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Das Ende des Friedens in Europa

Die Weltausstellung wurde am 1. Mai 1851 im Hyde Park eröffnet. Sechs Millionen Menschen, ein Drittel der damaligen Bevölkerung von Großbritannien, sollte durch die riesigen Ausstellungssäle in dem eigens zu diesem Zweck errichteten Crystal Palace, dem bis dahin größten Glasgebäude, flanieren und die 13000 Exponate Fabrikerzeugnisse, Handarbeiten und verschiedene andere Objekte aus aller Welt bewundern. Nach zwei Jahrzehnten gesellschaftlicher und politischer Umbrüche schien die Weltausstellung ein wohlhabenderes und friedlicheres Zeitalter zu versprechen, das sich auf die britischen Prinzipien des Industrialismus und des Freihandels stützte. Das architektonische Wunder des Crystal Palace lieferte den Beweis für die Genialität der britischen Fertigungsverfahren und war ein angemessener Ort für eine Ausstellung, die zeigen sollte, dass Großbritannien in fast jedem gewerblichen Bereich die Führung innehatte. Es symbolisierte die Pax Britannica, welche die Briten Europa und der Welt bescheren wollten.

Die einzige Bedrohung des Friedens schien aus Frankreich zu kommen. Durch einen Coup d’état am 2. Dezember 1851, dem Jahrestag von Napoleons Krönung zum Kaiser im Jahr 1804, setzte Louis-Napoléon, der Präsident der Zweiten Republik, die Verfassung außer Kraft und rief sich zum Diktator aus. Im folgenden November wurde die Zweite Republik durch einen Volksentscheid zum Zweiten Kaiserreich, und am 2. Dezember 1852 bestieg Louis-Napoléon den Thron als Kaiser der Franzosen, Napoleon III.

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Louis-Napoléon, 1854

Das Erscheinen eines neuen französischen Kaisers alarmierte die Großmächte. In Großbritannien fürchtete man eine napoleonische Wiedererweckung. Parlamentsabgeordnete verlangten den Rückruf des Lissaboner Geschwaders, um den Ärmelkanal vor den Franzosen zu schützen. Lord Raglan, der künftige Oberbefehlshaber der britischen Streitkräfte im Krimkrieg, verbrachte den Sommer 1852 damit, die Verteidigung Londons vor einem potenziellen Angriff durch die französische Flotte zu durchdenken, und dies blieb auch 1853 die Priorität der britischen Marineplanung. Graf Buol, der österreichische Außenminister, forderte, dass Napoleon seine friedlichen Absichten bekräftigte. Der Zar wollte, dass er eine demütigende Verzichterklärung auf jegliche Aggression abgab, und versprach Österreich 60000 Soldaten, falls es von Frankreich angegriffen würde. Um alle Zweifler zu beruhigen, verkündete Napoleon im Oktober 1852 in Bordeaux: »Misstrauische Menschen sagen, das Reich bedeute Krieg, aber ich sage, das Reich bedeutet Frieden.«1

In Wirklichkeit gab es gute Gründe, misstrauisch zu sein. Es war nicht sehr wahrscheinlich, dass sich Napoleon III. dauerhaft mit der bestehenden Regelung in Europa zufriedengab, die den Zweck gehabt hatte, Frankreich nach den Napoleonischen Kriegen in die Schranken zu weisen. Seine große Popularität bei den Franzosen beruhte darauf, dass er ihre bonapartistischen Erinnerungen weckte, obwohl er in fast jeder Hinsicht hinter seinem Onkel zurückblieb. Mit seinem großen, unbeholfenen Körper, den kurzen Beinen, dem Schnurrbart und Spitzbart ähnelte er eher einem Bankier als einem Bonaparte (»extrem klein, doch mit einem Kopf und einer Brust, die einem viel größeren Mann gehören sollten«, schrieb Königin Viktoria in ihrem Tagebuch über ihn, nachdem sie ihn 1855 kennengelernt hatte2).

Napoleons Außenpolitik wurde weitgehend von seinem Bedürfnis bestimmt, dieser bonapartistischen Tradition gerecht zu werden. Er beabsichtigte, Frankreich im Ausland erneut zu einer Position des Respekts und des Einflusses zu verhelfen, wenn nicht gar zu dem Ruhm unter der Herrschaft seines Onkels, indem er die 1815 festgelegte Ordnung revidierte und Europa zu einer Familie liberaler Nationalstaaten nach dem angeblich von Napoleon I. geplanten Modell umgestaltete. Dieses Ziel glaubte er durch ein Bündnis mit Großbritannien, dem traditionellen Feind Frankreichs, erreichen zu können. Sein enger politischer Mitarbeiter und Innenminister, der Duc de Persigny, der 1852 einige Zeit in London verbracht hatte, versicherte ihm, Großbritannien werde nicht mehr von der Aristokratie dominiert, sondern von einer neuen »bürgerlichen Macht«, die danach strebe, den Kontinent zu beherrschen. Durch ein Bündnis mit Großbritannien werde Frankreich in der Lage sein, »eine großartige und glorreiche Außenpolitik zu entwickeln und sich effektiver für unsere vergangenen Niederlagen zu rächen als durch irgendeinen Gewinn, den wir durch die Wiederholung der Schlacht von Waterloo erringen könnten«.3

Russland aber war der Staat, gegen den die Franzosen kämpfen konnten, um ihren Nationalstolz wiederherzustellen. Die Erinnerung an Napoleons Rückzug aus Moskau, der den Kollaps des Ersten Kaiserreiches so wesentlich beschleunigt hatte, die sich anschließenden militärischen Niederlagen und die russische Besetzung von Paris wurden von den Franzosen noch immer als schmerzhaft und demütigend empfunden. Russland hatte die Regelung von 1815 und die Wiederherstellung der Bourbonendynastie in Frankreich maßgeblich beeinflusst. Der Zar war der Feind der Freiheit und ein wichtiges Hindernis für die Entwicklung unabhängiger Nationalstaaten auf dem europäischen Kontinent. Zudem erkannte er als einziger Souverän den neuen Napoleon nicht als Kaiser an. Großbritannien, Österreich und Preußen waren bereit, ihm diesen Status einzuräumen, wenn auch widerwillig im Fall der beiden Letzteren, doch Nikolaus weigerte sich mit der Begründung, Kaiser würden von Gott berufen und nicht durch Volksabstimmungen gewählt. Der Zar zeigte seine Verachtung für Napoleon, indem er ihn als »mon ami« anredete, nicht als »mon frère«, was die übliche Begrüßung für ein anderes Mitglied der europäischen Familie herrschender Monarchen gewesen wäre.* Einige von Napoleons Beratern, vor allem Persigny, wollten, dass er die Beleidigung benutzte, um ein Zerwürfnis mit Russland herbeizuführen. Der französische Kaiser wollte jedoch seine Herrschaft nicht mit einem persönlichen Streit beginnen und ging mit der Bemerkung darüber hinweg: »Gott schenkt uns Brüder, wir aber wählen unsere Freunde.«4

Für Napoleon diente der Konflikt mit Russland im Heiligen Land als Mittel dazu, Frankreich nach den Umwälzungen von 1848/49 wiederzuvereinigen. Die revolutionäre Linke ließ sich mit dem Staatsstreich und dem Zweiten Kaiserreich versöhnen, wenn sie einen patriotischen Freiheitskampf gegen den »Gendarmen von Europa« führte. Was die katholische Rechte betraf, so setzte sie sich seit langem für einen Kreuzzug gegen die orthodoxe Ketzerei ein, die das Christentum und die französische Kultur bedrohte.

In diesem Zusammenhang ernannte Napoleon den erzkatholischen La Valette zum französischen Botschafter in Konstantinopel. La Valette war Mitglied einer mächtigen geistlichen Lobby am Quai d’Orsay, dem französischen Außenministerium, die laut Persigny den Einsatz im Streit um das Heilige Land erhöhte:

Unsere Außenpolitik wurde häufig durch eine geistliche Lobby (coterie cléricale) erschwert, die sich in die geheimen Winkel des Außenministeriums einschlich. Am 2. Dezember war es nicht gelungen, sie zu entfernen. Im Gegenteil, sie wurde noch waghalsiger und nutzte die Tatsache, dass wir mit inneren Angelegenheiten beschäftigt waren, um unsere Diplomatie in die Komplikationen der heiligen Stätten zu verwickeln, wo sie ihre kindischen Erfolge als nationale Triumphe feierte.

La Valettes aggressive Bekanntmachung, dass die lateinischen Rechte auf die heiligen Stätten »eindeutig etabliert« seien, verbunden mit seiner Drohung, die französische Flotte werde diese Ansprüche gegenüber Russland durchsetzen, stieß bei der ultrakatholischen Presse in Frankreich auf Zustimmung. Napoleon selbst war gemäßigter und versöhnlicher, was den Disput um das Heilige Land betraf. Dem Leiter des Politischen Direktorats, Édouard-Antoine de Thouvenel, gestand er, dass er über die Einzelheiten der umstrittenen Ansprüche nicht informiert sei und es bedauere, dass der religiöse Konflikt »über alle Maßen aufgebauscht« worden sei (was zutraf). Sein Bedürfnis, sich bei den Katholiken in der Heimat beliebt zu machen, sowie seine Pläne für ein Bündnis mit Großbritannien gegen Russland bedeuteten freilich auch, dass es nicht seinem Interesse entsprach, La Valettes provozierendes Verhalten zu mäßigen. Erst im Frühjahr 1852 beorderte er den Botschafter endlich aus der türkischen Hauptstadt zurück, und auch dann erst, nachdem sich Lord Malmesbury, der britische Außenminister, über La Valette beschwert hatte. Doch selbst danach noch setzten die Franzosen ihre Kanonenbootpolitik fort, um den Sultan zu Konzessionen zu zwingen. Sie waren zuversichtlich, dass dies den Zaren erzürnen würde, und hofften, dass die Briten keine andere Wahl hätten, als sich mit Frankreich gegen die russische Aggression zu verbünden.5

Die französische Taktik machte sich bezahlt. Im November 1852 traf die Hohe Pforte eine neue Regelung, die den Katholiken das Recht gewährte, einen Schlüssel zur Geburtskirche in Bethlehem zu besitzen; außerdem hatten sie nun freien Zugang zur Krippenkapelle und zur Geburtsgrotte. Da Canning in England weilte, erklärte der britische Chargé d’affaires in Konstantinopel, Oberst Hugh Rose, die Regelung damit, dass die Charlemagne, das neueste Kanonenboot in der französischen Dampfschiffflotte, vom Mittelmeer aus eine Geschwindigkeit von achteinhalb Knoten und ihr Schwesterschiff, die Napoléon, sogar zwölf Knoten erreichen könnten. Dies bedeutete, dass die Franzosen in der Lage waren, die technisch rückständigen Flotten sowohl der Türken als auch der Russen zu besiegen.6

