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Religionskriege

Seit Wochen strömten die Pilger zum Osterfest nach Jerusalem. Sie kamen aus jedem Winkel Osteuropas und des Nahen Ostens, aus Ägypten, Syrien, Armenien, Anatolien, der griechischen Halbinsel, vor allem aber aus Russland, von wo sie per Schiff zu dem Hafen Jaffa fuhren, um dort Kamele oder Esel für die Weiterreise zu mieten. Am Karfreitag, dem 10. April 1846, waren 20000 Pilger in Jerusalem. Sie belegten sämtliche Unterkünfte, die sie finden konnten, oder schliefen in Familiengruppen unter freiem Himmel. Um ihre lange Reise bezahlen zu können, hatten fast alle irgendeine Handelsware mitgebracht: zum Beispiel ein handgemachtes Kruzifix oder Schmuckstück, Rosenkränze oder bestickte Stoffe, die sie europäischen Touristen an den heiligen Stätten verkauften. Der Platz vor der Grabeskirche, dem Hauptziel ihrer Pilgerfahrt, war ein geschäftiger Markt, auf dem bunte Obst- und Gemüseauslagen mit Pilgerwaren und den stinkenden Fellen von Ziegen und Ochsen konkurrierten, welche die Gerber hinter der Kirche in die Sonne gelegt hatten. Auch Bettler versammelten sich hier und drohten Fremden, sie mit ihren leprösen Händen zu berühren, wenn ihnen Almosen verweigert wurden. Vermögende Touristen mussten sich auf den Schutz ihrer türkischen Führer verlassen, welche die Bettler mit schweren Stöcken schlugen, um ihren Kunden einen Pfad zur Kirchentür zu bahnen.

Im Jahr 1846 fiel Ostern nach dem römischen und griechisch-orthodoxen Kalender auf dasselbe Datum, weshalb die heiligen Stätten viel stärker bevölkert waren als sonst und eine angespannte Stimmung herrschte. Vertreter der beiden Religionsgemeinschaften stritten sich seit langem darüber, wer das Recht haben solle, seine Karfreitagsrituale als Erster am Kreuzigungsaltar in der Kirche vom heiligen Grab auszuführen an der Stelle, an der das Kreuz Jesu in den Felsen eingedrungen sein soll. In den Jahren zuvor hatte sich die Rivalität zwischen Lateinern und Griechen so zugespitzt, dass Mehmet Pascha, der osmanische Statthalter von Jerusalem, innerhalb und außerhalb der Kirche Soldaten hatte postieren müssen, um die Ordnung zu wahren. Aber nicht einmal das hatte Schlägereien verhindern können.

An diesem Karfreitag nun mussten die lateinisch-römischen Priester, die mit ihren Altardecken aus weißem Leinen eintrafen, feststellen, dass ihnen die Griechen mit ihren bestickten Seidendecken zuvorgekommen waren. Die Katholiken verlangten, den firman der Griechen zu sehen, also das Dekret des Sultans in Konstantinopel, das sie ermächtigte, ihr Seidentuch als Erste auf den Altar zu legen. Umgekehrt verlangten die Griechen, den firman der Lateiner zu sehen, der ihnen erlaubte, es zu entfernen. Eine Prügelei brach zwischen den Priestern aus, denen sich auf beiden Seiten rasch Mönche und Pilger anschlossen. Bald war die gesamte Kirche ein Schlachtfeld. Die rivalisierenden Gruppen von Gläubigen setzten nicht nur ihre Fäuste, sondern auch Kruzifixe, Kerzenhalter, Becher, Lampen und Weihrauchbrenner und sogar Holzstücke ein, die sie von den heiligen Stätten abrissen. Der Kampf wurde mit Messern und Pistolen fortgesetzt, die beide Seiten in die Grabeskirche eingeschmuggelt hatten. Als die Kirche endlich von Mehmet Paschas Wächtern geräumt wurde, lagen über vierzig Menschen tot auf dem Boden.1

»Sehet, was im Namen der Religion getan wird«, schrieb die englische Gesellschaftskommentatorin Harriet Martineau, die 1846 durch Palästina und Syrien reiste.

Dieses Jerusalem ist für die Mohammedaner nach Mekka der heiligste Ort der Welt, und für die Christen und Juden ist es überhaupt der heiligste Ort. Was tun sie in diesem Heiligtum ihres gemeinsamen Vaters, zu dem sie alle es erklärt haben? Hier sind die Mohammedaner, begierig darauf, jeden Juden oder Christen zu töten, der die Omar-Moschee betritt. Dort sind die Griechen und lateinischen Christen, die einander hassen, dazu bereit, jeden Juden oder Mohammedaner zu töten, der sich in die Kirche vom heiligen Grab begibt. Und hier sind die Juden, die in der rachsüchtigen Sprache ihrer alten Propheten gegen ihre Feinde wettern.2

Die Rivalität zwischen den christlichen Kirchen verschärfte sich dadurch, dass die Zahl der Pilger nach Palästina im 19. Jahrhundert rasch anwuchs. Eisenbahnen und Dampfschiffe ermöglichten Massenreisen, womit die Region für katholische Touristengruppen aus Frankreich und Italien sowie für die fromme Mittelschicht Europas und Amerikas zugänglich wurde. Die verschiedenen Kirchen wetteiferten miteinander um Einfluss. Sie richteten Missionen ein, um ihre Pilger zu unterstützen, überboten einander bei Landkäufen, gründeten Diözesen und Klöster sowie Schulen, um die orthodoxen Araber (hauptsächlich Syrer und Libanesen), die größte, doch am wenigsten gebildete christliche Gemeinde im Heiligen Land, zu bekehren.

»In den beiden letzten Jahren sind von der russischen, französischen, neapolitanischen und sardinischen Regierung erhebliche Geschenke nach Jerusalem geschickt worden, um die Kirche vom heiligen Grab zu schmücken«, meldete William Young, der britische Konsul in Palästina und Syrien, Außenminister Lord Palmerston im Jahr 1839.

Es gibt viele Anzeichen für zunehmende Eifersucht und feindselige Gefühle zwischen den Kirchen. Die kleinlichen Streitigkeiten, die stets zwischen lateinischen, griechischen und armenischen Klöstern bestanden haben, waren von geringer Bedeutung, solange die Differenzen von Zeit zu Zeit dadurch beigelegt wurden, dass eines den türkischen Behörden eine höhere Bestechungssumme zahlte als das andere. Doch jene Tage sind vergangen, denn diese Länder sind nun nicht mehr gegen europäische Intrigen in Kirchenangelegenheiten gefeit.3

Zwischen 1842 und 1847 waren hektische Aktivitäten in Jerusalem zu beobachten: Die Anglikaner gründeten eine Diözese, die Österreicher stellten eine franziskanische Druckerpresse auf, die Franzosen richteten ein Konsulat in Jerusalem ein und steckten Geld in Schulen und Kirchen für die Katholiken; Papst Pius IX. berief erneut einen Einheimischen, den ersten seit den Kreuzzügen des 12. Jahrhunderts, zum lateinischen Patriarchen, der griechische Patriarch kehrte aus Konstantinopel zurück, um seine Kontrolle über die Rechtgläubigen zu festigen, und die Russen entsandten eine Kirchendelegation, die einen russischen Gebäudekomplex mit einer Herberge, einem Krankenhaus, einer Kapelle, einer Schule und einem Marktplatz einrichtete, um die hohe und wachsende Zahl russischer Pilger zu betreuen.

In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts schickte die russisch-orthodoxe Kirche mehr Pilger nach Jerusalem als jede andere Konfession des christlichen Glaubens. Alljährlich trafen bis zu 15000 russische Pilger zum Osterfest in Jerusalem ein; manche von ihnen legten sogar eine lange Fußwanderung durch Russland und den Kaukasus, durch Anatolien und Syrien zurück. Für die Russen waren die heiligen Stätten Palästinas Gegenstand tiefer und leidenschaftlicher Hingabe: Die Pilgerreise dorthin war die höchstmögliche Ausdrucksform ihres Glaubens.

