Bajonett verwundet. Ein Major, der ein Bataillon kommandiert, lässt also ohne Befehl ein Trompetensignal blasen und gefährdet den Erfolg. Ein einfacher Hauptmann ruft »Vorwärts!« und entscheidet den Sieg.26

Gegen 16.30 Uhr war die Schlacht vorbei. Die meisten Russen hatten sich in kleinen Gruppen, ohne Anführer und ohne klares Ziel, zum Fluss Katscha zurückgezogen. Viele Männer sollten erst nach Tagen wieder zu ihrem Regiment stoßen. Auf dem Telegrafenhügel erbeuteten die Franzosen die verlassene Kutsche von Fürst Menschikow, die ein paar Kosaken in Sicherheit bringen wollten. In der Kutsche fanden sie eine Feldküche, Briefe vom Zaren, 50 000 Franc, pornografische französische Romane, die Stiefel des Generals und etwas Damenunterwäsche vor. Hinzu kamen Picknickbestandteile, Sonnenschirme und Feldstecher, welche die Zuschauer aus Sewastopol zurückgelassen hatten.27

Das Schlachtfeld selbst war mit Verwundeten und Toten bedeckt, darunter 2000 Briten, 1600 Franzosen und vielleicht 5000 Russen (die genauen Zahlen sind schwer festzustellen, da so viele Opfer einfach zurückgelassen wurden). Die Briten brauchten zwei volle Tage, um die Verwundeten zu bergen. Sie hatten auf den Schiffen aus Warna keine medizinische Ausrüstung mitgebracht das Sanitätskorps mit seinen Karren, Wagen und Tragen befand sich noch in Bulgarien , weshalb Ärzte das Nachschubamt um Militärfuhrwerke bitten mussten, mit denen sie die Verwundeten vom Schlachtfeld holen konnten. Der Lagerhalter John Rowe vom Nachschubamt entlud Sättel aus seiner Karre, um bei der Bergung der Opfer zu helfen, und stieß auf dem Rückweg, als er seine Fracht abholen wollte, auf eine Gruppe verwundeter Offiziere, darunter Hugh Annesley:

Ein Offizier des 30. mit einem verwundeten Arm stützte nach Kräften einen Offizier der Scots Fusiliers Guards. Dieser Offizier beugte sich vor, und ihm tröpfelte Blut aus dem Mund. Er konnte nicht sprechen, doch er schrieb mit Bleistift in ein kleines Buch, er sei der Hon[ourable] Annesley; eine Kugel stecke in seiner Kehle, nachdem sie einige seiner Zähne und einen Teil seiner Zunge weggefegt habe. Er wollte wissen, in welchem Teil des Feldes (wenn ich es so nennen kann) der Arzt der Fusiliers seine Stellung habe und ob ich ihn dorthin befördern könne. Ich konnte ihm nichts über den Arzt sagen … Auch teilte ich ihm mit, dass der Gebrauch des Maultierkarrens nicht in meinem Ermessen liege und ich die mir aufgetragene Pflicht erfüllen müsse.

Annesley blieb es überlassen, selbst einen Arzt zu finden. Welche Behandlung er erhielt, bleibt unbekannt, doch sie dürfte sich darauf beschränkt haben, ihm die Kugel herauszuschneiden, wahrscheinlich ohne Benutzung ordentlicher Verbände und ohne Chloroform, um den Schock und den Schmerz zu lindern. Behandlungen auf dem Schlachtfeld waren rudimentär. Der Stabsarzt der Leichten Division, George Lawson, führte seine Operationen auf dem Boden aus, bis man eine alte Tür entdeckte, die er zu einem behelfsmäßigen Operationstisch machte.28

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Hugh Annesley nach seiner Rückkehr von der Krim.

Das schwarze Pflaster bedeckte seine Wunde.

Früh am folgenden Morgen füllte Somerset Calthorpe, ein Neffe von Lord Raglan und einer seiner Adjutanten, seine Feldflasche mit Branntwein und begab sich »zu einem Gange über das Schlachtfeld«:

Die armen Verwundeten waren viel ruhiger als am Abend vorher; viele waren ohne Zweifel während der Nacht gestorben und viele waren zu erschöpft und schwach, um etwas Anderes zu können, als zu stöhnen. Ich fand Alle sehr durstig, und mein kleiner Vorrath war bald zu Ende; ich ging daher, mehr zu holen … Es war eine schreckliche Scene – Tod in jeder Gestalt und Form. Es fiel mir besonders auf, daß Alle, die durch das Herz oder den Kopf geschossen, mit einem Lächeln auf ihren Lippen gestorben waren und gewöhnlich auf dem Rücken lagen, mit ausgebreiteten Armen und Beinen … Alle, die in Angst und Pein gestorben schienen, waren durch den Leib geschossen, sie hatten meistentheils die Arme und Beine krampfhaft zusammengezogen und den Ausdruck ihrer Leiden noch im Gesichte.29