Der Zar zürnte den Türken, weil sie dem französischen Druck nachgegeben hatten, und drohte seinerseits mit Gewalt. Am 27. Dezember befahl er die Mobilisierung von 37000 Soldaten des 4. und 5. Armeekorps in Bessarabien, um die türkische Hauptstadt kurzfristig angreifen zu können, und er sah weitere 91000 Soldaten für einen gleichzeitigen Feldzug in den Donaufürstentümern und auf dem übrigen Balkan vor. Seine Gereiztheit ließ sich daran ablesen, dass er den Befehl erteilte, ohne Nesselrode, den Außenminister, Fürst Dolgorukow, den Kriegsminister, oder auch nur Graf Orlow, den Chef der Dritten Abteilung (mit dem er sich fast jeden Tag beratschlagte), zu konsultieren. Am Hof sprach man von einer Zerstückelung des Osmanischen Reiches, beginnend mit dem russischen Einmarsch in die Donaufürstentümer. In einer Notiz, die Nikolaus in den letzten Wochen des Jahres 1852 zu Papier brachte, erläuterte er seine Pläne für die Teilung des Osmanischen Reiches: Russland sollte die Donaufürstentümer und die Dobrudscha, das Deltagebiet, erhalten; Serbien und Bulgarien würden unabhängige Staaten werden; die Adriaküste sollte an Österreich fallen, Zypern, Rhodos und Ägypten an Großbritannien; Frankreich würde Kreta erhalten; aus der Inselgruppe sollte ein größeres Griechenland geschaffen werden; Konstantinopel sollte eine freie Stadt unter internationalem Schutz werden; und die Türken müssten aus Europa vertrieben werden.7

Zu jenem Zeitpunkt begann Nikolaus eine neue Verhandlungsrunde mit den Briten, deren überwältigende Seemacht sie bei jeder Auseinandersetzung zwischen Frankreich und Russland im Vorderen Orient zum entscheidenden Faktor machen würde. Immer noch überzeugt, bei seinem Besuch von 1844 eine Übereinkunft mit den Briten erzielt zu haben, glaubte er nun, er könne sie bitten, die Franzosen zurückzuhalten und die Vertragsrechte Russlands im Osmanischen Reich durchzusetzen. Daneben hoffte er, sie davon zu überzeugen, dass der Zeitpunkt für die Teilung der Türkei gekommen sei. Der Zar führte im Januar und Februar 1853 eine Reihe von Gesprächen mit Lord Seymour, dem britischen Botschafter in St. Petersburg. »Wir haben es mit einem kranken Mann zu tun«, begann er seine Ausführungen über die Türkei, »mit einem schwerkranken Mann. Es wäre ein großes Unglück, wenn er uns durch die Hände schlüpft, besonders ehe die nötigen Vorkehrungen getroffen sind.« Da das Osmanische Reich »auseinanderfalle«, sei es »sehr wichtig« für Großbritannien und Russland, sich über eine organisierte Teilung zu einigen, schon damit die Franzosen keine Expedition gen Osten entsandten, denn dies würde ihn zwingen, seine Streitkräfte in osmanisches Territorium marschieren zu lassen. »Wenn sich England und Russland einig sind«, ließ er Seymour wissen, »ist es unerheblich, was die anderen Mächte denken oder tun.« »Als Gentleman« versicherte Nikolaus dem Botschafter, dass Russland auf die Gebietsansprüche von Katharina der Großen verzichte. Er habe kein Interesse daran, Konstantinopel zu erobern, da er wünsche, es zu einer internationalen Stadt zu machen, doch aus ebendiesem Grund könne er den Briten oder Franzosen nicht gestatten, es unter ihre Kontrolle zu bringen. Im Chaos eines osmanischen Zusammenbruchs werde er genötigt sein, die Hauptstadt zeitweilig (en dépositaire) zu besetzen, um zu verhindern, dass »die Türkei in kleine Republiken zerfällt, Asyle für die Kossuths und Mazzinis und andere Revolutionäre Europas«, und um die Ostchristen vor den Türken zu schützen. »Ich kann nicht vor der Erfüllung einer heiligen Pflicht zurückweichen«, betonte der Zar. »Unsere Religion, so wie sie sich in diesem Land gefestigt hat, kam aus dem Orient zu uns, und dies sind Gefühle sowie Verpflichtungen, die wir nie aus den Augen verlieren dürfen.«8

Seymour war nicht überrascht über die Teilungspläne des Zaren, und in seinem ersten Bericht an Lord John Russell, den Außenminister, schien er den Gedanken sogar zu begrüßen. Wenn Russland und Großbritannien, die beiden christlichen Staaten, die »am stärksten am Schicksal der Türkei interessiert sind«, die Stelle der muslimischen Herrschaft in Europa einnehmen könnten, »würde ein edler Triumph durch die Kultur des neunzehnten Jahrhunderts erzielt werden«. Viele Angehörige der Koalitionsregierung von Lord Aberdeen, darunter Russell und Schatzkanzler William Gladstone, hatten Zweifel daran, dass es angemessen war, das Osmanische Reich zu stützen, während Christen von den Türken verfolgt wurden. Andere hingegen engagierten sich für die Tanzimat-Reformen und wollten ihnen Zeit verschaffen, damit sie ihre Wirkung entfalten konnten. Eine Verzögerung kam den Briten in jedem Fall zustatten, da sie zwischen den Russen und den Franzosen, denen sie gleichermaßen misstrauten, in der Klemme saßen. »Die Russen werfen uns vor, zu französisch zu sein«, bemerkte die scharfsinnige Königin Viktoria, »und die Franzosen werfen uns vor, zu russisch zu sein.« Das Kabinett wies die Meinung des Zaren zurück, wonach ein osmanischer Zusammenbruch bevorstehe, und vereinbarte, keine Pläne für hypothetische Fälle zu schmieden ein Entschluss, der für sich genommen den Untergang des Osmanischen Reiches beschleunigen konnte, indem er christliche Aufstände und entsprechende Repressionen durch die Türken auslöste. Das Beharren des Zaren auf einem baldigen osmanischen Kollaps ließ in Westminster sogar den Verdacht aufkommen, dass er genau diese Entwicklung plane und durch sein Vorgehen beschleunigen wolle. So notierte Seymour am 21. Februar über sein Gespräch mit dem Zaren: »Kaum etwas anderes kommt in Frage, als dass der Souverän, der das baldige Schicksal eines Nachbarstaats mit einer solchen Hartnäckigkeit vorhersagt, bei sich beschlossen haben muss, dass die Stunde für dessen Auflösung bevorsteht.«9

In seinen späteren Unterredungen mit Seymour wurde Nikolaus vertraulicher und enthüllte noch mehr von seinen Teilungsplänen. Er sprach davon, die Türkei, wie zuvor Polen, zu einem Vasallenstaat zu machen und den Donaufürstentümern, Serbien und Bulgarien Unabhängigkeit unter russischer Protektion zu gewähren; außerdem behauptete er, sich auf Österreich verlassen zu können. »Sie müssen verstehen«, erklärte er Seymour, »dass ich, wenn ich von Russland spreche, mich gleichzeitig auch auf Österreich beziehe. Was dem einen passt, passt auch dem anderen. Unsere Interessen hinsichtlich der Türkei sind völlig identisch.« Seymour dagegen war von den »voreiligen und tollkühnen« Plänen des Zaren, der bereit zu sein schien, alles für einen Krieg gegen die Türkei aufs Spiel zu setzen, zunehmend abgestoßen und erklärte sie mit dem Hochmut der autokratischen Macht, der sich im Lauf von fast dreißig Jahren angesammelt habe.10

Die Zuversicht des Zaren beruhte gewiss auch auf seinem Missverständnis, er werde von der britischen Regierung unterstützt. Er glaubte, 1844 eine freundschaftliche Beziehung zu Lord Aberdeen geknüpft zu haben. Damals war Aberdeen, mittlerweile Premierminister und so prorussisch wie kein anderer führender Politiker in Großbritannien, Außenminister gewesen. Nikolaus ging davon aus, dass Aberdeens Übereinstimmung mit der russischen Position im Streit um das Heilige Land auch bedeutete, dass die Briten seine Teilungspläne akzeptierten. In einer Depesche aus London teilte der russische Botschafter Baron Brunow dem Zaren Anfang Februar mit, Aberdeen habe vertraulich bemerkt, dass die osmanische Regierung die schlechteste der Welt sei und dass die Briten wenig Neigung verspürten, ihr noch länger beizustehen. Dieser Bericht ermutigte Nikolaus, noch offener mit Seymour zu reden und (in dem Glauben, dass er sich nicht mehr vor einem anglofranzösischen Bündnis zu fürchten brauche) im Frühjahr 1853 einen aggressiveren Standpunkt gegenüber Franzosen und Türken zu beziehen.11 Er ahnte nicht, dass Aberdeen in seinem eigenen Kabinett im Hinblick auf die Orientalische Frage immer stärker isoliert war und dass die britische Politik generell dabei war, sich gegen Russland zu wenden.

Um den Sultan zu zwingen, die Rechte Russlands an den heiligen Stätten wiederherzustellen, schickte der Zar im Februar 1853 seinen persönlichen Gesandten nach Konstantinopel. Die Wahl des Gesandten war wohldurchdacht und schon für sich genommen ein Beweis für Nikolaus’ militante Absichten. Statt sich für einen bewährten Diplomaten zu entscheiden, der den Frieden hätte fördern können, gab der Zar einem Soldaten mit beängstigendem Ruf den Vorzug. Fürst Alexander Menschikow war 65 Jahre alt, er hatte bereits 1812 in den Kriegen gegen die Franzosen und 1828/29, als er durch eine Kanonenkugel kastriert worden war, im Krieg gegen die Türken gedient. Daneben besaß er Erfahrung als Marineminister, der an Plänen zur Eroberung der türkischen Meerengen mitgearbeitet hatte, als Generalgouverneur des besetzten Finnland im Jahr 1831 und als Unterhändler mit Persien. Menschikow war nach Seymours Einschätzung ein »ungewöhnlich gut informierter Mann und von vielleicht unabhängigerem Charakter als alle anderen Vertreter des Zaren; seine eigenartige Denkweise kommt immer wieder in sarkastischen Bemerkungen zum Ausdruck, deretwegen er in St. Petersburg ein wenig gefürchtet wird«. Ihm fehlten freilich der Takt und die Geduld, um die Türken zu besänftigen, was Seymour für bedeutsam hielt.

