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Sitzkrieg

Die türkische Kriegserklärung erschien am 4. Oktober in der Staatszeitung Takvim-i Vekayi. Kurz darauf folgte ihr ein »Manifest der Hohen Pforte«, in dem es hieß, dass die Regierung infolge der russischen Weigerung, die Fürstentümer zu räumen, zu diesem Schritt genötigt gewesen sei. Zum Zeichen seiner friedlichen Absichten aber werde der Befehlshaber der rumelischen Armee, Omer Pascha, den russischen Truppen vor Eröffnung der Kampfhandlungen weitere fünfzehn Tage für den Rückzug gewähren.1

Sogar in diesem Stadium durfte noch auf eine diplomatische Lösung gehofft werden. Die türkische Erklärung diente dazu, Zeit zu gewinnen, um einerseits das Kriegsfieber bei den religiösen Massen in Konstantinopel zu dämpfen und andererseits Druck auf die westlichen Regierungen auszuüben, damit sie sich einschalteten. Da sie auf einen wirklichen Krieg mit Russland nicht vorbereitet waren, begannen die Osmanen einen Sitzkrieg, um die Gefahr einer islamischen Revolution in der türkischen Hauptstadt abzuwenden und den Westen zur Entsendung von Flotten zu zwingen, welche die Russen zurückweichen lassen würden.

Am 19. Oktober lief das türkische Ultimatum ab. Gegen den Rat der Briten und Franzosen gingen die Türken in den Fürstentümern zum Angriff über, wobei sie darauf setzten, dass die westliche Presse öffentliche Unterstützung für ihr Anliegen gegen Russland wecken würde. Die türkische Regierung war sich insbesondere der Macht der britischen Presse sehr bewusst womöglich sah sie gar keinen Unterschied zwischen ihr und der Regierung und gab sich größte Mühe, sie für sich zu gewinnen. Den gesamten Herbst 1853 hindurch zweigte die Pforte beträchtliche Mittel für ihre Londoner Botschaft ab, damit diese »im Geheimen eine Reihe von öffentlichen Demonstrationen und Zeitungsartikeln bezahlen und organisieren« konnte, welche die britische Regierung zur Intervention gegen Russland auffordern sollten.2

Nachdem Omer Pascha den Befehl zur Aufnahme der Feindseligkeiten erhalten hatte, überquerten seine Streitkräfte die Donau am 23. Oktober bei Kalafat und trieben die Kosaken im ersten Gefecht des Krieges aus dem Ort. Die Dorfbewohner der Region Kalafat eines antirussischen Bollwerks in der walachischen Revolution von 1848 bewaffneten sich mit Jagdgewehren und schlossen sich dem Kampf gegen die Kosaken an. Außerdem überschritten die Türken den Fluss bei Olteniza, wo sie in schwerere, doch unentschiedene Gefechte mit den Russen verwickelt wurden (beide Seiten beanspruchten den Sieg für sich).3

Die anfänglichen Scharmützel veranlassten den Zaren, eine Großoffensive gegen die Türken einzuleiten, wie er es in seinem Brief vom 29. Mai an Paskewitsch dargelegt hatte. Sein Oberbefehlshaber war inzwischen jedoch noch weniger von dem Plan überzeugt als im Frühjahr. Paskewitsch hielt die Türken für zu stark und dachte, die westlichen Flotten seien zu nahe, als dass die Russen die türkische Hauptstadt angreifen konnten. Am 24. September hatte er dem Zaren in einer Notiz dringend empfohlen, eine defensivere Position an der Nordseite der Donau zu beziehen und gleichzeitig christliche Milizen zu organisieren, die im Süden des Flusses gegen die Türken rebellieren sollten. Sein Ziel war es, die Türken zu Zugeständnissen an Russland zu zwingen, ohne dafür einen Krieg führen zu müssen. »Wir können die tödlichste Waffe gegen das Osmanische Reich einsetzen«, schrieb Paskewitsch. »Ihr Erfolg kann nicht einmal durch die Westmächte verhindert werden. Unsere schrecklichste Waffe ist der Einfluss auf unsere christlichen Stämme in der Türkei.«

Paskewitsch befürchtete vor allem, dass die Österreicher einer russischen Offensive auf dem Balkan Widerstand leisten würden, wo sie durch slawische Aufstände in ihren eigenen Nachbargebieten verwundbar wären. Er wollte russische Einheiten nicht auf Kämpfe mit den Türken festlegen, wenn sie womöglich zur Abwehr der Österreicher benötigt wurden, am wahrscheinlichsten in Polen, dessen Verlust am Ende den Zusammenbruch des Russischen Reiches in Europa nach sich ziehen konnte. Paskewitsch fehlte der Mut zu einer Konfrontation mit dem Zaren, weshalb er die Sache in die Länge zog: Er ignorierte Befehle, so bald wie möglich nach Süden vorzurücken, und konsolidierte stattdessen die russischen Stellungen an der Donau. Sein Ziel war zweifacher Art: den Fluss zu einer Nachschublinie vom Schwarzen Meer zum Balkan zu machen sowie die Christen zu Milizen zusammenzufassen und sie auf eine künftige Offensive gegen die Türken, vielleicht im Frühjahr 1854, vorzubereiten. »Der Gedanke ist neu und schön«, schrieb Paskewitsch. »Durch ihn werden wir enge Beziehungen zu den kämpferischsten Stämmen der Türkei knüpfen: den Serben, Herzegowinern, Montenegrinern und Bulgaren, die zwar nicht unbedingt für uns, doch zumindest gegen die Türken sind und die mit ein wenig Hilfe unsererseits in der Tat das Türkische Reich zerstören könnten ohne den Verlust von russischem Blut.«4 Da Paskewitsch wusste, dass es den legitimistischen Prinzipien des Zaren widersprach, im Ausland Revolten zu entfachen, verteidigte er seinen Plan mit einem religiösen Argument dem Schutz der Rechtgläubigen vor muslimischer Verfolgung und nannte Präzedenzfälle aus früheren Kriegen mit der Türkei (1773/74, 1788–1791 und 1806–1812), als die russische Armee christliche Soldaten in osmanischen Gebieten ausgehoben hatte.5