Die Russen waren nicht in der Lage, ihre Verwundeten vom Schlachtfeld zu bergen.*** Diejenigen, die noch gehen konnten, mussten sich selbständig nach Behandlung umsehen. Viele wankten zu den Verbandsstationen am Fluss Katscha, 15 Kilometer südlich der Alma, oder humpelten in den folgenden Tagen zurück nach Sewastopol. Ein russischer Sanitäter beschrieb die Szene am ersten Abend, während er mit seinen Fahrzeugen zur Katscha aufbrach:

Hunderte von Verwundeten waren von ihren Regimentern zurückgelassen worden, und sie baten mit herzzerreißenden Schreien und Seufzern und flehenden Gesten, auf die Wagen und Kutschen gehoben zu werden. Aber was konnte ich für sie tun? Wir waren bereits völlig überladen. Ich versuchte, sie zu trösten, indem ich ihnen versicherte, dass ihre Regimentswagen zurückkommen würden, um sie abzuholen, was natürlich nicht zutraf. Ein Mann konnte sich kaum dahinschleppen – er hatte keine Arme mehr, und sein Bauch war durchschossen worden; einem anderen hatte man das Bein abgetrennt und den Kiefer zerschmettert, seine Zunge war herausgerissen und sein Körper mit Wunden bedeckt – nur seine Miene flehte um einen Schluck Wasser. Aber woher sollte ich auch nur das nehmen?

Die rund 1600 russischen Verwundeten, die nicht mehr gehen konnten, blieben mehrere Tage auf dem Schlachtfeld liegen, bis die Briten und Franzosen, nachdem sie ihre eigenen Leute geborgen hatten, die Toten begruben und die noch Lebenden zu ihren Lazaretten in Scutari am Rand von Konstantinopel transportierten.30

Drei Tage nach der Schlacht schrieb William Russell über die »herumliegenden stöhnenden und zitternden« Russen:

Einige waren zu Haufen zusammengeschoben worden, damit man sie leichter entfernen konnte. Andere starrten dich von den Büschen her mit der Grimmigkeit wilder Tiere an, während sie ihre Wunden umklammerten. Manche flehten in einer unbekannten Sprache, doch mit einem unmissverständlichen Tonfall um Wasser oder Beistand; dabei streckten sie ihre verstümmelten und zerschmetterten Gliedmaßen aus oder deuteten auf die Spur der Kugel, die sie zerfleischt hatte. Der mürrische, wütende, finstere Blick einiger dieser Männer war furchtbar. Fanatismus und unsterblicher Hass standen in ihren zornigen Augen, und wer sie mitleidig betrachtete, konnte endlich (wenn auch widerwillig) begreifen, wie diese Männer in ihrer wilden Leidenschaft die Verwundeten töten und auf den Sieger feuern konnten, der ihnen mit großzügiger Menschlichkeit im Vorbeigehen geholfen hatte.31

Es kam, wie erwähnt, vor, dass verwundete Russen auf britische und französische Soldaten schossen, die ihnen Wasser gegeben hatten. Auch wurde von Russen berichtet, die verwundete Feinde auf dem Schlachtfeld töteten. Die Ursachen waren Furcht und Hass auf den Gegner. Die Franzosen fanden durch die Vernehmung an der Alma gefangener russischer Soldaten heraus, dass »ihre Priester [den Russen] die unglaublichsten Geschichten erzählt hatten dass wir Ungeheuer, fähig zu allergrößter Brutalität und sogar Kannibalen seien«. Berichte über diese »unehrenhaften« Tötungen empörten die britischen Soldaten und bestärkten die öffentliche Meinung darin, dass die Russen »nichts anderes als Wilde« seien. Diese Empörung war freilich scheinheilig, denn in vielen Fällen hatten britische Soldaten verwundete Russen getötet und sogar russische Gefangene erschossen, weil sie »lästig« seien. Nicht vergessen werden darf auch, dass die Briten zwischen den russischen Verwundeten dahinschritten, nicht nur um ihnen Wasser zu geben, sondern manchmal auch, um sie zu bestehlen. Sie rissen den Russen silberne Kreuze vom Hals, durchwühlten ihre Rucksäcke nach Souvenirs und nahmen den Lebenden und Toten ab, was ihnen gefiel. »Ich habe für Dich eine wunderbare Trophäe von der Alma, genau das Richtige für Dich«, schrieb Hugh Drummond von den Scots Guards an seine Mutter, »ein großes griechisches, silbernes Kreuz mit einer Eingravierung unserem Erlöser, gefolgt von ein paar russischen Worten; es hing am Hals eines russischen Obersten, den wir töteten, und, armer Kerl, es berührte seine Haut.«32