Wäre es nötig, einen Militär nach Konstantinopel zu schicken, hätte der Kaiser schwerlich eine bessere Wahl treffen können; es ist jedoch unmöglich, außer Acht zu lassen, dass die Entscheidung für einen Soldaten an sich eine gewisse Rolle spielt und dass der Unterhändler, sollte sich eine Verhandlung als unwirksam erweisen, jederzeit zum Befehlshaber werden kann, der über die Autorität verfügt, 100000 Soldaten anzufordern und sich an ihre Spitze zu setzen.12

Menschikows Mission lief darauf hinaus, vom Sultan die Annullierung des Novembererlasses zugunsten der Katholiken, die Wiederherstellung der griechischen Privilegien in der Grabeskirche und Wiedergutmachung in Form eines formellen Kontrakts oder sened zu verlangen, der die Vertragsrechte Russlands (zurückgehend bis 1774 zum Abkommen von Kutschuk-Kainardsche) garantieren würde, die orthodoxen Gläubigen nicht nur im Heiligen Land, sondern überall im Osmanischen Reich zu vertreten. Falls sich die Franzosen der griechischen Kontrolle über die Grabeskirche widersetzten, sollte Menschikow ein geheimes Verteidigungsbündnis vorschlagen, in dessen Rahmen Russland dem Sultan eine Flotte und 400000 Soldaten für den etwaigen Einsatz gegen eine Westmacht zur Verfügung stellen würde, vorausgesetzt, er nutzte seine Souveränität zugunsten der Orthodoxen. Seinem Tagebuch zufolge erhielt Menschikow den Befehl über das Heer und die Flotte sowie »das Amt des bevollmächtigten Ministers für Frieden oder Krieg«. Sein Auftrag lautete, Überredungskunst mit militärischen Drohungen zu verbinden. Der Zar hatte für den Fall, dass die Türken Menschikows Forderungen zurückwiesen, bereits Pläne gebilligt, die Donaufürstentümer zu besetzen und ihnen Unabhängigkeit zu gewähren. Er hatte den Vormarsch von 140000 Soldaten bis an die Grenzen der Fürstentümer angeordnet und war bereit, mit Hilfe dieser Streitkräfte und der Schwarzmeerflotte Konstantinopel zu erobern, falls der Sultan nicht mit anderen Mitteln zur Unterwerfung gezwungen werden konnte. In Sewastopol wurde eine spektakuläre Flottenschau abgehalten, die mit Menschikows Abreise in die türkische Hauptstadt zusammenfiel. Dort traf er am 28. Februar mit einer Dampffregatte ein, die den passenden Namen Donnerer trug. Eine große griechische Menschenmenge hatte sich im Hafen versammelt, um Menschikow jubelnd zu begrüßen. Ihn begleitete ein großes Gefolge von Armee- und Marineoffizieren, darunter General Nepokoitschitski, Stabschef des 4. Armeekorps, und Vizeadmiral Wladimir Kornilow, Stabschef der Schwarzmeerflotte, welche die Verteidigungsanlagen des Bosporus und Konstantinopels für den Fall eines Überraschungsangriffs ausspionieren sollten.13

Menschikows Forderungen hatten kaum eine Aussicht, in ihrer ursprünglichen Form akzeptiert zu werden. Die Tatsache, dass der Zar ihren Erfolg auch nur für möglich gehalten hatte, lässt erkennen, wie weit er von der politischen Realität entfernt war. Der von Nesselrode vorbereitete Entwurf des sened ging weit über die Auseinandersetzung im Heiligen Land hinaus. Im Grunde verlangte Russland einen neuen Vertrag, der seine Schutzrechte über die griechische Kirche im ganzen Osmanischen Reich bekräftigen und (da die orthodoxen Patriarchen auf Lebenszeit ernannt werden sollten) der Hohen Pforte keine Einspruchsmöglichkeit lassen würde. Die europäische Türkei würde zu einem russischen Protektorat werden und das Osmanische Reich, praktisch gesehen, zu einer stets von der russischen Militärmacht bedrohten Kolonie.

Falls der Admiral überhaupt eine Chance gehabt hatte, einen diplomatischen Erfolg zu erzielen, so wurde sie durch sein Benehmen in der türkischen Hauptstadt zunichtegemacht. Zwei Tage nach Menschikows Ankunft brach er mit diplomatischem Brauch und beleidigte die Türken, indem er zu seiner feierlichen Begrüßung durch die Hohe Pforte nicht in Galauniform, sondern in Zivilkleidung und Mantel erschien. Bei seinem Treffen mit Großwesir Mehmet Ali verlangte Menschikow sofort die Entlassung von Fuad Efendi, dem Außenminister, der sich den Franzosen im November gebeugt hatte, und weigerte sich, Verhandlungen aufzunehmen, bevor nicht ein den russischen Interessen genehmerer Nachfolger ernannt war. In einem kalkulierten Affront gegen Fuad lehnte Menschikow es vor zahlreichen Zuschauern ab, mit ihm zu sprechen. Auf diese Weise demonstrierte der Admiral, dass ein Russland feindselig gegenüberstehender Minister »sogar mitten am Hof des Sultans gedemütigt und bestraft werden würde«.14

Die Türken waren bestürzt über Menschikows Verhalten, aber die russische Truppenansammlung in Bessarabien beunruhigte sie so sehr, dass sie sich seinen Forderungen fügten. Sie schluckten ihren Stolz hinunter und gestatteten dem russischen Dragomanen sogar, Fuads Nachfolger Rifaat Pascha im Auftrag Menschikows zu befragen, bevor sie ihn zum Außenminister ernannten. Doch Menschikows unablässige Schikanen und seine Drohung, die russischen Beziehungen zur Pforte abzubrechen, wenn sie seine Wünsche nicht unverzüglich erfüllte, verärgerten die türkischen Minister und verstärkten so ihre Bereitschaft, sich seinem Druck zu widersetzen und die Briten und Franzosen um Hilfe zu bitten. Für sie ging es darum, die Souveränität der Türkei zu verteidigen.

Am Ende der ersten Woche von Menschikows Mission hatten türkische Beamte den Hauptinhalt seiner Anweisungen an sämtliche westlichen Botschaften verkauft oder durchsickern lassen. Zudem hatte sich der nervöse Mehmet Ali mit den französischen und den britischen Chargés d’affaires beraten und sie heimlich aufgefordert, ihre Flotten in die Ägäis zu beordern, falls die türkische Hauptstadt vor einem Angriff durch die Russen verteidigt werden musste. Oberst Rose war besonders alarmiert über Menschikows Vorgehen. Er fürchtete, dass die Russen beabsichtigten, den Türken durch die Besetzung der Dardanellen (ein klarer Bruch der Meerengenkonvention von 1841) einen neuen Vertrag von Unkiar Skelessi »oder etwas Schlimmeres« aufzuzwingen. Er glaubte, handeln zu müssen, bevor Stratford Canning zurückkehrte, der den Botschafterposten im Januar aufgegeben hatte, im Februar von der Regierung Aberdeen allerdings erneut ernannt worden war. Am 8. März sandte Rose eine Botschaft per Schnelldampfer an Vizeadmiral Sir James Dundas auf Malta und befahl ihm, sein Geschwader nach Urla bei Izmir zu verlegen. Dundas weigerte sich, dem Befehl ohne eine Bestätigung aus London Folge zu leisten. Dort trat eine Gruppe von Ministern am 20. März zusammen, die später das »innere Kabinett« des Krimkriegs bilden sollten,** um über Rose’ Gesuch zu diskutieren. Die Minister machten sich Sorgen wegen der russischen Truppenkonzentration in Bessarabien, wegen der »gewaltigen Flottenvorbereitungen in Sewastopol« und wegen der »feindseligen Sprache«, die Menschikow gegenüber der Hohen Pforte verwendete. Russell, der glaubte, dass sich die Russen anschickten, die Türkei zu zerstören, war geneigt, ihre Flotte in den Bosporus vorrücken und die türkische Hauptstadt besetzen zu lassen, damit sich Großbritannien und Frankreich auf die Meerengenkonvention berufen konnten, um einen umfassenden Flottenkrieg gegen Russland im Schwarzen Meer und auf der Ostsee zu beginnen. Unterstützt von Palmerston, hätte Russell die Mehrheit der britischen Bevölkerung hinter sich gehabt. Aber die anderen Minister waren vorsichtiger. Sie hegten Bedenken gegenüber den Franzosen, die sie immer noch für eine militärische Gefahr hielten, und teilten nicht Russells Ansicht, wonach ein anglofranzösisches Bündnis die Herausforderung der britischen Seemacht durch die französische Dampferflotte beseitigen würde. Vielmehr waren sie der Meinung, dass die Franzosen die Russen provoziert hätten, denen man außerdem Zugeständnisse im Heiligen Land machen müsse, und trauten den Beteuerungen von Baron Brunow (»als Gentleman«), dass die Absichten des Zaren weiterhin friedlicher Art seien. Auf dieser Grundlage wiesen sie Rose’ Bitte um ein Geschwader zurück. Bloße Geschäftsträger, so schien es ihnen, dürften keine Flotten anfordern oder über Fragen von Krieg und Frieden entscheiden; außerdem habe sich Rose durch »die Unruhe der türkischen Regierung und die in Konstantinopel kursierenden Gerüchte« beeinflussen lassen, »das Heer und die Flotte Russlands rückten heran«. Die Minister beschlossen, Stratford Cannings Rückkehr in die türkische Hauptstadt abzuwarten, damit er eine friedliche Lösung herbeiführte.15

Die Nachricht von Rose’ Befehl an Dundas traf am 16. März in Paris ein. In einer Kabinettsitzung, in der die Situation drei Tage später besprochen wurde, malte Außenminister Drouyn de Lhuys das Bild einer bevorstehenden Katastrophe: »Die letzte Stunde der Türkei hat geschlagen, und wir müssen uns auf den Anblick einstellen, dass der Doppeladler [der Romanows] auf den Türmen der heiligen Sophia aufgepflanzt wird.« Drouyn lehnte den Gedanken ab, eine Flotte zu entsenden, zumindest nicht bevor die Briten es taten, um das Land nicht in Europa zu isolieren, das sich vor dem Wiederaufleben des napoleonischen Frankreich fürchtete. Die anderen Minister schlossen sich dieser Meinung an außer Persigny, der behauptete, Großbritannien »werde frohlocken und sich unserer Seite anschließen«, wenn Frankreich ein Zeichen setze, »um den Marsch Russlands auf Konstantinopel zu stoppen«. Für Persigny stand die nationale Ehre auf dem Spiel. Die Armee, die den Putsch vom 2. Dezember durchgeführt hatte, sei ein »Heer aus Prätorianern«, die ein glorreiches Erbe zu verteidigen hätten. Er warnte Napoleon vor dem, was geschehen werde, wenn er abwarte, wie ihm seine Minister rieten: »Das erste Mal, wenn Ihr an Euren Soldaten vorbeischreitet, werdet Ihr die Gesichter betrübt und die Reihen schweigend sehen, und Ihr werdet spüren, wie der Boden unter Euren Füßen bebt. Wie Ihr gut wisst, müsst Ihr einige Risiken auf Euch nehmen, um die Armee zurückzugewinnen. Und Sie, Messieurs, die Frieden um jeden Preis anstreben, werden in eine schreckliche Feuersbrunst geworfen werden.« An dieser Stelle ließ sich der Kaiser, der gezaudert hatte, von Persigny überzeugen und befahl die Verlegung der Flotte, zwar nicht bis an die Dardanellen, doch nach Salamis in griechischen Gewässern, um die Russen zu warnen, dass »Frankreich an den Ereignissen in Konstantinopel nicht desinteressiert war«.16