In mancher Hinsicht betrachteten die Russen das Heilige Land als einen Teil ihrer religiösen Heimat. Die Idee des »heiligen Russland« wurde nicht durch territoriale Grenzen eingeengt; es war ein Reich der Rechtgläubigen, mit Sanktuarien in sämtlichen Gebieten der östlichen Christenheit und mit der Grabeskirche als Mutterkirche. »Palästina«, schrieb ein russischer Theologe in den 1840er Jahren, »ist unser Heimatland, in dem wir uns nicht als Ausländer empfinden.«4 Seit Jahrhunderten stattfindende Pilgerreisen hatten die Grundlage für diesen Anspruch geschaffen und somit eine Verbindung zwischen der russischen Kirche und den heiligen Stätten (gekennzeichnet durch das Leben Christi in Bethlehem, Jerusalem und Nazareth), die viele Russen für wichtiger für das Fundament einer höheren spirituellen Autorität hielten als die säkulare und politische Oberhoheit der Osmanen in Palästina.

Nichts von dieser Inbrunst war den Katholiken oder Protestanten eigen, für die die heiligen Stätten Gegenstand historischen Interesses und romantischer Empfindungen, nicht jedoch der religiösen Hingabe waren. Der Reiseschriftsteller und Historiker Alexander Kinglake meinte: »Wenn die lateinische Kirche überhaupt so etwas wie einen Pilger zu bieten hatte, dann oftmals nur einen französischen Touristen mit einem Journal und einer Theorie sowie einem Plan, ein Buch zu schreiben.« Europäische Touristen fühlten sich von der tiefen Leidenschaft orthodoxer Pilger abgestoßen, deren seltsame Rituale ihnen als »barbarisch« und als »entwürdigender Aberglaube« erschienen. Martineau weigerte sich, das Heilige Grab aufzusuchen, um sich die Waschung der Füße von Pilgern am Karfreitag anzusehen. »Ich konnte keinem im Namen des Christentums vollführten Mummenschanz beiwohnen«, schrieb sie, »mit dem verglichen der primitivste Fetischismus an den Ufern eines afrikanischen Flusses harmlos gewesen wäre.« Aus dem gleichen Grund hielt sie sich von der Zeremonie des heiligen Feuers am Ostersamstag fern, bei der sich Tausende von Orthodoxen ins Heilige Grab zwängten, um ihre Kerzen an den wundersamen Flammen anzuzünden, die aus dem Grab Christi hervorzüngelten. Rivalisierende Gruppen von Orthodoxen Griechen, Bulgaren, Moldauer, Serben und Russen rempelten einander an, um als Erste an der Reihe zu sein; es kam zu Prügeleien, und manchmal wurden Gläubige erdrückt oder vom Rauch erstickt. Baron Curzon, der 1834 Zeuge einer solchen Szene wurde, beschrieb die Zeremonie als »Schauplatz der Unordnung und Entweihung«, auf dem die Pilger »beinahe im Zustand der Nacktheit und mit rasenden Gesten herumtanzten, brüllten und schrien, als wären sie besessen«.5

Es ist keine Überraschung, dass eine Unitarierin wie Martineau oder ein Anglikaner wie Curzon solche Rituale ablehnten, denn die Zurschaustellung religiöser Emotionen war in der protestantischen Kirche längst beseitigt. Wie viele Touristen im Heiligen Land hatten sie das Gefühl, weniger mit den orthodoxen Pilgern, deren wildes Gebaren kaum etwas Christliches an sich zu haben schien, als mit den relativ weltlichen Muslimen gemein zu haben, deren strikte Reserve und Würde ihren eigenen privaten Formen des stillen Gebets eher entsprachen. Auffassungen wie diese beeinflussten die Gestaltung der westlichen Politik gegenüber Russland in den diplomatischen Disputen über das Heilige Land, die am Ende zum Krimkrieg führen sollten.

Europäische Kommentatoren, die nichts von der Bedeutung des Heiligen Landes für Russland wussten und dieser Tatsache ohnehin gleichgültig gegenüberstanden, nahmen nur die wachsende Bedrohung wahr, welche die Russen für die Interessen der westlichen Kirchen darstellten. In den frühen 1840er Jahren schickte William Young, der britische Konsul in Jerusalem, regelmäßig Berichte über die stetig zunehmende Zahl »russischer Agenten« in der Region ans Foreign Office. Deren Ziel sei es, eine »russische Eroberung des Heiligen Landes« durch staatlich geförderte Wallfahrten und Landkäufe für orthodoxe Kirchen und Klöster vorzubereiten. Zweifellos übte der russische Klerus zu der Zeit Einfluss auf die griechischen, armenischen und arabischen orthodoxen Gemeinden aus, indem er Kirchen, Schulen und Herbergen in Palästina und Syrien finanzierte (ein Aktivismus, gegen den das Außenministerium in St. Petersburg einschritt, da es gute Gründe zu der Befürchtung hatte, dass ein derartiges Verhalten die Westmächte verärgern würde). Youngs Meldungen über die Eroberungspläne Russlands wurden immer hysterischer. »Man erfährt, dass die russischen Pilger offen darüber sprachen, es werde nicht mehr lange dauern, bis dieses Land der russischen Regierung unterstehe«, schrieb er 1840 an Palmerston. »Die Russen könnten in einer einzigen Nacht während des Osterfestes 10000 Pilger in den Mauern von Jerusalem bewaffnen. Die Klöster in der Stadt sind geräumig, und es wäre möglich, sie für ein Spottgeld in Festungen zu verwandeln.« Die britischen Ängste vor diesem »russischen Plan« führten dazu, dass die Gründung der ersten anglikanischen Kirche in Jerusalem beschleunigt im Jahr 1845 stattfand.6

Am besorgtesten über die wachsende russische Präsenz im Heiligen Land waren aber die Franzosen. Laut den französischen Katholiken hatte ihr Staat eine historische Beziehung zu Palästina, die bis zu den Kreuzzügen zurückreichte. Damit habe Frankreich, die »erste katholische Nation«, die vordringliche Aufgabe, den Glauben im Heiligen Land zu schützen, obwohl die Zahl der römisch-katholischen Pilger in jüngeren Jahren deutlich zurückgegangen war. »Wir müssen dort ein Vermächtnis bewahren, ein Interesse verteidigen«, erklärte die katholische Provinzpresse. »Jahrhunderte werden vergehen, bevor die Russen nur einen kleinen Teil des Blutes vergießen, das die Franzosen in den Kreuzzügen für die heiligen Stätten geopfert haben. Die Russen wirkten nicht an den Kreuzzügen mit Die Vorrangstellung Frankreichs unter den christlichen Nationen ist im Orient derart etabliert, dass die Türken das christliche Europa Frankistan, das Land der Franzosen, nennen.«7

Um der ausufernden russischen Präsenz entgegenzuwirken und ihre Rolle als Hauptbeschützer der Katholiken in Palästina zu festigen, richteten die Franzosen 1843 ein Konsulat in Jerusalem ein (eine empörte muslimische Menge, die den Einfluss der Westmächte ablehnte, riss die gottlose Trikolore sehr bald von ihrem Mast). Bei lateinischen Gottesdiensten in der Grabeskirche und in der Geburtskirche in Bethlehem erschien der französische Konsul fortan in Paradeuniform und mit einem großen Tross von Beamten. Zur mitternächtlichen Christmette in Bethlehem wurde er von einer ansehnlichen Infanterietruppe begleitet, die Mehmet Pascha bereitgestellt, doch Frankreich bezahlt hatte.8