* * *

Wären die Alliierten von der Alma sofort weitermarschiert, hätten sie Sewastopol fast im Handstreich einnehmen können. Aller Wahrscheinlichkeit nach wäre es innerhalb von Tagen erobert worden und das auf Kosten von relativ wenigen Menschenleben, verglichen mit den zigtausend Toten während der 349-tägigen Belagerung, die aus den Irrtümern und Verzögerungen der Alliierten folgte.

Am 21. September herrschte Wirrwarr bei den russischen Streitkräften, und Sewastopol war praktisch schutzlos. Schlimmer noch, Menschikow beschloss, dass es nicht der Sache wert sei, noch mehr seiner demoralisierten Soldaten zur Verteidigung der Stadt einzusetzen. Sobald er die Überreste seines Heeres an der Katscha gesammelt hatte, machte er sich zu einem Marsch in Richtung Bachtschisserai auf, um die Alliierten daran zu hindern, die Krim bei Perekop zu isolieren, und um auf Verstärkungen vom russischen Festland zu warten. Damit ließ er Sewastopol in den Händen von nur 5000 Soldaten und 10 000 Matrosen zurück, die für diese Art Kriegführung gänzlich unausgebildet waren. Die Russen hatten nicht geglaubt, dass die Alliierten vor dem Frühling angreifen würden, und deshalb die Verteidigung von Sewastopol nicht verstärkt. Die nördlichen Befestigungen der Stadt waren seit ihrem Bau im Jahr 1818 nicht nennenswert verbessert worden.**** Die Mauern des Sternforts zerbröckelten nach Jahren der Vernachlässigung, und die Zahl der Geschütze reichte nicht aus, um einen ernsthaften Angriff abzuwehren. An der Südseite hatte Menschikow im Januar 1854 den Bau von drei neuen Batterien befohlen, doch die dortigen Anlagen waren in einer kaum besseren Verfassung. Die breiten Mauern an der Meerseite waren mit mächtigen Batterien ausgerüstet, und am Hafeneingang standen zwei gut bewaffnete Festungen, die Quarantäne-Batterie und das Alexander-Fort; alle zusammen waren der Schlagkraft der alliierten Flotte gewachsen, doch an der Landseite südlich von Sewastopol erwies sich die Verteidigung als relativ schwach. Eine einzige Steinmauer von etwa 4 Meter Höhe und 2 Meter Dicke mit Erdwällen und Steinbatterien an den beherrschenden Positionen schützte nur Teile der Stadt. Nicht all diese Befestigungen konnten dem Beschuss durch Granaten standhalten, und die Steinmauer war nur Musketen gewachsen. Insgesamt wirkte die Stadt äußerst verwundbar, und man erwartete, dass sie jederzeit fallen würde. Laut Totleben, der die Verantwortung für die Verteidigungsanlagen übernehmen musste, »gab es praktisch nichts, was den Feind daran hinderte, in die Stadt hineinzumarschieren«.33

Statt sich rasch nach Sewastopol zu begeben, um dessen Verteidigung zu übernehmen, ließen sich die russischen Einheiten, die sich vom Schlachtfeld an der Alma zurückzogen, ablenken und aufhalten, indem sie die Güter plünderten, welche die Eigentümer beim Erhalt der Nachricht über die Niederlage aufgegeben hatten. Von ihren Regimentern und den Offizieren getrennt, verloren die Soldaten jegliche Disziplin. »Die Kosaken waren die schlimmsten Missetäter«, erinnerte sich ein Augenzeuge, »denn es gab nichts, was sie nicht stahlen.«

Wenn sie ein verriegeltes Haus vorfanden, zertrümmerten sie die Türen und Fenster, stürmten durch die Zimmer und nahmen alles mit, was sie tragen konnten. In der Annahme, dass die Eigentümer Geld, Diamanten und andere Kostbarkeiten im Haus versteckt hatten, durchwühlten die Soldaten alles – sogar Kissen auf den Diwanen und Sesseln. Bücher und Bibliotheken wurden zerstört. Große Spiegel, die von den Soldaten nicht benutzt werden konnten, wurden zerbrochen, wonach sie sich ein Stück davon in die Tasche steckten.34