Der Zar brauchte kaum überzeugt zu werden. In einem aufschlussreichen Papier, das Anfang November 1853 entstand, umriss Nikolaus seine Strategie für den Krieg gegen die Türkei. Es wurde an seine Minister und hohen Befehlshaber verteilt und war eindeutig von Paskewitsch, seinem bewährtesten General, beeinflusst worden. Der Zar rechnete damit, dass sich die Serben, wenig später gefolgt von den Bulgaren, gegen die Türken erheben würden. Das russische Heer würde eine Verteidigungsstellung an der Donau festigen und dann weiter nach Süden vorstoßen, um die Christen nach ihrem Aufstand gegen die Türken zu befreien. Diese Strategie setzte die langfristige Besatzung der Fürstentümer voraus, die den Russen Zeit gäbe, die Christen in Milizen zu organisieren. Der Zar blickte wenigstens ein Jahr in die Zukunft:

Anfang 1855 werden wir erfahren, wie viel Hoffnung wir auf die Christen der Türkei setzen können und ob England und Frankreich uns weiterhin Widerstand leisten werden. Die einzige Möglichkeit voranzuschreiten besteht für uns in einem Volksaufstand (narodnoje wosstanije) mit dem Ziel der Unabhängigkeit im breitesten und allgemeinsten Maßstab; ohne diese Zusammenarbeit mit dem Volk können wir an eine Offensive nicht einmal denken; der Kampf sollte sich zwischen den Christen und den Türken vollziehen – wobei wir sozusagen in Reserve verbleiben.6

Nesselrode, der vorsichtige Außenminister des Zaren, versuchte, die revolutionäre Strategie abzuschwächen, und seine Bedenken wurden von den meisten russischen Diplomaten geteilt. In einer Notiz vom 8. November an den Zaren vertrat er die Ansicht, dass die Balkanslawen sich nicht in großer Zahl erheben würden;* die Entfachung von Revolten würde Europa außerdem misstrauisch gegenüber den russischen Ambitionen auf dem Balkan machen, und ohnehin sei es ein gefährliches Spiel, denn die Türkei könne ihrerseits Aufstände durch die Muslime des Zaren im Kaukasus und auf der Krim auslösen.7

Nikolaus ließ sich freilich nicht von seinem Ziel eines Religionskriegs abbringen. Er sah sich als Verteidiger des orthodoxen Glaubens und wollte seine Mission nicht von einem Außenminister durchkreuzen lassen, dessen protestantische Herkunft seine religiöse Autorität nach Meinung des Zaren beeinträchtigte. Nikolaus hielt es für seine heilige Pflicht, die Slawen von muslimischer Herrschaft zu befreien. In all seinen Erklärungen an die Balkanslawen hob er hervor, dass Russland einen Religionskrieg für ihre Befreiung von den Türken führe. Auf seinen Befehl hin spendeten die russischen Kommandeure den Kirchen der von ihnen besetzten christlichen Ortschaften und Dörfer die eine oder andere Glocke, um sich die Unterstützung der Bevölkerung zu sichern. Außerdem bauten die russischen Soldaten Moscheen zu Kirchen um.8

Die religiöse Leidenschaft des Zaren vermischte sich mit der umfassenderen militärischen Einschätzung die für den eher taktisch denkenden Paskewitsch im Vordergrund stand , wonach die Balkanchristen billige Soldaten und reichliche Mittel im Kampf für die russische Sache stellen könnten. Um 1853 hatte sich Nikolaus den Slawophilen und den Panslawisten sehr viel stärker angenähert, die über eine Reihe von Gönnern am Hof sowie über die Hilfe Barbara Nelidowas, der langjährigen Mätresse des Zaren, verfügten. Laut Anna Tjutschewa, Hofdame und Tochter des Dichters Fjodor Tjutschew, wurden die Ideen der Panslawisten nun offen von Großfürst Alexander, dem Thronerben, und seiner Gemahlin Großfürstin Maria Alexandrowna zum Ausdruck gebracht. Bei mehreren Gelegenheiten hörte sie das Paar davon reden, die natürlichen Verbündeten Russlands seien die Balkanslawen, deren Unabhängigkeitskampf von den russischen Streitkräften unterstützt werden solle, sobald diese die Donau überquert hätten. Gräfin Bludowa, eine weitere Panslawistin am Hofe, bedrängte den Zaren, zum Zweck der Befreiung der Slawen nicht nur der Türkei, sondern auch Österreich den Krieg zu erklären. Sie überreichte Nikolaus zahlreiche Briefe Pogodins, in denen der Panslawistenführer den Zaren aufforderte, die Slawen unter russischer Führung zu vereinen und ein slawisch-christliches Reich mit Sitz in Konstantinopel zu gründen.9