Auseinandersetzungen zwischen Lateinern und Orthodoxen waren in der Geburtskirche so häufig wie in der Kirche vom heiligen Grab. Seit Jahren stritt man sich darüber, ob lateinische Mönche einen Schlüssel zur Hauptkirche (deren Hüter die Griechen waren) haben sollten, damit sie zur Krippenkapelle durchgehen konnten, die den Katholiken gehörte; außerdem gab es Zwist in der Frage, ob sie einen Schlüssel zur Geburtsgrotte besitzen durften, einer alten Höhle unter der Kirche, und darüber, ob sie auf dem Marmorboden der Grotte an der angeblichen »Geburtsstelle« Christi einen silbernen Stern mit dem französischen Wappen und der lateinischen Inschrift »Hier wurde Jesus Christus von der Jungfrau Maria geboren« hätten anbringen dürfen. Der Stern war dort im 18. Jahrhundert von den Franzosen platziert worden, doch die Griechen hatten ihn stets als »Zeichen der Eroberung« abgelehnt. 1847 wurde der Stern gestohlen; die Werkzeuge, mit denen er aus dem Marmorboden gestemmt worden war, blieben am Schauplatz zurück. Danach bezichtigten die Lateiner sofort die Griechen, das Verbrechen begangen zu haben. Erst kurz zuvor hatten die Griechen eine Mauer gebaut, um lateinischen Priestern den Zugang zur Grotte zu verwehren, was ebenfalls eine Schlägerei auslöste. Nach der Entfernung des silbernen Sterns legten die Franzosen einen diplomatischen Protest bei der Hohen Pforte ein, der osmanischen Regierung in Konstantinopel, wobei sie sich auf einen lange vernachlässigten Vertrag von 1740 beriefen, durch den, wie sie behaupteten, die Rechte der Katholiken auf die Grotte, speziell zur Instandhaltung des Sterns, gesichert würden. Die Griechen aber erhoben gegenteilige Ansprüche, die sich auf das Gewohnheitsrecht und auf Konzessionen der Pforte stützten.9 Dieser nebensächliche Konflikt wegen eines Kirchenschlüssels markierte den Beginn einer diplomatischen Krise um die Kontrolle der heiligen Stätten, die weitreichende Folgen haben sollte.

Neben den Schlüsseln zu der Kirche in Bethlehem forderten die Franzosen für die Katholiken, ebenfalls auf Grundlage des Vertrags von 1740, das Recht, das Dach der Grabeskirche zu reparieren, welches dringender Aufmerksamkeit bedurfte. Der größte Teil des Bleis war an einer Seite entfernt worden (die Griechen und Lateiner bezichtigten einander dieses Vergehens). Regen sickerte durchs Dach, und Vögel konnten in der Kirche umherfliegen. Nach türkischem Gesetz war der Besitzer des Daches auch der Besitzer des Hauses. Folglich wurde das Recht, die Reparaturen auszuführen, heftig von Lateinern und Griechen umkämpft, da es sie in den Augen der Türken zu den legitimen Beschützern des Heiligen Grabes machte. Russland lehnte die Ansprüche der Franzosen ab und unterstützte die Gegenforderungen der Orthodoxen, die sich auf den Vertrag von Kutschuk-Kainardsche beriefen; diesen hatten die Türken nach ihrer Niederlage durch Russland im Krieg von 1768–1774 unterzeichnet. Den Russen zufolge war ihnen durch den Vertrag das Recht verliehen worden, die Interessen der Rechtgläubigen im Osmanischen Reich zu vertreten. Diese Aussage hatte wenig mit der Wahrheit zu tun, denn die Sprache des Vertrags war zweideutig und wurde durch verschiedene Übersetzungen verzerrt (die Russen unterzeichneten den Vertrag in russischer und italienischer, die Türken in türkischer und italienischer Sprache, wonach die Russen ihn zu diplomatischen Zwecken ins Französische übersetzten).10 Trotzdem wurde durch russischen Druck auf die Hohe Pforte sichergestellt, dass die Lateiner im Hintertreffen blieben. Die Türken spielten auf Zeit und entzogen sich dem Problem, indem sie beiden Seiten gegenüber versöhnliche Äußerungen abgaben.

Der Konflikt vertiefte sich im Mai 1851, als Louis-Napoléon seinen engen Freund, den Marquis Charles de La Valette, zum Botschafter in der türkischen Hauptstadt ernannte. Zweieinhalb Jahre nach seiner Wahl zum Präsidenten Frankreichs mühte Napoleon sich immer noch, seine Macht über die Nationalversammlung zur Geltung zu bringen. Um seine Position zu stärken, hatte er der katholischen öffentlichen Meinung eine Reihe von Zugeständnissen gemacht: 1849 hatten französische Soldaten den Papst nach Rom zurückbegleitet, nachdem er von revolutionären Menschenmengen aus dem Vatikan vertrieben worden war; und das Falloux-Gesetz von 1850 eröffnete die Möglichkeit, die Zahl der katholischen Schulen zu erhöhen. Die Ernennung von La Valette war eine weitere wichtige Konzession an die Kirchenmeinung. Der Marquis, ein inbrünstiger Katholik, spielte eine führende Rolle in der schattenhaften »klerikalen Partei«, von der weithin vermutet wurde, dass sie insgeheim die Fäden in der Außenpolitik Frankreichs zog. Der Einfluss dieser Kirchenfraktion war besonders stark im Hinblick auf die Politik Frankreichs an den heiligen Stätten, wo sie eine feste Haltung gegenüber der orthodoxen Bedrohung forderte. La Valette ging weit über seinen Auftrag hinaus, als er sein Amt als Botschafter antrat. Auf der Reise nach Konstantinopel machte er außerplanmäßig in Rom halt, um den Papst zur Unterstützung des französischen Einsatzes für die Katholiken im Heiligen Land zu überreden. Nachdem er seinen Posten in Konstantinopel übernommen hatte, benutzte er im Umgang mit der Hohen Pforte eine betont aggressive Sprache eine Taktik, die laut La Valette »den Sultan und seine Minister veranlassen sollte«, vor französischen Interessen »zurückzuschrecken und zu kapitulieren«. Die katholische Presse stellte sich geschlossen hinter La Valette, besonders das einflussreiche Journal des débats, dessen Herausgeber eng mit ihm befreundet war. La Valette lieferte der Presse seinerseits Zitate, welche die Situation anheizten und den Zaren, Nikolaus I., erbosten.11

Im August 1851 bildeten die Franzosen eine gemeinsame Kommission mit den Türken, um über die Frage der religiösen Rechte zu diskutieren. Die Arbeit zog sich ergebnislos hin, während die Türken die griechischen und lateinischen Ansprüche sorgfältig gegeneinander abwägten. Bevor man zu einem Abschluss gelangte, verkündete La Valette, dass das lateinische Recht »eindeutig etabliert« sei, weshalb man die Verhandlungen nicht fortzusetzen brauche. Er sprach davon, dass Frankreich bei der Unterstützung des lateinischen Rechts »zu extremen Maßnahmen greifen« dürfe, und prahlte mit den »überlegenen Seestreitkräften im Mittelmeer«, die zur Durchsetzung französischer Interessen dienen könnten.

Es ist ungewiss, ob La Valette die Erlaubnis Napoleons zu einer so expliziten Kriegsdrohung besaß. Napoleon hatte kein besonderes Interesse an der Religion, kannte nicht die Einzelheiten des Disputs über das Heilige Land und verhielt sich in Vorderasien im Grunde defensiv. Aber es ist möglich, wenn nicht gar wahrscheinlich, dass der Kaiser La Valettes Versuch billigte, eine Krise mit Russland zu provozieren. Er wollte jede Möglichkeit erforschen, einen Keil zwischen die drei Mächte (Großbritannien, Russland, Österreich) zu treiben, die Frankreich nach der Niederlage seines Großonkels Napoleon Bonaparte aus dem Europäischen Konzert ausgeschlossen und es den »erbitternden Verträgen« von 1815 unterworfen hatten. Louis-Napoléon durfte mit einiger Berechtigung hoffen, dass sich ein neues Bündnissystem aus dem Streit über das Heilige Land herausbilden würde, denn Österreich war ein katholisches Land und konnte vielleicht überredet werden, sich mit Frankreich gegen das orthodoxe Russland zu wenden, während Großbritannien seine eigenen imperialen Interessen im Nahen Osten gegen die Russen verteidigen wollte. Was immer die Hintergründe gewesen sein mochten, La Valettes vorsätzlicher Akt der Aggression erzürnte den Zaren, der den Sultan warnte, dass jegliche Anerkennung der lateinischen Ansprüche im Widerstreit mit bestehenden Verträgen zwischen der Pforte und Russland stehen und ihn zwingen werde, die diplomatischen Beziehungen zu den Osmanen abzubrechen. Diese plötzliche Wendung der Ereignisse alarmierte Großbritannien, das Frankreich zuvor zu einem Kompromiss geraten hatte, sich nun jedoch auf die Möglichkeit eines Krieges vorbereiten musste.12

Der Krieg sollte erst zwei Jahre später beginnen, doch die dann auflodernde Feuersbrunst speiste sich aus religiösen Leidenschaften, die sich über Jahrhunderte angesammelt hatten.