Die alliierten Befehlshaber ahnten nichts von dieser Schwäche und Unordnung der Russen. Raglan hatte im Einklang mit den Kriegsplänen der Alliierten so schnell wie möglich nach Sewastopol vorrücken wollen, doch diesmal waren die Franzosen noch nicht bereit, denn sie hatten ihre Rucksäcke an der anderen Seite der Alma zurückgelassen, ehe sie die Klippen erklommen, und benötigten nun Zeit, um ihr Gepäck zu bergen. Im Unterschied zu den Briten hatten sie nicht genug Kavallerieeinheiten, um die Russen verfolgen zu können, und waren daher weniger geneigt voranzueilen. Nachdem sie sich das Heft aus der Hand hatten nehmen lassen, zögerten die alliierten Befehlshaber bei ihren nächsten Schritten. Tatarische Spione hatten ihnen fälschlich mitgeteilt, dass das Sternfort uneinnehmbar sei, dass Menschikow es mit allen Kräften verteidigen wolle und dass die Stadt an der Südseite fast ungeschützt sei. Dies veranlasste die Alliierten, ihren ursprünglichen Plan eines Überraschungsangriffs von Norden her aufzugeben und stattdessen um die Stadt herum zur Südseite zu marschieren ein Vorgehen, für das sich Sir John Burgoyne, der höchste technische Offizier, entschieden einsetzte.*****

Die Änderung des Planes hing auch mit der kühnen Entscheidung der Russen zusammen, ihre eigene Flotte zu sprengen. Die Kommandeure der Schwarzmeerflotte hatten eingesehen, dass die Alliierten ihnen an Geschwindigkeit und Schlagkraft überlegen waren, woraufhin sie fünf Segelschiffe und zwei Fregatten an der Hafeneinfahrt versenkten, um den Zugang zu blockieren und die alliierten Schiffe daran zu hindern, einen Angriff aus dem Norden zu unterstützen. Die betroffenen Schiffe wurden an die Hafenmündung geschleppt, ihre Fahnen eingeholt und Gottesdienste abgehalten, um sie dem Untergang zu weihen. Dann, um Mitternacht am 22. September, wurden die Schiffe zerstört. Eine Fregatte, Die drei Heiligen, musste am folgenden Morgen zwei Stunden lang aus nächster Nähe von einem Kanonenboot beschossen werden, bevor sie sank. Die alliierten Armeen, die sich an der Katscha befanden, hörten den Lärm, und nachdem man die Ursache entdeckt hatte, erklärte Saint-Arnaud: »Was für eine Parodie auf Moskau 1812.«35

Da der Hafen blockiert war und die alliierten Befehlshaber nicht mit Unterstützung durch ihre eigenen Schiffe rechnen konnten, erschien es ihnen zu gefährlich, Sewastopol von Norden her anzugreifen. Deshalb legten sie sich auf einen Ansturm aus dem Süden fest, wo ihre Schiffe die Häfen Balaklawa (für die Briten) und Kamiesch (für die Franzosen) benutzen und den Heeren Beistand leisten konnten. Dies war eine fatale Fehleinschätzung nicht bloß, weil die Verteidigungsanlagen der Stadt an der Südseite in Wirklichkeit stärker waren. Die Verlagerung in den Süden von Sewastopol erschwerte es den alliierten Armeen, die russische Nachschubroute vom Festland abzuschneiden, was eigentlich ein wesentliches Element des strategischen Planes gewesen war. Hätte man die Stadt rasch erobert, wäre dies unerheblich gewesen, doch nachdem die alliierten Befehlshaber einen Handstreich ausgeschlossen hatten, blieben sie letztlich dem konventionellen militärischen Denken darüber verhaftet, wie eine Belagerung durchzuführen sei, Vorstellungen, die auf das 17. Jahrhundert zurückgingen. Dazu gehörte das langsame und methodische Ausheben von Gräben in Richtung der Verteidigungsanlagen, damit die Stadt durch Artillerie beschossen werden konnte, bevor die Soldaten angriffen. Die Franzosen sprachen sich für eine längere Belagerung aus und brachten die Briten dazu, sich ihrer traditionellen Denkweise anzuschließen. Ein solches Vorgehen schien weniger riskant zu sein als eine schnelle Erstürmung. Burgoyne, der oberste technische Offizier, der für einen raschen Angriff gewesen war, änderte seine Meinung mit der absurden Begründung, dies würde 500 Leben kosten, Verluste, die seiner Meinung nach »auf keine Weise zu rechtfertigen« seien, und das, obwohl die Alliierten bereits 3000 Gefallene an der Alma zu beklagen hatten (und Zehntausende von Männern durch die Belagerung verlieren sollten).36