Es gab drei Hauptgründe für seine Entscheidung, die Flotte zu mobilisieren. Erstens gingen, wie Persigny angedeutet hatte, Gerüchte um, dass die Armee einen Umsturz plane, und eine Machtdemonstration war geeignet, derlei im Keim zu ersticken. »Ich muss Euch mitteilen«, schrieb Napoleon im Winter 1852 an Kaiserin Eugénie, »dass ernste Verschwörungen im Heer anstehen. Ich behalte all das im Auge, und ich denke, dass ich einen Ausbruch auf die eine oder andere Art verhindern kann: vielleicht mit Hilfe eines Krieges.« Zweitens legte Napoleon Wert darauf, die französische Flottenmacht im Mittelmeer wiederherzustellen. Denn jeder wusste, um mit den Worten von Horace de Viel-Castel, dem Direktor des Louvre, zu sprechen, dass Frankreich »an dem Tag, da das Mittelmeer zwischen Russland und England aufgeteilt ist, nicht mehr zu den Großmächten zählen wird«. In einem Gespräch mit Stratford Canning, der auf der Reise von London nach Konstantinopel in Paris haltmachte, unterstrich Napoleon die Interessen Frankreichs am Mittelmeer. Stratford schrieb in seiner Notiz über ihre Unterredung am 10. März:

Er sagte, dass er nicht beabsichtige, das Mittelmeer zu einem französischen See zu machen um einen bekannten Ausdruck zu verwenden , doch dass es ihm lieb wäre, wenn es zu einem europäischen gemacht würde. Den Sinn dieser Wendung erklärte er nicht. Wenn er meinte, dass die Küsten des Mittelmeers ausschließlich in den Händen der Christenheit sein sollten, dann ist es ein gewaltiger Traum Mein Eindruck ist der dass Louis-Napoléon, der sich mit uns gutstellen möchte, jedenfalls vorläufig, bereit ist, in Konstantinopel mit England an einem Strang zu ziehen. Aber es bleibt abzuwarten, ob er die Restauration der türkischen Macht im Auge hat oder lediglich die Folgen ihres Verfalls, um sie später im Interesse Frankreichs zu nutzen.

Vor allem jedoch war es Napoleons Wunsch, »mit England an einem Strang zu ziehen« und ein anglofranzösisches Bündnis aufzubauen, der ihn veranlasste, die Flotte zu mobilisieren. »Persigny hat recht«, teilte er seinen Ministern am 19. März mit. »Wenn wir unsere Flotte nach Salamis schicken, wird England das Gleiche tun müssen, und die Vereinigung der beiden Flotten wird zur Vereinigung der beiden Nationen gegenüber Russland führen.« Laut Persigny argumentierte der Kaiser, dass die Entsendung der Flotte die britische Russophobie ansprechen, den Beistand der bürgerlichen Presse hervorrufen und die eher vorsichtige Regierung Aberdeen zwingen werde, sich Frankreich anzuschließen.17

In Wirklichkeit blieb die britische Flotte bei Malta zurück, während die Franzosen am 22. März von Toulon in See stachen. Die Briten waren verärgert über die Franzosen, weil diese die Krise verschärften, und drängten sie, nicht über Neapel hinaus vorzurücken, damit Stratford Zeit habe, Konstantinopel zu erreichen und eine Regelung zu finden, ehe die französischen Kanonenboote ins Ägäische Meer fuhren. Canning traf am 5. April in der türkischen Hauptstadt ein. Wie er feststellte, waren die Türken bereits selbst drauf und dran, Menschikow Widerstand zu leisten die nationalistischen und religiösen Emotionen hatten sich aufgeschaukelt , wenngleich Uneinigkeit darüber herrschte, wie weit sie gehen wollten und wie lange sie auf die militärische Hilfe des Westens warten sollten. Diese Auseinandersetzung vermischte sich mit der langjährigen persönlichen Rivalität zwischen Großwesir Mehmet Ali und Reschid, Stratfords altem Verbündeten, der zu dem Zeitpunkt keine Regierungsbefugnisse besaß. Nachdem Stratford erfahren hatte, dass Mehmet Ali einen Kompromiss mit Menschikow schließen wollte, drängte er ihn, den Russen standzuhalten, und versicherte ihm (auf eigene Verantwortung), dass die britische Flotte den Türken nötigenfalls zu Hilfe kommen werde. Entscheidend sei es, den Konflikt im Heiligen Land (wo Russland einen legitimen Anspruch auf Wiederherstellung seiner Vertragsrechte geltend machen konnte) und die umfassenderen Forderungen des sened-Entwurfs, der zur Aufrechterhaltung der türkischen Souveränität abgelehnt werden müsse, voneinander zu trennen. Der Sultan dürfe religiöse Rechte nicht durch einen ihm von Russland auferlegten Mechanismus, sondern nur durch seine direkte souveräne Autorität gewähren. Nach Stratfords Meinung plante der Zar, seine Protektion der griechischen Kirche als Vorwand zu benutzen, um ins Osmanische Reich eindringen und es zerstückeln zu können.18

Der Große Rat hielt sich an Cannings Empfehlung, als er am 23. April über Menschikows Forderungen diskutierte. Er war bereit, über die heiligen Stätten zu verhandeln, nicht jedoch über die allgemeinere Frage des russischen Schutzes für die orthodoxen Untertanen Konstantinopels. Am 5. Mai kehrte Menschikow mit einer revidierten Fassung des sened zurück (ohne den Punkt, der die Ernennung des Patriarchen auf Lebenszeit vorsah), doch auch mit einem Ultimatum, dass er, falls das Dokument nicht innerhalb von fünf Tagen unterzeichnet sei, die Hauptstadt verlassen und die diplomatischen Beziehungen abbrechen werde. Stratford redete dem Sultan zu, hart zu bleiben, und das osmanische Kabinett lehnte das Ultimatum am 10. Mai ab. Daraufhin unternahm Menschikow einen verzweifelten Versuch, die Forderungen des Zaren ohne kriegerische Mittel erfüllen zu lassen, und räumte den Türken vier weitere Tage zur Unterzeichnung des überarbeiteten sened ein. Während dieser Atempause fädelten Stratford und Reschid die Entlassung von Mehmet Ali ein, so dass Reschid die Leitung des Außenministeriums übernehmen konnte. Dem Rat des britischen Botschafters folgend, setzte sich Reschid für einen härteren Kurs gegenüber den Russen ein, wobei er voraussetzte, dass dies der sicherste Weg sei, eine Einigung in der religiösen Frage zu erzielen, ohne die Souveränität des Sultans zu gefährden. Reschid erbat sich fünf weitere Tage von Menschikow. Vom osmanischen Botschafter in London, Kostaki Musurus, war zu hören, dass Großbritannien die Hoheitsrechte des Osmanischen Reiches verteidigen werde. Dies ermutigte den neuen türkischen Außenminister, der Zeit brauchte, um seine Ministerkollegen zu einer festeren Haltung gegenüber den Russen zu motivieren.

Am 15. Mai kam der Große Rat erneut zusammen. Die Minister und die muslimischen Führer waren von antirussischen Gefühlen erfüllt, weitgehend inspiriert durch Stratford, der viele von ihnen persönlich aufgesucht und ermahnt hatte, energisch zu bleiben. Der Rat wies Menschikows Forderungen zurück. Dieser erwiderte am Abend, Russland werde nun die Beziehungen zur Hohen Pforte abbrechen, doch er selbst werde noch ein paar Tage länger in der türkischen Hauptstadt bleiben. Als Grund für die Verzögerung nannte er Stürme im Schwarzen Meer, doch in Wirklichkeit hoffte er auf eine Absprache in letzter Minute. Am 21. Mai wurde das russische Wappen schließlich von der Botschaftsfassade entfernt, und Menschikow stach auf dem Schiff Donnerer mit Kurs auf Odessa in See.19

* * *

Das Scheitern von Menschikows Mission überzeugte den Zaren, dass er zu militärischen Mitteln greifen musste. Am 29. Mai schrieb er Feldmarschall Paskewitsch, dass es ihm, wäre er von Anfang an aggressiver gewesen, vielleicht gelungen wäre, den Türken Zugeständnisse abzunötigen. Er wolle keinen Krieg denn er habe Angst vor der Einmischung der Westmächte , doch mittlerweile sei er bereit, mit Krieg zu drohen und das Türkische Reich in seinen Grundfesten zu erschüttern, um sich das zu sichern, was er für die Vertragsrechte Russlands auf den Schutz der Rechtgläubigen halte. Paskewitsch gegenüber offenbarte er seine Gedanken (und seinen Gemütszustand):

Die Folge [von Menschikows Scheitern] ist Krieg. Bevor ich mich damit beschäftige, habe ich beschlossen, meine Soldaten in die [Donau-]Fürstentümer zu schicken um der Welt vorzuführen, wie weit ich gehen würde, um Krieg zu vermeiden und den Türken ein letztes Ultimatum zu stellen, damit sie meinen Forderungen innerhalb von acht Tagen nachkommen. Andernfalls werde ich ihnen den Krieg erklären. Mein Ziel ist es, die Fürstentümer ohne Krieg zu besetzen, wenn die Türken uns nicht am linken Ufer der Donau entgegenkommen Falls die Türken Widerstand leisten, werde ich den Bosporus blockieren und türkische Schiffe auf dem Schwarzen Meer kapern; und ich werde Österreich vorschlagen, die Herzegowina und Serbien zu besetzen. Wenn das keine Wirkung zeitigt, werde ich die Unabhängigkeit der Fürstentümer, Serbiens und der Herzegowina ausrufen und dann wird das Türkische Reich zu bröckeln beginnen, überall wird es zu christlichen Aufständen kommen, und die letzte Stunde des Osmanischen Reiches wird schlagen. Ich habe nicht vor, die Donau zu überqueren, denn das [Türkische] Reich wird auch so zusammenbrechen, aber ich werde meine Flotte in Bereitschaft halten, und die 13. und 14. Division wird in Sewastopol und Odessa kriegsbereit bleiben. Cannings Handlungen schrecken mich nicht ab. Ich muss meinen eigenen Weg beschreiten und meine Pflicht meinem Glauben gemäß, wie es der Ehre Russlands gebührt, erfüllen. Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr dies alles mich betrübt. Ich bin alt geworden, doch ich möchte mein Leben in Frieden beenden!20

Der Plan des Zaren war das Ergebnis eines Kompromisses zwischen seinem ursprünglichen Drang, Konstantinopel durch einen Überraschungsangriff (bevor die Westmächte reagieren konnten) zu erobern, und dem vorsichtigeren Denken von Paskewitsch. Dieser hatte die Straffeldzüge gegen die Ungarn und Polen befehligt und war der zuverlässigste Militärberater des Zaren. Paskewitsch war skeptisch gegenüber einer solchen Offensive, weil Russland dadurch in einen europaweiten Krieg verwickelt werden konnte. Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden betraf ihre Haltung zu Österreich. Nikolaus setzte übermäßigen Glauben in seine persönliche Verbindung mit Franz Joseph. Er war überzeugt, dass die Österreicher die er 1849 vor den Ungarn gerettet hatte in seine Drohungen an die Adresse der Türken einfallen und, wenn erforderlich, an der Teilung des Osmanischen Reiches mitwirken würden. Ebendarum ließ er sich zu einer so aggressiven Außenpolitik hinreißen: Er glaubte, mit Österreich an seiner Seite könne es keinen europäischen Krieg geben, und die Türken würden zur Kapitulation gezwungen sein. Paskewitsch dagegen zweifelte an der österreichischen Unterstützung. Wie er einsah, würden die Österreicher russische Soldaten in den Fürstentümern und auf dem Balkan, wo sie bereits Aufstände vonseiten der Serben und anderer Slawen fürchteten, schwerlich gutheißen. Vielleicht würden sie sich sogar den Westmächten gegen Russland anschließen, wenn diese Rebellionen eintraten und falls die Streitkräfte des Zaren die Donau überschritten.

