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Kanonenfutter

Die Nachricht vom Tod des Zaren traf im Lauf des 2. März in Paris und London ein. Königin Viktoria gehörte zu den Ersten, die davon erfuhren. Sie reflektierte in ihrem Tagebuch:

Der arme Kaiser, leider hat er das Blut vieler tausend Menschen auf dem Gewissen, aber er war einst ein großer Mann, und er hatte bedeutende Qualitäten, darunter auch gute. Was er tat, beruhte auf einer verfehlten, eigensinnigen Vorstellung von dem, was richtig sei und was zu tun und zu besitzen er ein Recht habe. Vor elf Jahren war er hier – durch und durch liebenswürdig und zweifellos wunderbar faszinierend und stattlich. Noch einige Jahre danach war er von Gefühlen der Freundschaft für uns erfüllt! Was die Folgen seines Todes sein mögen, kann niemand vorhersehen.1

Der Tod des Zaren wurde sofort überall in Großbritannien in Theatern, auf Versammlungen und an anderen öffentlichen Orten bekannt gegeben. In Nottingham konnte man die Nachricht hören, als der Vorhang nach dem ersten Akt von Donizettis Oper Lucia di Lammermoor gefallen war. Das Publikum jubelte, das Orchester spielte die Nationalhymne, und die Menschen liefen zum Feiern auf die Straßen. Alle waren überzeugt, den Krieg gewonnen zu haben, denn Nikolaus hatte ihn durch seine aggressive Politik herbeigeführt und nun würde Russland bestimmt zur Vernunft kommen und sich rasch um Frieden bemühen. Die Times erklärte Nikolaus’ Tod zu einem Akt höherer Gewalt, zu Gottes Bestrafung des Mannes, der für den Kriegsausbruch verantwortlich war, und rechnete mit einem baldigen Sieg der Alliierten. Die Kurse an der Pariser und der Londoner Börse schossen in die Höhe.

Es dauerte länger, bis die Nachricht die alliierten Streitkräfte auf der Krim erreichte, und das auf unerwartete Art. Am Abend des 4. März, mehrere Tage vor der telegrafischen Mitteilung, fand ein französischer Soldat eine um einen Stein gewickelte Notiz, die aus den russischen Schützengräben vor den Mauern von Sewastopol herübergeworfen worden war. Der Verfasser, der den Text auf Französisch geschrieben hatte, behauptete, den Standpunkt vieler russischer Offiziere wiederzugeben:

Der Tyrann der Russen ist tot. Bald wird Frieden geschlossen werden, und wir werden keinen Grund mehr haben, gegen die Franzosen zu kämpfen, die wir schätzen. Wenn Sewastopol fällt, dann deshalb, weil der Despot es gewünscht hat.

Ein wahrer Russe,

der sein Land liebt, doch ehrgeizige Autokraten hasst.2

Wie sehr solche Russen sich auch nach dem Frieden sehnten, der neue Zar Alexander II. hatte nicht vor, die politische Haltung seines Vaters aufzugeben. Er war bei seiner Machtübernahme 36 Jahre alt, seit dreißig Jahren Thronfolger und blieb im ersten Jahr seiner Herrschaft unverkennbar im Schatten seines Vaters. Er hatte liberalere Neigungen als Nikolaus, da er unter dem Einfluss des Dichters Wassili Schukowski, seines Hoflehrers, herangewachsen und ausgiebig durch Europa gereist war. Zur Enttäuschung seines Vaters zeigte er kein Interesse an militärischen Angelegenheiten, doch er war russischer Nationalist und sympathisierte eindeutig mit der panslawistischen Sache. Alexander schloss nach seiner Thronbesteigung sofort jegliche Friedensgespräche aus, die erniedrigend für Russland sein könnten (kein anderer Frieden erschien den Briten akzeptabel), und gelobte, für die »heilige Sache« seines Landes und für dessen »Ruhm auf der Welt« weiterzukämpfen. Durch Nesselrode ließ er jedoch auch verlauten, dass er offen für Verhandlungen im Einklang mit »der Integrität und Ehre Russlands« sei. Alexander wusste, dass in Frankreich die Opposition gegen den Krieg wuchs, und das Hauptziel seiner Initiative bestand darin, die Franzosen dem Einfluss der Briten zu entziehen, indem er ihnen Hoffnung auf ein frühes Ende der Feindseligkeiten machte. »Zwischen Frankreich und Russland wird der Krieg ohne Hass geführt«, schrieb Nesselrode an seinen Schwiegersohn Baron von Seebach, den sächsischen Gesandten in Paris, der Napoleon den Brief vorlas: »Frieden wird dann geschlossen werden, wenn Kaiser Napoleon es wünscht.«3

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Zar Alexander II.

In diesen ersten Monaten des Jahres 1855 geriet Napoleon freilich unter immer größeren Druck durch seine britischen Verbündeten, sich auf einen ehrgeizigeren Krieg gegen Russland festzulegen. Palmerston, der neue Premierminister, forderte dies seit langem. Er wollte nicht nur den Marinestützpunkt Sewastopol zerstören, sondern die russische Macht in der Schwarzmeerregion sowie im Kaukasus, in Polen, Finnland und an der Ostsee verringern, indem er neue Verbündete gewann und Befreiungsbewegungen gegen die zaristische Herrschaft unterstützte. Dieser Angriff auf das Russische Reich ging weit über die Vier Punkte hinaus, welche die Briten und Franzosen mit den Österreichern 1854 als Grundlage für die alliierten Kriegspläne gegen Russland festgeschrieben hatten Pläne, die von Aberdeens Koalitionsregierung sorgsam eingegrenzt worden waren. Während Aberdeen einen begrenzten Feldzug angestrebt hatte, um die Russen zu Verhandlungen über die Vier Punkte zu zwingen, war Palmerston entschlossen, die Kämpfe auf der Krim zu einem umfassenden Krieg gegen Russland in Europa und im Vorderen Orient auszuweiten.

Fast ein Jahr zuvor, im März 1854, hatte Palmerston in einem Brief an das britische Kabinett sein »ideales Kriegsergebnis« umrissen:

Die Åland-Inseln [in der Ostsee] und Finnland werden Schweden zurückgegeben. Einige der deutschen Provinzen Russlands an der Ostsee gehen an Preußen. Ein substanzielles Königreich Polen wird als Barriere zwischen Deutschland und Russland wiederhergestellt … Die Krim, Tscherkessien und Georgien werden Russland abgenommen; die Türkei erhält die Krim und Georgien, und Tscherkessien wird entweder unabhängig oder dem Sultan unterstellt. Solche Ergebnisse könnten freilich nur durch eine Verbindung von Schweden, Preußen und Österreich mit England, Frankreich und der Türkei erreicht werden und setzen entscheidende Niederlagen Russlands voraus. Aber sie zu erzielen ist nicht unmöglich, und sie sollten nicht völlig aus unseren Gedanken verbannt werden.

Damals hatte das britische Kabinett Palmerstons ambitiöse Pläne mit großer Skepsis aufgenommen (wie erwähnt, hatte Aberdeen eingewandt, dass der Kontinent durch sie in einen neuen »Dreißigjährigen Krieg« verwickelt werden würde). Nun jedoch, da Palmerston als Premierminister amtierte, Russland geschwächt war und die Entbehrungen des Winters zu Ende gingen, schien die Aussicht auf einen größeren Krieg durchaus nicht unrealistisch zu sein.4

Hinter den Kulissen der britischen Regierung gab es mächtige Befürworter eines ausgeweiteten europäischen Krieges gegen Russland. So veröffentlichte Sir Harry Verney, der liberale Abgeordnete für Buckingham,* ein Pamphlet mit dem Titel Our Quarrel with Russia (Unser Streit mit Russland), das im Frühjahr 1855 weithin unter Diplomaten und Militärführern zirkulierte. Stratford Canning, der die darin vorgebrachten Gedanken offensichtlich begrüßte, schickte es Palmerston und Clarendon sowie Sir William Codrington zu, dem Kommandeur der Leichten Division, der bald zum Oberbefehlshaber der britischen Orientarmee aufsteigen sollte und unter dessen Papieren die Schrift noch zu finden ist. Verney meinte, dass Großbritannien sich größere Mühe geben solle, die Deutschen in den Krieg gegen Russland einzubeziehen. Deutschland habe viel von einer russischen Aggression zu befürchten, da Berlin nur ein paar Tagesmärsche von den Grenzen des Zarenreiches entfernt sei; durch seine überwiegend protestantische Bevölkerung habe es manches mit Großbritannien gemeinsam, und in strategischer Hinsicht bilde es die ideale Basis für einen Krieg, durch den der christliche Westen von der »barbarischen« Bedrohung durch Russland befreit werden könne. Mit Formulierungen, die man im üblichen Diskurs der europäischen Russophobie gut kannte, unterstrich Verney, dass die Russen »nach Osten, über den Dnepr hinweg zur asiatischen Steppe« getrieben werden müssten.

Russland ist ein Staat, der keine Fortschritte auf geistigem oder gewerblichem Gebiet macht und es völlig unterlässt, einen nützlichen Einfluss auf die Welt auszuüben. Die Regierung, vom höchsten bis zum niedrigsten Amt, ist durch und durch korrupt. Sie stützt sich auf die Machenschaften von Agenten und auf die Berichte von hochbezahlten Spionen im In- und Ausland. Sie rückt in Länder vor, die kultivierter sind und besser verwaltet werden als ihr eigenes, und strebt danach, diese auf ihr eigenes entwürdigendes Niveau herunterzuziehen. Sie lehnt die Verbreitung der Bibel und die Missionarstätigkeit ab … Die Griechen in der Türkei haben den christlichen Charakter so wenig gepflegt, dass sie dem Christentum mehr Schaden zugefügt haben, als es die Türken je vermochten; sie sind überall im türkischen Reich die Verbündeten, auf deren Hilfe die Russen angewiesen sind, um Geheiminformationen zu erhalten und um ihre Pläne auszuführen. Russland bemüht sich nur in den Künsten des Krieges um Vortrefflichkeit – dafür ist es bereit, jeden Betrag zu zahlen.

Unser Wettstreit mit ihm geht um die Frage, ob die Welt Fortschritte, im höchsten Sinne des Wortes, in puncto Zivilisation mit all ihren kostbarsten Begleiterscheinungen erzielen soll. Von dieser Frage hängen religiöse, bürgerliche, gesellschaftliche und geschäftliche Freiheit ebenso ab wie das Reich der gesetzlichen Gleichbehandlung, eine mit Freiheit im Einklang stehende Ordnung, die Verbreitung von Gottes Wort und die Verkündung von Prinzipien, die in der Heiligen Schrift wurzeln.5

Napoleon hatte viel Verständnis für Palmerstons Absicht, mit Hilfe des Krieges neue Grenzen in Europa zu ziehen. Der antirussische Feldzug im Kaukasus, der hauptsächlich britischen Interessen diente, sagte ihm freilich weniger zu. Zudem hatte seine inländische Opposition nach dem Versäumnis der Armee, einen raschen Sieg zu erringen, alarmierende Ausmaße erreicht, was ihn zaudern ließ, Frankreich auf einen langen und unbefristeten Krieg festzulegen. Napoleon war hin- und hergerissen. Eigentlich neigte er dazu, sich auf die Krim zu konzentrieren, Sewastopol als Symbol für die Befriedigung von Frankreichs »Ehre« und »Prestige« zu erobern und dadurch sein Regime zu stärken, um schließlich den Krieg zu einem baldigen und »glorreichen« Ende zu bringen. In den Überlegungen des Kaisers tauchte andererseits immer wieder die Vision eines europäischen Befreiungskriegs nach dem Vorbild des großen Napoleon auf. Er liebäugelte mit der Hoffnung, dass die Franzosen ihre Begeisterung für den Krieg neu entdecken würden, wenn dieser den alten revolutionären Traum von einem aus demokratischen Nationalstaaten bestehenden Europa wiederaufleben ließ.

Napoleon wollte dem Osmanischen Reich die Krim zurückgeben. Er befürwortete die italienische Unabhängigkeit nachdrücklich und glaubte, dass der Krieg eine Gelegenheit bot, den Österreichern seine Pläne aufzuzwingen, indem er ihnen als Entschädigung für den Verlust der Lombardei und Venetiens die Kontrolle über die Donaufürstentümer einräumte. Doch vor allem galt seine Sympathie der polnischen Sache, dem drängendsten Thema der französischen Politik. Seiner Ansicht nach konnten die Österreicher und Preußen wohl der Wiederherstellung eines unabhängigen Polen als Pufferstaat zwischen ihnen selbst und Russland zustimmen, dessen Expansionsdrang durch den Krieg bestätigt worden war. Deshalb wirkte er auf Palmerston ein, dass die Neuschöpfung eines polnischen Königreichs zur Vorbedingung von Friedensverhandlungen gemacht werden müsse. Die Briten befürchteten jedoch, die Wiederherstellung Polens werde die Heilige Allianz wiederbeleben und sogar Revolutionskriege in Italien und Deutschland auslösen. Wenn das geschah, würde Europa möglicherweise in eine neue Serie Napoleonischer Kriege verwickelt.

All diese Faktoren trugen zum Scheitern der Wiener Konferenz bei, der diplomatischen Friedensinitiative, welche die Österreicher in den ersten Monaten des Jahres 1855 ergriffen hatten. Österreich hatte sich im Dezember zuvor dem Militärbündnis mit den westlichen Staaten angeschlossen, allerdings nicht mit dem Ziel, einen längeren Krieg gegen Russland zu fördern, der doch nur seine eigene Wirtschaft schädigen und seine slawischen Minderheiten aufstacheln konnte. Vielmehr hofften die Österreicher, ihr neues Bündnis zu nutzen, um die Briten und Franzosen unter ihrer eigenen Schirmherrschaft zu Friedensverhandlungen mit den Russen zu bewegen.

Der Januar eignete sich gut für die Rückkehr zur Diplomatie. Durch das militärische Patt und die Nöte des Winters hatte sich der öffentliche Druck auf die westlichen Regierungen verstärkt, dem Krieg ein Ende zu setzen. Vor allem die Franzosen legten Wert darauf, die diplomatischen Möglichkeiten auszuloten. Altgediente Minister wie Drouyn und Thouvenal waren mittlerweile skeptisch, dass ein militärischer Sieg zu erzielen sei. Je länger die Kämpfe andauerten und die Franzosen waren die Hauptbeteiligten , desto heftiger würde die Öffentlichkeit gegen einen Krieg protestieren, der, wie sie schon jetzt meinte, in erster Linie für britische Interessen ausgefochten wurde. Solche Überlegungen ließen Napoleon zum Plan einer Friedensinitiative umschwenken er hoffte, auf diese Weise seine Vorstellung für Polen und Italien voranzubringen , obwohl er ein Verbündeter von Palmerston blieb, der den Frieden nicht wünschte und ihn nicht für praktikabel hielt. Als aber Palmerston in den ersten Wochen des Jahres 1855 eine gewisse Mäßigung an den Tag legen musste, um ein Kabinett mit den friedensliebenden Anhängern von Robert Peel bilden zu können, sah auch er sich genötigt, über die österreichischen Initiativen nachzudenken (oder sich wenigstens den Anschein zu geben, dass er über sie nachdachte).