Am 23. September begann der Marsch nach Süden erneut. Zwei Tage lang durchquerten die alliierten Einheiten das fruchtbare Tal der Flüsse Katscha und Belbek und pflückten Trauben, Pfirsiche, Birnen und Beeren, die auf den verlassenen Bauernhöfen reiften. Erschöpft und kampfmüde, brachen viele Soldaten wegen Dehydrierung zusammen, und während des gesamten Marsches mussten Kolonnen anhalten, um Choleraopfer zu begraben. Dann begannen die Heere, die Stadt zu umgehen, indem sie sich einen Weg durch die dichten Eichenwälder der Inkerman-Höhen bahnten, bis sie die Lichtung bei Mackenzies Hof, benannt nach einem schottischen Siedler des 18. Jahrhunderts, erreichten. An dieser Stelle stieß die Vorhut der britischen Kavallerie auf Menschikows Nachhut, die nordöstlich nach Bachtschisserai unterwegs war. Hauptmann Louis Nolan von den 15. King’s Hussars, der zum vorgeschobenen Teil von Lord Raglans Stab gehörte, war der Ansicht, dass dies eine Gelegenheit für die Kavallerie sei, den Russen einen schweren Schlag zuzufügen. Seit der Landung auf der Krim war Nolan zunehmend frustriert über das Unvermögen der britischen Befehlshaber, die Kavallerie zuerst am Bulganak und dann an der Alma auf die sich zurückziehenden russischen Streitkräfte loszulassen. Deshalb war Nolan außer sich vor Wut, als ein Angriff der Husaren auf die russische Nachhut von Lord Lucan abgebrochen wurde. In seinem Feldtagebuch beschrieb Nolan, wie er von den Mackenzie-Höhen auf die fliehenden Russen hinunterschaute:

Die Geschütze, die man mitgenommen hatte, zogen die Straße unter uns auf einigen der wenigen Kanonenwagen des Konvois entlang, denen die Flucht gelungen war. Verstreute Infanteristen liefen ohne Waffen und Helme an den Seiten des steilen Hangs hinunter, bis ein paar Schüsse aus unseren Kanonen sie zu der russischen Armee eilen ließen, die sich unten in dichten Kolonnen formiert hatte. Zwei unserer Kavallerieregimenter rückten auf der Straße ins Tal vor und erbeuteten insgesamt 22 Wagen und Pferde, darunter General Gortschakows Reisekutsche mit zwei edlen Rappen.37

Die alliierten Kolonnen zogen sich zunehmend in die Länge, da erschöpfte Nachzügler zurückblieben oder sich in den dichten Wäldern verirrten. Die Disziplin brach zusammen, und viele Soldaten plünderten, wie die Kosaken vor ihnen, verlassene Höfe und Güter in der Umgebung von Sewastopol. Der Palast der Bibikows wurde von französischen Soldaten mutwillig beschädigt und ausgeraubt. Sie stahlen Champagner und Burgunder aus den großen Kellern und randalierten, indem sie Möbel aus den Fenstern warfen, Scheiben zerschmetterten und ihren Darm auf den Fußböden entleerten. Marschall Saint-Arnaud, der anwesend war, tat nichts, um die Plünderei zu verhindern, die er als Belohnung für seine erschöpften Männer betrachtete. Er nahm sogar einen kleinen Säulentisch als Geschenk von seinen Soldaten entgegen und ließ ihn seiner Frau in Konstantinopel schicken. Einige der Zuaven (die für ihre schauspielerischen Neigungen bekannt waren) zogen Frauenkleidung an und veranstalteten eine Pantomime. Andere fanden einen Konzertflügel und spielten Walzer, zu denen ihre Kameraden tanzten. Die Eigentümer des Palastes waren nur wenige Minuten vor der Ankunft der Franzosen abgereist, wie einer ihrer Offiziere schrieb:

Ich betrat ein kleines Boudoir … Frisch geschnittene Blumen standen noch in Vasen auf dem Kaminsims; auf einem runden Tisch lagen einige Exemplare der [französischen Zeitschrift] Illustration, ein Reisesekretär, Federhalter und Papier und ein unvollendeter Brief. Den Letzteren hatte ein junges Mädchen an ihren Verlobten geschrieben, der an der Alma gekämpft hatte. Sie sprach von Sieg und Erfolg mit jener Zuversicht, die jedes Herz, besonders das von jungen Mädchen, in sich barg. Die brutale Realität hatte all dem Einhalt geboten – Briefen, Illusionen, Hoffnungen.38