Paskewitsch, der entschlossen war, die Offensivpläne des Zaren einzuschränken, machte sich dessen panslawistische Fantasien zunutze. Er überzeugte Nikolaus davon, dass russische Soldaten die Fürstentümer lediglich in einem Verteidigungskrieg zu besetzen brauchten, und schon würden sich die Balkanslawen erheben und die Türken zwingen, auf die Forderungen des Zaren einzugehen. Er sprach davon, die Fürstentümer nötigenfalls für mehrere Jahre einzunehmen, und behauptete, mit Hilfe russischer Propaganda ließen sich nicht weniger als 50000 christliche Soldaten für das Heer des Zaren auf dem Balkan rekrutieren genug, um die Westmächte am Einschreiten zu hindern und die Österreicher zumindest zu neutralisieren. In einem Memorandum an den Zaren von Anfang April umriss Paskewitsch seine Vorstellung von dem Religionskrieg, der sich beim Vormarsch der russischen Soldaten auf dem Balkan entfalten werde:

Die Christen der Türkei sind aus kriegerischen Stämmen, und wenn Serben und Bulgaren friedlich geblieben sind, dann nur deshalb, weil sie die türkische Herrschaft in ihren Dörfern noch nicht gespürt haben Doch ihr Kampfgeist wird durch die ersten Zusammenstöße zwischen Christen und Muslimen geweckt werden, sie dürften sich nicht mit den Gräueltaten abfinden, welche die Türken in ihren Dörfern begehen werden wenn unsere Heere den Krieg beginnen. Es gibt kein Dorf, vielleicht keine Familie ohne unterdrückte Christen die bereit sind, sich unserem Kampf gegen die Türken anzuschließen Wir werden eine Waffe haben, die das Türkische Reich einstürzen lässt.21

Gegen Ende Juni befahl der Zar seinen beiden Heeren in Bessarabien, den Pruth zu überschreiten, um die Moldau und die Walachei zu besetzen. Paskewitsch hoffte immer noch, dass der Einmarsch in die Fürstentümer zu keinem europäischen Krieg führen werde, sorgte sich jedoch, dass der Zar einen solchen Konflikt nicht scheuen würde, wie er General Gortschakow, dem Befehlshaber der russischen Streitkräfte, am 24. Juni erklärte. Die Soldaten des Zaren marschierten nach Bukarest, wo ihr Oberkommando ein Hauptquartier einrichtete. In jeder Stadt hängte man Kopien einer Erklärung Nikolaus’ auf, in der es hieß, Russland habe es nicht auf Gebietsgewinne abgesehen und besetze die Fürstentümer nur als »Garantie« dafür, dass die osmanische Regierung auf seine religiösen Beschwerden eingehe. »Wir sind bereit, unsere Soldaten anzuhalten, wenn die Pforte die unverletzlichen Rechte der orthodoxen Kirche gewährleistet. Wenn sie sich jedoch weiterhin widersetzt, werden wir, mit Gott an unserer Seite, vorrücken und für unseren wahren Glauben kämpfen.«22

Die Besatzungstruppen verstanden wenig von dem Disput im Heiligen Land. »Wir dachten an nichts, wir wussten nichts. Wir ließen unsere Kommandeure für uns denken und taten, was sie uns befahlen«, erinnerte sich Teofil Klemm, ein Teilnehmer am Donaufeldzug. Klemm war knapp achtzehn Jahre alt, ein des Lesens und Schreibens kundiger Leibeigener, der in Krementschug in der Ukraine für die Offiziersausbildung abgeordnet worden war, als man ihn 1853 zur Infanterie einberief. Klemm war unbeeindruckt von den panslawistischen Schriften, die weithin bei den Soldaten und Offizieren des 5. Armeekorps zirkulierten. »Keiner von uns interessierte sich für solche Ideen«, schrieb er. Aber wie jeder russische Soldat zog Klemm mit einem Kreuz um den Hals in die Schlacht und war der Meinung, für Gott zu kämpfen.23

Die russische Armee setzte sich aus Bauern zusammen Leibeigene und Staatsbauern waren die Hauptgruppen, die der Wehrpflicht unterlagen , und darin bestand ihr größtes Problem. Mit über einer Million Infanteristen, einer Viertelmillion Irregulären (vornehmlich Kosakenkavallerie) und einer Dreiviertelmillion Reservisten in speziellen Militärsiedlungen war sie die mit Abstand größte Armee der Welt. Aber nicht einmal diese hohe Zahl genügte, um die ungeheuren Grenzen Russlands zu verteidigen. Diese wiesen etliche Schwachpunkte auf, etwa die Ostseeküste, Polen oder den Kaukasus, und man konnte nicht noch mehr Männer rekrutieren, ohne die Leibeigenenwirtschaft zu schädigen und Bauernaufstände auszulösen. Die Schwäche der Bevölkerungsbasis im europäischen Russland dessen Territorium die Größe des übrigen Europa, jedoch weniger als ein Fünftel seiner Einwohner hatte wurde noch dadurch verschärft, dass sich die Leibeigenen in der zentralen Agrarzone zusammenballten, also fern von den Grenzen des Reiches, wo die Armee im Kriegsfall in kürzester Zeit gebraucht wurde. Ohne Eisenbahnen dauerte es Monate, Leibeigene einzuziehen und zu Fuß oder auf Karren zu ihren Regimentern zu schicken. Schon vor dem Krimkrieg war das russische Heer überstrapaziert. Praktisch alle wehrpflichtigen Leibeigenen waren eingezogen worden, und die Eignung der Rekruten hatte sich erheblich gemindert, da Landbesitzer und Dörfer, die ihre letzten fähigen Bauern unbedingt behalten wollten, weniger tüchtige Männer zum Militär schickten. Aus einem Bericht von 1848 ging hervor, dass man bei den letzten Einberufungen ein Drittel der Wehrpflichtigen abgelehnt hatte, da sie die Mindestgröße (lediglich 160 Zentimeter) nicht erreichten; die Hälfte war zudem wegen chronischer Krankheit oder anderer physischer Mängel untauglich. Die Personalknappheit der Armee hätte nur dann behoben werden können, wenn man die Wehrpflicht erweitert und ein europäisches Modell des allgemeinen Militärdienstes eingeführt hätte, doch dies wäre das Ende der Leibeigenschaft gewesen, der Grundlage des Gesellschaftssystems, an dem die Aristokratie um jeden Preis festhalten wollte.24

Trotz zwei Jahrzehnten der Reform blieb das russische Militär weit hinter den Armeen der anderen europäischen Staaten zurück. Das Offizierskorps erwies sich als schlecht ausgebildet, und fast alle Soldaten waren Analphabeten. Offizielle Zahlen aus den 1850er Jahren zeigen, dass in einer Gruppe von sechs Divisionen mit ungefähr 120 000 Mann gerade mal 264 (0,2 Prozent) lesen oder schreiben konnten. Das Ethos der Armee wurde von der im 18. Jahrhundert herrschenden Exerzierplatzkultur des Zarenhofes bestimmt. Beispielsweise schrieb Karl Marx: »So hat er [Nikolaus] ausschließlich reine Exerzierpedanten befördert, deren wesentliche Vorzüge in stumpfem Gehorsam und beflissener Unterwürfigkeit sowie in einem scharfen Blick für Inkorrektheiten an Uniformknöpfen und Uniformknopflöchern bestehen.« Man legte mehr Nachdruck auf Drill und das Äußere der Soldaten als auf ihre Gefechtstüchtigkeit. Sogar während der Kämpfe waren komplizierte Vorschriften für die Körperhaltung, die Schrittlänge, die Aufstellung und Bewegung der Infanteristen zu beachten. All das wurde in Armeehandbüchern dargelegt, die überhaupt nichts mit den wirklichen Bedingungen auf dem Schlachtfeld zu tun hatten:

Wenn eine Schlachtordnung vorrückt oder zurückweicht, ist es notwendig, eine allgemeine Anordnung der Bataillone in jeder Linie sowie die Intervalle zwischen den Bataillonen korrekt einzuhalten. In diesem Fall genügt es nicht, wenn jedes Bataillon seine Ordnung separat befolgt, sondern das Tempo muss in allen Bataillonen gleich sein, damit die Standartenfeldwebel, die vor den Bataillonen marschieren, ihre Ausrichtung untereinander wahren und sich parallel zueinander und lotrecht zur allgemeinen Formation bewegen.

Die Vorherrschaft dieser Paradekultur hatte mit der Rückständigkeit der Bewaffnung zu tun. Teils fasste man die Soldaten, wie in anderen Heeren jener Zeit, in straffen Kolonnen zusammen, um bei der Bewegung großer Formationen die Disziplin aufrechtzuerhalten und Chaos zu verhindern. Doch weitere Faktoren waren die Ineffizienz der russischen Muskete und die sich daraus ergebende Abhängigkeit vom Bajonett (gerechtfertigt durch patriotische Mythen über die »Tapferkeit des russischen Soldaten«, der am besten mit dem Bajonett umgehen könne). Das Gewehrfeuer wurde in der Infanterie derart vernachlässigt, dass »sehr wenige Männer ihre Musketen überhaupt benutzen konnten«, wie ein Offizier aussagte. »Bei uns stützte sich der Erfolg in der Schlacht ganz und gar auf die Kunst des Marschierens und die richtige Streckung der Zehen.«25

Diese veralteten Kampfmethoden hatten Russland den Sieg in allen großen Kriegen des frühen 19. Jahrhunderts beschert: gegen die Perser und die Türken und natürlich im bedeutendsten Krieg des Landes gegen Napoleon (ein Triumph, der die Russen überzeugte, dass ihre Armee unbesiegbar sei). Insofern gab es wenig Veranlassung, sich auf die Bedürfnisse der Kriegführung im neuen Zeitalter der Dampfkraft und des Telegrafen einzustellen. Außerdem waren die wirtschaftliche Rückständigkeit und die finanzielle Schwäche Russlands, verglichen mit den neuen Industriemächten des Westens, ein erhebliches Hemmnis bei der Modernisierung seiner gewaltigen und teuren Friedensarmee. Erst während des Krimkriegs als sich die Muskete als wirkungslos gegen das Minié-Gewehr der Briten und Franzosen erwies bestellten die Russen Gewehre für ihre eigenen Truppen.