Die Notizen des Zaren am Rand eines Memorandums von Pogodin enthüllen einiges über sein Denken im Dezember 1853, als er der panslawistischen Sache näher war denn je. Nikolaus hatte Pogodin gebeten, seine Überlegungen zur russischen Politik gegenüber den Slawen im Krieg mit der Türkei zu entwickeln. Die Antwort war ein detaillierter Überblick über die Beziehungen Russlands zu den europäischen Mächten. Darin brachte Pogodin etliche Klagen über den Westen vor. Die Schrift fand offensichtlich Resonanz bei Nikolaus, der Pogodins Meinung teilte, dass die Rolle Russlands als Beschützer der Rechtgläubigen vom Westen nicht anerkannt oder auch nur verstanden und dass das Land ungerecht behandelt werde. Ihm gefiel insbesondere folgende Passage, in der Pogodin gegen die Doppelmoral der Westmächte wetterte, die ihnen gestatte, andere Länder zu erobern, während dies Russland untersagt sei:

Frankreich nimmt der Türkei Algerien weg, und fast jedes Jahr annektiert England ein weiteres indisches Fürstentum: Nichts davon stört das Machtgleichgewicht; doch wenn Russland die Moldau und die Walachei auch nur vorübergehend besetzt, ist das Gleichgewicht der Kräfte gestört. Frankreich besetzt Rom und bleibt dort mehrere Jahre lang in Friedenszeiten** – das ist gar nichts, doch Russland braucht nur an die Besetzung Konstantinopels zu denken, und der Frieden von Europa ist bedroht. Die Engländer erklären den Chinesen den Krieg,*** die sie anscheinend beleidigt haben – niemand hat das Recht einzugreifen. Russland aber ist verpflichtet, Europa um Erlaubnis zu bitten, wenn es sich mit seinen Nachbarn streitet. England bedroht Griechenland, um die falschen Ansprüche eines elenden Juden zu untermauern, und verbrennt die griechische Flotte**** – das ist eine rechtmäßige Handlung. Wenn aber Russland einen Vertrag verlangt, um Millionen Christen zu schützen, heißt es, es wolle seine Position im Orient auf Kosten des Gleichgewichts der Kräfte stärken. Wir können nichts anderes vom Westen erwarten als blinden Hass und Bosheit, die nichts versteht und nichts verstehen will (Kommentar am Rand von Nikolaus I.: »Genau das ist es«).

Nachdem Pogodin die Erbitterung des Zaren über den Westen angestachelt hatte, riet er ihm, allein und nach seinem Gewissen vor Gott zu handeln, um die Rechtgläubigen zu verteidigen und die Interessen Russlands auf dem Balkan zu vertreten. Nikolaus erklärte seine Zustimmung:

Wer sind unsere Verbündeten in Europa? (Kommentar von Nikolaus I.: »Niemand, und wir brauchen keine, wenn wir auf Gott vertrauen, bedingungslos und bereitwillig«). Unsere einzigen wahren Verbündeten in Europa sind die Slawen, unsere Brüder im Blute, in der Sprache, Geschichte und im Glauben, und es gibt zehn Millionen von ihnen in der Türkei und Millionen in Österreich … Die türkischen Slawen könnten uns über 200 000 Soldaten liefern – und was für Soldaten! Und ohne die Kroaten, Dalmatiner und Slowenen etc. mitzuzählen (Kommentar von Nikolaus: »Eine Übertreibung: um ein Zehntel verringern, und es stimmt«) …

Durch die Kriegserklärung an uns haben die Türken sämtliche alten Verträge vernichtet, die unsere Beziehungen festlegten. Mithin können wir nun die Befreiung der Slawen verlangen und durch Krieg herbeiführen, da sie selbst den Krieg gewählt haben (Kommentar von Nikolaus: »Das ist wahr«).

Wenn wir die Slawen nicht befreien und unserem Schutz unterstellen, dann werden unsere Feinde, die Engländer und Franzosen … es stattdessen tun. In Serbien, Bulgarien und Bosnien sind sie mit ihren westlichen Parteien überall unter den Slawen aktiv, und wenn sie Erfolg haben, was soll dann aus uns werden? (Kommentar von Nikolaus: »Völlig richtig«).

Ja! Wenn wir diese günstige Gelegenheit nicht nutzen, wenn wir die Slawen opfern und ihre Hoffnungen verraten oder ihr Schicksal von anderen Mächten entscheiden lassen, dann werden wir nicht ein wahnsinniges Polen, sondern zehn gegen uns aufbringen (was unsere Feinde ersehnen und zu arrangieren versuchen) … (Kommentar von Nikolaus: »Das ist richtig«).