Am 7. Januar erklärte Fürst Alexander Gortschakow, der Botschafter des Zaren in Wien,** dass Russland die Vier Punkte akzeptiere, darunter auch den umstrittenen dritten Punkt, der das Ende der russischen Vorherrschaft im Schwarzen Meer vorsah. In den letzten Wochen seines Lebens wollte Nikolaus unbedingt Friedensgespräche in Gang bringen. Seit dem Eintritt Österreichs in ein Militärbündnis mit den Westmächten wurde er von dem Schreckgespenst eines allgemeinen europäischen Krieges gegen Russland verfolgt und war bereit, nach einem »ehrenhaften« Ausstieg aus dem Konflikt auf der Krim zu suchen. Die Briten hegten jedoch Misstrauen gegenüber den russischen Absichten. Am 9. Januar teilte Königin Viktoria ihrem Außenminister Clarendon mit, dass die Annahme der Vier Punkte durch Russland ihrer Ansicht nach nur ein »geschicktes diplomatisches Manöver« sei, das die Alliierten von der Eroberung der Krim abhalten solle. Die Königin meinte, man solle den Feldzug fortsetzen und Sewastopol einnehmen, damit die russische Anerkennung der Vier Punkte gewährleistet sei. Palmerston stimmte ihr zu. Er war nicht willens, die militärischen Schläge, die er den Russen in der Frühjahrskampagne zufügen wollte, durch eine Friedensinitiative abblocken zu lassen.6

Die französischen Minister waren eher geneigt, das russische Angebot für bare Münze zu nehmen und die Möglichkeiten eines Vergleichs auszuloten. Ihre Bereitschaft dazu wurde im Februar erheblich gestärkt, als Napoleon seine feste Absicht verkündete trotz vieler Warnungen seiner Berater und Verbündeten, die um sein Leben fürchteten , zur Krim zu reisen und dort persönlich die Militäroperationen zu leiten. Palmerston war sich mit Clarendon darüber einig, dass die »wahnsinnige« Idee des Kaisers unbedingt durchkreuzt werden müsse, selbst wenn dies bedeutete, Friedensverhandlungen in Wien aufzunehmen. Um die Allianz zu erhalten und um seiner Regierung den Anschein zu verleihen, dass sie es mit Friedensgesprächen ernst meine, obwohl drei wichtige Peel-Anhänger (Gladstone, Graham und Herbert) nach nur zwei Wochen im Amt zurückgetreten waren, weil sie Zweifel an Palmerstons Aufrichtigkeit hegten, ernannte er Lord John Russell zum britischen Repräsentanten auf der Wiener Konferenz.***

Die Berufung von Russell, seit langem Mitglied der Kriegspartei, schien zunächst eine Taktik von Palmerston zu sein, mit der er die Friedensgespräche abwürgen wollte. Doch Russell ließ sich rasch von der österreichischen Initiative überzeugen und zog sogar die Prinzipien und Motive der britischen Politik hinsichtlich der Orientalischen Frage und des Krimkriegs in Zweifel. In einem brillanten Memorandum, das Russell im März verfasste, führte er verschiedene Methoden an, durch die Großbritannien das Osmanische Reich vor russischen Angriffen schützen könne, beispielsweise indem es den Sultan bevollmächtige, die alliierten Flotten ins Schwarze Meer zu beordern, oder indem es den Bosporus gegen Überraschungsangriffe rüste und mit einer Garnison versehe. All das erfordere keinen Krieg, dessen Hauptziel es sei, die Russen in die Knie zu zwingen. Russell äußerte sich auch sehr kritisch über die doktrinäre Einstellung Großbritanniens zur liberalen Reform der muslimisch-christlichen Beziehungen im Osmanischen Reich. Er verurteilte die Tendenz, eine einzige reformierte Struktur auf der Grundlage britischer Verwaltungsprinzipien durchzusetzen, statt auf konservativere und pragmatischere Art mit örtlichen Institutionen, religiösen und gesellschaftlichen Organisationen zusammenzuarbeiten, um Verbesserungen an der Basis zu bewirken. Derlei Gedanken waren sehr österreichisch und ließen in Whitehall die Alarmglocken läuten. Unter dem Druck der Franzosen und einer wachsenden Zahl von Befürwortern der österreichischen Initiative, darunter Prinz Albert, sah sich Palmerston plötzlich mit der Möglichkeit konfrontiert, einen Friedensvertrag unterzeichnen zu müssen, den er nicht wollte. Der Prinzgemahl war Anfang Mai zu der Überzeugung gelangt, dass eine diplomatische Allianz der vier Großmächte und Deutschlands eine bessere Sicherheitsgarantie für die Türkei und Europa sei als die Fortsetzung des Krieges gegen Russland.

Je länger die Wiener Gespräche dauerten, desto mehr wurde Palmerston in seiner Entschlossenheit bestärkt, sie abzubrechen und die Kämpfe in größerem Maßstab fortzuführen. Die Entscheidung über Krieg und Frieden hing aber letztlich von dem wankelmütigen Kaiser der Franzosen ab. Die entscheidende Frage war, ob er auf den Rat seines Außenministers Drouyn hören würde, der einen Friedensplan im Einklang mit den österreichischen Vorschlägen zur Begrenzung der russischen Flottenmacht im Schwarzen Meer empfahl, oder ob er sich von dem britischen Botschafter Lord Cowley überzeugen lassen würde, der ihm versicherte, dass die Vorschläge kein Ersatz für die Zerstörung der russischen Flotte seien und dass es einer nationalen Demütigung gleichkäme, einen Friedensvertrag vor der Erreichung dieses Ziels zu unterzeichnen. Das maßgebliche Treffen fand am 4. Mai in Paris statt, als Marschall Vaillant, der französische Kriegsminister, Cowley beipflichtete und betonte, was für eine Schande es wäre, den Frieden ohne militärischen Sieg zu akzeptieren; eine solche Situation könne gefährliche Folgen für die Armee und die politische Stabilität des Second Empire haben. Die Friedenspläne wurden abgelehnt, und Drouyn trat bald darauf zurück, während Napoleon sich widerwillig auf das Bündnis mit den Briten und das Projekt eines erweiterten Krieges gegen Russland festlegte.7

Für solch einen Krieg herrschte kein Mangel an neuen Verbündeten. Am 26. Januar hatten Frankreich und Großbritannien ein militärisches Abkommen mit dem Königreich Sardinien-Piemont unterzeichnet, dem einzigen italienischen Staat, der sich der politischen Kontrolle durch Österreich entzogen hatte. Im Anschluss an das Abkommen wurden 15 000 Soldaten unter dem Kommando des italienischen Generals Alfonso La Marmora zur Krim entsandt, wo sie sich den Briten am 8. Mai anschlossen. Für Camillo Cavour, den piemontesischen Ministerpräsidenten, bot die Entsendung der Expeditionsstreitmacht eine Gelegenheit, ein Bündnis mit den Westmächten zu schmieden und die Sache der italienischen Vereinigung unter der Führung von Piemont voranzutreiben. Cavour befürwortete, ganz im Sinne Palmerstons, einen allgemeinen Krieg gegen Russland und die Heilige Allianz, um neue europäische Grenzen nach liberalem nationalem Muster ziehen zu können. Der Einsatz italienischer Soldaten war jedoch riskant, da die Briten und Franzosen offiziell keine Hilfe versprechen konnten, um die Österreicher nicht gegen sich aufzubringen (am 22. Dezember hatte Frankreich sogar einen Geheimvertrag mit Österreich unterzeichnet, in dem es sich bereit erklärte, den Status quo in Italien aufrechtzuerhalten, solange ihr Bündnis im Krieg gegen Russland bestand). Die Piemontesen konnten freilich erst dann realen Einfluss auf der internationalen Bühne ausüben, wenn sie den Westmächten ihre Nützlichkeit bewiesen, und da Österreich wahrscheinlich nicht als Kombattant in den Krieg eingreifen würde, war dies eine Gelegenheit für Piemont zu demonstrieren, dass es wertvoller als Österreich sein konnte. In der Tat waren die alliierten Befehlshaber der Meinung, dass die Sardinier »schmucke, gut aussehende Burschen« und erstklassige Soldaten seien. Ein französischer General, der sie bei Balaklawa an Land gehen sah, meinte, dass »alle gut versorgt und gepflegt, organisiert und diszipliniert und ganz frisch in ihren neuen, glänzenden dunkelblauen Uniformen« wirkten.8 In der Folge benahmen sie sich auf der Krim vorbildlich und erwiesen sich als mutige Kämpfer.

Auch die Polen begrüßten den Gedanken an einen allgemeinen europäischen Krieg gegen Russland. Ermutigt von Adam Czartoryski und der Hôtel-Lambert-Gruppe, förderten die Franzosen und Briten die Gründung einer Polnischen Legion unter dem Kommando von Zamoyski. Sie bestand aus 1500 polnischen Exilanten, Kriegsgefangenen und Deserteuren aus der Armee des Zaren, wurde von den Westmächten ausgerüstet und tarnte sich mit der Bezeichnung »Kosaken des Sultans«, um auf der Krim und im Kaukasus gegen die Russen zu kämpfen.**** Laut einem russischen Offizier, den die Alliierten bei Kinburn gefangen genommen hatten, wurden die meisten der 500 Polen, die man in seinem Gefängnis rekrutierte, dafür bezahlt, sich der Polnischen Legion anzuschließen, und wer sich geweigert habe, sei geschlagen worden.9 Die Legion trat erst im Herbst 1855 in den aktiven Dienst ein, doch man hatte das Projekt bereits seit dem Frühjahr endlos diskutiert. Man verknüpfte es mit der heiklen Frage, ob die Westmächte die Legion als nationale Streitmacht anerkennen würden, was bedeutet hätte, dass sie die polnische Sache als eines ihrer Kriegsziele unterstützten.

In seinem Bestreben, mehr Soldaten für einen größeren Krieg gegen Russland zu gewinnen, forderte Palmerston die Rekrutierung von Söldnern aus allen Teilen der Welt. Er sprach davon, 40 000 Mann auszuheben. »Lasst uns so viele Deutsche und Schweizer wie möglich heranholen«, erklärte er im Frühling. »Lasst uns Männer aus Halifax holen, lasst uns Italiener anwerben, und lasst uns unser Kopfgeld erhöhen, ohne das Niveau anzuheben. Es muss getan werden. Wir brauchen Soldaten.« Da die britische Armee über kein Wehrpflichtsystem verfügte, durch das sie ausgebildete Reservisten hätte ansammeln können, war sie von jeher auf ausländische Söldner angewiesen, doch die schweren Verluste der Wintermonate machten sie noch stärker als sonst von der Rekrutierung einer Fremdenlegion abhängig. Da die Franzosen mindestens doppelt so viele Soldaten stellten wie die Briten, hatten sie den Vorrang, wenn es darum ging, die Ziele und die Strategie der Alliierten festzulegen. Im Dezember verabschiedete das britische Parlament in aller Eile ein Ausländeranwerbungsgesetz. Erheblicher öffentlicher Widerstand, hauptsächlich aus Gründen des Misstrauens gegenüber Ausländern, machte eine Gesetzesänderung erforderlich, wonach nicht mehr als 10 000 Soldaten aus dem Ausland rekrutiert werden sollten. Die größte Gruppe von Söldnern, rund 9300 Mann, kam aus Deutschland; in der Mehrzahl handelte es sich um Handwerker und Landarbeiter, von denen etwa die Hälfte eine militärische Ausbildung oder entsprechende Erfahrung hatte. An zweiter Stelle standen die Schweizer, die um 3000 Mann zählten. Sie trafen im April in Großbritannien ein, und jeder erhielt ein Kopfgeld von 10 Pfund. Nach einer Ausbildung in Aldershot wurde im November 1855 eine kombinierte Streitmacht von 7000 Schweizer und deutschen Soldaten nach Scutari entsandt. Wie sich herausstellte, kamen sie zu spät, um noch an den Kämpfen auf der Krim teilnehmen zu können.10

* * *

Die Briten und Franzosen standen nicht nur vor der Frage, wie sie neue Verbündete und Soldaten für einen umfassenderen Krieg gegen Russland gewinnen konnten, sondern auch, auf welches Gebiet sie den Angriff konzentrieren sollten. Im Frühjahr 1855 waren die russischen Kräfte extrem spärlich verteilt, und es gab viele Schwachstellen in der Verteidigung des Reiches, weshalb es sinnvoll war, den Feldzug durch neue Angriffe auf diese Stellen auszuweiten. Die einzige Schwierigkeit bestand darin, sich für konkrete Ziele zu entscheiden. Von den 1,2 Millionen russischen Soldaten im Feld bewachten 260 000 die Ostseeküste, 293 000 standen in Polen und der West-Ukraine, 121 000 waren in Bessarabien und an der Schwarzmeerküste, während man 183 000 im Kaukasus stationiert hatte.11

Die Verteidigung der Russen war derart überdehnt, und sie hatten so große Angst vor einem Durchbruch der Alliierten, dass Pläne für einen Partisanenkrieg nach dem Vorbild von 1812 erstellt wurden. Im Februar verfasste General Gortschakow einen Geheimbericht (»Über den nationalen Widerstand im Fall eines feindlichen Einmarsches in Russland«). Er war beunruhigt über die Sammlung der alliierten europäischen Armeen für eine neue Offensive im Frühjahr und befürchtete, dass die Russen nicht in der Lage sein würden, all ihre Grenzen zu verteidigen. Wie Paskewitsch und Zar Nikolaus machte auch ihm eine mögliche österreichische Invasion durch Polen und die Ukraine, wo die größten russischen Streitkräfte stationiert waren, am meisten zu schaffen, und zwar wegen der ethnischen und religiösen Zusammensetzung dieser Grenzgebiete: Wenn die Österreicher durchbrachen, würden sich ihnen wahrscheinlich nicht nur die Polen, sondern auch die katholischen Ruthenen in Wolhynien und Podolien anschließen. Gortschakow schlug vor, die russische Partisanenverteidigung auf religiöser Basis hinter den Grenzgebieten zu organisieren, nämlich in den Provinzen Kiew und Cherson, wo sich die orthodoxe Bevölkerung unter Umständen von ihren Pfarrern überzeugen ließ, in den Partisanenbrigaden zu kämpfen. Unter dem Kommando der Südarmee würden die Brigaden nach dem Vorbild der Verbrannte-Erde-Taktik von 1812 Brücken zerstören, Ernten vernichten und Vieh töten, um sich dann in die Wälder zurückzuziehen und die vorrückenden Feinde aus dem Hinterhalt zu überfallen. Zar Alexander billigte Gortschakows Vorschläge, die im März in die Praxis umgesetzt wurden. Man sandte Priester in die Ukraine, die, ausgestattet mit Exemplaren des Manifests, das Nikolaus auf dem Totenbett geschrieben hatte, die orthodoxen Bauern zu einem »heiligen Krieg« gegen die Angreifer aufriefen. Diese Initiative war wenig erfolgreich. Zwar erschienen Bauernscharen von bis zu 700 Mann in der Kiewer Gegend, aber die meisten hatten den Eindruck, dass sie für ihre Befreiung von der Leibeigenschaft kämpfen würden und nicht gegen einen ausländischen Feind. Sie marschierten mit ihren Heugabeln und Jagdgewehren auf die Herrenhäuser zu, wo sie von Soldaten aus den Garnisonen zerstreut werden mussten.12

Unterdessen erörterten die Alliierten, auf welche Gebiete sie ihre neuen Frühjahrsoffensiven konzentrieren sollten. Viele führende Briten setzten ihre Hoffnung auf einen Feldzug im Kaukasus, wo sich die aufständischen muslimischen Stämme unter Imam Schamil bereits mit der türkischen Armee zusammmengetan hatten, um die Russen in Georgien und Tscherkessien anzugreifen. Im Juli 1854 hatte Schamil eine groß angelegte Attacke auf die russischen Stellungen in Georgien durchgeführt. Mit 15 000 Kavalleristen und Fußsoldaten war er bis auf 60 Kilometer an Tbilissi herangerückt, das damals von nur 2000 Russen verteidigt wurde. Da aber die Türken ihre Streitkräfte nicht aus Kars herbeigeholt hatten, um das zaristische Militärhauptquartier gemeinsam mit ihm anzugreifen, war er nach Dagestan zurückgewichen. Einige von Schamils Verbänden unter dem Kommando seines Sohnes Gazi Muhammed überfielen die Sommerresidenz des georgischen Fürsten Tschawtschawadse in Zinandali und nahmen seine Frau und deren Schwester (Enkelinnen des letzten georgischen Königs) mitsamt ihren Kindern und ihrer französischen Gouvernante gefangen. Schamil hatte gehofft, sie gegen seinen Sohn Dschemaleddin auszutauschen, der in St. Petersburg als Geisel gehalten wurde, doch die Nachricht von ihrer Gefangennahme löste internationale Empörung aus, und französische und britische Repräsentanten forderten ihre bedingungslose Freilassung. Ihre Schreiben erreichten Schamil jedoch erst im März 1855, und bis dahin hatte der Imam den Austausch der Frauen und ihrer Kinder gegen Dschemaleddin und 40 000 Silberrubel vom russischen Hof bereits erfolgreich vollzogen.13

Die Briten belieferten die rebellierenden muslimischen Stämme seit 1853 mit Waffen und Munition, hatten bislang aber gezögert, sich uneingeschränkt für Schamils Armee oder sogar für die Türken im Kaukasus zu engagieren, da sie beide mit kolonialer Geringschätzung betrachteten. Durch die Entführung der Fürstinnen gewann Schamil keine Freunde in London, aber im Frühjahr 1855 begannen die Briten und Franzosen, veranlasst durch die Suche nach neuen Wegen zur Niederwerfung Russlands, die Möglichkeit der Aufnahme von Beziehungen zu den kaukasischen Stämmen zu sondieren. Im April entsandte die britische Regierung einen Sonderbeauftragten, John Longworth, ihren früheren Konsul in Monastir und einen engen Mitarbeiter von David Urquhart, dem turkophilen Sympathisanten der Tscherkessen, auf eine Geheimmission: Er sollte Kontakt zu Schamil herstellen und ihm britische Militärunterstützung für den Fall versprechen, dass dieser die muslimischen Stämme zu einem »heiligen Krieg« gegen Russland vereinigte. Die französische Regierung schickte einen eigenen Agenten, Charles Champoiseau, ihren Vizekonsul in Redutkale, auf eine separate Mission zu den tscherkessischen Stämmen um Suchumi in Georgien.14

Die Briten verpflichteten sich, Schamils Armee zu bewaffnen und die Russen aus Tscherkessien zu vertreiben. Am 11. Juni meldete Stratford Canning dem Foreign Office, er habe die Hohe Pforte bewogen, »einen Firman über die tscherkessische Unabhängigkeit für den Fall der Verdrängung der Russen aus ihrem Land herauszugeben« (ein zweifelhafter Plan in dieser durch komplexe Stammesbeziehungen geprägten Gegend). Mittlerweile war Longworth selbst in Tscherkessien eingetroffen und hatte berichtet, dass die Gebirgsstämme gut mit Minié- und Jagdgewehren ausgerüstet seien. Der britische Agent war der Meinung, die Tscherkessen könnten unter türkischer Führung auf der Kuban-Ebene gegen Russland kämpfen. Mustafa Pascha, der Oberbefehlshaber der türkischen Streitkräfte in Batumi, habe sich mit den tscherkessischen Stammesführern getroffen und sei »gewissermaßen zum Generalgouverneur von Tscherkessien geworden«, meldete Longworth. Gerüchten zufolge stellte Mustafa eine riesige Tscherkessenarmee von 60 000 Mann auf, um vom Kaukasus her in Südrussland einzufallen. Longworth befürchtete allerdings, dass die Osmanen die Situation ausnutzten, um ihre Machtposition im Kaukasus wiederzugewinnen, und forderte die Briten auf, ihnen entgegenzutreten. Die lokalen Paschas machten sich ihre neuerlichen Beziehungen zur Hohen Pforte zunutze, um auf despotische Art zu herrschen, und dies habe zur Entfremdung vieler Stämme von den Briten und Franzosen, den Verbündeten der Türken, geführt. Longworth sprach sich auch deshalb gegen das Vorhaben aus, Schamils Bewegung zu unterstützen, weil sie von islamischen Fundamentalisten infiltriert worden sei, insbesondere von Schamils Emissär (Naib) in Tscherkessien, Muhammed Emin, der gelobt hatte, sämtliche Christen aus dem Kaukasus zu verjagen; außerdem hatte er Schamils Anhängern jedweden Kontakt zu Nichtmuslimen untersagt. Laut Longworth plante der Naib, »ein Feudalreich auf den Prinzipien des islamischen Fanatismus« aufzubauen. Longworths Vorbehalte gegenüber Schamil wurden von vielen Orientexperten im Londoner Außenministerium geteilt. Sie warnten vor dem Einsatz muslimischer Streitkräfte (vornehmlich der Türken) gegen die Russen in Georgien und Armenien, weil nur eine europäische Armee wirkliche Autorität bei der dortigen christlichen Bevölkerung ausüben könne.15

Da sie nicht ihre eigenen Kräfte in den Kaukasus entsenden wollten und gleichzeitig nicht bereit waren, sich auf muslimische Soldaten zu stützen, verschoben Briten und Franzosen eine Entscheidung über ihre Taktik in dieser wichtigen Gegend. Mit effektiveren Truppen im Kaukasus hätten die Alliierten Russland womöglich einen rascheren und vernichtenderen Schlag versetzen können als durch die elf Monate dauernde Belagerung von Sewastopol. Aber sie waren zu vorsichtig, um dieses Potenzial zu nutzen.