Von den 80 000 russischen Soldaten, die den Pruth, die Grenze zwischen Russland und der Moldau, überquerten, sollte weniger als die Hälfte noch ein Jahr am Leben bleiben. Die Armee des Zaren verlor erheblich mehr Männer als jedes andere europäische Heer. Soldaten wurden in großer Zahl für relativ unbedeutende Erfolge von adligen höheren Offizieren geopfert, die sich nur am Rande für das Wohl ihrer leibeigenen Wehrpflichtigen, jedoch sehr für ihre eigene Beförderung interessierten, wenn sie ihren Vorgesetzten einen Sieg melden konnten. Die überwältigende Mehrheit russischer Soldaten fiel nicht in der Schlacht, sondern starb an Wunden und Krankheiten, die, hätte es eine angemessene medizinische Versorgung gegeben, vielleicht gar nicht tödlich gewesen wären. Jede russische Offensive brachte die gleiche traurige Geschichte mit sich: In den Jahren 1828/29 starb die halbe Armee in den Donaufürstentümern an Cholera und anderen Krankheiten; während des Polenfeldzugs von 1830/31 fielen 7000 russische Soldaten im Gefecht, doch 85 000 erlagen Verwundungen und sonstigen Leiden; während des Ungarnfeldzugs von 1849 starben nur 708 Männer im Kampf, während 57 000 von österreichischen Lazaretten aufgenommen wurden. Sogar in Friedenszeiten lag die durchschnittliche Krankheitsquote im russischen Heer bei 65 Prozent.26

Für diese hohe Zahl von Krankheitsfällen war die skandalös schlechte Behandlung der leibeigenen Soldaten verantwortlich. Auspeitschungen gehörten zum alltäglichen Disziplinarsystem; Prügel waren so gängig, dass sich ganze Regimenter aus Männern aufstellen ließen, die von ihren eigenen Offizieren verletzt worden waren. Das Nachschubsystem litt unter verbreiteter Korruption, da der Sold der Offiziere nicht ausreichte die ganze Armee war durch die kaum zahlungsfähige Zarenregierung chronisch unterfinanziert , und wenn sie ihren Gewinn von den zur Verfügung stehenden Summen abgeschöpft hatten, war kaum noch Geld für Proviant übrig. Ohne ein effektives Nachschubsystem mussten die Soldaten sich weitgehend selbst versorgen. Jedes Regiment stellte seine Uniformen und Stiefel mit vom Staat bereitgestellten Materialien her. Regimenter beschäftigten nicht nur Schneider und Schuster, sondern auch Friseure, Bäcker, Schmiede, Tischler und Metallarbeiter, Maler, Sänger und Musiker, die alle ihr Dorfgewerbe mit zum Militär brachten. Ohne diese bäuerlichen Fertigkeiten hätte ein russisches Heer, zumal wenn es sich in der Offensive befand, nicht funktionieren können. Der russische Soldat griff während des Marsches auf all seine bäuerlichen Kenntnisse und seine Findigkeit zurück. In seinem Rucksack trug er Verbände bei sich, damit er seine Wunden selbst behandeln konnte. Auch verstand er sich darauf, ohne Vorbereitung unter freiem Himmel zu schlafen indem er Blätter und Zweige, Heuschober und Getreidefelder benutzte oder sich sogar ein Loch im Boden grub. Diese wichtige Fertigkeit ermöglichte der Armee, lange Märsche zurückzulegen, ohne dass Zelte mitgeführt werden mussten.27

Während die Russen den Pruth überquerten, befahl die türkische Regierung Omer Pascha, dem Kommandeur der rumelischen Armee, die türkischen Festungen an der Donau zu verstärken und sich auf ihre Verteidigung vorzubereiten. Daneben forderte die Hohe Pforte Verstärkungen aus den osmanischen Besitzungen Ägypten und Tunesien an. Gegen Mitte August lagerten 20 000 ägyptische und 8000 tunesische Soldaten in der Umgebung von Konstantinopel und waren bereit, zu den Donaufestungen aufzubrechen. Ein britischer Botschaftsangehöriger beschrieb sie in einem Brief an Lady Stratford de Redcliffe:

Schade ist’s, dass Ihr den Bosporus bei Therapia nicht sehen könnt. Denn er wimmelt von Kriegsschiffen, und die gegenüberliegenden Höhen sind mit den grünen Zelten des ägyptischen Lagers gekrönt. Konstantinopel selbst hat sich fünfzig Jahre zurückbegeben, und die seltsamsten Gestalten strömen aus fernen Provinzen herbei, um dem Moskowiter einen Schlag zu versetzen. Turbane, Lanzen, Keulen und Streitäxte drängen sich in den schmalen Straßen und werden um eines ruhigen Lebens willen sogleich zum Lager in Schumla weitergeschickt.28

Die türkische Armee bestand aus vielen Nationalitäten. Sie umfasste Araber, Kurden, Tataren, Ägypter, Tunesier, Albaner, Griechen, Armenier und Angehörige anderer Völker, von denen etliche der türkischen Regierung feindlich gegenüberstanden oder nicht in der Lage waren, die Befehle ihrer türkischen und europäischen Offiziere zu verstehen (in Omer Paschas Stab dienten zahlreiche Polen und Italiener). Die schillerndsten der türkischen Streitkräfte waren die Baschi-Basuks, Irreguläre aus Nordafrika, Zentralasien und Anatolien, die ihre Stämme in Scharen von jeweils zwanzig oder dreißig Mann verließen. Dieser bunte Haufen von Kavalleristen jeden Alters und jeglicher Erscheinung bahnte sich einen Weg zur türkischen Hauptstadt, um am Dschihad gegen die russischen Ungläubigen teilzunehmen. In seinen Erinnerungen an den Krimkrieg beschrieb der britische Marineoffizier Adolphus Slade, der bei der Ausbildung der türkischen Flotte mitgeholfen hatte, eine Parade der Baschi-Basuks in Konstantinopel, bevor sie an die Donaufront geschickt wurden. Sie trugen zumeist alte Stammeskleidung »mit Schärpen und Turbanen und waren malerisch bewaffnet mit Pistolen, yataghan [türkischen Schwertern] und Säbeln. Manche hatten beflaggte Lanzen bei sich. Jedes Geschwader trug seine Farben und seine Kesseltrommeln nach der Art wenn nicht genauso , wie sie ihre Vorfahren beim Marsch zur Belagerung von Wien getragen hatten.« Sie sprachen so viele Sprachen, dass sogar in kleinen Einheiten Übersetzer und Ausrufer beschäftigt werden mussten, um die Befehle der Offiziere weiterzugeben.29

Die Sprache war nicht das einzige Problem des Oberkommandos. Vielen muslimischen Soldaten widerstrebte es, christlichen Offizieren zu gehorchen, sogar Omer Pascha, einem serbischen Rechtgläubigen von Geburt (sein wirklicher Name lautete Mihailo Latas), der in einer österreichischen Militärschule ausgebildet worden war, ehe er sich wegen Korruptionsvorwürfen in die osmanische Provinz Bosnien absetzte und zum Islam übertrat. Jovial und gesprächig, genoss Omer Pascha den üppigen Lebensstil, den seine Leitung der rumelischen Armee ihm eingebracht hatte. Er trug eine mit goldenen Tressen und Edelsteinen geschmückte Uniform, unterhielt einen privaten Harem und ließ seine Streitkräfte von einem deutschen Orchester begleiten (auf der Krim spielte es »Ah! Che la morte« aus Verdis kurz zuvor vollendeter Oper Der Troubadour). Omer Pascha war kein herausragender Kommandeur. Es hieß, er sei wegen seiner schönen Handschrift befördert worden (er hatte als Schreiblehrer des jungen Abdülmecid gedient und war zum Obersten aufgestiegen, als sein Schüler 1839 Sultan wurde). In diesem Sinne war Omer Pascha trotz seiner christlichen Herkunft typisch für die osmanische Offiziersschicht, die, was Beförderungen anging, immer noch auf persönliche Protektion statt auf militärisches Können angewiesen war. Die Militärreformen unter Mahmuds Herrschaft und das Tanzimat mussten erst noch die Grundlagen einer modernen Berufsarmee schaffen, und die meisten türkischen Offiziere wiesen auf dem Schlachtfeld taktische Schwächen auf. Viele hingen noch der veralteten Strategie an, ihre Soldaten weiträumig ausschwärmen zu lassen, statt sie in größeren und kompakteren Gruppen einzusetzen. Das osmanische Heer verstand sich auf »unbedeutende« Überfälle und Scharmützel sowie vor allem auf Belagerungen, doch fehlten ihm, im Unterschied zu den Russen, seit langem die Disziplin und Ausbildung, um geschlossene Formationen unter Einsatz von Glattlaufmusketen zu meistern.30

Im Hinblick auf Sold und Lebensbedingungen gab es eine riesige Kluft zwischen Offizieren und Gemeinen. Sie war sogar noch größer als in der russischen Armee, denn viele höhere Befehlshaber lebten wie Paschas, während ihre Soldaten im Krieg monate- und manchmal sogar jahrelang nicht bezahlt wurden. Der russische Diplomat und Geograf Pjotr Tschichatschew schilderte das Problem, als er 1849 an der russischen Botschaft von Konstantinopel arbeitete. Nach seinen Berechnungen betrugen die Jahreskosten für einen türkischen Infanteriesoldaten (Sold, Verpflegung und Uniform) 18 Silberrubel; die entsprechenden Kosten für den russischen Soldaten lagen bei 32, für den österreichischen bei 53, für den preußischen bei 60, für den französischen bei 85 und für den britischen Fußsoldaten bei 134 Rubel. Europäische Soldaten waren schockiert über die Lebensbedingungen der türkischen Einheiten an der Donaufront. »Schlecht ernährt und in Lumpen gekleidet, waren sie die elendsten Vertreter der Menschheit«, meinte ein britischer Offizier. Die ägyptischen Verstärkungen wurden von einem russischen Offizier als »alte Männer und Dorfjungen ohne jegliche Gefechtsausbildung« beschrieben.31

* * *

Die Briten reagierten zwiespältig auf die russische Besetzung der Fürstentümer. Das friedfertigste Kabinettsmitglied war Premierminister Lord Aberdeen. Er weigerte sich, die Besetzung als kriegerischen Akt zu betrachten seiner Meinung nach war es nicht einmal ungerechtfertigt gewesen, die Hohe Pforte zur Anerkennung der legitimen russischen Forderungen im Heiligen Land zu zwingen , und er suchte nach diplomatischen Möglichkeiten für den Zaren, sich ohne Gesichtsverlust zurückzuziehen. Auf keinen Fall war er gewillt, den türkischen Widerstand zu fördern, denn nichts fürchtete er mehr, als von den Türken, denen er in der Regel misstraute, in einen Krieg gegen Russland hineingezogen zu werden. Im Februar hatte er Lord Russell in einem Schreiben vor der Entsendung einer britischen Flotte zur Unterstützung der Türken gewarnt:

Diese Barbaren hassen uns alle und wären entzückt, einen Vorteil nutzen und uns in einen Konflikt mit den anderen Mächten der Christenheit verwickeln zu können. Es mag notwendig sein, ihnen moralisch beizustehen und ihre Existenz nach Möglichkeit zu verlängern, doch wir sollten jede Verpflichtung, die uns nötigte, für die Türken zu den Waffen zu greifen, als größtes Missgeschick betrachten.