Während die alliierten Armeen südwärts nach Sewastopol marschierten, verbreitete sich Panik unter der russischen Bevölkerung der Krim. Die Nachricht von der Niederlage an der Alma war ein vernichtender Schlag für die Moral, denn sie widerlegte den von 1812 herrührenden Mythos von der militärischen Unbesiegbarkeit Russlands, besonders im Kampf gegen die Franzosen. In Simferopol, der Verwaltungshauptstadt der Krim, war die Panik so groß, dass Generalgouverneur Wladimir Pestel die Evakuierung der Stadt anordnete. Die Russen packten ihre Habseligkeiten auf Wagen und fuhren in Richtung Perekop, in der Hoffnung, das russische Festland zu erreichen, bevor die alliierten Truppen den Zugang versperrten. Pestel, der sich krank erklärte, brach als Erster auf. Seit Beginn der Panik hatte er sich nicht in der Öffentlichkeit sehen lassen und keine Maßnahmen ergriffen, um der Unordnung entgegenzuwirken. Er hatte nicht einmal die Tataren der Stadt daran gehindert, den Alliierten Nachschubmaterial aus russischen Beständen zukommen zu lassen. Begleitet von seinen Gendarmen und einem langen Gefolge von Beamten, fuhr Pestel mit seiner Kutsche aus der Stadt und durch eine große Tatarenmenge, die höhnisch rief: »Seht, wie der Giaure****** verschwindet! Unsere Erlöser kommen bald!«39

Seit dem Eintreffen der alliierten Heere war das Selbstbewusstsein der tatarischen Krimbevölkerung gestiegen. Vor den Landungen hatten die Tataren darauf geachtet, dem russischen Herrscher Treue zu schwören. Seit dem Beginn der Kämpfe an der Donaufront standen die Krimtataren unter verschärfter Aufsicht durch die russischen Behörden, und Kosaken hatten die Landgebiete mit erhöhter Wachsamkeit durchstreift. Kaum aber waren die Alliierten auf der Krim gelandet, liefen die Tataren zu ihnen über insbesondere die jüngeren Männer, die nicht durch Jahre russischer Herrschaft eingeschüchtert waren. Sie sahen die Invasion als Befreiung und betrachteten die Türken als Soldaten des Kalifen, zu dem sie in ihren Moscheen beteten. Tausende von Tataren verließen ihre Dörfer und strömten nach Jewpatorija, um die Alliierten zu begrüßen und der neuen »türkischen Regierung« Treue zu geloben, die ihrer Meinung nach dort gegründet worden war. Die Angreifer hatten den russischen Gouverneur von Jewpatorija umgehend durch Topal Umer Pascha, einen einheimischen tatarischen Händler, ersetzt. Außerdem brachten sie Mussad Giray mit, einen Nachfahren der alten Herrscherdynastie des Krim-Khanats, der seine Landsleute aufrief, die Invasion zu unterstützen.*******

In der Hoffnung, belohnt zu werden, überbrachten die Tataren den alliierten Soldaten Vieh, Pferde und Wagen. Einige arbeiteten als Spione oder Kundschafter für die Angreifer. Andere schlossen sich den Trupps an, die durch die Landschaft ritten und den russischen Grundbesitzern drohten, ihre Häuser anzuzünden oder sie sogar zu töten, wenn sie der »türkischen Regierung« nicht ihren ganzen Viehbestand, ihre Lebensmittel und Pferde überließen. Die mit Säbeln bewaffneten tatarischen Rebellen stülpten ihre Schaffellmützen um, zum Symbol für den Sturz der russischen Macht auf der Krim. »Die gesamte christliche Bevölkerung der Halbinsel hat Angst vor den Tatarenbanden«, berichtete Innokenti, der orthodoxe Erzbischof der Diözese Cherson-Taurien. Ein russischer Landbesitzer, der auf seinem Gut ausgeraubt wurde, glaubte, die Reiter seien von ihren Mullahs dazu angestiftet worden, Rache an den Christen zu üben, da die muslimische Herrschaft nun zurückkehren werde. Tatsächlich begingen die Rebellen in einigen Gegenden Gewalttaten nicht bloß an Russen, sondern auch an Armeniern und Griechen, zerstörten deren Kirchen und ermordeten sogar Priester. Die russischen Behörden nutzten diese religiösen Ängste, um Unterstützung für die Armeen des Zaren zu gewinnen. Im September reiste Innokenti durch die Krim, erklärte die Invasion zu einem »Religionskrieg« und verkündete, dass Russland eine »große und heilige Pflicht« habe, »den orthodoxen Glauben vor dem muslimischen Joch zu schützen«.40