Mit den Slawen als Feinden würde Russland eine »zweitrangige Macht« werden, erläuterte Pogodin, dessen abschließende Sätze Nikolaus dreimal unterstrich:

Der größte Moment in der Geschichte Russlands ist gekommen – größer vielleicht sogar als die Tage von Poltawa***** und Borodino. Wenn Russland nicht fortschreitet, wird es zurückfallen – das ist das Gesetz der Geschichte. Aber kann Russland wirklich fallen? Würde Gott es erlauben? Nein! Er lenkt die große russische Seele, und das lesen wir an den ruhmreichen Seiten ab, die wir Ihm in der Geschichte unseres Vaterlands gewidmet haben. Gewiss würde Er nicht zulassen, dass es heißt: Peter begründete die Herrschaft Russlands im Orient, Katharina festigte sie, Alexander erweiterte sie, und Nikolaus verriet sie an die Lateiner. Nein, das kann und wird nicht sein. Mit Gott auf unserer Seite können wir nicht zurückweichen.10

Damit sich der Zar zur panslawistischen Ideologie bekannte, hatte Pogodin geschickt Nikolaus’ Glauben an seine göttliche Mission zur Verteidigung der Orthodoxie sowie seine wachsende Entfremdung vom Westen heraufbeschworen. In der Novembermitteilung an seine Minister hatte Nikolaus verkündet, Russland habe keine andere Wahl, als sich den Slawen zuzuwenden, denn die Westmächte, besonders Großbritannien, hätten mit den Türken Partei gegen Russlands »heilige Sache« ergriffen.

Wir fordern alle Christen auf, mit uns den Kampf für ihre Befreiung von Jahrhunderten osmanischer Unterdrückung aufzunehmen. Wir bekennen uns zur Unterstützung der Unabhängigkeit der Moldauer, Walachen, Serben, Bulgaren, Bosnier und Griechen … Ich sehe keine andere Möglichkeit, der Feindschaft der Briten ein Ende zu machen, denn es ist unwahrscheinlich, dass sie nach einer solchen Erklärung das Bündnis mit den Türken fortsetzen und mit ihnen gegen Christen kämpfen würden.11

Nikolaus hegte weiterhin Zweifel an der panslawistischen Sache: Er teilte Pogodins Illusionen über die Anzahl slawischer Soldaten, die man auf dem Balkan mobilisieren könne, nicht; und in ideologischer Hinsicht lehnte er den Gedanken weiterhin ab, Revolutionen anzufachen. Lieber stützte er seinen Einsatz für die Befreiung der Slawen auf religiöse Prinzipien. Doch je mehr der Westen die russische Okkupation der Fürstentümer ablehnte, desto geneigter war Nikolaus, alles für ein großes Bündnis der Rechtgläubigen aufs Spiel zu setzen. Er drohte sogar, slawische Aufstände gegen die Österreicher zu fördern, falls sie sich mit dem Westen gegen Russland zusammentaten. Seine religiöse Inbrunst ließ den Zaren unbesonnen und tollkühn werden, weshalb er alle Gewinne, die Russland in vielen Jahrzehnten der Diplomatie und der Kämpfe im Orient erzielt hatte, für ein Glücksspiel mit den Slawen riskieren wollte.12

Der Zar bevorzugte einen südwestlichen Marsch von Bukarest in Richtung Rusçuk, damit seine Männer den Serben im Fall eines von ihm erhofften Aufstands helfen konnten. Paskewitsch dagegen hätte sich lieber auf die türkische Festung Silistra, weiter östlich an der Donau, konzentriert. Wie Nikolaus in einem Brief vom 5. Januar an seinen Oberbefehlshaber erklärte, wollte er seine Militärstrategie einem bedeutenderen Anliegen unterordnen, nämlich der Befreiung der Slawen, zu der ein serbischer Aufstand den Anstoß geben würde:

Natürlich ist Silistra ein wichtiger Ort … aber mir scheint, dass es, wenn wir unsere Sache mit Hilfe der Christen vorantreiben und uns selbst in Reserve halten wollen, vernünftiger wäre, Rusçuk einzunehmen, von wo wir ins Zentrum der Walachei vordringen können, während wir unter den Bulgaren und in der Nähe der Serben bleiben, auf die wir gewiss angewiesen sind. Ein Vormarsch über Rusçuk hinaus wird von einem allgemeinen Aufstand der Christen abhängen, der kurz nach unserer Besetzung von Rusçuk ausbrechen sollte; eine Eroberung von Silistra würde, wie ich meine, keine derartige Wirkung [auf die Serben] haben, denn es ist zu weit von ihnen entfernt.13

Paskewitsch war jedoch vorsichtiger. Er sorgte sich, dass ein serbischer Aufstand die Österreicher zum Einschreiten zwingen würde, damit die Unruhen nicht auf Habsburger Gebiete übergriffen. Im Dezember riet er dem Zaren, für den Fall eines österreichischen Angriffs Reserven in Polen zurückzuhalten und von Bukarest aus südöstlich nach Silistra zu marschieren, wo sich die Russen auf die Unterstützung der Bulgaren verlassen konnten und Österreich nicht zu fürchten brauchten. Paskewitsch glaubte, Silistra könne innerhalb von drei Wochen eingenommen werden, was es dem Zaren gestatten werde, Adrianopel im Frühjahr anzugreifen und die Türkei in die Knie zu zwingen, bevor die Westmächte Zeit hätten, sich einzuschalten. Auf dieser Basis ließ sich Nikolaus auf den Plan seines Oberbefehlshabers ein.14