Auf der eher kriegerisch gesinnten Seite des Kabinetts hielt Palmerston die Besetzung für einen »feindlichen Akt«, der ein unmittelbares Handeln Großbritanniens »zum Schutz der Türkei« erfordere. Er wollte am Bosporus durch britische Kriegsschiffe Druck auf die Russen ausüben, damit sie aus den Fürstentümern abzogen. Palmerston hatte die russlandfeindliche britische Presse und antirussische Diplomaten wie Ponsonby und Stratford Canning hinter sich, welche die Besetzung der Fürstentümer als Chance für Großbritannien sahen, sein Versäumnis, den Russen 1848/49 an der Donau Widerstand zu leisten, ungeschehen zu machen.32

In London gab es seit der vorherigen russischen Besetzung der Fürstentümer eine große Gemeinde von Exilrumänen, die eine einflussreiche Stimme für ein britisches Einschreiten darstellten. Sie erfreuten sich des Zuspruchs mehrerer Kabinettsmitglieder, darunter Palmerston und Gladstone, und einer viel größeren Zahl von Abgeordneten, die im Parlament mit Fragen nach der Donau aktiv wurden. Die rumänischen Führer besaßen enge Verbindungen zu den italienischen Exilanten in der Hauptstadt und gehörten dem von Mazzini gegründeten Demokratischen Komitee an, dem sich mittlerweile auch im Londoner Exil lebende Griechen und Polen angeschlossen hatten. Die Rumänen achteten darauf, sich von den Revolutionsplänen dieser Nationalisten zu distanzieren, und waren sich der Notwendigkeit, ihre Argumente auf die liberalen Interessen der britischen Mittelschicht einzustellen, durchaus bewusst. Mit Hilfe mehrerer überregionaler Zeitungen und Zeitschriften konnten sie der britischen Öffentlichkeit den Gedanken begreiflich machen, dass die Verteidigung der Fürstentümer gegen russische Angriffe von entscheidender Wichtigkeit für die umfassenderen Anliegen der Freiheit und des Freihandels auf dem Kontinent sei. In einer Reihe nahezu täglicher Artikel im Morning Advertiser fiel Urquhart in ihre Rufe nach Intervention in den Fürstentümern ein, obwohl ihm mehr an der Verteidigung der türkischen Souveränität und der britischen Freihandelsinteressen lag als an der rumänischen nationalen Sache. Während sich der russische Einmarsch in die Fürstentümer fortsetzte, wurden die rumänischen Propagandisten kühner und wandten sich auf Vortragsreisen direkt an die Öffentlichkeit. In all ihren Reden war der europäische Kreuzzug für die Befreiung von russischer Tyrannei das Hauptthema eine Parole, die mit der ihr zugeordneten Vision von einem christlichen Aufstand für die Freiheit im Osmanischen Reich zuweilen extrem versponnen wirkte. Zum Beispiel erklärte Constantine Rosetti vor einer Menschenmenge in Plymouth, dass »eine Armee von 100 000 Rumänen an der Donau bereit stand, um zu den Soldaten der Demokratie zu stoßen«.33

Solange der Sinn der russischen Besetzung unklar blieb, zögerte die britische Regierung, die Royal Navy zu entsenden. Palmerston und Russell wollten durch britische Kriegsschiffe am Bosporus verhindern lassen, dass die russische Flotte Konstantinopel angriff; doch Aberdeen hielt die Navy lieber zurück, um einen Verhandlungsfrieden nicht zu gefährden. Am Ende schloss man einen Kompromiss und versetzte die Flotte in der Besika-Bucht, knapp außerhalb der Dardanellen, in Kampfbereitschaft nahe genug, so die allgemeine Auffassung, um einen russischen Angriff auf die türkische Hauptstadt abzuwenden, doch nicht so nahe, als dass ein Konflikt zwischen Großbritannien und Russland ausgelöst werden konnte. Im Juli nahm die russische Okkupation der Fürstentümer einen ernsteren Charakter an. In den europäischen Hauptstädten trafen Berichte darüber ein, dass die Hospodaren der Moldau und der Walachei von den Russen angewiesen worden seien, die Beziehungen zur Pforte abzubrechen und stattdessen dem Zaren Tribut zu zahlen. Die Nachricht löste Unruhe aus, weil sie vermuten ließ, dass Russland in Wirklichkeit trotz der gegenteiligen Zusicherungen im Manifest des Zaren beabsichtigte, dauerhaft von den Fürstentümern Besitz zu ergreifen.34

Die Reaktion der europäischen Mächte ließ nicht auf sich warten. Die Österreicher mobilisierten 25 000 Soldaten an ihren südlichen Grenzen, hauptsächlich als Warnung an die Serben und andere Habsburger Slawen, nicht zur Unterstützung der russischen Invasion zu rebellieren. Die Franzosen versetzten ihre Flotte in Kampfbereitschaft, und die Briten folgten ihrem Beispiel. Stratford Canning, der die Nachricht vom Befehl an die Hospodaren als Erster gehört hatte und das Versäumnis der Briten, gegen den letzten russischen Einmarsch von 1849 Stellung zu beziehen, wiedergutmachen wollte, sprach sich für eine entschlossene Militäraktion zur Verteidigung der Fürstentümer aus. Er warnte das Foreign Office, dass »die gesamte europäische Türkei, von der Grenze Österreichs bis zu jener Griechenlands«, demnächst den Russen zufallen werde, dass, wenn sie die Donau überquerten, Aufstände von Christen überall auf dem Balkan ausbrechen würden, dass der Sultan und seine muslimischen Untertanen zu einem Krieg mit Russland bereit seien, vorausgesetzt, sie könnten sich auf den Beistand Englands und Frankreichs verlassen, und dass man sich der russischen Gefahr lieber jetzt als später widmen solle, auch wenn es für Großbritannien misslich wäre, in einen Krieg hineingezogen zu werden, dessen Folgen so unberechenbar seien.35

Die Bedrohlichkeit der russischen Okkupation warf etliche Sicherheitsfragen für die europäischen Mächte auf, von denen keine es sich leisten konnte zuzusehen, wie Russland das Osmanische Reich zerstückelte. Großbritannien, Frankreich, Österreich und Preußen (das sich im Wesentlichen Österreich anschloss) vereinbarten nun, eine gemeinsame Friedensinitiative zu ergreifen. Die diplomatische Führung übernahm Österreich, der Hauptgarant der Wiener Regelung, deren größter Nutznießer es war. Die Österreicher waren für ihren Außenhandel in hohem Maße auf die Donau angewiesen und konnten die russische Annexion der Fürstentümer nicht dulden; andererseits konnten sie sich einen europäischen Krieg gegen Russland, in dem sie wahrscheinlich die schwerste Last tragen würden, am wenigsten leisten. Was sie vorschlugen, erschien unrealistisch: eine diplomatische Lösung, die dem Zaren gestatten würde, ohne Gesichtsverlust seine Forderungen fallenzulassen und sich aus den Fürstentümern zurückzuziehen.

Der Friedensprozess zog einen komplizierten Austausch von diplomatischen Noten zwischen den europäischen Hauptstädten nach sich. Schier endlos wurde an der genauen Formulierung gefeilt, um sowohl die Interessen Russlands zu befriedigen als auch die Unabhängigkeit der Türkei zu unterstreichen. Das Ergebnis war die Wiener Note, welche die Außenminister der vier Mächte am 28. Juli auf einer Konferenz in Wien im Namen der türkischen Regierung aufsetzten. Wie alle diplomatischen Dokumente, die Feindseligkeiten beenden sollen, war die Note bewusst vage gehalten: Die Hohe Pforte erklärte sich bereit, die Vertragsrechte Russlands zum Schutz der orthodoxen Untertanen des Sultans anzuerkennen. Der Zar betrachtete die Note als diplomatischen Sieg und wollte sie am 5. August sofort und »ohne Änderung« unterzeichnen. Die Probleme begannen, als die Türken (die bei der Abfassung der Note nicht einmal konsultiert worden waren) darum baten, verschiedene Details zu klären. Ihre Sorge war, dass dem russischen Recht, sich in osmanische Angelegenheiten einzumischen, keine erkennbare Grenze gesetzt wurde. Diese Sorge sollte sich bald als wohlbegründet erweisen, als ein privates diplomatisches Dokument einer Berliner Zeitung zugespielt wurde. Es zeigte, dass die Russen die Note so interpretierten, als könnten sie überall im Osmanischen Reich zum Schutz der Rechtgläubigen intervenieren nicht nur in Gegenden, wo es, wie im Heiligen Land, zu einem spezifischen Konflikt gekommen war. Der Sultan regte ein paar kleinere Korrekturen der Note an. Es handelte sich um Floskeln, doch sie waren wichtig für eine Regierung, die aufgefordert wurde, die Note als Konzession an Russland zu unterzeichnen oder den Verlust von zwei ihrer reichsten Provinzen hinzunehmen. Außerdem wollte der Sultan, dass die Russen die Fürstentümer vor der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen räumten, und er bestand auf einer Garantie der vier Mächte, dass Russland sie nicht wieder überfallen werde. Es waren plausible Vorbehalte eines souveränen Staates, aber der Zar weigerte sich, die türkischen Änderungen zu akzeptieren, weil er selbst bereit gewesen sei, die Note in unveränderter Form zu unterzeichnen; sein Verdacht, dass Stratford Canning den Türken zugeredet hatte, sich querzustellen, spielte freilich ebenfalls eine Rolle. Anfang September rückten die vier Mächte widerwillig von der Wiener Note ab, und die Verhandlungen die Türkei stand mittlerweile kurz davor, Russland den Krieg zu erklären mussten neu begonnen werden.36