* * *

In höherem Maße als jede andere Macht wurde das Russische Reich im Innern von der Religion geleitet. Das zaristische System organisierte seine Untertanen nach ihrer konfessionellen Zugehörigkeit, und es begriff seine Grenzen und internationalen Verpflichtungen fast ausschließlich unter Glaubensaspekten.

Nach der Gründungsideologie des zaristischen Staates, der im 19. Jahrhundert durch den russischen Nationalismus an zusätzlicher Kraft gewann, war Moskau die letzte verbleibende Hauptstadt der Orthodoxie, das »dritte Rom«, nachdem Konstantinopel, das Zentrum von Byzanz, 1453 von den Türken erobert worden war. Dieser Ideologie zufolge gehörte es zur göttlichen Mission Russlands, die Rechtgläubigen vom islamischen Imperium der Osmanen zu befreien und Konstantinopel als Sitz des östlichen Christentums wiederherzustellen. Das Russische Reich wurde gleichsam als orthodoxer Kreuzzug verstanden. Von der Niederlage der mongolischen Khanate Kasan und Astrachan im 16. Jahrhundert bis zur Eroberung der Krim, des Kaukasus und Sibiriens im 18. und 19. Jahrhundert wurde Russlands imperiale Identität im Grunde durch den Konflikt zwischen christlichen Siedlern und tatarischen Nomaden in der eurasischen Steppe definiert. Diese religiöse Abgrenzung war für das Selbstverständnis des russischen Nationalbewusstseins immer viel wichtiger als jedes ethnische Merkmal: Der Russe war orthodox, und der Ausländer bekannte sich zu einem anderen Glauben.

Die Religion stand im Zentrum der Kriege Russlands gegen die Türken, die Mitte des 19. Jahrhunderts zehn Millionen orthodoxe Untertanen (Griechen, Bulgaren, Albaner, Moldauer, Walachen und Serben) in ihren europäischen Territorien und weitere drei bis vier Millionen Christen (Armenier, Georgier und eine kleine Schar von Abchasiern) im Kaukasus und in Anatolien zählten.13

An der nördlichen Grenze des Osmanischen Reiches verlief eine aus Festungen bestehende Verteidigungslinie von Belgrad auf dem Balkan bis nach Kars im Kaukasus. Entlang dieser Linie waren sämtliche Kriege der Türkei mit Russland seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ausgefochten worden (1686–1699, 1710/11, 1735–1739, 1768–1774, 1787–1792, 1806–1812 und 1828/29). Der Krimkrieg und der spätere russisch-türkische Krieg von 1877/78 bildeten keine Ausnahmen von der Regel. Die von diesen Festungen verteidigten Grenzgebiete waren religiöse Schlachtfelder, die Bruchlinie zwischen Orthodoxie und Islam.

Zwei Regionen hatten in diesen russisch-türkischen Kriegen eine besondere Bedeutung: das Donaudelta (das die Fürstentümer Moldau und Walachei umfasste) und die Nordküste des Schwarzen Meeres (einschließlich der Halbinsel Krim). Sie sollten zu den beiden Hauptschauplätzen des Krimkriegs werden.

Mit seinen breiten Flüssen und verseuchten Sümpfen war das Donaudelta eine entscheidende Pufferzone, die Konstantinopel gegen einen Landangriff durch die Russen abschirmte. Die Lebensmittelzufuhr über die Donau war unerlässlich für die türkischen Festungen ebenso wie für jedes russische Heer, das die osmanische Hauptstadt attackierte, weshalb die Parteinahme der bäuerlichen Bevölkerung in diesen Kriegen einen entscheidenden Faktor darstellte. Die Russen appellierten an den orthodoxen Glauben der Bauern, um sie für einen Befreiungskrieg gegen die muslimische Herrschaft auf ihre Seite zu ziehen, während die Türken eine Politik der verbrannten Erde betrieben. Hunger und Krankheit wurden den vorrückenden Russen wiederholt zum Verhängnis, während sie in die Donauländer marschierten, deren Ernten von den zurückweichenden Türken vernichtet worden waren. Jeder Angriff auf die türkische Hauptstadt hing mithin davon ab, dass die Russen einen Seeweg durch das Schwarze Meer einrichteten, um ihre Soldaten zu versorgen.

Die Nordküste des Schwarzen Meeres und der Krim wurde von den Osmanen aber ebenfalls als Pufferzone gegenüber Russland verwendet. Statt die Gegend zu kolonisieren, verließen sie sich darauf, dass ihre dortigen Vasallen, die turksprachigen Tatarenstämme des Krim-Khanats, die Grenzen des Islams gegen christliche Invasoren verteidigten. Beherrscht von der Giray-Dynastie, die direkt von Dschingis Khan abstammte, war das Krim-Khanat der letzte noch bestehende Außenposten der Goldenen Horde. Vom 15. bis zum 18. Jahrhundert hatte sich ihr Reiterheer ungehindert auf den südlichen Steppen zwischen Russland und der Schwarzmeerküste bewegen können. Durch ihre Überfälle auf den Moskowiter Staat lieferten die Tataren einen regelmäßigen Nachschub an slawischen Sklaven für den Verkauf auf den Sexmärkten und für die Rudergaleeren von Konstantinopel. Die Zaren von Russland und die Könige von Polen zahlten dem Khan Tribut, um seine Männer von ihren Gebieten fernzuhalten.14

Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts, als Russland die Ukraine in ihren Besitz brachte, führte es einen langwierigen Kampf, um diese Pufferzonen der osmanischen Kontrolle zu entreißen. Die Warmwasserhäfen des Schwarzen Meeres, so unentbehrlich für die Entwicklung der russischen Handels- und Seemacht, waren die strategischen Objekte in diesem Krieg, doch religiöse Interessen standen nie weit hinter ihnen zurück. So verlangte Peter der Große 1699, nachdem Russland und seine Verbündeten die Osmanen besiegt hatten, von den Türken eine Garantie für die griechischen Rechte am Heiligen Grab und freien Zugang für alle Russen zum Heiligen Land. Das Ringen um die Donaufürstentümer (Moldau und Walachei) war ebenfalls zum Teil ein Religionskrieg. Im russisch-türkischen Konflikt von 1710/11 befahl Peter seinen Soldaten, den Fluss Pruth zu überqueren und die Fürstentümer zu besetzen, da er hoffte, einen Aufstand der christlichen Bevölkerung gegen die Türken herbeizuführen. Aber der Aufstand blieb aus. Gleichwohl war der Gedanke, dass Russland seine Glaubensbrüder im Osmanischen Reich auffordern könne, die Türkenherrschaft zu untergraben, in den folgenden 200 Jahren ein Kernstück der zaristischen Politik.