Die Alliierten setzten zudem große Hoffnung auf die Kampagne in der Ostsee, die im Frühjahr fortgesetzt wurde. Da man nun eine neue Flotte aus Dampfern und schwimmenden Geschützbatterien sowie einen neuen Befehlshaber, Konteradmiral Sir Richard Dundas, anstelle von Napier besaß, der weithin für das angebliche Scheitern des Feldzugs von 1854 verantwortlich gemacht wurde, sprach man schon optimistisch von einer Eroberung Kronstadts und Sveaborgs der russischen Festungen, die Napier versäumt hatte anzugreifen und dann von einer Bedrohung St. Petersburgs. Der Marinevermesser und Hydrograf, der mit der Planung betraut wurde, war Kapitän Bartholomew Sulivan, der Charles Darwin auf der Beagle-Expedition begleitet hatte. Sulivan schloss aus seinen vorläufigen Recherchen, dass die Festungen auch nur mit Schiffen, ohne Einsatz von Bodentruppen, ausgeschaltet werden konnten. Als Clarendon Anfang März nach Paris reiste, um Napoleon von dessen Plan abzubringen, sich zur Krim aufzumachen, nahm er Sulivans Bericht mit. Das Papier fand Anklang beim Kaiser, der die Entscheidung, Kronstadt 1854 nicht anzugreifen, für eine Schande gehalten hatte. Wie die Briten glaubte Napoleon, dass die Einnahme von Kronstadt die Schweden dazu bringen würde, sich dem Bündnis gegen Russland anzuschließen.

Die ersten britischen Kriegsschiffe stachen am 20. März von Spithead in See; weitere folgten zwei Wochen später. Die französische Flotte unter Admiral Pénaud erreichte die Ostsee am 1. Juni. In dem vergeblichen Bemühen, die alliierte Blockade des russischen Handels zu verstärken eine Blockade, die via Deutschland umgangen wurde , zerstörte die britische Flotte mehrere russische Küstenstationen. Ihre Hauptziele blieben jedoch Kronstadt und Sveaborg. Von seinem acht Kilometer vor Kronstadt liegenden Schiff schrieb Prinz Ernst von Leiningen seiner Cousine Königin Viktoria am 3. Juni:

Vor uns ist die Stadt mit ihren zahlreichen Kirchen und Türmen und ihren endlosen Batterien, die alle die Zähne zeigen, um uns zu beißen, wenn wir ihnen die Möglichkeit geben. Der Eingang zum Hafen wird von zwei mächtigen Forts, Alexander und Menschikow, bewacht, und um sie zu erreichen, müssen Schiffe zuerst die drei Reihen (78 Kanonen) von Fort Risbank hinter sich lassen … Von unserem Masttopp können wir die goldenen Kuppeln und Türme von St. Petersburg klar erkennen, und der Flotte direkt gegenüber steht das herrliche Schloss Oranienbaum, gebaut aus einem weißen Stein, der stark wie Marmor aussieht … Es ist hier oben immer noch kalt, doch das Wetter ist klar, und wir haben fast keine Nächte, nur etwa zwei Stunden Dunkelheit zwischen elf und eins.16

Während die Flotte auf die Ankunft der Franzosen wartete, erkundete Sulivan sorgfältig die Untiefen der Ostsee, darunter die Küste Estlands, wo eine anglophile Aristokratenfamilie ihn zu einem surreal anmutenden Abendessen in ihrem Landhaus einlud. »Es schien wirklich alles ein Traum zu sein«, schrieb er:

drei Meilen landeinwärts auf dem Gebiet des Feindes durch diese sehr englisch wirkende Szenerie mit einer netten jungen Dame schreitend, die so gut Englisch sprach wie ich, wenn auch mit einem leicht ausländischen Akzent … Wir speisten vorzüglich, wobei es mehr einfache Fleischsorten, Wildbret etc. gab, als ich erwartet hatte. Kaffee und Tee wurden hinaus unter einen Baum getragen, und wir verabschiedeten uns gegen zehn, zu Beginn der Dämmerung. Der Baron fuhr mich geschwind in einem leichten Phäton mit englischen Pferden und einem gänzlich englisch gekleideten Stallknecht – Ledergürtel, Stiefel und so weiter.

Anfang Juni legte Sulivan seinen Bericht vor. Inzwischen war er pessimistischer, was die Möglichkeit betraf, die mächtigen Verteidigungsanlagen von Kronstadt zu überwinden (genau wie Napier im Jahr 1854). Im Jahr zuvor hatten die Russen ihre Flotte verstärkt (Sulivan zählte 34 Kanonenboote) und die seewärtigen Verschanzungen durch Unterwasserminen mit elektrischen und chemischen Zündern (beschrieben als »Höllenmaschinen«) sowie durch eine Barriere aus Holzrahmen, verankert am Meeresboden und mit Felsbrocken gefüllt, abgesichert. Sie zu entfernen würde kaum ohne beträchtliche Verluste durch die schweren Geschütze der Festung möglich sein. Der geplante Angriff auf Kronstadt wurde abgeblasen und damit verflog die Hoffnung auf einen entscheidenden alliierten Durchbruch in der Ostsee.17

Gleichzeitig dachten die Alliierten über Möglichkeiten nach, ihren Feldzug auf der Krim auszuweiten. Das militärische Patt der Wintermonate hatte viele Beobachter folgern lassen, dass die fortgesetzte Bombardierung Sewastopols von Süden her ergebnislos bleiben würde, solange die Russen über Perekop und das Asowsche Meer Vorräte und Verstärkungen vom Festland herbeiholen konnten. Die Belagerung konnte nur gelingen, wenn Sewastopol im Norden eingekreist wurde. Das war die Grundidee des ursprünglichen alliierten Plans vom Sommer 1854 gewesen, den jedoch Raglan umgestoßen hatte, weil er glaubte, dass seine Männer in der Hitze leiden würden, wenn sie die Krim-Ebene besetzten, um die Russen von Perekop abzuschneiden. Am Ende des Jahres war die Dummheit von Raglans Strategie allen klar geworden, und die Militärführer verlangten nach einer umfassenderen Strategie. In einem Memorandum vom Dezember riet zum Beispiel Sir John Burgoyne, Raglans oberster Pionieroffizier, zur Aufstellung einer alliierten Streitmacht von 30 000 Mann am Fluss Belbek »mit dem Ziel weiterer Operationen gegen Bachtschisserai und Simferopol«, durch die Sewastopol von einer seiner beiden wichtigsten Nachschublinien abgeschnitten werden würde (die andere führte über Kertsch im Osten der Krim).18

Die russische Attacke auf Jewpatorija vom Februar hatte weitere Pläne für eine massivere alliierte Präsenz ausgelöst, die den russischen Nachschub von Perekop unterbrechen sollte. Im März schickten die Verbündeten Truppen nach Jewpatorija, um die türkische Streitmacht zu verstärken. Dort fanden sie eine entsetzliche Situation vor eine wirkliche humanitäre Krise , denn an die 40 000 tatarische Bauern lebten ohne Nahrung oder Obdach auf den Straßen, nachdem sie ihre Dörfer aus Angst vor den Russen verlassen hatten. Die Krise ließ die alliierten Befehlshaber darüber nachdenken, weitere Soldaten in der nordwestlichen Krim-Ebene einzusetzen, schon allein um die tatarische Bevölkerung vor den Russen zu schützen und gegen sie zu mobilisieren.19

Erst im April aber gingen die Alliierten wirklich daran, ernsthaft ihre Militärstrategie auf der Krim zu überdenken. Am 18. April trafen sich Palmerston, Napoleon, Prinz Albert, Clarendon, Lord Panmure (der neue britische Kriegsminister), Vaillant, Burgoyne und Graf Walewski (Drouyns Nachfolger im französischen Außenministerium) zu einem Kriegsrat in Windsor Castle. Palmerston und Napoleon sprachen sich entschieden für einen Wechsel der Strategie aus: Man sollte die Bombardierung von Sewastopol einschränken, um sich auf die Eroberung der Krim als Ganzes zu konzentrieren, die nach Ansicht beider Männer den Beginn eines größeren Kriegs gegen Russland markierte. Der neue Plan hatte den Vorteil, dass man die Krimtataren auf alliierter Seite einsetzen würde. Vor allem stellte er eine Rückkehr zu den Gefechten in offenem Gelände dar, in denen sich die alliierten Armeen den Russen an der Alma und bei Inkerman technisch überlegen gezeigt hatten. Ebendas Geschick und die Schusskraft ihrer Infanterie verschafften den Alliierten den größten Vorteil gegenüber den Russen, einen Vorteil, der jedoch in der Belagerungskriegführung von Sewastopol unerheblich war. Denn was Militärtechnik und Artillerie anging, waren die Russen den Briten und Franzosen zumindest ebenbürtig.

Am stärksten befürwortete Napoleon einen Strategiewechsel. Obwohl die Besetzung von Sewastopol eines seiner Hauptziele darstellte, war er überzeugt, dass die Stadt erst fallen würde, wenn sie ganz und gar eingeschlossen war dann freilich kampflos. Statt Sewastopol aus dem Süden zu beschießen, sollten die Alliierten eine Armee in Aluschta, 70 Kilometer östlich, landen und in Richtung Simferopol marschieren lassen, durch das der größte Teil des russischen Militärnachschubs befördert wurde. Die Briten stimmten den groben Umrissen von Napoleons Strategie zu, konnten ihn allerdings im Rahmen der Absprache von seiner kühnen Idee abbringen, den Befehl über die militärischen Operationen auf der Krim persönlich zu übernehmen. Der »Plan des Kaisers« (wie man die Aluschta-Expedition in französischen Kreisen nennen sollte) war eine von drei Optionen für eine Ausweichattacke auf das Innere der Krim; die anderen waren eine Offensive bei Sewastopol stationierter alliierter Verbände gegen Bachtschisserai sowie die Landung einer Streitmacht bei Jewpatorija, die über die Ebene nach Simferopol marschieren würde. Die beiden Kriegsminister unterzeichneten ein Memorandum über den vereinbarten Plan, das Panmure im Namen der britischen Regierung an Oberbefehlshaber Raglan schickte. Panmure beauftragte Raglan, zwischen den drei Optionen zu wählen, ließ jedoch keinen Zweifel daran, dass er sich für eine von ihnen entscheiden müsse. Die Schützengräben vor Sewastopol sollten 60 000 Mann (30 000 Türken und 30 000 Franzosen) überlassen werden, deren neue Aufgabe es sei, ein Sperrfeuer aufrechtzuerhalten, um die Russen an einem Ausbruch aus der Stadt zu hindern. Die frühere Absicht, zur Offensive überzugehen, wurde fallengelassen.

Raglan stand dem neuen Plan skeptisch gegenüber. Er wollte die Beschießung fortsetzen, die seiner Ansicht nach sehr bald zu einem Durchbruch führen würde, und er glaubte, eine Feldoffensive werde zu viele Soldaten erfordern, um die alliierten Positionen vor Sewastopol weiterhin verteidigen zu können. In einem Akt offener Missachtung, wenn nicht gar der Rebellion gegenüber seinen politischen Vorgesetzten berief Raglan auf der Krim einen Kriegsrat ein, bei dem er den alliierten Befehlshabern Canrobert und Omer Pascha mitteilte, Panmures Memorandum enthalte nur einen »Vorschlag«, den er (Raglan) nach Belieben akzeptieren oder ablehnen könne. Raglan verschleppte die Umsetzung des neuen Planes, indem er verschiedene Vorwände anführte, um keine Männer von der Belagerung abziehen zu müssen. Schließlich ließ Canrobert, der die Offensive befürwortete und mehrere Male angeboten hatte, die französischen Truppen Raglans Befehl zu unterstellen, seiner Frustration freien Lauf. »Der von Eurer Majestät ausgearbeitete Feldzugsplan«, teilte Canrobert dem Kaiser mit, »ist durch die mangelnde Kooperation des englischen Oberbefehlshabers im Grunde unmöglich gemacht worden.«20

Viele Jahre lang sollten die Franzosen den Briten das Scheitern des Vorhabens anlasten, in Richtung Simferopol zu marschieren und die übrige Krim zu erobern. Sie hatten gute Gründe, erbost über Raglan zu sein, den Palmerston nach seiner Weigerung, den Befehl zu einem Angriff auf das Innere der Krim auszuführen, wegen Ungehorsams oder sogar Inkompetenz hätte entlassen können. Man durfte annehmen, dass die Alliierten mit ihren effektiveren Gewehren und mit dem Beistand der tatarischen Bevölkerung auf der Ebene fähig gewesen wären, Simferopol durch eine Feldaktion zu erobern und die Hauptnachschubroute der Russen auf der Halbinsel zu kappen. Genau dieses Szenario hatten die Russen besonders gefürchtet, weshalb der Zar im Februar den Angriff auf Jewpatorija befohlen hatte. Die Russen wussten, wie verwundbar sie durch Attacken auf ihre Versorgungslinien waren, und sie hatten die Route von Jewpatorija stets als die wahrscheinlichste für eine alliierte Offensive gegen Simferopol oder Perekop eingeschätzt. Wie sie später zugaben, waren sie erstaunt darüber, dass die Briten und Franzosen nie versucht hatten, einen solchen Angriff durchzuführen.21

Der einzige ernsthafte Versuch der Alliierten, Sewastopol von seinen Nachschubbasen abzuschneiden, war ihr Überfall auf den Hafen Kertsch, der die Versorgungslinien über das Asowsche Meer kontrollierte. Allerdings brauchte man dafür zwei Anläufe. Schon zu Beginn der Kampagne waren Angriffspläne geschmiedet worden, doch der erste Befehl, in Aktion zu treten, erging erst am 26. März, als Raglan von Penmure die schriftliche Anweisung erhielt, eine »gemeinsame Operation zu Wasser und zu Lande« zu organisieren, um »die Befestigungen von Kertsch zu schwächen«. Es war ein reizvoller Vorschlag nicht zuletzt, weil er die Royal Navy einbezog, die man bis dahin kaum eingesetzt hatte, und das zu einem Zeitpunkt, da die Franzosen den britischen Beitrag zu den alliierten Kriegsbemühungen nachdrücklich in Frage stellten. Canrobert hatte anfangs Zweifel an der Operation, doch am 29. April gestattete er einem Geschwader französischer Kriegsschiffe unter dem Kommando von Admiral Bruat sowie 8500 Soldaten, sich der Expedition anzuschließen, die von Generalleutnant Brown, dem altgedienten Befehlshaber der Leichten Division, geleitet werden sollte. Die alliierte Flotte stach am 3. Mai in See und segelte nach Nordwesten in Richtung Odessa, um ihre Absichten vor den Russen zu verbergen und um dann Kurs zurück auf Kertsch zu nehmen. Doch kurz bevor sie ihr Ziel erreichte, holte ein Schnellboot die Flotte ein und überbrachte einen Befehl Canroberts zur Umkehr der französischen Schiffe. Kurz nach der Abfahrt der Flotte hatte Napoleon über die neue Telegrafenleitung angeordnet, die Reserven aus Konstantinopel herbeizuholen. Da Bruats Schiffe zu diesem Zweck benötigt wurden, hatte Canrobert widerwillig beschlossen, sie von dem Angriff auf Kertsch abzuziehen. Die Royal Navy sah sich gezwungen, ebenfalls kehrtzumachen, und Canrobert war in britischen (und vielen französischen) Augen entehrt.22