Entgegen dem Verdacht des Zaren hatte Stratford Canning für die türkische Entscheidung, die Note abzulehnen, nur eine Nebenrolle gespielt. Der britische Botschafter war für seine grimmige Verteidigung der türkischen Souveränität und seinen Hass auf Russland gut bekannt, weshalb es nicht überraschte, dass er für die unerwartete Weigerung der Türken verantwortlich gemacht wurde, auf die ihnen von den Westmächten zur Beschwichtigung des Zaren auferlegte diplomatische Lösung einzugehen. Die Vorstellung, dass Stratford die Türken zu einem Krieg gegen Russland gedrängt habe, wurde später auch vom Foreign Office übernommen, das den Standpunkt vertrat, der Botschafter hätte die Türken wohl überreden können, die Note zu akzeptieren, wenn er korrekt vorgegangen wäre. Doch er habe sich dagegen entschieden, weil »er selbst nicht besser als ein Türke ist und dort so lange gewohnt hat und einen derartigen persönlichen Hass auf den [russischen] Kaiser empfindet, dass er vom türkischen Geist erfüllt ist; dies und sein Temperament haben ihn eine Rolle spielen lassen, die völlig im Gegensatz zu den Wünschen und Instruktionen seiner Regierung steht«.37 Außenminister Lord George Clarendon blickte am 1. Oktober auf das Scheitern der Friedensverhandlungen zurück und gelangte zu dem Schluss, dass es besser gewesen wäre, einen gemäßigteren Mann als Stratford zum Botschafter in der türkischen Hauptstadt zu ernennen. Das betrügerische Spiel der Russen habe »all seine russischen Antipathien geweckt und ihn veranlasst, den Krieg als beste Lösung für die Türkei einzustufen. In Wirklichkeit hätte er keine Regelung für zufriedenstellend gehalten, durch die Russland nicht erniedrigt worden wäre.«38 Aber das war unfair gegenüber Stratford, dem das Versagen der Regierung angelastet wurde. Allen Vermutungen zum Trotz tat er sein Bestes, um die Hohe Pforte dazu zu bewegen, die Note zu akzeptieren, doch sein Einfluss auf die Türken ließ in den Sommermonaten stetig nach, in denen Konstantinopel anhaltende Demonstrationen erlebte, deren Teilnehmer einen »heiligen Krieg« gegen Russland forderten.

Der Einmarsch in die Fürstentümer weckte in der osmanischen Hauptstadt gleichermaßen muslimische wie türkisch-nationalistische Gefühle. Die Hohe Pforte hatte die muslimische Bevölkerung gegen die Invasion aufgebracht, und nun konnte sie die sich anschließenden religiösen Emotionen nicht eindämmen. Die Sprache der Ulema in Konstantinopel wurde immer kriegerischer, denn sie redeten den Gläubigen ein, dass die Angreifer ihre Moscheen zerstören und an deren Stelle Kirchen bauen würden. Gleichzeitig ließ die Hohe Pforte die Öffentlichkeit über die Wiener Initiative im Dunkeln und behauptete, jeglicher Friede könne »allein von der Ehrfurcht des Zaren vor dem Sultan« ausgehen, was die nationalistischen Gefühle muslimischer Überlegenheit verstärkte. Gerüchte kursierten, wonach der Sultan die britische und die französische Flotte bezahle, für die Türkei zu kämpfen; Europa sei von Allah zur Verteidigung der Muslime erwählt worden, oder der Zar habe seine Gemahlin nach Konstantinopel entsandt, damit sie um Frieden bitte, und er wolle die Türkei durch die Aufgabe der Krim für den Einmarsch in die Fürstentümer entschädigen. Viele dieser Gerüchte wurden von dem kurz zuvor entlassenen Großwesir Mehmet Ali erfunden oder gestreut, um Reschid zu schädigen. Ende August hatte sich Mehmet Ali schließlich an die Spitze einer »Kriegspartei« gesetzt, welche die Oberhand im Großen Rat gewonnen hatte. Von muslimischen Führern unterstützt, hatte er eine vielköpfige Gruppe junger türkischer Amtsträger an seiner Seite, die zwar nationalistisch und religiös waren und westliche Einmischung in osmanische Angelegenheiten ablehnten, denen aber gleichwohl klar war, dass es ein enormer Vorteil für sie sein konnte, wenn Briten und Franzosen auf ihrer Seite Krieg gegen Russland führten. Vielleicht ließen sich dadurch sogar hundert Jahre militärischer Niederlagen gegen die Russen beenden. Um sich die Hilfe der westlichen Flotten zu sichern, waren sie bereit, lästigen Europäern wie Stratford eine stabile Verwaltung zu versprechen, aber sie verwarfen die Tanzimat-Reformen, denn aus ihrer Sicht war die Zuerkennung von mehr Bürgerrechten an Christen eine potenzielle Gefahr für die muslimische Herrschaft.39

Die Kriegsstimmung in der türkischen Hauptstadt erreichte einen Höhepunkt in der zweiten Septemberwoche, als eine Reihe von Pro-Kriegs-Demonstrationen stattfand und 60 000 Unterzeichner die Regierung in einer Massenpetition aufforderten, einen »heiligen Krieg« gegen Russland zu erklären. Die Koranschulen (Medresen) und Moscheen dienten als Organisationszentren des Protests, und ihr Einfluss war deutlich an der religiösen Sprache der Plakate abzulesen, die nun überall in der Hauptstadt auftauchten:

O glorreicher Padischah! All Eure Untertanen sind bereit, ihr Leben, ihr Eigentum und ihre Kinder für Eure Majestät zu opfern. Auch Ihr seid nun der Pflicht teilhaftig geworden, das Schwert Mohammeds aus der Scheide zu ziehen, das Ihr wie Eure Großväter und Vorgänger in der Eyyub-El-Ansari-Moschee umgürtet habt. Das Zaudern Eurer Minister in dieser Frage rührt daher, dass sie dem Übel des Dünkels verfallen sind, und diese Situation kann sich für uns alle (Gott behüte) zu einer großen Gefahr auswachsen. Daher wünschen Eure siegreichen Soldaten und Eure betenden Diener Krieg zur Verteidigung ihrer offenkundigen Rechte, o mein Padischah!

45 000 Religionsstudenten besuchten die Medresen der türkischen Hauptstadt. Sie waren als Gruppe unzufrieden die Tanzimat-Reformen hatten ihren Status und ihre Karriereaussichten verringert, indem sie Absolventen der neuen weltlichen Schulen förderten , und diese soziale Erbitterung verschärfte ihre Proteste. Die türkische Regierung hatte große Angst vor der Möglichkeit einer islamischen Revolution, wenn sie Russland nicht den Krieg erklärte.40

Am 10. September legten 35 Religionsführer dem Großen Rat eine Bittschrift vor. Das Gremium debattierte am folgenden Tag über das Papier, und die Londoner Times meldete:

Die Eingabe bestand hauptsächlich aus zahlreichen Koran-Zitaten, die zum Krieg gegen die Feinde des Islams aufriefen, und enthielt versteckte Drohungen, dass es zu Unruhen kommen werde, falls man nicht auf sie höre und nicht auf sie eingehe. Der Tonfall der Bittschrift ist überaus kühn und grenzt an Unverschämtheit. Einige der wichtigsten Minister versuchten, mit denen, die den Text überreichten, zu diskutieren, doch die Antworten, die sie erhielten, waren kurz und präzise. »Dies sind die Worte des Korans: Wenn ihr Muselmanen seid, müsst ihr ihnen gehorchen. Nun hört ihr auf ausländische und ungläubige Botschafter, die Feinde des Glaubens sind; wir sind die Kinder des Propheten; wir haben eine Armee, und sie verlangt mit uns nach Krieg, damit wir uns für die Beleidigungen rächen können, mit denen die Giauren uns überhäuft haben.« Es heißt, dass die Minister bei jedem Versuch, mit diesen Fanatikern zu rechten, die Antwort erhielten: »Dies sind die Worte des Korans.« Die gegenwärtigen Minister befinden sich unzweifelhaft in einem Zustand der Besorgnis, denn sie betrachten die jetzigen Umstände (ein sehr ungewöhnliches Ereignis in der Türkei) als Beginn einer Revolution und fürchten, zum gegenwärtigen ungünstigen Zeitpunkt in einen Krieg hineingezwungen zu werden.

Am 12. September setzten die Religionsführer eine Audienz mit dem Sultan durch und stellten ihm ein Ultimatum: entweder den Krieg zu erklären oder abzudanken. Abdülmecid wandte sich um Hilfe an Canning und den französischen Botschafter Edmond de Lacour, die beide bereit waren, ihre Flotten herbeizuholen, falls eine Revolution in der türkischen Hauptstadt niedergeschlagen werden musste.41

An jenem Abend berief der Sultan eine Ministerkonferenz ein. Sie kamen überein, Russland den Krieg erklären zu wollen, allerdings erst, wenn die Hohe Pforte Zeit gehabt habe, sich der Unterstützung durch die westlichen Flotten zu versichern und die religiösen Proteste in Konstantinopel zum Schweigen zu bringen. Dieses Vorgehen wurde formell auf einer erweiterten Sitzung des Großen Rates am 26. und 27. September gebilligt. Daran nahmen die Minister des Sultans, führende muslimische Geistliche und das militärische Establishment teil. Vor allem die Religionsführer beharrten auf der Notwendigkeit zu kämpfen, obwohl die Militärbefehlshaber durchaus zögerten, denn sie hegten Zweifel an der Fähigkeit der türkischen Streitkräfte, einen Krieg gegen Russland zu gewinnen. Omer Pascha bemerkte, dass 40 000 weitere Soldaten an der Donau benötigt würden, wo man zudem mehrere Monate bräuchte, um die Festungen und Brücken für einen Krieg gegen Russland vorzubereiten. Mehmet Ali, den man kurz zuvor zum Oberbefehlshaber des Heeres ernannt hatte, wollte trotz seiner Verbindung zur »Kriegspartei« nicht darauf eingehen, ob ein Sieg über Russland möglich sei. Das Gleiche galt für Mahmud Pascha, den Großadmiral der Marine, der zwar behauptete, die Türken seien der russischen Flotte gewachsen, der diese Worte jedoch später, als er für eine Niederlage zur Rechenschaft gezogen wurde, nicht eingestehen wollte. Am Ende war es Reschid, der sich der Auffassung der muslimischen Führer anschloss, vielleicht weil er spürte, dass eine Ablehnung des Krieges in diesem späten Stadium eine religiöse Revolution entfachen und die Tanzimat-Reformen zerstören würde, von denen die Hilfe der Westmächte in einem Krieg mit Russland abhing. »Besser, kämpfend zu sterben, als gar nicht zu kämpfen«, erklärte Reschid. »So Gott will, werden wir den Sieg erringen.«42

* Österreicher und Franzosen hatten sich einverstanden erklärt, dem russischen Beispiel zu folgen, es sich dann jedoch anders überlegt, um einen Bruch mit Frankreich zu vermeiden. Ihr Kompromiss bestand darin, Napoleon als »Monsieur mon frère« anzureden.

** Die Mitglieder waren Premierminister Lord Aberdeen, Lord John Russell, Führer des Unterhauses, Außenminister Lord George Clarendon, Sir James Graham, der Erste Lord der Admiralität, sowie Palmerston, der damalige Innenminister.