Als nun aber die Russen nach Silistra vorrückten, blieb ein Massenaufstand der Bulgaren und aller anderen Slawen aus, obwohl die Bulgaren im Allgemeinen prorussisch auftraten und in den Jahren zuvor an groß angelegten Revolten gegen die muslimische Herrschaft in Widin, Nisch und anderen Städten teilgenommen hatten. Sie begrüßten die russischen Soldaten als Befreier von den Türken und griffen gemeinsam mit ihnen türkische Stellungen an, doch wenige ließen sich als Freiwillige anwerben. Es kam nur zu kleinen, sporadischen Unruhen, die fast alle brutal von Omer Paschas Männern niedergeschlagen wurden. In Stara Sagora, wo sich der größte bulgarische Aufstand ereignete, wurden Dutzende von Frauen und jungen Mädchen von türkischen Soldaten vergewaltigt.15

Im Januar 1854 notierte der britische Konsul in der Walachei, dass die Besatzungsmacht »darauf hinarbeitet, ein Freiwilligenkorps zu rekrutieren, das sich hauptsächlich aus Griechen, Albanern, Serben und Bulgaren zusammensetzt«. Diese würden als »griechisch-slawische Legion« in die russische Armee eingegliedert. Bisher habe man erst tausend Freiwillige angeworben, meldete der Konsul. Zu einem »heiligen Krieg« gegen die Türken aufgerufen, »sollen sie eine Truppe von Kreuzfahrern bilden, die auf Kosten der russischen Militärbehörden ausgerüstet und bewaffnet wird«. Die Freiwilligen seien als »Kreuzträger« bekannt, da sie auf ihren Tschakos ein »rotes orthodoxes Kreuz auf weißem Grund« zur Schau stellten. Einem russischen Offizier zufolge mussten fast alle dieser Freiwilligen als Hilfspolizisten in der Etappe für Ordnung sorgen, obwohl sie eine militärische Ausbildung erhalten hatten. Der repressive Charakter der russischen Besatzung öffentliche Versammlungen wurden untersagt, Gemeinderäte vom Militär verdrängt, Zensurmaßnahmen verschärft, Lebensmittel und Fahrzeuge von den Soldaten beschlagnahmt sorgte weithin für Unmut. Die Russen würden von den Moldauern und Walachen verachtet, berichtete der britische Konsul, »und jeder lacht über sie, wenn es gefahrlos ist«. Auf dem Lande kam es wegen der Beschlagnahmen zu Dutzenden von Tumulten, von denen die Kosaken einige unbarmherzig bekämpften, indem sie Bauern töteten und Dörfer niederbrannten. Auch die türkischen Streitkräfte von Omer Pascha führten einen Terrorkrieg gegen zahlreiche bulgarische Siedlungen sie zerstörten Kirchen, enthaupteten Priester, verstümmelten Mordopfer und vergewaltigten Mädchen , um andere von Aufständen gegen sie oder von der Entsendung Freiwilliger zu den Russen abzuschrecken.16

Omer Pascha lag noch mehr daran, dass die Russen nicht an der türkischen Flanke nach Serbien durchbrachen, wo die serbisch-orthodoxe Geistlichkeit und manche Teile des Bauerntums eine Erhebung zugunsten der Russen heftig befürworteten (was darauf hindeutete, dass die Einschätzung des Zaren und seine Präferenz für einen Angriff in Richtung Serbien gerechtfertigt gewesen waren). Der Befehlshaber der türkischen Kräfte konzentrierte seine Verteidigung auf die strategisch wichtige Gegend um Widin, das östliche Tor zu Serbien an der Donau. Ende Dezember setzte er 18 000 Soldaten ein, um 4000 Russen aus Cetatea an der anderen Seite des Flusses zu vertreiben (als Vorgeschmack auf die im Krimkrieg noch zu erwartenden Kampfmethoden ermordeten die Türken über tausend verwundete Russen, die auf dem Schlachtfeld zurückgeblieben waren).17

Die Eile, mit der die Türken Serbien verteidigten, war der Instabilität des Landes wegen geboten. Fürst Alexander, der mit Genehmigung der Hohen Pforte herrschte, hatte sämtliche Autorität eingebüßt, und prorussische Elemente in der serbischen Kirche und am Hof bereiteten aktiv einen Aufstand gegen seine Regierung vor, der mit der erwarteten Ankunft des russischen Heeres in Serbien zusammenfallen sollte. Laut dem britischen Konsul in Belgrad hatten sich die Führer der serbischen Armee mit einer russischen Machtübernahme abgefunden und waren sogar an einer entsprechenden Konspiration beteiligt. Im Januar 1854 erklärte der serbische Oberbefehlshaber dem Konsul, es sei »sinnlos, sich einem so unbesiegbaren Staat wie Russland zu widersetzen, der den Balkan erobern und Konstantinopel zur Hauptstadt des orthodoxen Slawentums machen werde«.18