Durch den Rückruf der Expedition wurden die sich bereits verschlechternden Beziehungen zwischen den Briten und den Franzosen noch stärker beeinträchtigt. Und er spielte eine wichtige Rolle für Canroberts Entscheidung, das Kommando am 16. Mai abzugeben. Er war der Meinung, seine Autorität sei untergraben worden, er habe die Briten im Stich gelassen und sei deshalb außerstande, Raglan zur Durchführung der Pläne für eine Feldkampagne zu veranlassen. Der neue französische Oberbefehlshaber, General Pélissier, ein kleiner, untersetzter Mann mit einer raubeinigen Art, war ein Mann der Tat und viel energischer als Canrobert, den die Briten seit langem spöttisch als »Robert Can’t« bezeichneten. Pélissiers Ernennung wurde im britischen Lager begeistert aufgenommen. Oberst Rose, der britische Bevollmächtigte im Hauptquartier der französischen Armee, der Canrobert nahegestanden hatte, schrieb Clarendon, dass der Zeitpunkt für eine pragmatischere Kriegführung gekommen und Pélissier der richtige Mann dafür sei:

General Pélissier wird eine halbherzige Ausführung seiner Befehle niemals zulassen; denn was machbar ist, muss getan werden. Er ist jähzornig und ungehobelt, aber ich halte ihn für fair und aufrichtig; auch glaube ich, dass diese beiden Eigenschaften in allen wichtigen Angelegenheiten über seine Temperamentsausbrüche triumphieren werden. Er hat eine rasche Auffassungsgabe, reichlich gesunden Menschenverstand und einen entschlossenen Geist, der sich den Schwierigkeiten nicht beugen, sondern sie überwinden will.23

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General Pélissier

Da er die Beziehungen zu den Briten verbessern wollte, war Pélissier damit einverstanden, die Aktion gegen Kertsch erneut in Angriff zu nehmen, obwohl er mit Raglan darin übereinstimmte, dass die Befestigungen von Sewastopol weiterhin das Hauptziel der alliierten Operationen sein sollten. Am 24. Mai stachen sechzig Schiffe der alliierten Flotte mit einer kombinierten Streitmacht aus 7000 französischen, 5000 türkischen und 3000 britischen Soldaten unter Browns Kommando in See. Beim Anblick der sich nähernden Armada flohen die meisten russischen Bewohner von Kertsch in die Landgebiete. Nach einem kurzen Bombardement konnten die Alliierten ungehindert an Land gehen. Brown wurde von einer Abordnung der noch vorhandenen russischen Zivilisten empfangen. Sie hatten Angst vor Überfällen durch die einheimischen Tataren und baten ihn um Schutz. Brown ignorierte ihre Wünsche, befahl, das Waffenarsenal in Kertsch zu zerstören, und ließ eine kleine Truppe aus hauptsächlich französischen und türkischen Soldaten in der Stadt zurück, bevor er mit seinen übrigen Männern an der Küste entlang zu dem wichtigen Fort Jenikale marschierte. Dort setzte sich die Plünderung russischen Eigentums unter Browns Aufsicht fort. Unterdessen drang die alliierte Flotte ins Asowsche Meer vor, segelte auf die russische Küste zu, zerstörte feindliche Schiffe und verwüstete die Häfen Mariupol und Taganrog.*****

Die Angriffe auf russisches Eigentum in Kertsch und Jenikale entarteten bald zu einer Sauforgie und einigen schrecklichen Gräueltaten durch die alliierten Soldaten. Die schlimmsten Ausschreitungen fanden in Kertsch statt, wo die örtlichen Tataren die alliierte Anwesenheit nutzten, um brutale Rache an den einheimischen Russen zu nehmen. Unterstützt von den türkischen Soldaten, plünderten die Tataren Läden und Häuser, vergewaltigten russische Frauen und ermordeten und verstümmelten Hunderte von Russen, darunter sogar Kinder und Babys. Zu den Exzessen gehörte auch die Zerstörung des Ortsmuseums mit seiner umfangreichen, wunderschönen Sammlung hellenischer Kunstwerke. Über diese Freveltat berichtete Russell in der Times vom 28. Mai:

Der Fußboden des Museums ist bedeckt mit dem Schutt von zerbrochenem Glas, von Vasen, Urnen, Statuen, dem kostbaren Staub ihres Inhalts und verkohlten Holz- und Knochenstücken, vermischt mit den frischen Splittern der Regale, Tische und Behälter, auf und in denen man sie aufbewahrt hatte. Kein einziges Stück von dem, was zerbrochen oder zu winzigen Fragmenten verbrannt werden konnte, war von der Verkleinerung durch Hammer oder Feuer ausgenommen worden.

Mehrere Tage lang unternahm Brown nichts, um die Ausschreitungen zu stoppen, obwohl man ihm gemeldet hatte, dass ein französisches und britisches Kontingent an der Plünderung beteiligt war. Brown betrachtete die Tataren als Verbündete und vertrat den Standpunkt, dass sie an einer »legitimen Rebellion« gegen die russische Herrschaft teilnahmen. Nachdem er von den übelsten Schreckenstaten erfahren hatte, entsandte er endlich eine sehr kleine Truppe (nur zwanzig britische Kavalleristen), um die Ordnung wiederherstellen zu lassen. Ihre Zahl war viel zu gering, als dass sie wirklich etwas hätten ausrichten können, obgleich sie einige Briten erschossen, die sie bei Vergewaltigungen erwischt hatten.24

Laut russischen Zeugen hatten sich nicht nur gemeine alliierte Soldaten an der Plünderei, den Vergewaltigungen und anderen Gewalttaten beteiligt, sondern auch Offiziere. »Ich sah mehrere englische Offiziere, die Möbel und Skulpturen zu ihren Schiffen trugen, dazu alle möglichen anderen Gegenstände, die sie aus unseren Häusern geraubt hatten«, erinnerte sich ein Bewohner von Kertsch. Mehrere Frauen behaupteten, sie seien von britischen Offizieren vergewaltigt worden.25

* * *

Alle breiter angelegten Pläne wurden aber letztlich nicht realisiert, weil sich die Briten und Franzosen nach Frühlingsbeginn erneut mit der Belagerung von Sewastopol verzettelten, die weiterhin Vorrang für die alliierte Strategie hatte. Ungeachtet der Erkenntnis, dass sie für den Erfolg der Belagerung eine andere Methode benötigten, hielten die Alliierten nach wie vor an der Vorstellung fest, ein letzter Ansturm würde die Mauern von Sewastopol zum Einsturz bringen und die Russen dazu zwingen, einen demütigenden Frieden zu akzeptieren.

In den Wintermonaten hatte die Belagerung eine ruhige Phase durchgemacht, denn beide Seiten konzentrierten sich weniger auf die Kämpfe als darauf, ihre Befestigungen zu verstärken. Die Franzosen übernahmen den größten Teil der Schanzarbeiten auf alliierter Seite, hauptsächlich weil das von den Briten gehaltene Gelände sehr felsig war. Laut Herbé hoben sie in den elf Belagerungsmonaten Gräben von 66 Kilometer Länge aus, während die Briten nur 15 Kilometer zustande brachten. Es war eine langsame, erschöpfende und gefährliche Arbeit, denn man musste den harten Boden bei Eiseskälte aufbrechen und die darunterliegenden Felsen mit Dynamit sprengen, und das unter ständigem Beschuss durch den Feind. »Jeder Meter unserer Gräben wurde buchstäblich um den Preis eines Menschenlebens und häufig sogar um den von zwei Männern ausgehoben«, schrieb Noir.26

Die Russen waren bei den Befestigungsarbeiten außerordentlich aktiv. Unter Leitung ihres Ingenieurgenies Totleben entwickelten sie Wälle und Schützengräben auf einem raffinierteren Niveau als je zuvor in der Geschichte der Belagerungskriegführung. In den Anfangsstadien der Belagerung waren die russischen Befestigungen kaum mehr als hastig errichtete Erdwälle, verstärkt durch Flechtwerk, Faschinen und Gabionen, doch in den Wintermonaten wurden neue und eindrucksvollere Anlagen hinzugefügt. Man verstärkte die Bastionen durch Kasematten: mehrere Meter unter der Oberfläche eingebunkerte Geschützstellungen, bedeckt mit dicken Schiffsbalken und Erde, wodurch sie dem schwersten Beschuss standhielten. Im Innern der am stärksten befestigten Bastionen, des Malachow und des Redan (Bastion Nr. 3), befand sich ein Labyrinth aus Bunkern und anderen Räumlichkeiten (eine, im Redan, enthielt sogar einen Billardtisch und Ottomanen), und jede verfügte über eine kleine Kapelle und ein Lazarett.27

Um diese wichtigen Bastionen zu schützen, bauten die Russen neue Anlagen außerhalb der Stadtmauern: den Mamelon (Kamtschatka-Lunette), um den Malachow zu verteidigen, und die Steinbruch-Gruben vor dem Redan. Der Mamelon wurde von den Soldaten des Kamtschatka-Regiments (von dem er seinen russischen Namen ableitete) unter fast ständigem französischem Beschuss im Februar und frühen März gebaut. So viele Männer kamen dabei um, dass nicht alle geborgen werden konnten (nicht einmal im Schutz der Nacht), weshalb etliche Tote in den Verschanzungen zurückblieben. Der Mamelon war seinerseits ein komplexes Bollwerk, das durch die doppelten Redouten der Weißen Werke an seiner linken Flanke (benannt nach dem weißen Lehmboden, der bei der Ausgrabung der Anlagen zutage trat) gesichert wurde. Henri Loizillon, ein französischer Ingenieur, beschrieb die Überraschung seiner Kameraden über das, was sie bei der Eroberung des Mamelon Anfang Juni vorfanden:

Überall gab es Unterstände im Boden, die mit schwerem Bauholz verkleidet waren und in denen die Männer vor den Bomben Zuflucht gesucht hatten. Außerdem entdeckten wir einen enormen Untergrund, der mehrere hundert Personen aufnehmen konnte, wodurch die Verluste, die sie erlitten hatten, viel geringer waren als von uns angenommen. Diese Bunker waren umso bemerkenswerter wegen des erstaunlichen Komforts, den wir dort entdeckten: Es gab Betten, Daunendecken, Porzellan, vollständige Teeservices etc., so dass es den Soldaten nicht schlecht ergangen war. Daneben fanden wir eine Kapelle, deren einziges auffallendes Objekt eine sehr schöne, vergoldete Holzskulptur Christi war.28

Während all dieser hektischen Bauarbeiten fanden kaum nennenswerte Kämpfe statt. Allerdings führten die Russen bei Nacht sporadische Angriffe auf die Schützengräben der Briten und der Franzosen durch. Einige der kühnsten wurden von einem Matrosen namens Pjotr Koschka geleitet, der durch seine Taten in Russland zum Nationalhelden aufstieg. Den Alliierten blieb indes unklar, welchem Zweck diese Ausfälle dienten. Sie fügten den Verteidigungsanlagen nur selten bleibende Schäden zu, und die Verluste unter den Besatzern waren unbedeutend, gewöhnlich geringer als die der Russen selbst. Herbé glaubte, der Sinn der Angriffe sei es, die Ermüdung der Alliierten zu verschlimmern, denn die ständige nächtliche Bedrohung machte es ihnen unmöglich, in den Schützengräben zu schlafen (das war tatsächlich die Absicht der Russen). Laut Major Whitworth Porter von den Royal Engineers bestand das erste Anzeichen eines bevorstehenden Angriffs darin, dass »mehrere undeutliche Gestalten, die über die Brüstung krochen, entdeckt wurden«.

Sofort wird Alarm geschlagen, und einen Moment später fallen sie über uns her. Unsere Männer, verstreut wie sie sind, werden überrumpelt, weichen Schritt um Schritt vor dem näher kommenden Feind zurück, bis sie sich endlich zur Wehr setzen können. Und nun schließt sich ein Handgemenge an. Die Kampfrufe und Schreie … unserer Männer; das Brüllen der Russen, die durch den üblen Fusel, mit dem sie vor dem Ansturm berauscht worden sind, wie Wahnsinnige toben; die schrillen Gewehrschüsse, die sekundenlang an allen Seiten widerhallen; die hastig gerufenen Befehle; das Ertönen des russischen Horns, das in all diesem Getöse klar zu hören ist und ihren Vormarsch ankündigt – all das schafft ein Bild der Verwirrung, das auch die stärksten Nerven aus der Ruhe bringen könnte. Wenn man dann die Wahrscheinlichkeit hinzufügt, dass der Kampfplatz in einer Batterie liegen könnte, in der die verschiedenen Querbalken, Geschütze und anderen Hindernisse den Raum verengen und beiden Seiten das Handeln schwer machen, wird man zu einer Vorstellung dieses außerordentlichen Schauspiels gelangen. Früher oder später – gewöhnlich im Lauf von sehr wenigen Minuten – eilen unsere Männer, die sich in hinreichender Zahl gesammelt haben, kühn vorwärts und treiben die Feinde ungestüm über die Brüstung. Eine schöne Salve wird hinter ihnen hergeknallt, so dass sie noch schneller fliehen und der machtvolle britische Jubel noch lauter wird …29

Die Alliierten führten ebenfalls Überraschungsangriffe gegen die russischen Außenanlagen. Ihr Ziel war es nicht, diese Positionen einzunehmen, sondern die Moral der russischen Soldaten zu schwächen. Die Zuaven eigneten sich ideal für solche Vorstöße, denn sie waren die effektivsten Nahkämpfer der Welt. In der Nacht vom 23. auf den 24. Februar stürmte ihr gefeiertes 2. Regiment die neu errichteten Weißen Werke und besetzte sie für kurze Zeit, nur um den Russen zu zeigen, dass man ihre Befestigungen nach Belieben erobern konnte. Dann zogen sich die Männer mit 203 verwundeten sowie 62 toten Soldaten und Offizieren zurück. Statt die Gefallenen den Russen zu überlassen, trugen die Zuaven sie unter schwerem Feuer auf ihre eigene Seite.30

Im Gegensatz zu den Angriffen der Alliierten waren manche Ausfälle der Russen so massiv, dass man hätte annehmen können, sie wollten die Alliierten aus deren Stellungen vertreiben, obgleich ihnen in Wirklichkeit die erforderliche Schlagkraft fehlte. In der Nacht vom 22. auf den 23. März attackierten die Russen mit rund 5000 Mann die französischen Stellungen gegenüber dem Mamelon. Es war der bis dahin größte Ausfall. Die Wucht des Angriffs bekamen die 3. Zuaven zu spüren, die ihre Feinde in einem wilden Handgemenge in der Dunkelheit, welche nur durch die Blitze der abgefeuerten Gewehre und Musketen erhellt wurde, abwehrten. Die Russen machten eine Flankenbewegung und besetzten rasch die schlecht verteidigten britischen Schützengräben zur Rechten, um dann auf die französische Seite zu feuern, doch die Zuaven hielten stand, bis endlich britische Verstärkungen eintrafen und die Zuaven in die Lage versetzten, die Russen zum Mamelon zurückzudrängen. Der Ausfall kam die Russen teuer zu stehen: 1000 Männer wurden verwundet und über 500 getötet, fast alle in oder an den Schützengräben der Zuaven. Nach dem Ende der Kämpfe einigten sich beide Seiten auf eine sechsstündige Waffenruhe, um die Toten und Verwundeten, die das Schlachtfeld übersäten, zu bergen. Männer, die sich noch Minuten zuvor bekriegt hatten, gingen nun freundschaftlich miteinander um, verständigten sich mit Handzeichen und dem einen oder anderen Wort in der Sprache des Gegners, obwohl fast alle russischen Offiziere das Französische, die zweite Sprache ihrer Aristokratie, beherrschten. Hauptmann Nathaniel Steevens vom 88. Fußregiment erlebte die Szene mit:

Hier sahen wir eine Menge englischer Offiziere & Männer, vermischt mit einigen russischen Offizieren & Begleitmannschaft, welche die weiße Fahne mitgebracht hatten; dies war das seltsamste Schauspiel von allen; die Offiziere plauderten so offen und unbekümmert miteinander, als wären sie die besten Freunde, und was die Soldaten anging, so waren diejenigen, die 5 Minuten zuvor noch aufeinander gefeuert hatten, nun dabei zu beobachten, wie sie gemeinsam rauchten, sich Tabak teilten und Rum tranken, während sie die üblichen Komplimente wie »bono Ingles« etc. austauschten; die russischen Offiziere sahen sehr gentlemanlike aus, sprachen Französisch und einer Englisch; schließlich stellte man nach einem Blick auf die Uhren fest, dass »die Zeit fast abgelaufen war«. Darauf zogen sich beide Seiten allmählich außer Sichtweite in ihre jeweiligen Stellungen zurück, freilich erst nachdem unsere Männer den russischen Soldaten die Hand geschüttelt hatten; einer rief: »Au revoir«.31

Von diesen Scharmützeln abgesehen, blieben die Soldaten in den ersten Monaten des Jahres 1855 jeweils auf ihrer Seite. »Die Belagerung besteht nun nur noch nominell«, schrieb Henry Clifford seiner Familie am 31. März. »Wir feuern tagsüber ein paar Schüsse ab, aber alles scheint lahmzuliegen.« Es war eine merkwürdige Situation, denn zahlreiche Geschütze standen nur noch herum, als wäre der Glaube an die Belagerung geschwunden. In jenen Monaten wurde weit ausgiebiger gegraben als geschossen eine Tatsache, die vielen Soldaten nicht gefiel. Laut Whitworth Porter von den Royal Engineers schätzten die Briten »Spatenarbeit« nicht, da sie diese für unsoldatisch hielten. Er zitiert einen Iren von der Infanterie:

»Klar, für so ’ne Arbeit hab ich mich nich gemelldet. Ich hab den roten Rok angezogen um Solldat zu werden und ordendlich Wache zu stehen und mein Bajonnet zu benuzen wenn ich mus. Aber von so wass wie hir hab ich nicht getreumt. Klar, ich hab mich genau deshalb gemelldet weil ich Spatenarbeit hasse; und der Sargent der mich anwarb hat beim heiligen Pathrick geschwohren, das ich nie mehr ’nen Spaten seh. Aber kaum bin ich hir, da krig ich schon ’ne Spitzhake und ’ne Schaufel in die Hand, genauso schlim wie im alten Irland.« Und dann setzte er seine Arbeit fort, wobei er dauernd knurrte und die Russen wüst verfluchte. Dazu gelobte er, dass sie für all seinen Ärger bezahlen würden, wenn er je in die verflixte Stadt käme.32

Während die Belagerung zu einem monotonen, routinemäßigen Feueraustausch mit dem Feind wurde, gewöhnten sich die Soldaten in den Gräben an die ständige Beschießung. Von außen betrachtet, wirkten sie den Gefahren gegenüber fast gleichgültig. Bei seinem ersten Einsatz in den Schützengräben war Charles Mismer, ein 22-jähriger Dragoner der französischen Kavallerie, erstaunt darüber, dass die Soldaten Karten spielten oder schliefen, während Bomben und Granaten um sie herum einschlugen. Die Männer erkannten die Geschosse an ihrem unterschiedlichen Klang, der ihnen verriet, welches Ausweichmanöver erforderlich war: Die Kanonenkugel »sauste mit einem scharfen, schrillen Kreischen, sehr erschreckend für die Nerven des jungen Soldaten, durch die Luft«, wie Porter sich erinnerte; die Kartätschensalve »schwirrte mit einem Geräusch dahin, das dem eines kräftig flatternden Vogelschwarms glich«; der »Strauß« war ein Platzregen aus kleinen, von einer Bombe umschlossenen Granaten, die »jeweils eine gekrümmte Lichtspur hinterließen und wenn sie ihr Ziel erreichten und nacheinander explodierten, die Atmosphäre mit kurzen, sporadischen Blitzen erhellten«; und die größere Mörsergranate, »nachts leicht am Feuerschweif ihrer brennenden Lunte zu erkennen, beschreibt auf mittlerer Höhe einen majestätischen Bogen, bis sie, an ihrem extremen Punkt angelangt, niederfährt, schneller und schneller hinuntersinkt und dann jäh in die Tiefe stürzt wobei sie während des Fluges durch die Luft ein Geräusch von sich gibt wie das Zwitschern eines Kibitzes«. Man konnte nicht ahnen, wo die Mörsergranate landen oder wo ihre Splitter explodieren würden, und so »gab es keine andere Möglichkeit, wenn man die vogelartigen Töne hörte, als sich mit dem Gesicht nach unten auf die Erde zu legen und auf das Beste zu hoffen«.33

Als sich die Belagerung hinzog und keine der beiden Seiten irgendwelche Gewinne verzeichnete, nahm der Schusswechsel nach und nach einen symbolischen Charakter an. In ruhigen Phasen, wenn sich die Männer langweilten, machten sie daraus einen Zeitvertreib. François Luguez, ein Hauptmann der Zuaven, schilderte, wie seine Männer Schießspiele mit den Russen veranstalteten: Eine Seite zog am Ende eines Bajonetts ein Stück Stoff in die Höhe, auf das die andere Seite feuern musste; jeder Schuss wurde mit Jubel und Gelächter begrüßt, wenn er traf, und mit Gejohle, wenn er das Ziel verfehlte.34

Da es immer weniger zu befürchten gab, wagten sich die Posten aus den Feldwachen nachts ins Niemandsland vor, um sich zu amüsieren oder sich aufzuwärmen. Von Zeit zu Zeit fraternisierten sie mit den Russen, deren eigene Vorposten nicht weiter als die Länge eines Fußballplatzes entfernt waren. Calthorpe verzeichnete einen solchen Vorfall, bei dem sich eine Gruppe unbewaffneter russischer Soldaten den britischen Wachen näherte:

[A]ls sie … nahe genug herangekommen waren, zeigten sie durch Gesten, daß sie Feuer für ihre Pfeifen wünschten; unsere Leute gaben ihnen das und sie blieben noch einige Augenblicke stehen, um mit unsern Posten zu sprechen, oder vielmehr es zu versuchen; die Unterhaltung war ziemlich wie folgt:

1. russischer Soldat: »Englis bono!«

1. englischer Soldat: »Ruskie bono!«

2. russischer Soldat: »Francis bono!«

2. englischer Soldat: »Bono!«

3. russischer Soldat: »Oslem no bono!«

3. englischer Soldat: »Ah! Ah! Turk no bono!«

1. russischer Soldat: »Oslem!« dabei schnitt er ein Gesicht und spuckte auf den Boden, um seine Verachtung zu beweisen.

1. englischer Soldat: »Turk!« Er that, als wollte er erschreckt fortlaufen, worauf die ganze Gesellschaft in ein schallendes Gelächter ausbrach, und nachdem sie sich die Hände geschüttelt, nach ihren verschiedenen Posten zurückkehrten.35

Um sich die Zeit zu vertreiben, erfanden die Soldaten eine große Vielfalt von Beschäftigungen und Spielen. In den Bastionen von Sewastopol, bemerkte Jerschow, »ging man rund um die Uhr allen möglichen Kartenspielen nach«. Offiziere spielten Schach und lasen ausgiebig. In der Kasematte der 6. Bastion stand sogar ein Flügel, und man arrangierte Konzerte mit Musikern aus den anderen Bastionen. »Anfangs«, schreibt Jerschow, »waren die Konzerte würdevoll und zeremoniell, und wir schenkten den Regeln, wie man klassischer Musik zu lauschen habe, gebührende Aufmerksamkeit, doch allmählich änderte sich unsere Stimmung, und wir entwickelten einen entsprechenden Hang zu nationalen Melodien oder Volksliedern und -tänzen. Einmal wurde ein Maskenball veranstaltet, und ein Kadett erschien in Frauenkleidung, um Volkslieder zu singen.«36

Bühnenveranstaltungen waren sehr beliebt im französischen Lager, wo die Zuaven eine eigene Theatertruppe hatten, ein Transvestiten-Varieté, das Scharen lärmender Soldaten in einem Holzschuppen unterhielt. »Man stelle sich einen als Schäferin verkleideten Zuaven vor, wie er mit den Männern flirtet (faisant la coquette)!«, schrieb André Damas, ein Kaplan der französischen Armee. »Und dann einen anderen Zuaven, der als junge Gesellschaftsdame verkleidet ist und sich ziert (jouant la précieuse)! Ich habe nie etwas Komischeres oder Begabteres gesehen als diese Herren. Sie waren köstlich.«37

Pferderennen waren ebenfalls beliebt, besonders bei den Briten, deren Kavallerie fast nichts zu tun hatte. Aber nicht nur die Kavalleriepferde nahmen an diesen Rennen teil. Whitworth Porter besuchte eine Veranstaltung, welche die 3. Division in der Ebene abhielt. »Es war ein bitterkalter Tag«, trug er am 18. März in sein Tagebuch ein,

ein scharfer Westwind pfiff uns um die Ohren. Trotzdem war die Bahn voll von Nachzüglern aus allen Teilen der Armee; jeder, der sich irgendwie ein Pony für diese Gelegenheit besorgen konnte, hatte es getan, und die meisten von ihnen machten einen sehr eigenartigen Eindruck. Ich sah ein riesiges Exemplar von einem britischen Offizier, der barfüßig nicht weniger als 1,90 Meter gemessen haben dürfte, das kleinste, magerste, zottigste Pony besteigen, dem ich je begegnet bin.38

In diesen relativ müßigen Monaten wurde eine Menge getrunken. Dies führte bei allen beteiligten Armeen zu allgemeiner Disziplinlosigkeit, Gefluche, Aufsässigkeit, Schlägereien und sonstiger Gewalt sowie zu Akten des Ungehorsams, was den Schluss nahelegt, dass die Moral der Soldaten gefährlich tief gesunken war. In der britischen Armee (und es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass sie stärker betroffen war als die russischen oder französischen Streitkräfte) begingen sage und schreibe 5546 Männer (ungefähr jeder achte aktive Soldat) solche Ausschreitungen, dass sie während des Krimkriegs wegen Trunkenheit vor ein Militärgericht gestellt wurden. Die meisten leerten einen ziemlich großen Becher Alkohol zum Frühstück Wodka für die Russen, Rum für die Briten und Wein für die Franzosen und einen weiteren zur Hauptmahlzeit. Viele griffen auch tagsüber zur Flasche, und einige waren während der gesamten Belagerung nie nüchtern. Alkoholkonsum war der Hauptzeitvertreib in allen Armeen, auch bei den Türken, die süßen Krimwein schätzten. Henry Clifford beschrieb die Trinkgewohnheiten in den alliierten Lagern:

Fast jedes Regiment hat eine Kantine, und an der Tür einer jeden standen Gruppen von französischen und englischen Soldaten in jeglichen Stadien des Rausches – nein, sie standen nicht, denn nur wenige waren dazu fähig, sondern sie lagen auf dem Boden oder rollten herum. Fröhlich, lachend, weinend, tanzend, prügelnd, sentimental, liebevoll, singend, redend, streitsüchtig, dumm, roh, brutal und stockbetrunken – Franzosen genauso schlimm wie Engländer und Engländer genauso schlimm wie Franzosen … Was für ein Fehler, den Soldaten zu hoch zu bezahlen! Gib ihm einen Viertelpenny mehr, als er wirklich benötigt, und schon lässt er seinen brutalen Neigungen freien Lauf und betrinkt sich auf der Stelle … Ob er Engländer, Franzose, Türke oder Sardinier ist – gib ihm genug Geld, und er wird sich betrinken.39

Das plötzlich eintretende warme Frühlingswetter hob die Moral der alliierten Soldaten. »Heute ist Frühling«, schrieb Herbé am 6. April, »die Sonne lässt uns seit drei Wochen nicht im Stich, und alles hat seine Erscheinung geändert.« Die Franzosen legten in der Nähe ihrer Zelte Gärten an. Viele rasierten sich wie Herbé den Winterbart ab, wuschen ihre Bettwäsche und putzten sich überhaupt heraus, damit »unsere Uniformen, wenn die Damen von Sewastopol einen Ball geben und die französischen Offiziere einladen sollten, neben ihren eleganten Kostümen immer noch hervorstechen würden«. Nach dem grausamen Winter, in dem eine Schlamm- und Schneeschicht die Landschaft überzogen hatte, wurde die Krim plötzlich zu einem Ort von großer Schönheit: Auf dem Heideland erschien eine Überfülle bunter Frühlingsblumen, Felder mit Weidelgras wurden einen Meter hoch, und überall ertönte Vogelgesang. »Wir haben erst ein paar warme Tage hinter uns«, schrieb Russell in der Times vom 17. März,

und doch bringt der Boden, wo immer Blumen hervorsprießen können, eine Vielzahl von Schneeglöckchen, Krokussen und Hyazinthen hervor … Die Finken und Lerchen feiern hier ihren eigenen Valentinstag und kommen immer noch in Schwärmen herbei. Stark glänzende Distelfinken, große Ammern, Goldhähnchen, Lerchen, Hänflinge, Wiesenpieper und drei Meisenarten, die Heckenbraunelle und eine hübsche Stelzenart sind überall auf der Chersonesse sehr verbreitet. Und es ist seltsam, sie in den Pausen zwischen dem Donnern der Kanonen aus Büschen pfeifen und zwitschern zu hören, und genauso seltsam ist es zu sehen, wie sich die jungen Frühlingsblumen durch die Spalten der Geschosshaufen hindurchzwängen und unter Granaten und schweren Geschützen hervorspähen.40

Im britischen Lager stieg die Stimmung auch dank der besseren Versorgung mit Lebensmitteln und anderen Gebrauchsgütern. Dies war im Wesentlichen ein Ergebnis der Tatsache, dass die Privatwirtschaft die Gelegenheiten nutzte, die sich aus dem Versäumnis der Regierung ergaben, Vorsorge für ihre Männer auf der Krim zu treffen. Im Frühjahr 1855 hatte eine große Zahl von Privathändlern und Marketendern Buden und Läden in Kodikoi eröffnet. Die Preise waren halsabschneiderisch, doch man konnte dort alles kaufen: von Schmalzfleisch und Essiggemüse, Flaschenbier und griechischem Raki bis hin zu Röstkaffee, Dosen mit Albertkeksen, Schokolade, Zigarren, Toilettenartikeln, Papier, Federhaltern und Tinte und dem besten Champagner von Oppenheim oder Fortnum & Mason, die beide Läden auf dem Hauptbasar betrieben. Es gab Sattler, Schuster, Schneider, Bäcker und Hoteliers, darunter die berühmte Mary Seacole, eine Jamaikanerin, die in dem »British Hotel«, das sie an einem von ihr Spring Hill genannten Ort bei Kodikoi eröffnet hatte, herzhafte Mahlzeiten und Gastfreundschaft, Kräutermittel und Arzneien anbot.

1805 in Kingston als Tochter eines schottischen Vaters und einer kreolischen Mutter geboren, hatte diese außergewöhnliche Frau als Krankenschwester in den britischen Militärniederlassungen auf Jamaika gearbeitet und einen Engländer namens Seacole geheiratet, der innerhalb eines Jahres starb. Später hatte sie in Panama, wo sie mit Seuchenausbrüchen fertig werden musste, zusammen mit ihrem Bruder ein Hotel und eine Gemischtwarenhandlung geführt. Bei Beginn des Krimkriegs reiste sie nach England und versuchte, sich von Florence Nightingale als Krankenschwester anwerben zu lassen, doch sie wurde mehrere Male abgewiesen, zweifellos auch wegen ihrer Hautfarbe. Entschlossen, Geld zu verdienen und die Kriegsbemühungen als Marketenderin und Hotelbesitzerin zu fördern, tat sie sich mit Thomas Day zusammen, einem entfernten Verwandten ihres Mannes, um die Firma »Seacole & Day« zu gründen. Sie stachen am 15. Februar in Gravesend in See und ließen Vorräte in Konstantinopel laden, wo sie auch einen jungen griechischen Juden (den Mary »Jew Johnny« nannte) anwarben. Trotz des eindrucksvollen Namens war das »British Hotel« im Grunde nur ein Restaurant und eine Gemischtwarenhandlung in, wie Russell schrieb, »einem eisernen Lagerhaus mit Holzschuppen«, doch britische Offiziere, die Hauptkunden, schätzten es sehr, denn es diente ihnen als eine Art Club, in dem sie sich verwöhnen lassen und die Hausmannskost genießen konnten, die sie an die Heimat erinnerte.41

Für die gemeinen Soldaten waren Mary Seacole und die privaten Läden von Kodikoi weniger wichtig, was die Verbesserung der Lebensmittelversorgung anging, als der berühmte Koch Alexis Soyer, der ebenfalls im Frühjahr auf der Krim eintraf. Der 1810 in Frankreich geborene Soyer war Chefkoch im Reform Club in London, wo die Führer der Whig- und Liberalenregierungen auf ihn aufmerksam wurden. Sein Shilling Cookery Book (1854) war in jedem Haushalt der aufstrebenden Mittelschicht zu finden und verschaffte ihm einen prominenten Namen. Im Februar 1855 schrieb er einen Brief an die Times, mit dem er auf einen Artikel über die üblen Zustände in den Krankenhausküchen von Scutari reagierte. Soyer bot der Armee an, sie in Küchenfragen zu beraten, und reiste nach Scutari. Sehr bald begab er sich mit Nightingale auf die Krim, wo sie die Lazarette in Balaklawa besuchte und ihrerseits schwer erkrankte, wodurch sie zur Rückreise nach Scutari gezwungen wurde. Soyer übernahm die Leitung der Küchen im Krankenhaus von Balaklawa und versorgte mit seinem Team aus französischen und italienischen Köchen täglich mehr als 1000 Mann. Seine Hauptleistung bestand darin, dass er die kollektive Verpflegung der britischen Armee durch mobile Feldkantinen einführte ein System, das die Franzosen seit den Napoleonischen Kriegen praktizierten. Er entwickelte seinen eigenen Feldherd, den Soyer Stove, der bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts beim britischen Militär verwendet wurde. Die 400 Herde, die er aus Großbritannien anliefern ließ, genügten für die Versorgung sämtlicher Soldaten auf der Krim. Er richtete Armeebäckereien ein und entwickelte ein Fladenbrot, das sich monatelang hielt. In jedem Regiment bildete er einen Soldatenkoch aus, der seine ebenso einfachen wie nahrhaften Rezepte umsetzte. Soyers Genie kam darin zum Ausdruck, dass er Armeerationen in schmackhafte Mahlzeiten verwandeln konnte. Seine Spezialität waren Suppen wie die folgende für 50 Mann:

1.Man gieße 30 Quarts, 7 ½ Gallonen oder 5 ½ Lagerkessel Wasser in den Kochtopf

2.Man füge 50 Pfund Fleisch, entweder vom Rind oder vom Hammel, hinzu

3.Dazu Rationen konservierten oder frischen Gemüses

4.Sowie 10 kleine Esslöffelvoll Salz

5.Man siede alles für 3 Stunden und trage es auf.42

Der Bau einer Eisenbahn von Balaklawa zum britischen Lager oberhalb von Sewastopol lieferte den Schlüssel zur Verbesserung des Nachschubs. Die Idee der Krimbahn der ersten Bahn in der Geschichte der Kriegführung ging auf den vorherigen November zurück, als die schrecklichen Verhältnisse bei der britischen Armee erstmals von der Times aufgedeckt wurden und eines der Hauptprobleme deutlich geworden war: die Notwendigkeit, sämtliche Vorräte über Schlammpfade von Balaklawa auf die Anhöhen zu transportieren. Diese Berichte las Samuel Peto, der sich einen Namen als erfolgreicher Londoner Bauunternehmer gemacht hatte,****** bevor er sich in den vierziger Jahren den Eisenbahnen zuwandte. Mit einem Zuschuss von 100 000 Pfund der Regierung Aberdeen stellte Peto die Materialien für die Bahn zusammen und warb eine riesige Mannschaft aus hauptsächlich irischen, sehr ungebärdigen Streckenarbeitern an. Sie trafen ab Ende Januar auf der Krim ein, legten in atemberaubendem Tempo bis zu einem halben Kilometer Schienen pro Tag, und gegen Ende März war die gesamte 10 Kilometer lange neue Eisenbahnlinie von Balaklawa zu den Verladerampen in der Nähe des britischen Lagers vollendet. Das war genau rechtzeitig für den Transport der gerade eingetroffenen schweren Geschütze und Mörsergranaten, die auf Raglans Befehl von Balaklawa auf die Anhöhen geschafft werden sollten als Teil der Vorbereitungen für eine zweite Bombardierung von Sewastopol, die nach Absprache der Alliierten am Ostermontag, dem 9. April, beginnen sollte.43

* * *

Der Plan sah vor, Sewastopol durch ein zehn Tage anhaltendes Bombardement und einen anschließenden Angriff auf die Stadt zu überwältigen. Da nun 500 französische und britische Geschütze rund um die Uhr auf Sewastopol feuerten, fast zweimal so viele wie bei dem ersten Beschuss im Oktober, war dies nicht nur das schwerste Bombardement der Belagerung, sondern sogar das bis dahin schwerste der Geschichte überhaupt. Die alliierten Soldaten, die ein Ende des Krieges herbeisehnten, setzten große Hoffnung in die Aktion und warteten ungeduldig auf ihren Beginn. »Die Arbeiten gehen wie immer weiter, und wir machen kaum Fortschritte!«, schrieb Herbé seinen Angehörigen am 6. April. »Die Ungeduld der Offiziere und Soldaten verursacht einen gewissen Missmut. Einer lastet dem anderen die Fehler der Vergangenheit an, und man spürt, dass nun ein energischer Durchbruch erforderlich ist, um die Ordnung wiederherzustellen Die Dinge können nicht mehr lange so weitergehen.«44

Die Russen wussten von den Vorbereitungen für die Offensive. Deserteure aus dem alliierten Lager hatten sie gewarnt, und sie konnten sich mit eigenen Augen von der Geschäftigkeit in den Redouten des Feindes überzeugen, wo täglich neue Kanonen auftauchten.45 In der Nacht des Ostersonntags, ein paar Stunden bevor der Beschuss beginnen sollte, hatte man Bittgottesdienste in sämtlichen Kirchen der Stadt abgehalten. Auch in den Bastionen wurde gebetet. Pfarrer schritten mit Ikonen an den russischen Verteidigungsstellungen entlang, unter anderem mit der Ikone des heiligen Sergi, die auf Befehl des Zaren vom Dreifaltigkeitskloster in Sergijew Possad auf die Krim geschickt worden war. Sie hatte die ersten Romanows auf ihren Feldzügen begleitet und sich 1812 bei der Moskauer Miliz befunden. Alle waren sich der überragenden Bedeutung dieser heiligen Rituale bewusst. Die meisten erwarteten, dass das Schicksal der Stadt durch göttliche Vorsehung entschieden werden würde ein Gefühl, das sich verstärkte, weil beide Seiten gleichzeitig das Osterfest feierten, das in jenem Jahr im orthodoxen und römischen Kalender auf denselben Tag fiel. »Wir beteten voller Inbrunst«, schrieb eine russische Krankenschwester. »Wir beteten mit aller Macht für die Stadt und uns selbst.«

Bei der Mitternachtsmette in der Hauptkirche, die so hell mit Kerzen erleuchtet war, dass man es von den Schützengräben des Feindes aus sehen konnte, strömte eine riesige Menschenmenge hinaus auf die Straßen und blieb in stummem Gebet stehen. Jeder hielt eine Kerze und verbeugte sich hin und wieder, um sich zu bekreuzigen; viele knieten auf dem Boden, während Priester mit Ikonen vorbeischritten und der Chor sang. Mitten in der Nacht brach ein heftiger Sturm los, und Regen prasselte vom Himmel. Aber niemand rührte sich, denn alle dachten, der Sturm sei ein Werk Gottes. Die Betenden blieben draußen im Regen, bis das Bombardement im Morgengrauen begann. Danach verteilten sie sich, immer noch in ihrer besten Osterkleidung, um bei der Verteidigung der Bastionen zu helfen.46

Ein weiterer Sturm ereignete sich an jenem Morgen. Er wütete so sehr, dass laut Whitworth Porter, der die Beschießung von den Anhöhen beobachtete, das Dröhnen der ersten Geschütze »vom Heulen des Windes und dem monotonen Plätschern des Regens, der mit unverminderter Gewalt herunterprasselte, fast übertönt wurde«. Sewastopol war völlig in schwarzen Kanonenrauch und in den Morgennebel gehüllt. In der Stadt konnten die Menschen nicht erkennen, woher die Bomben und Granaten kamen. »Wir wussten, dass eine enorme alliierte Flotte direkt vor uns am Hafeneingang lag, aber wir konnten sie durch den Rauch und Nebel, den peitschenden Wind und strömenden Regen nicht sehen«, schrieb Jerschow. Scharen von verwirrten und verängstigten Menschen rannten schreiend auf der Suche nach Deckung durch die Straßen, viele davon in Richtung Fort Nikolaus, dem einzigen noch vergleichsweise sicheren Ort, der nun zu einem geschäftigen Ghetto innerhalb Sewastopols wurde. Im Stadtzentrum stieß man auf zahlreiche ausgebombte Häuser. Die Straßen waren voller Schutt, zerbrochenem Glas und Kanonenkugeln, die »wie Gummikugeln herumrollten«. Jerschow beobachtete überall kleine menschliche Dramen:

Ein kranker alter Mann wurde auf den Armen seines Sohnes und seiner Tochter durch die Straßen getragen, während Kanonenkugeln und Granaten um sie herum explodierten – eine alte Frau folgte ihnen … Ein paar junge Frauen, hübsch herausgeputzt, lehnten am Geländer der Galerie und tauschten Blicke mit einer Gruppe Husaren aus der Garnison. Neben ihnen waren drei russische Kaufleute in ein Gespräch vertieft; sie bekreuzigten sich jedes Mal, wenn eine Bombe detonierte. »Herr! Herr! Das ist schlimmer als die Hölle!«, hörte ich einen von ihnen sagen.

In der Adelsversammlung, dem wichtigsten Lazarett, bemühten sich Krankenschwestern, die Verwundeten, die zu Tausenden eintrafen, zu versorgen. Im Operationssaal fuhren Pirogow und die anderen Chirurgen selbst dann noch fort, Gliedmaßen zu amputieren, als eine Mauer nach einem Volltreffer einstürzte. Die Alliierten machten nicht den geringsten Versuch, die Krankenhäuser der Stadt zu schonen. Sie beschossen Sewastopol wahllos, und unter den Verwundeten waren viele Frauen und Kinder.47

In der Vierten Bastion, die während der gesamten Belagerung am stärksten gefährdet war, »schliefen [die Soldaten] fast nie«, wie Hauptmann Lipkin, einer der Batteriekommandeure, seinem Bruder am 31. April mitteilte. »Allerhöchstens konnten wir uns ein paar Minuten Schlaf in voller Uniform und mit Stiefeln leisten.« Das Bombardement durch die alliierten, nur wenige hundert Meter entfernten Geschütze war unaufhörlich und ohrenbetäubend. Die Bomben und Granaten gingen so rasch nieder, dass sich die Verteidiger vor dem Einschlag keiner Gefahr bewusst waren. Eine falsche Bewegung konnte zum Verhängnis werden. Das Leben unter ständigem Beschuss brachte eine neue Mentalität hervor. Jerschow, der die Bastion während des Bombardements aufsuchte, fühlte sich »wie ein unerfahrener Reisender, der eine andere Welt betritt«, obwohl er selbst ein gestandener Artillerist war. »Alle liefen hin und her, überall schien Verwirrung zu herrschen; ich konnte nichts verstehen oder erkennen.«48

Tolstoi kehrte inmitten der Beschießung nach Sewastopol zurück. Er hatte die Bomben vom 12 Kilometer entfernten Fluss Belbek gehört, wo er den Winter in dem Lager der 11. Artilleriebrigade verbracht hatte. Nach seiner Entscheidung, dass er der Armee am besten mit der Feder dienen könne, hatte er, um mehr Zeit zum Schreiben zu haben, den Antrag gestellt, General Gortschakows Stab als Adjutant zugeteilt zu werden. Doch zu seiner Verärgerung wurde er mit seiner Batterie ins Schlachtgetümmel zur Vierten Bastion versetzt. Er beklagte sich in seinem Tagebuch: »In diesen Tagen sehr, sehr wenig geschrieben; daran sind Schnupfen und Fieber schuld. Außerdem macht mich besonders jetzt, da ich krank bin wütend, daß niemand auch nur an die Möglichkeit denkt, aus mir könne etwas anderes werden als chair à canon [Kanonenfutter], und dazu das allernutzloseste.«

Sobald aber Tolstoi die Erkältung überwunden hatte, stieg seine Stimmung, und er fand Gefallen an seiner Arbeit. An vier von acht Tagen war er als Quartiermeister in der Bastion tätig. Außer Dienst, hielt er sich in einer bescheidenen, doch sauberen Unterkunft am Boulevard von Sewastopol auf, wo er die Militärkapelle spielen hörte. War er aber im Dienst, so schlief er in der Kasematte; seine kleine Zelle war mit einem Feldbett, einem mit Papieren übersäten Tisch, dem Manuskript seiner Erinnerungsnovelle Jugendzeit, einer Uhr und einer Ikone mit ewigem Licht ausgestattet. Ein Fichtenpfahl stützte die Decke, unter der ein Segeltuch hing, das fallendes Geröll auffangen sollte. Während seiner gesamten Dienstzeit in Sewastopol wurde Tolstoi von einem Leibeigenen namens Alexej begleitet, der seit seinen Universitätstagen bei ihm war (er tritt in mehreren von Tolstois Werken als »Aljoscha« auf). Wenn Tolstoi seinen Pflichten in der Bastion nachging, brachte Alexej ihm seine Verpflegung aus der Stadt eine sehr gefährliche Aufgabe.49

Die Kanonade ging pausenlos weiter. Täglich landeten 2000 Granaten auf der Bastion. Tolstoi hatte Angst, doch er verdrängte seine Furcht bald und entdeckte einen neuen persönlichen Mut. Zwei Tage nachdem er grollend behauptet hatte, er werde als Kanonenfutter behandelt, vertraute er seinem Tagebuch an: »Der ständige Reiz der Gefahr und das Zusammenleben mit den Soldaten, der Kontakt mit den Seeleuten und überhaupt der Kriegsalltag gefallen mir so sehr, daß ich gar nicht von hier fort will « Er entwickelte eine enge Beziehung zu seinen Kampfgefährten in der Bastion, von denen einer ihn später als »guten Kameraden« beschrieb, dessen Geschichten »unser aller Geist im Schlachtgetümmel einfingen«. In einem Brief an seinen Bruder brachte Tolstoi einen Gedanken zum Ausdruck, der Krieg und Frieden zugrunde liegen sollte: Ihm »gefiel die Erfahrung, unter Feuer [mit diesen] einfachen und freundlichen Männern, deren Güte in einem wirklichen Krieg offenkundig ist, zusammenzuleben«.50

Zehn Tage hielt der Beschuss ohne Unterbrechung an. Am Ende zählten die Russen 160 000 Granaten und Bomben, die Sewastopol getroffen, Hunderte von Gebäuden zerstört sowie 4712 Soldaten und Zivilisten verwundet oder getötet hatten. Freilich blieben auch die Alliierten nicht ungeschoren. Die Russen wehrten sich mit 409 Geschützen und 57 Mörsern und feuerten in den zehn Tagen ihrerseits 88 751 Kanonenkugeln und Granaten ab. Bald aber wurde deutlich, dass ihnen die Munition fehlte, um den Widerstand aufrechtzuerhalten. Den Batteriekommandeuren war befohlen worden, jeweils einen Schuss für zwei Schüsse des Feindes abzugeben. Hauptmann Edward Gage von der Royal Artillery schrieb am Abend des 13. April nach Hause:

Die Verteidigung, was weitreichende Kanonenkugeln betrifft, ist so hartnäckig wie das Ungestüm ihres Angriffs, und alles, was Genie & Mut bewerkstelligen können, ist unübersehbar an den Russen. Man darf jedoch nicht verkennen, dass ihr Feuer vergleichsweise schwach ist, obwohl die Auswirkungen für unsere Schützen schmerzlich sind. Wir haben mehr Verluste erlitten als während der letzten Belagerung, aber wir hatten mehr Männer & Batterien im Einsatz … Ich glaube nicht, dass das Feuer viel länger als einen weiteren Tag andauern wird, denn die Männer sind völlig ermattet, nachdem sie seit der Eröffnung des Feuers täglich 12 Stunden in den Schützengräben verbracht haben; menschliches Fleisch & Blut können dies nicht mehr lange aushalten.51

Durch die Beschränkung des russischen Feuers wurde den Alliierten, deren Geschosshagel immer weiter zunahm, die Initiative überlassen. Der Mamelon und die Fünfte Bastion wurden fast völlig zerstört. Die Russen, die einen Angriff erwarteten, verstärkten ihre Garnisonen in aller Eile und beorderten die meisten ihrer Verteidiger in die unterirdischen Bunker, damit sie den anstürmenden Feind überfallen konnten. Aber der Angriff blieb aus. Vielleicht wurden die alliierten Befehlshaber durch den hartnäckigen, tapferen Widerstand der Russen abgeschreckt, die ihre ramponierten Bastionen unter schwerem Beschuss wiederaufbauten. Zudem waren die Alliierten untereinander uneins. In ebendieser Phase begann Canrobert seine Enttäuschung offen zu zeigen. Er befürwortete die neue alliierte Strategie, die vorsah, die Beschießung von Sewastopol zu reduzieren, um die Krim als Ganzes zu erobern. Insofern widerstrebte es ihm, seine Männer für eine Attacke einzusetzen, die zahlreiche Verluste zur Folge haben und dementsprechend den neuen Plan beeinträchtigen würde. Außerdem wurde er durch seinen Chefingenieur, General Adolphe Niel, von einem Angriff abgehalten, denn Niel hatte Geheiminstruktionen aus Paris erhalten: Man solle die Aktion gegen Sewastopol verzögern, bis Kaiser Napoleon (der zu dem Zeitpunkt immer noch eine Reise auf die Krim erwog) eintraf und persönlich den Befehl über die Offensive übernahm.

Da die Briten nicht allein handeln wollten, beschränkten sie sich in der Nacht des 19. April auf einen Ausfall gegen die russischen Gewehrstellungen am Ostrand der Woronzow-Schlucht, welche die Alliierten daran hinderten, ihre Gräben zum Redan vorzutreiben. Die Stellungen wurden nach schweren Gefechten vom 77. Regiment besetzt, doch der Sieg hatte seinen Preis: den Verlust des Kommandeurs Oberst Thomas Egerton, eines Hünen von über zwei Meter Größe, und seines Stellvertreters, des 23-jährigen Hauptmanns Audley Lemprière, der weniger als 1,50 Meter groß war, wie Nathaniel Steevens, der die Kämpfe miterlebte, am 23. April in einem Brief an seine Familie ausführte:

Unser Verlust war schwer, 60 Mann getötet & verwundet, dazu 7 Offiziere, von denen Oberst Egerton (ein großer kräftiger Mann) & Hauptmann Lemprière vom 77. umkamen; der Letztere war sehr jung, er hatte gerade seine eigene Kompanie erhalten und dürfte der kleinste Offizier der Armee gewesen sein, ein besonderer Liebling des Obersten, der ihn sein Kind nannte; der arme Kerl starb beim ersten Angriff in der Gewehrstellung; der Oberst, obwohl verwundet, hob ihn auf die Arme & trug ihn mit den Worten »Mein Kind kriegen sie nie« davon; dann kehrte der Oberst zurück und fiel während des zweiten Angriffs.52

Ohne die Franzosen war dies vorläufig alles, was die Briten erreichen konnten. Am 24. April schrieb Raglan an Lord Panmure: »Wir müssen Gen. Canrobert überzeugen, den Mamelon einzunehmen, denn sonst werden wir nicht mit der geringsten Aussicht auf Erfolg oder Sicherheit voranschreiten.« Für die Franzosen war es entscheidend wichtig, die Russen aus dem Mamelon zu vertreiben, bevor sie den Malachow attackieren konnten, genau wie die Briten zunächst die Steinbruch-Gruben besetzen mussten, bevor sie den Redan angreifen konnten. Unter Canrobert wurde die Aktion hinausgeschoben. Doch nachdem er am 18. Mai das Kommando an Pélissier übergeben hatte, der genauso entschlossen wie Raglan war, Sewastopol im Sturm zu erobern, erklärten sich die Franzosen zu einem gemeinsamen Angriff auf den Mamelon und die Steinbrüche bereit.