Am 26. September erreichten die alliierten Armeen das Dorf Kadikoi, von dem aus sie die Südküste sehen konnten. Am selben Tag wurde Saint-Arnaud von seiner Krankheit übermannt und übergab den Befehl an Canrobert. Ein Dampfer fuhr mit dem Marschall nach Konstantinopel, doch er starb unterwegs an einer Herzattacke, weshalb dasselbe Schiff seine Leiche zurück nach Frankreich brachte. Daneben übermittelte es die falsche Nachricht, die Belagerung von Sewastopol habe begonnen, woraufhin Cowley, der britische Botschafter in Paris, London informierte, dass die alliierten Armeen »den Ort wahrscheinlich« in ein paar Tagen »besetzt haben würden«.41

In Wirklichkeit sollte die Belagerung erst drei Wochen später beginnen. Die Kühle des russischen Winters lag bereits in der Luft, als die Alliierten langsam ihr Lager auf dem Plateau errichteten, von dem aus man die Südseite Sewastopols überblickte. Ein paar Tage lang wurden beide Armeen über Balaklawa versorgt, einen schmalen Meeresarm, der von der See her kaum zu erkennen war, wäre nicht die Ruine der alten genuesischen Festung auf der Klippe gewesen.******** Sehr bald jedoch stellte sich heraus, dass der Hafen für all die eintreffenden Segelschiffe zu klein war. Deshalb verlagerten die Franzosen ihren Stützpunkt zur Kamiesch-Bucht, die Balaklawa als Nachschubbasis übertraf, denn sie war viel größer und nicht so weit vom französischen Lager in Chersonnessos entfernt, jenen Ort, an dem Großfürst Wladimir die Kiewer Rus zum Christentum bekehrt hatte.

Am 1. Oktober stieg Hauptmann Herbé mit einer kleinen Gruppe französischer Offiziere auf die Anhöhe, um das nur zwei Kilometer entfernte Sewastopol näher in Augenschein zu nehmen. Mit ihren Feldstechern konnten sie »genug von diesem berühmten Ort sehen, um ihre Neugier zu befriedigen«, wie Herbé seinen Eltern am folgenden Tag schrieb:

Unten konnte man die Festungsanlagen erkennen, an denen eine große Anzahl von Männern mit Spitzhacken und Spaten zu arbeiten schienen. Man konnte sogar ein paar Frauen in den Arbeitergruppen ausmachen. Im Hafen waren mit Hilfe meines Fernrohrs einige Kriegsschiffe von trauriger Erscheinung, mit weißen Segeln an den Seiten, schwarzen Gangways und aus den Schießscharten ragenden Kanonen perfekt zu unterscheiden. Wenn es den Russen einfallen sollte, all diese Kanonen auf ihren Befestigungen zu platzieren, dürfen wir eine fröhliche Sinfonie erwarten!42

* Das erste britische Opfer der Kämpfe war Sergeant Priestley von den 13. Leichten Dragonern, der ein Bein verlor. Er wurde nach England zurücktransportiert, wo ihm die Königin später ein Korkbein überreichte (A. Mitchell, Recollections of One of the Light Brigade [London 1885], S. 50).

** Nachdem Raglan den Angriffsbefehl erteilt hatte, war er unglaublicherweise vorangeritten, um die Aktion besser beobachten zu können. Er überquerte die Alma zusammen mit seinem Stab und bezog Position auf einem entblößten Vorsprung des Telegrafenhügels, weit vor den britischen Truppen und praktisch neben den russischen Plänklern. »Es ist wunderbar, wie wir entkommen sind«, schrieb Hauptmann Gage, ein Angehöriger von Raglans Stab, am folgenden Tag an der Alma. »Granaten explodierten dicht neben mir, Kanonenkugeln flogen rechts, links & über mir dahin. Minié- und Musketenschüsse pfiffen an meinen Ohren vorbei, Pferde & Reiter von Ld R’s Stab (wo ich war) stürzten tot & verwundet neben mir zu Boden & doch bin ich in relativer Sicherheit & kann kaum begreifen, was ich durchgemacht habe« (NAM 1968–07–484–1, »Alma Heights Battle Field, Sept. 21st, 1854«).