Falls Serbien verloren ging, bestand die reale Gefahr, dass sich der ganze Balkan gegen die Osmanen erheben würde. Von Serbien aus war es nicht weit bis Thessalien und Epirus, wo 40 000 Griechen bereits eine bewaffnete Rebellion gegen die Türken organisiert hatten. Sie wurden unterstützt von der Regierung in Athen, welche die durch die russische Okkupation der Fürstentümer geschaffene Gelegenheit nutzte, einen Krieg mit der Türkei um die aufständischen Territorien zu beginnen. Die Briten hatten König Otto gewarnt, nicht in Thessalien und Epirus einzugreifen, doch er ignorierte sie. Otto hoffte auf einen russischen Sieg oder zumindest auf einen längeren Krieg an der Donau, um ein größeres Griechenland aufbauen und seine monarchische Diktatur stabilisieren zu können. In Griechenland wallten 1853, genau 400 Jahre nach dem Fall von Konstantinopel an die Türken, nationalistische Gefühle auf, und viele Griechen hofften, mit russischer Hilfe ein neues griechisches Reich auf den Ruinen von Byzanz errichten zu können.19

* * *

Aus Angst, all ihre Territorien auf dem Balkan zu verlieren, beschlossen die Türken, ihre Verteidigungslinie an der Donau aufzubauen und die Russen im Kaukasus anzugreifen, wo ihnen die muslimischen Stämme zu Hilfe kommen würden. Auf diese Weise wollten sie die Russen zwingen, einen Teil ihrer Truppen von der Donaufront abzuziehen. Der Beistand der muslimischen Rebellen gegen die russische Herrschaft im Kaukasus war ihnen sicher. Im März 1853 hatte Schamil, der Imam der rebellierenden Stammesangehörigen, die Osmanen um Hilfe in seinem Krieg gegen den Zaren ersucht. »Wir, Eure Untertanen«, schrieb er dem Sultan, »haben nach langem Kampf gegen die Feinde unseres Glaubens jegliche Kraft eingebüßt Wir haben all unsere Mittel verloren und sind nun in einer katastrophalen Lage.« Schamils Armee war in Tschetschenien und Dagestan von den russischen Streitkräften aus ihren Guerillastützpunkten verdrängt worden. Die Russen hatten ihre Zahl seit 1845 stetig erhöht, als Michail Woronzow, Generalgouverneur von Neu-Russland und der Krim, zum Oberbefehlshaber und Vizekönig des Kaukasus ernannt wurde.****** Statt die Rebellenhochburgen direkt anzugreifen, hungerte er die Verteidiger aus, indem er Ernten und Dörfer verbrannte; seine Männer fällten Wälder, um die Rebellen ihrer Deckung zu berauben, und bauten Straßen in die Gebiete der Aufständischen hinein. Um 1853 ließ die Strategie reale Erfolge erkennen: Hunderte von tschetschenischen Dörfern waren zu den Russen übergewechselt, weil ihre Bewohner hofften, ihr Land danach in Ruhe bestellen zu können; und die Rebellen waren demoralisiert. Die Russen hatten geglaubt, den Aufstand eingedämmt zu haben, und begonnen, die meisten ihrer Kämpfer aus dem Kaukasus an die Donaufront zu verlegen. Außerdem gaben sie viele ihrer kleineren Festungen an der tscherkessischen Küste auf.20

Genau diese Gelegenheit wollten die Türken nun nutzen. Ein erfolgreicher Krieg gegen die Russen im Kaukasus würde die Perser und Muslime überall in der Schwarzmeergegend ermutigen und vielleicht sogar zum Niedergang des Russischen Reiches in der Region führen. Auch schien die Unterstützung der Briten gesichert zu sein, die den Rebellen in Tscherkessien und Georgien seit mehreren Jahren heimlich Waffen und Geld zukommen ließen und seit langem planten, sich mit Schamil zusammenzutun.21

Vor 1853 hatten die Türken nicht gewagt, für Schamil Partei zu ergreifen. Im Vertrag von Adrianopel (1829) hatte die Hohe Pforte all ihre Ansprüche auf russische Territorien im Kaukasus aufgegeben, und seitdem hatten die Russen sie vor Mehmet Ali von Ägypten (der gute Beziehungen zu Schamil unterhielt) beschützt. All das aber änderte sich durch die türkische Kriegserklärung. Am 9. Oktober beantwortete der Sultan Schamils Gesuch und forderte ihn auf, einen »heiligen Krieg« zur Verteidigung des Islams einzuleiten und zusammen mit der anatolischen Armee unter dem Befehl von Abdi Pascha die Russen im Kaukasus anzugreifen. Schamil, der diese Reaktion erwartet hatte, war bereits mit 10 000 Mann in Richtung Tbilissi marschiert, und weitere Freiwillige wurden aus Tscherkessien und Abchasien zu einem Sturm auf die russische Militärhauptstadt herbeigeholt. Am 17. Oktober meldete der britische Konsul in Erzurum dem Foreign Office in London, Schamil habe Abdi Pascha 20 000 seiner Leute zum Kampf gegen Russland zur Verfügung gestellt. Acht Tage später begann die türkische Kampagne im Kaukasus, als die Baschi-Basuks von Abdi Paschas Armee in Ardahan die wichtige russische Festung Sankt Nikolaus (auf Georgisch Schekwetili) nördlich von Batumi eroberten. Sie töteten etwa tausend Kosaken und folterten laut einem Bericht von Fürst Menschikow, dem Oberbefehlshaber, Hunderte von Zivilisten, vergewaltigten Frauen und ließen Schiffsladungen von georgischen Jungen und Mädchen in Konstantinopel als Sklaven verkaufen.22