Die Operation begann am 6. Juni mit einem Bombardement der Außenanlagen, das bis 18 Uhr am folgenden Abend dauerte; danach sollte der alliierte Ansturm beginnen. Das Angriffssignal sollten Raglan und Pélissier geben, die sich auf dem Schlachtfeld treffen würden. Doch zur vereinbarten Stunde schlief der französische Befehlshaber fest. Er hatte vor dem Beginn der Kämpfe ein Nickerchen machen wollen, und nun wagte es niemand, den jähzornigen General zu wecken. Dadurch kam Pélissier eine Stunde zu spät zu seinem Treffen mit Raglan. Unterdessen war die Schlacht bereits im Gange: Die französischen Soldaten waren vorangeeilt, gefolgt von den Briten, die ihr Kampfgeschrei gehört hatten.******* Der Angriffsbefehl war von General Bosquet erteilt worden, in dessen Begleitung sich Fanny Duberly befand:

General Bosquet wandte sich an eine Kompanie nach der anderen, und wenn er seine Rede beendete, reagierte jede Einheit mit Jubel, lauten Rufen und Gesang. Die Männer erinnerten durch ihr Verhalten und ihre Lebhaftigkeit eher an Hochzeitsgäste als an eine Gruppe, die um Leben und Tod kämpfen würde. Wie traurig mir dieser Anblick erschien! Die Divisionen setzen sich in Bewegung und marschieren die Schlucht hinunter, vorbei an der französischen Batterie gegenüber dem Mamelon. General Bosquet wendet sich zu mir, und seine Augen sind voll von Tränen; meine eigenen kann ich nicht zurückhalten, als er sagt: »Madame, à Paris, on a toujours l’Exposition, les bals, les fêtes; et – dans une heure et demie la moitié de ces braves seront morts!«53

Angeführt von den Zuaven, stürmten die Franzosen ungeordnet auf den Mamelon zu, von dem sie durch eine mächtige Artilleriesalve zurückgeworfen wurden. Viele Soldaten zerstreuten sich vor Panik und mussten von ihren Offizieren neu formiert werden, bevor sie wieder angreifen konnten. Diesmal rannten sie durch einen Hagel von Musketenkugeln, erreichten den Graben am Fuß der Verteidigungswälle des Mamelon und kletterten hinauf, während die Russen von oben auf sie feuerten oder (wenn sie nicht genug Zeit hatten, ihre Musketen neu zu laden) die Steine der Brüstung hinunterwarfen. »Die Mauer war vier Meter hoch«, berichtete Octave Cullet, der zur ersten Angriffsreihe gehörte. »Es war schwierig, über sie hinwegzusteigen, und wir hatten keine Leitern, doch wir ließen uns nicht unterkriegen«:

Einer wuchtete den anderen hoch, wir kletterten über die Mauern, brachen den Widerstand des Feindes auf der Brüstung und feuerten wild auf die Menge, die die Redoute verteidigte … Was als nächstes geschah, kann ich nicht beschreiben. Es war ein Blutbad. Wie Wahnsinnige kämpfend, machten unsere Soldaten ihre Geschütze unschädlich, und die wenigen Russen, die mutig genug waren, uns Widerstand zu leisten, wurden niedergemetzelt.54

Die Zuaven machten nicht im Mamelon halt, sondern eilten weiter zum Malachow ein spontaner Akt von Soldaten, die vom Eifer des Gefechts mitgerissen wurden , nur um zu Hunderten den russischen Geschützen zum Opfer zu fallen. Oberstleutnant St. George von der Royal Artillery beschrieb die schreckliche Szene in einem Brief vom 9. Juni:

Dann wurde ein solches Feuer vom Malachow-Turm eröffnet, wie man es bestimmt noch nie erlebt hat. Flammenwände und Explosionen lösten einander in schnellster Folge ab. Die Russen bedienten die Waffen außerordentlich gut (und das ist mein Gewerbe, ich kann es beurteilen) und feuerten wie Teufel auf die Scharen armer kleiner Zuaven, die durch ihren Schneid an den Rand eines Grabens getrieben worden waren, den sie nicht überqueren konnten, & die nun zögerten, bis sie niedergeschossen wurden. Es war zu viel für sie, und sie schwankten und wichen in den Mamelon zurück; auch dort wurde es zu heiß für sie, und sie mussten sich in ihre eigenen Schützengräben zurückziehen. Verstärkungen trafen in großer Zahl ein. Wiederum stürmten sie in den Mamelon hinein, dessen Kanonen sie bereits unschädlich gemacht hatten, töteten dessen Verteidiger und versuchten erneut, unklugerweise, wie ich glaube, den Malachow zu besetzen. Sie scheiterten ein zweites Mal und mussten umkehren, doch diesmal nur bis zum Mamelon, den sie immer noch halten, nachdem sie ihn mit bewundernswertem Mut eingenommen und zwei- bis dreitausend Tote und Verwundete auf dem Feld zurückgelassen hatten.55

Unterdessen griffen die Briten die Steinbrüche an. Die Russen hatten dort nur eine kleine Truppe stationiert, denn sie waren sicher, dass sie die Steinbrüche, sollten diese überrannt werden, mit Verstärkungen vom Redan zurückerobern konnten. Tatsächlich nahmen die Briten die Steinbrüche mühelos ein, merkten jedoch bald, dass sie nicht genug Männer hatten, um sie zu halten, während die Russen vom Redan her eine Angriffswelle nach der anderen auf sie starteten. Mehrere Stunden lang führte man einen heftigen Nahkampf, wobei eine Seite die andere aus den Gewehrstellungen vertrieb, nur um dann durch Verstärkungen des Feindes wieder zurückgeworfen zu werden. Um fünf Uhr morgens, als der letzte russische Angriff endlich abgeschlagen war, war der Boden mit Toten und Verwundeten übersät.

Am Mittag des 9. Juni wurde eine weiße Fahne am Malachow gehisst, und eine weitere erschien am Mamelon, nun im Besitz der Franzosen. Damit wurde eine Waffenruhe signalisiert, in der man die Leichen bergen wollte. Die Franzosen hatten enorme Opfer gebracht, um den wichtigen Mamelon und die Weißen Werke einzunehmen: Sie verzeichneten fast 7500 Tote und Verwundete. Herbé begab sich zusammen mit General Failly ins Niemandsland, um die Einzelheiten mit dem russischen General Polusski abzusprechen. Nachdem man ein paar Floskeln gewechselt hatte, »nahm das Gespräch eine freundlichere Wendung Paris, St. Petersburg, die Härten des vergangenen Winters«, erläuterte Herbé am selben Abend in einem Brief an seine Familie; während die Toten fortgebracht wurden, »tauschten [die Offiziere] Zigarren aus. Man hätte glauben können, wir seien Freunde, die sich inmitten einer Jagd zum Rauchen treffen.« Kurz darauf erschienen einige Offiziere mit einer Magnumflasche Champagner, und General Failly, der die Flasche hatte holen lassen, brachte einen »Trinkspruch auf den Frieden« aus, dem sich die russischen Offiziere von Herzen anschlossen. Sechs Stunden später, als mehrere Tausend Leichen abtransportiert worden waren, wurde es Zeit, die Waffenruhe zu beenden. Beide Seiten durften nachprüfen, dass keiner ihrer Soldaten im Niemandsland zurückgeblieben war, ehe die weißen Fahnen eingeholt wurden; daraufhin feuerte man, wie Polusski vorgeschlagen hatte, eine leere Geschosshülse vom Malachow ab, um die Wiederaufnahme der Feindseligkeiten anzuzeigen.56

Nach der Einnahme des Mamelon und der Steinbruch-Gruben war alles bereit für einen Angriff auf den Malachow und den Redan. Er sollte am 18. Juni stattfinden, dem 40. Jahrestag der Schlacht von Waterloo. Man hoffte, dass ein alliierter Sieg zur Heilung der alten Wunden beitragen und den Briten und Franzosen die Möglichkeit geben würde, an jenem Tag ein neues Ereignis zu feiern.

Der Sieg würde zahlreiche Menschenleben kosten. Um die russischen Forts zu stürmen, mussten die Angreifer Leitern mitnehmen und mehrere Hundert Meter bergan über offenes Gelände laufen sowie Gräben und Abattis******** überqueren das alles unter schwerem Beschuss durch die russischen Kanonen auf dem Malachow und dem Redan und unter Flankenfeuer von der Fahnenmast-Bastion. Wenn sie die Forts erreichten, würden sie ihre Leitern benutzen müssen, um in den Graben zu steigen und über die Mauern zu klettern das Ganze unter feindlichem Feuer aus kürzester Entfernung , bevor sie die Verteidiger auf den Brüstungen überwältigen und die Russen abwehren sollten, die sich hinter weiteren Barrikaden innerhalb der Forts gesammelt hatten, bis Verstärkung eintreffen konnte.

Die Alliierten einigten sich darauf, dass die Franzosen zuerst den Malachow angreifen würden, und sobald sie die russischen Geschütze zum Schweigen gebracht hatten, sollte die britische Infanterie den Redan stürmen. Pélissier bestand darauf, dass sich die Aktion auf den Malachow und den Redan beschränkte und ein größerer Angriff auf die Stadt unterblieb. Der Sturm auf den Redan war vermutlich überflüssig, denn die Russen würden ihn höchstwahrscheinlich aufgeben, sobald die Franzosen ihre Artillerie vom Malachow her einsetzen konnten. Doch Raglan meinte, es sei unerlässlich für die Briten, irgendetwas zu stürmen, sogar um den Preis unnötiger Verluste, wenn diese Schlacht ihr symbolisches Ziel im Rahmen einer gemeinsamen Aktion am Jahrestag von Waterloo erreichen sollte. Auch hatten sich die Franzosen immer wieder kritisch über das Versäumnis der Briten geäußert, genauso viele Soldaten wie sie auf der Krim in den Kampf zu schicken.

Man rechnete mit schweren Verlusten. Die Franzosen erfuhren, die Hälfte der Angreifer werde tot sein, bevor sie auch nur am Malachow anlangten. Den Männern in vorderster Front war Geld oder eine Beförderung versprochen worden, um sie zur Teilnahme zu bewegen. Im britischen Lager bezeichnete man die Angreifer als »Forlorn Hope«, abgeleitet von dem niederländischen »Verloren hoop«, was »verlorener Haufen« bedeutet, doch die englische Fehlübersetzung war angemessen.57

Am Abend vor dem Ansturm auf den Malachow machten es sich die Franzosen in ihren Biwaks bequem und bereiteten sich, jeder auf seine Weise, auf die Ereignisse des kommenden Tages vor. Manche bemühten sich zu schlafen, andere reinigten ihre Gewehre oder führten Gespräche, und noch andere fanden einen stillen Platz für ein Gebet. Eine bange Ahnung hatte sich ausgebreitet. Viele Soldaten schrieben ihren Namen und ihre Heimatadresse auf eine Karte, die sie sich um den Hals hängten, damit jeder, der sie tot vorfand, ihre Familie unterrichten konnte. Manch einer verfasste einen Abschiedsbrief an seine Angehörigen und übergab ihn dem Armeegeistlichen, damit dieser ihn im Todesfall in die Heimat schickte. Der Pfarrer war beeindruckt von der Ruhe der Männer in diesen letzten Augenblicken vor der Schlacht. Kaum einer schien ihm von Hass auf den Feind motiviert oder von dem Wunsch nach Rache, aufgewühlt durch die Rivalität zwischen Nationen. Ein Soldat schrieb:

Ich bin gelassen und zuversichtlich, was mich selbst überrrascht. Angesichts einer solchen Gefahr wage ich nur Dir, meinem Bruder, dies mitzuteilen. Es wäre arrogant, es irgendeinem anderen zu gestehen. Ich habe gegessen, um mich zu kräftigen, und ich habe nur Wasser getrunken, denn ich kann die Übererregtheit durch Alkohol in der Schlacht nicht leiden. Sie ist nutzlos.

Ein anderer notierte:

Während ich diese Zeilen an Dich schreibe, ist der Schlachtruf zu hören. Der große Tag ist gekommen. In zwei Stunden werden wir unseren Sturmangriff beginnen. Ich trage voller Hingebung die Medaille der Heiligen Jungfrau und das Skapulier, das ich von den Nonnen erhalten habe. Ich fühle mich ruhig und sage mir, dass Gott mich schützen wird.

Ein Hauptmann schrieb:

Ich reiche Dir die Hand, mein Bruder, und möchte Dich wissen lassen, dass ich Dich liebe. Nun, mein Gott, erbarme Dich meiner. Ich vertraue mich aufrichtig Deiner Fürsorge an – Dein Wille geschehe! Lang lebe Frankreich! Heute muss unser Adler über Sewastopol aufsteigen!58

Nicht alle Vorbereitungen der Alliierten verliefen nach Plan. Am Abend kam es zu Desertionen aus dem französischen und britischen Lager nicht nur durch einfache Soldaten, sondern auch durch Offiziere, die sich dem bevorstehenden Angriff nicht gewachsen fühlten und zum Feind überliefen. Die Russen wurden von einem französischen Gefreiten vor dem Ansturm gewarnt; der Mann war vom Generalstab desertiert und überbrachte ihnen einen detaillierten Plan. »Die Russen kannten, bis in die kleinste Einzelheit, die Position und Stärke all unserer Bataillone«, schrieb Herbé, der dies später von einem hohen russischen Offizier erfuhr. Zudem hatte der Feind Warnungen von britischen Deserteuren erhalten, darunter einem aus dem 28. (North Gloucestershire) Regiment. Doch die Russen waren ohnehin durch die lautstarken Vorbereitungen der Briten am Abend des 17. Juni alarmiert. Oberstleutnant James Alexander vom 14. Regiment erinnerte sich: »Die Männer, aufgeregt wie sie waren, legten sich nicht schlafen, sondern blieben wach, bis wir uns um Mitternacht aufstellen mussten. Unser Lager glich einem erhellten Jahrmarkt, überall summten Stimmen. Dies dürften die Russen bemerkt haben.«59

Das war unzweifelhaft der Fall. Prokofi Podpalow, eine Ordonnanz von General Golew im Redan, wurde am Abend auf die stetig zunehmenden Aktivitäten in den Steinbrüchen aufmerksam: »Der Klang von Stimmen, das Geräusch von Schritten in den Gräben und das Poltern der Lafettenräder in unsere Richtung machten deutlich, dass die Alliierten bald das Zeichen zum Angriff geben würden.« Zu jenem Zeitpunkt hatten die Russen ihre Streitkräfte vom Redan zurückgezogen. Etliche Männer machten sich in die Stadt auf, um dort die Nacht zu verbringen, doch nachdem Golew die Anzeichen für den drohenden Angriff bemerkt hatte, ließ er all seine Soldaten zum Redan zurückkehren, wo sie ihre Kanonen feuerbereit machten und ihre Position auf den Brüstungen einnahmen. Podpalow erinnerte sich später an die »außerordentliche Stille« der Männer, während sie auf die Attacke warteten. »Jene Grabesstille hatte etwas Gespenstisches an sich. Alle spürten, dass sich etwas Schreckliches, etwas Mächtiges und Bedrohliches näherte, gegen das wir auf Leben und Tod kämpfen würden.«60

Der französische Angriff sollte lange vor Tagesanbruch, nämlich um drei Uhr, mit einem dreistündigen Bombardement beginnen, gefolgt von der Erstürmung des Malachow um sechs Uhr, eine Stunde nach Sonnenaufgang. Doch am Abend des 17. änderte Pélissier plötzlich den Plan. Er war zu dem Schluss gelangt, dass den Russen die französischen Angriffsvorbereitungen in den ersten Minuten des Tageslichts nicht entgehen und dass sie Infanteriereserven zur Verteidigung des Malachow herbeiholen würden. Spät am Abend erteilte er einen neuen Befehl: Die Vorhut sollte den Malachow um drei Uhr direkt angreifen, wenn das Raketensignal zum Einsatz von der Viktoria-Redoute, hinter den französischen Linien unweit des Mamelon, abgefeuert werden würde. Dies war nicht die einzige jähe Änderung an jenem Abend. In einem Wutanfall (und um den erwarteten Erfolg für sich zu reklamieren) setzte Pélissier General Bosquet ab, weil dieser seine Entscheidung, den Angriff mit einem Bombardement zu beginnen, in Frage gestellt hatte. Bosquet besaß gründliche Kenntnisse der russischen Stellungen und genoss das Vertrauen der Soldaten; ihn ersetzte ein General, dem beides fehlte. Die plötzlichen Änderungen sorgten für große Unruhe unter den Franzosen ganz besonders bei General Mayran, der die Aktion mit dem 97. Regiment anführen sollte. Der jähzornige Pélissier beleidigte ihn persönlich während einer anderen Auseinandersetzung, woraufhin Mayran mit den Worten »Il n’y a plus qu’à se faire tuer« (»Nun bleibt uns nichts anderes übrig, als uns töten zu lassen«) zurück zu seinem Posten stolzierte.61

In seinem Eifer beging Mayran einen verhängnisvollen Fehler, denn er hielt eine Granate mit lodernder Lunte für das vereinbarte Raketensignal und befahl dem 97. Regiment, fünfzehn Minuten zu früh anzugreifen, als die übrigen französischen Verbände noch nicht bereit waren. Laut Herbé, der mit dem 95. Regiment in der zweiten Kolonne unmittelbar hinter Mayran wartete, war der General durch einen Vorfall kurz nach zwei Uhr in der Frühe provoziert worden, als zwei russische Offiziere an die französischen Schützengräben heranschlichen und im Dunkeln riefen:

»Allons, Messieurs les Français, quand il vous plaira, nous vous attendons« [»Los, meine Herren Franzosen, wenn Sie so weit sind, werden wir auf Sie warten«]. Wir waren fassungslos. Offensichtlich kannte der Feind all unsere Pläne, und wir würden auf eine gut vorbereitete Verteidigung stoßen. General Mayran war erzürnt über diese kühne Herausforderung und formierte seine Männer zu Kolonnen, damit sie den Malachow angreifen konnten, sobald das Signal ertönte … Alle Augen richteten sich auf die Viktoria-Redoute. Plötzlich, gegen Viertel vor drei, zog sich eine Lichtspur, gefolgt von einem Rauchstreifen, über den Himmel. »Das ist das Signal!«, riefen mehrere Offiziere, die sich um Mayran gruppierten. Eine zweite Lichtspur erschien kurz darauf. »Es gibt keinen Zweifel«, sagte der General. »Das ist das Signal. Außerdem ist es besser, zu früh als zu spät zu handeln. Vorwärts, das 97.!«

Das 97. Regiment eilte voran und wurde von einem tödlichen Sperrfeuer der Artillerie und der Musketen des Feindes empfangen, denn die Russen warteten gut bewaffnet auf allen Brüstungen. »Mit einem Mal rollte eine mächtige gegnerische Welle auf uns zu«, schrieb Podpalow, der die Szene vom Redan aus beobachtete.