Diese Politik nahm unter Katharina der Großen (1762–1796) formelle Gestalt an. Nach ihrem vernichtenden Sieg über die Osmanen im Krieg von 1768–1774, in dem sie die Fürstentümer erneut besetzt hatten, verlangten die Russen in territorialer Hinsicht relativ wenig von den Türken, bevor sie sich zurückzogen. Durch den Vertrag von Kutschuk-Kainardsche (1774) wurden ihnen nur ein kleiner Streifen der Schwarzmeerküste zwischen den Flüssen Dnepr und Bug (einschließlich des Hafens Cherson), die Kabarda-Region des Kaukasus und die Krimhäfen Kertsch und Enikale, wo sich das Asowsche und das Schwarze Meer vereinen, zugesprochen. Daneben sahen sich die Osmanen gezwungen, ihre Souveränität über das Krim-Khanat aufzugeben und den Tataren Unabhängigkeit zu gewähren. Auch erhielten russische Schiffe freie Durchfahrt durch die Dardanellen, die das Schwarze Meer mit dem Mittelmeer verbinden. Während die Russen also nur ein bescheidenes Territorium erlangten, wurden ihnen erhebliche Rechte zuteil, sich zum Schutz der Orthodoxen in osmanische Angelegenheiten einzumischen. Kutschuk-Kainardsche stellte den früheren Zustand der Fürstentümer, das heißt ihre Unterordnung unter osmanische Souveränität, wieder her, doch den Russen wurde das Recht zuerkannt, die orthodoxe Bevölkerung zu beschützen. Außerdem erhielt Russland die Erlaubnis, eine orthodoxe Kirche in Konstantinopel zu bauen, was es als Vollmacht interpretierte, die orthodoxen Untertanen des Sultans zu vertreten. Der Vertrag erlaubte den christlichen Kaufleuten des Osmanischen Reiches (Griechen, Armenier, Moldauer und Walachen), ihre Schiffe in türkischen Gewässern mit einer russischen Fahne zu beflaggen ein beträchtliches Zugeständnis, das den Russen ermöglichte, ihre kommerziellen und religiösen Interessen gleichzeitig voranzutreiben. Diese religiösen Ansprüche hatten einige bemerkenswerte Konsequenzen. Da die Russen die Donaufürstentümer nicht annektieren konnten, ohne auf den Widerstand der Großmächte zu stoßen, versuchten sie stattdessen, der Hohen Pforte Konzessionen abzuringen, durch welche die Fürstentümer zu halb autonomen Regionen unter russischem Einfluss werden würden. Die gemeinsame Religionszugehörigkeit sollte, wie sie hofften, im Lauf der Zeit Bündnisse mit den Moldauern und Walachen ermöglichen, welche die osmanische Autorität schwächen und die russische Vorherrschaft über Südosteuropa sicherstellen würden, falls das Osmanische Reich zusammenbrach.

Ermutigt durch den Sieg über die Türkei, verfolgte Katharina eine Politik der Kooperation mit den Griechen, deren religiöse Interessen Russland, wie sie meinte, laut dem Vertrag schützen durfte und musste. Sie entsandte Militärvertreter nach Griechenland, ließ griechische Offiziere an ihren Militärakademien ausbilden, lud griechische Händler und Seeleute ein, sich in ihren neuen Städten an der Schwarzmeerküste anzusiedeln, und bestärkte die Griechen in ihrem Glauben, wonach Russland ihre Bewegung der nationalen Befreiung von den Türken fördern werde. Stärker als jeder andere russische Herrscher identifizierte sich Katharina mit der griechischen Sache. Unter dem wachsenden Einfluss ihres höchsten Militärbefehlshabers, Staatsmanns und bevorzugten Höflings, Fürst Grigori Potemkin, träumte die Zarin sogar davon, das alte Byzantinische Reich auf den Ruinen des Osmanischen Reiches neu aufzubauen. Der französische Philosoph Voltaire, mit dem sie korrespondierte, sprach sie als »Votre majesté impériale de l’église grecque« an, während Baron Friedrich Grimm, ihr am höchsten geschätzter deutscher Briefpartner, sie als »l’Impératrice des Grecs« bezeichnete. Katharina stellte sich dieses hellenische Reich als gewaltiges orthodoxes Imperium vor, verteidigt von Russland, dessen slawische Sprache, wie Wassili Tatischtschew, der erste große Historiker Russlands, fälschlich annahm, einst die Lingua franca des Byzantinischen Reiches gewesen sei. Katharina gab ihrem zweiten Enkel den Namen Konstantin nach dem ersten und letzten Kaiser von Byzanz. Im Gedenken an seine Geburt im Jahr 1779 ließ sie spezielle Silbermünzen mit dem Bild der großen Sankt-Sophiakirche (Hagia Sophia) in Konstantinopel prägen, die seit der osmanischen Eroberung grausamerweise in eine Moschee verwandelt worden war. Statt eines Minaretts war auf der Münze ein orthodoxes Kreuz auf der Kuppel der früheren byzantinischen Basilika zu sehen. Um ihren Enkel zum Herrscher dieses wieder erstandenen orientalischen Reiches ausbilden zu lassen, holte die russische Zarin Kinderschwestern aus Naxos herbei, die ihn Griechisch lehrten eine Sprache, die er als Erwachsener fließend beherrschte.15

Es blieb immer unklar, wie ernst die Zarin dieses »griechische Projekt« nahm. In der Form, in der es 1780 von Graf Besborodko, ihrem Privatsekretär und inoffiziellen Außenminister, aufgesetzt wurde, sah das Projekt nicht weniger als die Vertreibung der Türken aus Europa, die Aufteilung ihrer Balkangebiete zwischen Russland und Österreich sowie die »Wiederherstellung des alten griechischen Reiches« mit Konstantinopel als Hauptstadt vor. Im Jahr 1781 sprach Katharina mit dem österreichischen Kaiser Joseph II. über das Projekt, und in ihrer Korrespondenz im Lauf des folgenden Jahres waren sie sich über dessen Wünschbarkeit einig. Ob sie jedoch beabsichtigten, den Plan durchzuführen, ist ungewiss. Manche Historiker gelangten zu dem Schluss, dass das griechische Projekt allenfalls ein Bestandteil der neoklassischen Ikonografie, also politisches Theater, gewesen sei, ähnlich wie die »Potemkinschen Dörfer«, die keine reale Rolle in der Außenpolitik Russlands spielten. Aber selbst wenn es keinen unmittelbaren Aktionsplan gab, scheint kaum ein Zweifel daran zu bestehen, dass sich das Projekt in Katharinas allgemeine Zielsetzung einfügte: Das Russische Reich sollte zu einer Schwarzmeermacht werden, die durch Handel und Religion mit der orthodoxen Welt des östlichen Mittelmeers, einschließlich Jerusalems, verbunden war. Laut Katharinas Lieblingsdichter Gawriil Derschawin, der unter ihrer Herrschaft auch einer der wichtigsten Staatsmänner Russlands war, zielte das griechische Projekt darauf ab,

Durch einen Kreuzzug fortzuschreiten,

Den Fluss Jordan zu reinigen,

Das Heilige Grab zu befreien,

Athen den Athenern zurückzugeben,

Konstantinopel an Konstantin,

Und Japhets Heiliges Land wiederherzustellen.*

»Ode auf den Sturm von Ismael«

Es war gewiss nicht nur politisches Theater, als Katharina und Joseph, begleitet von einer großen internationalen Gefolgschaft, die Schwarzmeerhäfen besichtigten. Die Zarin besuchte die Baustellen neuer russischer Städte und Militärstützpunkte, wobei sie durch Bogengänge fuhr, die Potemkin ihr zu Ehren errichten und mit den Worten »Die Straße nach Byzanz« beschriften ließ.16 Ihre Reise war als Absichtserklärung gedacht.

Katharina war der Ansicht, dass Russland sich nach Süden wenden müsse, wenn es eine Großmacht sein wolle. Es genüge nicht, wie in den Tagen des mittelalterlichen Moskauer Staates Pelze und Bauholz über die Ostseehäfen zu exportieren. Um sich mit den europäischen Mächten messen zu können, müsse es Absatzmärkte für die Agrarprodukte seiner fruchtbaren südlichen Gebiete entwickeln und eine Flottenpräsenz in den Warmwasserhäfen des Schwarzen Meeres aufbauen, von denen seine Schiffe das Mittelmeer erreichen konnten. Wegen der eigentümlichen Geografie Russlands war das Schwarze Meer nicht nur für die militärische Verteidigung des Russischen Reiches an seiner Südgrenze mit der muslimischen Welt, sondern auch für seine Lebensfähigkeit als einflussreiche Macht auf dem europäischen Kontinent von wesentlicher Bedeutung. Ohne das Schwarze Meer besaß Russland keinen Seezugang zu Europa mit Ausnahme der Ostsee, die im Fall eines Konflikts mühelos von den anderen nördlichen Mächten blockiert werden konnte (wie es die Briten während des Krimkriegs tatsächlich tun sollten).