Für ihre Landoffensive im Kaukasus waren die Türken auf den Nachschub durch ihre Schwarzmeerflotte angewiesen. Diese hatte sich jedoch nie völlig von ihrer vernichtenden Niederlage bei Navarino im Jahr 1827 erholt. Nach Aussage des britischen Marineberaters der Hohen Pforte, Adolphus Slade, verfügte die türkische Flotte 1851 über 50 000 Matrosen und 68 mehr oder weniger seetüchtige Schiffe, doch es fehlte ihr an guten Offizieren, und die meisten ihrer Matrosen waren unausgebildet. Obwohl sie der russischen Flotte nicht gewachsen war, stieg das Selbstbewusstsein der türkischen Marine Ende Oktober, als die Flotten der Franzosen und Briten in Beykoz, einem Vorort von Konstantinopel am Bosporus, vor Anker gingen. Mit fünf Linienschiffen (die zwei oder drei Decks und jeweils mindestens siebzig Geschütze besaßen), elf Zweideckern, vier Fregatten und dreizehn Dampfern reichte ihre gemeinsame Stärke mühelos aus, um die Russen in Schach zu halten. Die russische Schwarzmeerflotte bestand aus zwei Geschwadern: Das eine, unter Admiral Wladimir Kornilow, patrouillierte in der westlichen Hälfte des Schwarzen Meeres, das andere, unter Vizeadmiral Pawel Nachimow, war für die östliche Hälfte zuständig. Beide hatten Befehl von Menschikow, jedes türkische Schiff zu zerstören, das Nachschub zum Kaukasus brachte. Die türkischen Minister und höheren Befehlshaber waren sich der feindlichen Patrouillen bewusst, beschlossen jedoch trotzdem, eine kleine Flotte ins Schwarze Meer zu entsenden. Die Russen hatten allen Grund zu der Annahme, dass die türkischen Schiffe Waffen und Männer zum Kaukasus beförderten (was ja auch zutraf). Die Türken vertrauten indes darauf, dass ihnen im Falle eines russischen Angriffs die Briten und Franzosen zu Hilfe eilen würden. Vielleicht war just dies ihr Sinn und Zweck: einen Angriff der Russen zu provozieren und dadurch die Westmächte zur Teilnahme an einem Flottenkrieg im Schwarzen Meer zu zwingen. Jedenfalls schienen die Türken sich nicht um die heikle Situation ihrer Flotte zu kümmern, die bei Sinope an der anatolischen Küste ankerte, in bequemer Reichweite von Nachimows größerem und stärkerem Geschwader (sechs moderne Schlachtschiffe, zwei Fregatten und drei Dampfer).23

Am 30. November erteilte Nachimow den Befehl zum Angriff. Die schweren Geschütze und Sprenggranaten seines Geschwaders vernichteten die türkische Flotte. Es war das erste Mal, dass Sprenggranaten in einer Seeschlacht eingesetzt wurden. Die Russen hatten einen fortgeschrittenen Granatentyp entwickelt, der die Beplankung der türkischen Schiffe durchbohrte, ehe die Explosivladung sie von innen her zerriss. Slade befand sich auf dem einzigen türkischen Schiff, das entkam, einem Raddampfer namens Taif. Er hinterließ folgenden Bericht:

Innerhalb von einer Stunde oder anderthalb Stunden war die Aktion praktisch beendet, abgesehen von vereinzelten Schüssen hier und dort, da es der einen Seite an Mitteln mangelte, den Kampf fortzusetzen. Die halbe Besatzung der türkischen Schiffe lebte nicht mehr, ihre Kanonen waren zumeist zerstört und ihre Flanken durch die Zahl und das Gewicht der feindlichen Schüsse buchstäblich eingeschlagen. Einige Schiffe standen in Brand … Die Russen jubelten, denn sie hatten das Ziel erreicht, dessentwegen sie in die Bucht gekommen waren: die Vernichtung des türkischen Geschwaders. Alle Umstände erwogen, hätten sie nun das Feuer einstellen müssen, und in diesem Fall wäre ihnen Tadel versagt geblieben. Aber sie eröffneten erneut das Feuer auf die gestrandeten Rümpfe, und zusätzlich zu den bereits aktiven Schiffen kamen ihre Fregatten in die Bucht, um dicht neben ihnen die Zerstörung zu vollenden. Viele Männer verloren ihr Leben entweder durch Kugeln oder durch Ertrinken bei dem Versuch, das Ufer zu erreichen … Außer den Schiffen vernichteten die Russen das türkische Viertel von Sinope mit Granaten und Brandsätzen. Die Zerstörung ist vollkommen, kein Haus steht mehr, die Bewohner sind dem Gouverneur beim ersten Schuss in die Flucht gefolgt.