Bald konnten wir im trüben Licht erkennen, dass der Feind Leitern, Taue, Spaten, Bretter etc. bei sich trug – es sah aus wie ein Ameisenheer auf dem Vormarsch. Sie kamen näher und näher. Plötzlich ertönten unsere Hörner auf ganzer Front, gefolgt vom Donner unserer Kanonen und dem Knallen unserer Gewehre; die Erde bebte, ein dröhnendes Echo erklang, und es wurde so dunkel durch den Pulverdampf, dass man nichts sehen konnte. Als sich der Rauch lichtete, war der Boden vor uns mit den Leichen der gefallenen Franzosen bedeckt.

Mayran gehörte zu denen, die in der ersten Welle getroffen wurden. Herbé half dem General auf die Beine, der eine schwere Armverletzung hatte, aber nicht zurückweichen wollte. »Vorwärts, das 95.!«, rief er der zweiten Reihe zu. Die Verstärkungen schoben sich vor, doch sie wurden ebenfalls in großer Zahl von den russischen Geschützen niedergemäht. Dies war keine Schlacht, sondern ein Gemetzel. Die Angreifer reagierten instinktiv, ignorierten Mayrans Befehle zum Vormarsch, legten sich auf den Boden und verwickelten die Russen in einen Schusswechsel. Nach zwanzig Minuten, als das Schlachtfeld von ihren Toten übersät war, bemerkten die Franzosen eine Rakete am Himmel: Dies war das eigentliche Signal zum Angriff.62

Pélissier hatte die Rakete in dem verzweifelten Versuch abfeuern lassen, den französischen Ansturm zu koordinieren. Doch während Mayran zu früh vorgerückt war, hatten sich Pélissiers andere Generale, die einen späteren Angriff erwartet hatten, nicht rechtzeitig vorbereiten können. Die Männer aus der Reserve wurden vorgeschickt, doch der überraschende Befehl irritierte und verunsicherte sie, und viele »weigerten sich, die Schützengräben zu verlassen, selbst als die Offiziere ihnen mit den härtesten Strafen drohten«, meldete Oberstleutnant Dessaint, der Leiter der politischen Abteilung. Er war der Meinung, dass die Soldaten »eine Vorahnung von der Katastrophe hatten, die sie erwartete«.63

Vom Woronzow-Kamm aus konnte Raglan erkennen, dass der ungeordnete französische Angriff zu einem blutigen Fiasko ausartete. Eine französische Kolonne, links vom Malachow, war durchgebrochen, doch ihre Verstärkungen wurden von den russischen Kanonen auf dem Malachow und dem Redan vernichtet. Raglan hätte den Franzosen durch die Beschießung des Redan helfen können, wie es der ursprüngliche Angriffsplan der Alliierten vorsah, doch sein Ehr- und Pflichtgefühl ließ ihm keine andere Wahl, als den Redan sofort, ohne vorheriges Bombardement, zu stürmen, obwohl er, zumal nach den Ereignissen der vergangenen Stunden, gewusst haben dürfte, dass diese Taktik mit einem Desaster und dem sinnlosen Opfer vieler Männer enden würde. »Ich hütete mich stets davor, im selben Moment wie die Franzosen anzugreifen, und ich glaubte, dass eine gewisse Hoffnung auf ihren Erfolg vonnöten war, bevor ich unsere Soldaten einsetzte«, schrieb Raglan am 19. Juni an Panmure, »aber als ich sah, auf welch starken Widerstand sie stießen, hielt ich es für meine Pflicht, ihnen durch meinen eigenen Ansturm zu helfen Ich bin mir gewiss, dass die Franzosen, wenn unsere Männer in den Schützengräben geblieben wären, ihr Scheitern auf unsere Weigerung, an der Aktion teilzunehmen, zurückgeführt hätten.«64

Der britische Sturmlauf begann um 5.30 Uhr. Die Angreifer rannten von den Steinbrüchen und den Schützengräben zu beiden Seiten voran, gefolgt von den Hilfstruppen, die Leitern zur Besteigung der Mauern des Redan trugen. Bald wurde deutlich, dass die Sache hoffnungslos war. »Kaum zeigten sich die Soldaten jenseits der Brüstung ihrer Schützengräben, als sie schon das mörderischste Kartätschenfeuer, das man je erlebt hatte, auf sich zogen«, berichtete Sir George Brown, der den Angriff befehligte. Die erste russische Salve setzte ein Drittel der Briten außer Gefecht. Von den Schützengräben zur Linken beobachtete Codrington die vernichtende Wirkung des Sperrfeuers auf die Soldaten, die versuchten, über 200 Meter offenen Geländes zum Redan zu laufen:

Sowie sie sich zeigten, wurde das Kartätschenfeuer auf sie eröffnet – es pflügte den Boden auf, warf viele um, der Staub blendete sie, und ich sah etliche, die zu den Gräben an ihrer linken Seite auswichen. Die Offiziere bestätigten mir später, dass sie von dem Staub, den die Kartätschen aufwirbelten, geblendet wurden; einer sagte, er sei außer Puste – atemlos – gewesen, bevor er die halbe Strecke zurückgelegt hatte.65

Unter dem Kartätschenhagel verloren einige Soldaten die Nerven und liefen davon, obwohl ihre Offiziere versuchten, sie durch Drohungen zurückzuhalten und sie neu zu formieren. Schließlich erreichten die ersten Angreifer und die führenden Leiterträger die Abattis ungefähr 30 Meter vor dem Graben des Redan. Während sie sich durch die Lücken dazwischen zwängten, »stiegen [die Russen] auf die Brüstungen des Redan und schossen eine Salve nach der anderen auf uns ab«, schrieb Timothy Gowing:

Sie hissten eine große schwarze Flagge und forderten uns auf heranzukommen. »Mord« wurde auf jenem Feld gerufen, denn der feige Gegner feuerte stundenlang auf unsere Landsleute, die blutend und unter Todesqualen dalagen. Manche unserer Offiziere sagten: »Das darf nicht sein – wir werden es ihnen heimzahlen!« Alles hätten wir ihnen verzeihen können, hätten sie nicht arme, schutzlose, verwundete Männer niedergeschossen.

Die Sturmtruppen schwanden bis auf die letzten hundert Mann dahin, die sich nun zurückzogen und die Drohungen ihrer Vorgesetzten, sie zu erschießen, ignorierten. Laut einem Offizier, der eine Gruppe von Männern zur Fortsetzung des Angriffs angetrieben hatte, »waren sie von der Überzeugung erfüllt, dass sie beim nächsten Schritt in die Luft gesprengt werden würden; sie seien bereit, gegen beliebig viele Männer zu kämpfen, aber sie würden nicht weitergehen, um sich in die Luft jagen zu lassen«.66 Weithin war gemunkelt worden, dass der Redan vermint sei.

Derweil brachen 2000 Mann von der 3. Division unter Generalmajor Eyre an der linken Flanke zu den Vororten von Sewastopol durch. Sie waren angewiesen worden, mehrere russische Gewehrstellungen zu besetzen und, wenn der Sturm auf den Redan es ermöglichte, weiter bis zur Postenhaus-Schlucht vorzurücken. Eyre aber hatte seine Befehle überschritten und war mit seiner Brigade weitermarschiert, um die Russen auf dem Friedhof zu überwältigen, ehe er in den Straßen von Sewastopol unter schweren Beschuss geriet. Man habe sich in einer »Sackgasse« wiedergefunden, erinnerte sich Hauptmann Scott vom 9. Regiment: »Wir konnten uns nicht von der Stelle rühren und mussten uns von 4 bis 21 Uhr zur Wehr setzen, 17 Stunden unter einem schrecklichen Feuer durch Kanonen, Granatwerfer, Kartätschen und Hunderte ihrer Scharfschützen; unsere einzige Deckung waren die Häuser, deren Wände bei jedem Schuss um uns herum zerbröckelten.« Laut Oberstleutnant Alexander vom 14. Regiment wurde die Erstürmung der Stadt zu einer Art Kapriole, denn einige irische Soldaten »eilten in einen Teil von Sewastopol hinein und vergnügten sich in Häusern mit Frauen, Bildern, Mahagoni, Möbeln und Klavieren darin; auch vergnügten sie sich mit starkem Wein Manche der irischen Jungen verkleideten sich als Frauen und kämpften in dieser Aufmachung; ein paar brachten Spiegel, Tische und einen Stachelbeerstrauch mit Früchten ins Lager zurück!« Für die übrigen Soldaten, die in ausgebombten und bröckelnden Gebäuden vor dem Feuer des Feindes Zuflucht suchten, verging der Tag ohne derartige Amüsements. Erst im Schutz der Dunkelheit konnten sie sich zurückziehen, wobei sie Hunderte von Verwundeten mitnahmen.67

Am folgenden Morgen rief man eine Waffenruhe aus, um die Toten und Verwundeten vom Schlachtfeld zu bergen. Die Verluste waren enorm. Die Briten hatten ungefähr 1000 Gefallene und Verwundete zu beklagen, die Franzosen wohl sechsmal so viele (die genauen Zahlen wurden zurückgehalten). Ein Zuaven-Hauptmann, der mit einem Team ins Niemandsland hinausgeschickt wurde, um die Toten einzusammeln, beschrieb die Szene am 25. Juni in einem Brief in die Heimat:

Ich werde Euch nicht all die entsetzlichen Gefühle beschreiben, die ich auf jenem Gelände durchmachte, das mit in der Hitze verwesenden Leichen übersät war; unter ihnen erkannte ich einige meiner Kameraden. Ich war mit 150 Zuaven zusammen, die Tragbahren und Behälter mit Wein bei sich hatten. Der uns begleitende Arzt sagte, wir sollten uns zuerst um die Verwundeten kümmern, die noch gerettet werden könnten. Wir fanden eine Menge dieser Unglücklichen – alle baten um etwas zu trinken, und meine Zuaven schenkten ihnen Wein ein … Überall war ein unerträglicher Geruch der Fäulnis; die Zuaven mussten die Nase mit einem Taschentuch bedecken, während sie die Toten, deren Köpfe und Füße an den Seiten hinunterhingen, davontrugen.68

Unter den Toten befand sich General Mayran, den Pélissier in seinem Bericht an Napoleon für die Niederlage verantwortlich machte, obwohl er selbst durch seine Planänderungen in letzter Minute mindestens genauso viel Schuld daran trug wie der Verstorbene. Raglan jedenfalls hatte nicht den geringsten Zweifel, dass Pélissier der Hauptschuldige war nicht nur wegen der Planänderungen, sondern auch wegen seiner Entscheidung, die Attacke auf den Malachow und den Redan zu begrenzen, statt auf breiterer Front anzugreifen, wodurch die russischen Verteidiger möglicherweise stärker zerstreut worden wären. Wie Raglan in seinem Brief an Panmure erklärte, habe Pélissier diese Entscheidung getroffen, weil er befürchtete, dass die französischen Soldaten in der Stadt »Amok laufen« könnten.

Raglans Kritik war indes gewiss gefärbt durch seine eigenen Schuldgefühle angesichts der sinnlosen Opferung so vieler britischer Soldaten. Einem seiner Ärzte zufolge verfiel Raglan nach dem gescheiterten Angriff in eine tiefe Depression, und auf seinem Sterbebett am 26. Juni litt er nicht, wie Gerüchte besagten, an Cholera, sondern an »akuter Seelenqual, die zuerst starke Bedrückung und später die völlige Erschöpfung der Herztätigkeit hervorrief«.69 Er starb am 28. Juni.

* 1857 heiratete er Parthenope Nightingale, die ältere Schwester von Florence, zu der er sein ganzes Leben lang eine enge Beziehung hatte.

** Nicht zu verwechseln mit Michail Gortschakow, seinem Oberbefehlshaber.

*** Herberts Rücktritt (als Minister für die Kolonien) erfolgte nach wochenlanger scharfer und fremdenfeindlicher Kritik in der britischen Presse, die sich auf seine Familienbeziehungen zu Russland konzentriert hatte. So hieß es im Belfast News-Letter (29. Dezember 1854), seine Mutter, Lady Herbert, sei die Schwester eines Fürsten mit einem »prächtigen Palast in Odessa«, den die Briten während der Bombardierung der Stadt bewusst verschont hätten (in Wirklichkeit trug der Woronzow-Palast bei diesem Ereignis schwere Schäden davon). In der Exeter Flying Post (31. Januar 1855) wurde Herbert vorgeworfen, dass er »die Regierung behindert und die Pläne des Zaren bevorzugt«.

**** Es gab zahlreiche Polen, die von der russischen Armee zu den Streitkräften des Sultans überliefen; einige waren recht hohe Offiziere, die sich türkische Namen zulegten, teils um sich vor den Russen zu tarnen: Iskander Bey (später Iskander Pascha), Sadyk Pascha (Micha Czaykowski) und »Hidaiot« (Hedayat) bei Omer Paschas Heer im Donaugebiet, Oberst Kuczynski, Stabschef der ägyptischen Armee in Jewpatorija, sowie Major Kleczynski und Major Jerzmanowski bei der türkischen Armee auf der Krim.

***** Taganrog besaß nicht genug Streitkräfte, um sich verteidigen zu können: nur ein Infanteriebataillon und ein Kosakenregiment, dazu eine Einheit aus 200 bewaffneten Zivilisten, insgesamt rund 2000 Mann, doch keine Artillerie. In dem verzweifelten Bemühen, den Ort vor einem Bombardement zu retten, entsandte der Gouverneur eine Delegation, die den Befehlshabern der alliierten Flotte anbot, das Schicksal von Taganrog durch eine offene Feldschlacht zu entscheiden. Man schlug sogar vor, ungleiche Armeen gegeneinander antreten zu lassen, um dem alliierten Flottenvorteil gerecht zu werden. Es war ein erstaunlicher Akt der Ritterlichkeit, der direkt aus der mittelalterlichen Geschichtsschreibung hätte stammen können. Die alliierten Befehlshaber ließen sich jedoch nicht überzeugen und kehrten auf ihre Schiffe zurück, um die Bombardierung von Taganrog zu beginnen. Der gesamte Hafen, die Kuppel der Kathedrale und viele andere Gebäude wurden zerstört. Unter den zahlreichen Einwohnern, die aus der belagerten Stadt flohen, war Jewgenia Tschechowa, die Mutter des künftigen Dramatikers Anton Tschechow, der fünf Jahre später in Taganrog geboren wurde (L. Guerrin, Histoire de la dernière guerre du Russie (1853–1856), 2 Bde. [Paris 1858], Bd. 2, S. 239 f.; N. Dubrowin, Istorija krymskoi woiny i oborony Sewastopolja, 3 Bde. [St. Petersburg 1900], Bd. 3, S. 191).

****** Peto & Grissell, die Firma, die er zusammen mit seinem Cousin Thomas Grissell betrieb, errichtete viele bekannte Londoner Bauwerke, darunter den Reform Club, den Oxford & Cambridge Club, das Lyceum und die Nelsonsäule.

******* Dieser Vorfall führte zu der berühmten, von Totleben geprägten Wendung: »Die französische Armee ist eine Armee von Löwen, geführt von Eseln.« Der Satz wurde später zur Beschreibung der britischen Armee im Ersten Weltkrieg benutzt.

******** Ein etwa zwei Meter hoher und rund einen Meter breiter Verhau aus gefällten Bäumen, Bauholz und Reisig.