Der Plan, Russland als südliche Macht zu entwickeln, hatte 1776 ernsthaft Gestalt anzunehmen begonnen, als die Zarin Potemkin beauftragte, Neurussland (Noworossija) zu kolonisieren. Damit waren die spärlich bevölkerten Territorien an der Nordküste des Schwarzen Meeres gemeint, welche die Russen den Osmanen kurz zuvor abgerungen hatten. Sie ließ ihren Adligen ausgedehnte Landstriche zukommen und lud europäische Kolonisten (Deutsche, Polen, Italiener, Griechen, Bulgaren und Serben) ein, die Steppengebiete landwirtschaftlich zu erschließen. Dort errichtete man neue Städte Jekaterinoslaw, Cherson, Nikolajew und Odessa , viele davon im französischen und italienischen Rokokostil. Potemkin persönlich beaufsichtigte den Bau von Jekaterinoslaw (»Katharinas Ruhm«), dem heutigen Dnipropetrowsk. Als ein griechisch-römisches Fantasiegebilde sollte es das klassische Vermächtnis symbolisieren, das er und die Anhänger des griechischen Projekts für Russland ins Auge gefasst hatten. Er ersann grandiose neoklassische Gebäude, von denen die meisten nie zustande kamen, etwa Läden, »errichtet in einem Halbkreis wie die Propyläen beziehungsweise das Eingangstor von Athen«, eine Statthalterresidenz im »griechischen und römischen Stil«, Gerichtsgebäude in Form »alter Basiliken« und eine Kathedrale, eine Art »Nachahmung von St. Paul vor den Mauern«, wie er in einem Brief an Katharina erklärte. Es sei ein »Zeichen dafür, dass dieses Gebiet dank Eurer Majestät von einer öden Steppe in ein fruchtbares Stück Land verwandelt wurde, wo Tiere und Menschen aus allen Ländern sich nicht mehr in der Wildnis, sondern zu Hause fühlen«.17

Odessa war das Juwel in Russlands südlicher Krone. Seine architektonische Schönheit verdankte sich großenteils dem Duc de Richelieu, einem Flüchtling vor der Französischen Revolution, der viele Jahre als Stadtgouverneur diente. Doch die Bedeutung der Stadt als Hafen war das Werk der Griechen, die von Katharina ermutigt worden waren, sich hier niederzulassen. Dank der Bewegungsfreiheit, welche die russische Schifffahrt durch den Vertrag von Kutschuk-Kainardsche genoss, wurde Odessa bald zu einem Hauptakteur im Schwarzmeer- und Mittelmeerhandel und übernahm weitgehend die Vorherrschaft von den Franzosen.

Die russische Einverleibung der Krim folgte einem anderen Kurs. Im Rahmen des Vertrags von Kutschuk-Kainardsche war das Krim-Khanat unabhängig von den Osmanen geworden, wenngleich der Sultan durch seine Rolle als Kalif eine nominelle religiöse Autorität beibehielt. Obwohl die Osmanen den Vertrag unterzeichnet hatten, akzeptierten sie die Unabhängigkeit der Krim nur widerwillig, da sie fürchteten, die Halbinsel werde, wie die übrige Schwarzmeerküste, bald von den Russen annektiert werden. Es gelang ihnen, die mächtige Festung Otschakow an der Mündung des Dnepr zu behalten, von der aus sie die Russen bei etwaigen Einmischungen auf der Halbinsel angreifen konnten. Aber sie hatten kaum ein Mittel gegen die russische Politik der politischen und religiösen Infiltration.

Drei Jahre nach der Unterzeichnung des Vertrags wurde Şagin Giray zum Khan gewählt. In Venedig erzogen und halb verwestlicht, war er der Vorzugskandidat Russlands (als Leiter einer Krim-Delegation nach St. Petersburg hatte er Katharina durch seinen »liebenswürdigen Charakter« und sein gutes Aussehen beeindruckt). Şagin wurde von der beträchtlichen christlichen Bevölkerung der Krim (griechische, georgische und armenische Händler) und von vielen Nogai-Nomaden in der Festlandssteppe unterstützt, die ihre Unabhängigkeit vom osmanischen Khanat stets erbittert verteidigt hatten und Şagin als Befehlshaber der Nogai-Horde Treuepflicht schuldeten. Dieser war jedoch untragbar für die Osmanen, weshalb sie eine Flotte mit ihrem eigenen Khan entsandten, der ihn ersetzen sollte; außerdem spornten sie die Krimtataren an, sich gegen Şagin als »Ungläubigen« zu erheben. Şagin ergriff die Flucht, kehrte jedoch bald zurück, um ein Gemetzel unter den aufsässigen Tataren anzurichten, das sogar die Russen schockierte. Daraufhin begannen die Tataren, bestärkt von den Osmanen, einen religiösen Vergeltungskrieg gegen die Christen der Krim, was Russland veranlasste, deren hastigen Exodus zu organisieren (30000 Christen wurden nach Taganrog, Mariupol und in andere Orte an der Schwarzmeerküste gebracht, wo die meisten von ihnen obdachlos wurden).

Der Auszug der Christen führte zu einer ernstlichen Schwächung der Krim-Wirtschaft. Şagin wurde noch abhängiger von den Russen, die ihn drängten, sich mit der Annexion einverstanden zu erklären. Bestrebt, sich in den Besitz der Krim zu bringen, bevor das übrige Europa reagieren konnte, bereitete Potemkin einen raschen Krieg gegen die Türken vor und arrangierte Şagins Abdankung für eine prächtige Pension. Der Khan wurde nach St. Petersburg geschickt, woraufhin Potemkin die Tataren bewog, sich Katharina zu unterwerfen. Überall auf der Krim fanden Zeremonien statt, bei denen sich die Tataren mit ihren Mullahs versammelten, um auf dem Koran einen Eid auf die tausend Kilometer entfernte rechtgläubige Kaiserin abzulegen. Potemkin war entschlossen, die Annexion als Ausdruck des Volkswillens erscheinen zu lassen.

Die russische Übernahme der Krim im Jahr 1783 war eine bittere Demütigung für die Türken. Zum ersten Mal hatte das Osmanische Reich ein muslimisches Territorium an die Christen abtreten müssen. Der Großwesir der Hohen Pforte fand sich widerwillig damit ab, doch andere Politiker am Hof des Sultans betrachteten den Verlust der Krim als tödliche Gefahr für das Osmanische Reich, da die Russen die Halbinsel als Militärstützpunkt gegen Konstantinopel und gegen die osmanische Kontrolle über den Balkan benutzen würden. Deshalb riefen die Osmanen zum Krieg mit Russland auf. Aber es war unrealistisch, auf eigene Faust gegen die Russen zu kämpfen, und türkische Hoffnungen auf ein westliches Eingreifen erschienen haltlos: Österreich hatte sich mit Russland verbündet, um eine künftige russisch-österreichische Teilung des Osmanischen Reiches zu planen; Frankreich war nach seiner Beteiligung am amerikanischen Unabhängigkeitskrieg zu erschöpft, um eine Flotte zum Schwarzen Meer zu entsenden; und die Briten, schwer angeschlagen durch ihre Verluste in Amerika, zeigten sich im Wesentlichen gleichgültig (wenn »Frankreich hinsichtlich der Türken schweigen will«, bemerkte Außenminister Lord Grantham, »warum sollen wir uns dann einmischen? Dies ist nicht der Zeitpunkt, einen neuen Konflikt zu beginnen«).18

Der osmanische Geduldsfaden riss vier Jahre später 1787 , kurz nach Katharinas provozierender Reise durch ihre jüngst eroberten Schwarzmeerküstenorte, die sich gerade dann abspielte, als die Türken im Kaukasus weitere Verluste an die Russen hinnehmen mussten.** In der Hoffnung auf ein Bündnis mit Preußen ließ sich die Hohe Pforte von der Kriegspartei überzeugen und erklärte Russland den Krieg, das dann, unterstützt von Österreich, seine eigene Kriegserklärung an die Türkei abgab. Zunächst hatten die Osmanen einige Erfolge, denn sie konnten die österreichischen Streitkräfte an der Donaufront ins Banat zurückwerfen. Aber die Militärhilfe durch Preußen blieb aus, und nach einer langen Belagerung verloren die Türken ihre strategisch wichtige Festung in Otschakow (Yedisan) an die Russen, danach Belgrad und die Donaufürstentümer durch eine österreichische Gegenoffensive und schließlich die bedeutenden Festungen an der Donaumündung wiederum an die Russen. Daraufhin waren die Türken gezwungen, um Frieden nachzusuchen. Durch den Vertrag von Jassy im Jahr 1792 erhielten sie die nominelle Kontrolle über die Donaufürstentümer zurück, mussten jedoch die Gegend um Otschakow an Russland abtreten, wodurch der Fluss Dnestr zur neuen russisch-türkischen Grenze wurde. Daneben erkannten sie die russische Annexion der Krim offiziell an. Doch in Wirklichkeit akzeptierten sie deren Verlust nie völlig und sannen auf Rache.