*** Eine einzige Russin namens Daria Michailowa, die auf eigene Kosten einen Wagen und Sanitätsmaterial gekauft hatte, kümmerte sich um die Verwundeten. Daria war die 18-jährige Tochter eines Sewastopoler Seemanns, der in der Schlacht von Sinope gefallen war. Zur Zeit des Angriffs arbeitete sie als Wäscherin in der Marinegarnison von Sewastopol. Nach einer verbreiteten Legende verkaufte sie die gesamte Erbschaft ihres Vaters, erwarb Pferd und Wagen von einem jüdischen Händler, schnitt sich die Haare ab, verkleidete sich als Matrose und zog mit dem Heer an die Alma, wo sie Wasser, Lebensmittel und Wein an die Verwundeten verteilte. Um Verbandsmaterial herzustellen, soll sie sogar ihre eigene Kleidung zerrissen und mit Essig gesäubert haben. Die Soldaten durchschauten ihre Verkleidung, doch sie durfte ihre heroische Arbeit in der Verbandsstation an der Katscha und dann, während der Belagerung, als Krankenschwester in den Lazaretten von Sewastopol fortsetzen. Legenden kursierten über die »Heldin von Sewastopol«, und bald symbolisierte sie den patriotischen Geist des einfachen Volkes sowie den »Opfergeist« der russischen Frauen, den Dichter wie Alexander Puschkin romantisch verklärt hatten. Die Soldaten in den Lazaretten von Sewastopol, die ihren Familiennamen nicht kannten, nannten sie Dascha Sewastopolskaja, und so ging sie in die Geschichte ein. Im Dezember 1854 verlieh der Zar ihr die Goldmedaille für besonderen Einsatz und machte sie damit zur einzigen Russin nichtadeliger Herkunft, die jemals eine solche Ehrung empfing; die Kaiserin schenkte ihr ein silbernes Kreuz mit der Inschrift »Sewastopol«. Im Jahr 1855 heiratete Daria einen verwundeten Soldaten im Ruhestand und eröffnete eine Schänke in Sewastopol, wo sie bis zu ihrem Tod im Jahr 1892 wohnte (H. Rappaport, No Place for Ladies. The Untold Story of Women in the Crimean War [London 2007], S. 77).

**** Der technischen Abteilung des Kriegsministeriums war es nicht gelungen, einen Plan von 1834 zur Verstärkung der Verteidigungsanlagen in die Praxis umzusetzen. Man berief sich auf den Mangel an finanziellen Mitteln, obwohl gleichzeitig Millionen für die Befestigung von Kiew, das mehrere hundert Kilometer von der Grenze entfernt war, ausgegeben wurden. Aus Angst vor einem österreichischen Angriff durch Südwestrussland hatte Nikolaus I. eine große Truppenreserve im Kiewer Gebiet stationiert, was er in Sewastopol nicht für nötig hielt, da er die Gefahr einer Attacke durch die Türken oder die Westmächte im Schwarzen Meer außer Acht ließ. Er hatte die bedeutende Rolle von Dampfschiffen übersehen, die es ermöglichten, große Heere auf dem Seeweg zu transportieren.

***** Laut einer russischen Quelle wurden die tatarischen Spione auf Befehl der Briten erschossen, nachdem man die Wahrheit herausgefunden hatte (S. Gerschelman, Nrawstwenny element pod Sewastopolem [St. Petersburg 1897], S. 86).

****** Ein abwertender Begriff für einen Balkanchristen.

******* Nach der russischen Übernahme der Krim war der Giray-Clan ins Osmanische Reich geflohen. Im frühen 19. Jahrhundert hatten die Girays den Osmanen auf dem Balkan als Verwalter gedient und sich dem Militär angeschlossen. Das Osmanische Reich verfügte über verschiedene aus Krim-Emigranten bestehende Einheiten. Sie kämpften 1828/29 gegen die Russen und gehörten 1853/54 den türkischen Streitkräften an der Donaufront an. Mussad Giray war in Warna stationiert. Dort überredete er die alliierten Befehlshaber, ihn mit auf die Krim zu nehmen, damit er ihnen die Unterstützung der Tataren sichern könne. Am 20. September schickten die Alliierten Mussad Giray zurück zum Balkan und lobten ihn für seine Bemühungen, da er seine Aufgabe erfüllt habe. Nach dem Krimkrieg verliehen die Franzosen ihm den Orden der Ehrenlegion.

******** Balaklawa (ursprünglich Bella Clava, »Schöner Hafen«) hatte seine Bezeichnung von den Genuesern erhalten, die einen großen Teil des Hafens erbauten und ihn gedeihen sahen, bis sie im 15. Jahrhundert von den Türken vertrieben wurden. Diese plünderten den Ort, der dann bis ins 19. Jahrhundert mehr oder weniger eine Ruine blieb. Allerdings gab es ein Kloster in den Hügeln oberhalb von Balaklawa, wo auch einige griechische Soldaten stationiert waren, die jedoch vor den Alliierten die Flucht ergriffen.