* * *

Während der Religionskriege Russlands gegen seine muslimischen Nachbarn galten die islamischen Kulturen des Schwarzmeergebiets als besondere Gefahr. Die russischen Herrscher fürchteten, dass eine islamische Achse, eine breite Koalition muslimischer Völker unter türkischer Führung, die südlichen Grenzgebiete Russlands bedrohen könne, denn dort wuchs die muslimische Bevölkerung rasch, teils infolge hoher Geburtenraten und teils durch die Bekehrung nomadischer Stämme zum Islam. Um die Kontrolle des Reiches über diese unruhigen Grenzgebiete zu festigen, leiteten die Russen in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts eine neue Version ihrer südlichen Strategie ein: Sie entfernten muslimische Bevölkerungen und boten christlichen Siedlern an, die unlängst besetzten Landstriche zu kolonisieren.

Bessarabien wurde während eines späteren Krieges gegen die Türkei (1806–1812) von den Russen erobert. Die Türken traten es Russland offiziell durch den Vertrag von Bukarest (1812) ab, durch den auch die Donaufürstentümer der gemeinsamen Souveränität Russlands und des Osmanischen Reiches unterstellt wurden. Die neuen zaristischen Herrscher Bessarabiens vertrieben die muslimische Bevölkerung und schickten Tausende von tatarischen Bauern als Kriegsgefangene nach Russland. Danach besiedelten sie die fruchtbaren Ebenen der Gegend mit Moldauern, Walachen, Bulgaren, Ruthenen und Griechen, die durch Steuervergünstigungen, Befreiung vom Militärdienst und durch Kredite der russischen Regierung für qualifizierte Handwerker angezogen wurden. Die örtlichen zaristischen Behörden standen unter Druck, das Gebiet, durch dessen Eroberung Russland nur noch ein paar Kilometer von der Donau entfernt war, zu bevölkern, und ignorierten sogar die flüchtigen ukrainischen und russischen Leibeigenen, die nach 1812 in immer größerer Zahl in Bessarabien eintrafen. Es kam zu einem aktiven Kirchenbauprogramm, und die Gründung einer Eparchie in Kischinjow sorgte dafür, dass die lokalen Honoratioren von der russisch-orthodoxen (im Gegensatz zur griechisch-orthodoxen) Kirche vereinnahmt wurden.19

Auch die russische Eroberung des Kaukasus war ein Teil dieses Kreuzzugs. In hohem Maße war sie als Religionskrieg gegen die muslimischen Bergstämme, die Tschetschenen, Inguschen, Tscherkessen und Dagestaner, geplant und sollte zur Christianisierung des Kaukasus dienen. Die muslimischen Stämme waren hauptsächlich Sunniten und lehnten jegliche politische Kontrolle durch weltliche Behörden ab, doch infolge ihrer Religion richteten sie sich nach dem osmanischen Sultan in seiner Eigenschaft als »oberster Kalif des islamischen Rechtes«. Unter dem Kommando von General Alexander Jermolow, der 1816 zum Gouverneur Georgiens ernannt wurde, führten die Russen einen brutalen Terrorkrieg, überfielen Dörfer, brannten Häuser nieder, zerstörten Anbauflächen und rodeten Wälder bei dem vergeblichen Versuch, die Bergstämme zu unterjochen. Der mörderische Feldzug löste eine organisierte Widerstandsbewegung der Stämme aus, die bald einen eigenen religiösen Charakter annahm.

Der religiöse Haupteinfluss, bekannt als Muridismus, wurde von der (sufitischen) Naqschbandi-Sekte ausgeübt, die Anfang des 19. Jahrhunderts in Dagestan zu florieren begann und von dort nach Tschetschenien übergriff, wo Prediger den Widerstand als heiligen Krieg (Dschihad), geführt von Imam Ghazi Muhammad, gestalteten, um die Scharia und die Reinheit des islamischen Glaubens zu verteidigen. Der Muridismus war eine wirksame Mischung aus heiligem und sozialem Krieg gegen die ungläubigen Russen und die Fürsten, die ihnen beistanden. Er brachte den Bergstämmen, die zuvor durch Blutfehden gespalten waren, eine neue Einheit und ermöglichte dem Imam, Steuern und eine allgemeine Wehrpflicht einzuführen. Die Herrschaft des Imams wurde durch die Muriden (religiöse Helfer) durchgesetzt, welche die lokalen Beamten und Richter in den aufständischen Dörfern stellten.

Je religiöser der Widerstand wurde, desto religiöser geprägt war auch die russische Invasion. Die Christianisierung des Kaukasus rückte in den Vordergrund, und die Russen lehnten jeden Kompromiss mit der muslimischen Führung der Rebellen ab. »Eine uneingeschränkte Annäherung zwischen ihnen und uns kann nur dann erwartet werden, wenn das Kreuz auf den Bergen und in den Tälern aufgestellt ist und wenn Kirchen Christi des Erlösers die Moscheen ersetzt haben«, hieß es in einem offiziellen russischen Dokument. »Bis dahin ist Waffengewalt die wahre Stütze unserer Herrschaft im Kaukasus.« Die Russen zerstörten Moscheen und schränkten muslimische Praktiken ein die größte Empörung wurde durch das Verbot der Pilgerreise nach Mekka und Medina ausgelöst. In vielen Gegenden war die Zerstörung muslimischer Ortschaften Folge einer russischen Politik, die man heute als »ethnische Säuberung« bezeichnen würde: Bergstämme wurden gewaltsam umgesiedelt, und man verteilte ihr Land an Christen. Im Kuban und im Nordkaukasus verdrängten slawische Siedler hauptsächlich russische oder ukrainische Bauern und Kosaken die muslimischen Stämme. In manchen Bereichen des Südkaukasus ergriffen die christlichen Georgier und Armenier Partei für die russischen Angreifer und erhielten einen Teil der Beute. Zum Beispiel schlossen sich Georgier während der Eroberung des Khanats Ganja (Jelisawetopol) der russischen Armee als Hilfstruppen an; danach wurden sie von den Russen ermutigt, sich in dem besetzten Territorium niederzulassen und das Land zu übernehmen, das die Muslime nach einer religiösen Verfolgungskampagne aufgegeben hatten. Die Provinz Jerewan, die annähernd dem modernen Armenien entspricht, hatte eine überwiegend türkisch-muslimische Bevölkerung bis zum russisch-türkischen Krieg von 1828/29, in dessen Verlauf die Russen rund 26000 Muslime vertrieben. Im folgenden Jahrzehnt holten sie fast die doppelte Anzahl von Armeniern herbei.20

Nirgendwo aber war der religiöse Charakter der südlichen Eroberungen Russlands deutlicher als auf der Krim. Die Halbinsel hat eine lange und komplexe Religionsgeschichte. Den Russen galt sie als heilige Stätte. Den Chroniken zufolge war Wladimir, der Großfürst von Kiew, 998 in Chersonessos, der antiken griechischen Kolonialstadt an der Südwestküste der Krim knapp außerhalb des heutigen Sewastopol, getauft worden, womit das Christentum in die Kiewer Rus gelangte. Die Krim war jedoch auch die Heimat von Skythen, Römern, Griechen, Goten, Genuesern, Juden, Armeniern, Mongolen und Tataren. An einer tiefen historischen Bruchlinie gelegen, welche die Christenheit von der muslimischen Welt der Osmanen und der turksprachigen Stämme trennte, war die Krim unablässig umkämpft und Schauplatz zahlreicher Kriege. Religiöse Stätten und Gebäude wurden selbst zu Schlachtfeldern des Glaubens, denn jede neue Siedlerwelle beanspruchte sie für sich. Zum Beispiel steht in dem Küstenort Sudak eine Kirche des heiligen Matthäus. Sie war ursprünglich als Moschee gebaut worden, doch die Griechen hatten sie später zerstört und an ihrer Stelle eine orthodoxe Kirche errichtet. Die Genueser, die im 13. Jahrhundert auf der Krim eintrafen, machten das Gebäude zu einer katholischen Kirche, bevor die Osmanen es erneut in eine Moschee umwandelten. Es blieb eine Moschee bis zur russischen Annexion, nach der es wieder als orthodoxe Kirche diente.21

Durch den Anschluss der Krim an Russland hatte das Reich 300000 neue Untertanen gewonnen, fast ausschließlich muslimische Tataren und Nogaier. Die Russen versuchten, die lokalen Würdenträger (Beys und Mirzas) in ihre Verwaltung einzubeziehen, und schlugen ihnen vor, sich zum Christentum bekehren und in den Adelsstand erheben zu lassen. Ihr Angebot wurde freilich ignoriert. Die Macht dieser Würdenträger hatte sich nie aus dem Staatsdienst, sondern aus ihrem Landbesitz und der Sippenpolitik hergeleitet: Solange sie ihr Land nicht aufzugeben brauchten, zogen die meisten es vor, ihren Status im Gemeinwesen zu behalten, statt ihren neuen imperialen Herren zu dienen. Die Mehrheit hatte Verwandtschafts-, Handels- oder Religionsbeziehungen zum Osmanischen Reich, und viele emigrierten nach der russischen Machtergreifung dorthin.

Gegenüber den tatarischen Bauern vertraten die Russen einen brutaleren politischen Standpunkt. Leibeigenschaft war auf der Krim, im Gegensatz zum größten Teil Russlands, unbekannt. Die neue Reichsregierung akzeptierte die Freiheit der Tataren und machte sie zu Staatsbauern (einer separaten juristischen Kategorie, verglichen mit den Leibeigenen). Die fortgesetzte Loyalität der Tataren gegenüber dem osmanischen Kalifen, an den sie sich in ihren Freitagsgebeten wandten, wurde von den Russen allerdings als anhaltende Provokation empfunden und weckte Zweifel an der Aufrichtigkeit des Treueeides auf den Zaren, den die neuen Untertanen abzulegen hatten. Während der vielen Kriege mit den Osmanen im 19. Jahrhundert hatten die Russen stets Angst vor tatarischen Revolten auf der Krim. Sie bezichtigten muslimische Führer, für einen türkischen Sieg zu beten, und tatarische Bauern, ihre Befreiung durch die Türken zu erhoffen und dies ungeachtet der Tatsache, dass die muslimische Bevölkerung bis zum Krimkrieg überwiegend Treue gegenüber dem Zaren bewies.

Überzeugt von tatarischer Niedertracht, taten die Russen, was sie konnten, um die neuen Untertanen zum Verlassen ihrer Heimat zu zwingen. Der erste Massenexodus von Krimtataren in die Türkei ereignete sich während des russisch-türkischen Krieges von 1787–1792. In erster Linie handelte es sich um eine panische Flucht von Bauern, die sich vor Vergeltungsmaßnahmen der Russen fürchteten. Die Tataren wurden indessen auch durch eine ganze Reihe anderer russischer Aktionen vertrieben, darunter die Beschlagnahme ihres Landes, hohe Besteuerung, Zwangsarbeit und physische Bedrohung durch Kosakeneinheiten. Um 1800 war fast ein Drittel der krimtatarischen Bevölkerung, ungefähr 100000 Menschen, ins Osmanische Reich emigriert; weitere 10000 verließen ihre Heimat im Gefolge des russisch-türkischen Krieges von 1806–1812. Ihren Platz nahmen russische Siedler und andere Ostchristen ein: Griechen, Armenier, Bulgaren, von denen wiederum viele das Osmanische Reich verlassen hatten, um sich in die Zuflucht eines christlichen Staates zu begeben. Der Exodus der Krimtataren markierte den Beginn eines allmählichen Rückzugs der Muslime aus Europa. Er war Teil einer langen Geschichte des demografischen Austausches und des ethnischen Konflikts zwischen der osmanischen und der orthodoxen Sphäre, und diese Entwicklung sollte bis zu den Balkankrisen des späten 20. Jahrhunderts andauern.22

Die Christianisierung der Krim vollzog sich auch durch die prächtige Formgebung für Kirchen, Paläste und neoklassische Städte, mit der man sämtliche muslimischen Spuren im äußeren Erscheinungsbild beseitigen wollte. Katharina malte sich die Krim als südliches Paradies Russlands aus, als Lustgarten, in dem die Früchte ihrer aufgeklärten christlichen Herrschaft genossen und der Welt jenseits des Schwarzen Meeres vorgeführt werden konnten. Sie zog den griechischen Namen der Halbinsel Taurida der tatarischen Bezeichnung Krym vor, weil Russland dadurch ihrer Meinung nach mit der hellenischen Kultur von Byzanz verknüpft wurde. Auch gewährte sie russischen Adligen enormen Grundbesitz, damit diese herrliche Güter an der gebirgigen Südküste, deren Schönheit jener der Amalfiküste gleichkam, gründen konnten; ihre klassischen Gebäude, mediterranen Gärten und Weinberge sollten dem früher heidnischen Land eine neue christliche Kultur nahebringen.

Die Stadtplanung vertiefte die russische Herrschaft über die Krim: Alte Tatarenorte wie Bachtschisserai, die Hauptstadt des früheren Khanats, wurden heruntergestuft oder völlig aufgegeben. Ethnisch gemischte Städte wie Theodosia oder Simferopol, die russische Verwaltungshauptstadt, wurden nach und nach vom zaristischen Staat umgestaltet, indem man das Zentrum aus dem alten Tatarenviertel in neue Bezirke verlegte, wo russische Kirchen und Amtsgebäude entstanden; und neue Städte wie Sewastopol, der russische Marinestützpunkt, wurden ganz und gar in neoklassischem Stil errichtet.23

Der Kirchenbau in der neuen Kolonie ging relativ langsam vonstatten, so dass in vielen Städten und Dörfern weiterhin Moscheen die markanten Gebäude waren. Im frühen 19. Jahrhundert konzentrierte man sich jedoch intensiv auf die Entdeckung christlicher archäologischer Überreste, byzantinischer Ruinen, asketischer Höhlenkirchen und Klöster. All das war Teil des wohldurchdachten Bemühens, die Krim wieder zu einer heiligen christlichen Stätte zu machen, einem russischen Berg Athos, einem Pilgerziel für jene, die eine Beziehung zur Wiege des slawischen Christentums herstellen wollten.24

Der wichtigste heilige Ort war natürlich das Ruinengelände von Chersonessos, das die Reichsverwaltung 1827 hatte ausgraben lassen. Später errichtete man dort eine Kirche des heiligen Wladimir, um den Ort zu markieren, an dem der Großfürst angeblich die Kiewer Rus zum Christentum bekehrt hatte. Es erwies sich als eine der symbolischen Ironien der Geschichte, dass diese heilige Stätte nur ein paar Meter von der Stelle entfernt war, wo die französischen Streitkräfte während des Krimkriegs landeten und ihr Lager aufschlugen.

* In mittelalterlichen russischen Chroniken heißt es, Japhets Ländereien seien nach der im Buch Genesis beschriebenen Flut von den Rus und anderen Stämmen besiedelt worden.

** Die Russen weiteten ihr Festungssystem am Fluss Terek (die »Kaukasuslinie«) stetig aus und nutzten ihr neues Protektorat über das orthodoxe georgische Königreich Kartli-Kacheti dazu, eine Operationsbasis gegen die Osmanen aufzubauen, indem sie Tiflis besetzten und das Fundament für die georgische Heerstraße legten, die Russland mit dem Südkaukasus verband.