Laut Slade kamen durch den russischen Angriff 2700 von insgesamt 4200 türkischen Seeleuten bei Sinope um. Im Ort herrschten Chaos und Verwüstung, Cafés wurden zu provisorischen Lazaretten. Es gab Hunderte von verwundeten Zivilisten, doch nur drei Ärzte. Sechs Tage vergingen, bevor die Russen ihren Beschuss einstellten und die Verwundeten per Schiff nach Konstantinopel gebracht werden konnten.24

Ein paar Tage später beschrieb Slade der Hohen Pforte die Details der Schlacht. Die Minister wirkten auf ihn seltsam ungerührt, was den Verdacht bekräftigte, dass die Türken die russische Attacke provoziert hatten, um die Westmächte in den Krieg hineinzuziehen:

Ihr helles, gepolstertes Quartier und ihre glatten, in Pelze gekleideten Gestalten vertieften in der Erinnerung, infolge des Kontrasts, das Dunkel der schäbigen Cafés von Sinope mit ihren sich vor Schmerz windenden Insassen. Sie hörten der jammervollen Geschichte augenscheinlich uninteressiert zu; sie betrachteten gelassen einen Panoramablick auf die Bucht von Sinope, den Leutnant O’Reilly von der Retribution ein paar Tage nach der Aktion angefertigt hatte. Ein Fremder, in Unkenntnis der Unerschütterlichkeit der Osmanen, hätte gedacht, dass sie einem Bericht über eine Katastrophe in chinesischen Gewässern lauschten und sich ein Bild davon ansahen.25

In Wirklichkeit hauchte die Niederlage den diplomatischen Bemühungen der Pforte neues Leben ein. Sie machten Reschids Einfluss und seine Entschlossenheit deutlich, eine Eskalation des Krieges zu verhindern. Seines Erachtens war eine letzte Anstrengung vonnöten, die Westmächte an einer Absprache teilhaben zu lassen, um sie im Fall eines allgemeinen Krieges für die türkische Seite zu gewinnen.

Am 5. Dezember legte der österreichische Außenminister Graf Buol den Russen eine Reihe von Friedensbedingungen im Namen der Pforte vor, auf die sich die vier Mächte (Österreich, Preußen, Großbritannien und Frankreich) im Rahmen der Wiener Konferenz verständigt hatten. Wenn der Zar der unmittelbaren Räumung der Donaufürstentümer zustimmte, würden die Türken Repräsentanten entsenden, die unter internationaler Aufsicht direkt mit den Russen einen Frieden aushandeln sollten. Die Türken erwögen, ihre Verträge mit Russland zu erneuern und dessen Vorschläge hinsichtlich der Heiligen Lande anzuerkennen. Am 18. Dezember beschloss der Große Rat, den Frieden unter diesen Bedingungen zu akzeptieren.

In Konstantinopel hielten Theologiestudenten wütende Demonstrationen gegen die Entscheidung des Großen Rates ab. »Seit drei Tagen ist die türkische Hauptstadt in einem Zustand des Aufruhrs«, berichtete Stratford Canning am 23. Dezember. Die Studenten veranstalteten illegale Versammlungen und bedrohten Reschid Pascha und die anderen Minister. Gerüchte über ein Massaker an Christen in den europäischen Stadtvierteln wurden laut. Canning bot Diplomaten und deren Angehörigen Zuflucht in der britischen Botschaft. Er empfahl Reschid Pascha in einem Schreiben, den Studenten standzuhalten, doch Reschid, der nicht für seine persönliche Tapferkeit bekannt war, hatte den Rücktritt eingereicht und versteckte sich im Haus seines Sohnes in Besiktas vor dem Pöbel. Canning war nicht in der Lage, ihn zu erreichen. Da er eine religiöse Revolution fürchtete, ließ er mehrere Dampfer von der britischen Flotte bei Beykoz ins Zentrum der Hauptstadt kommen und suchte den Sultan auf, um energische Maßnahmen gegen die potenziellen Aufrührer zu verlangen. Am folgenden Tag wurden 160 Studenten von der Polizei verhaftet und vor den Großen Rat gebracht. Nach den Gründen für ihre Rebellion befragt, erwiderten die Anführer, der Große Rat habe »die Bedingungen, die der Koran für den Frieden nach einem Krieg vorschreibt, missachtet«. Nachdem man ihnen erklärt hatte, dass die Pforte keinen Frieden geschlossen, sondern nur die Verhandlungsbedingungen festgelegt habe, wurden die Studenten gefragt, ob sie aufs Schlachtfeld ziehen wollten, wenn sie schon so begierig auf den Krieg seien, aber sie erwiderten, es sei ihre Pflicht zu predigen, nicht zu kämpfen. Daraufhin wurden sie nach Kreta ins Exil geschickt.26

Die Nachricht über Sinope traf am 11. Dezember in London ein. Die Zerstörung der türkischen Flotte durch die Russen war gerechtfertigt, denn diese befanden sich schließlich im Krieg mit der Türkei, aber die britische Presse sprach sofort von einer »brutalen Freveltat« und einem »Gemetzel« und behauptete maßlos übertrieben, die Russen hätten 4000 Zivilisten getötet. »Sinope«, erklärte die Times, »zerstreut die Hoffnungen auf eine Befriedung, die wir uns gemacht haben Wir hielten es für unsere Pflicht, die Sache des Friedens aufrechtzuerhalten und zu verteidigen, solange der Frieden sich mit der Ehre und Würde unseres Landes vereinbaren ließ aber der Kaiser von Russland hat den Seemächten den Fehdehandschuh hingeworfen und nun hat der Krieg im Ernst begonnen.« Der Chronicle verkündete: »Wir werden das Schwert ziehen, wenn wir es ziehen müssen, nicht nur um die Unabhängigkeit eines Verbündeten zu schützen, sondern auch um die Ambitionen und Intrigen eines Despoten zu durchkreuzen, dessen unerträgliche Anmaßung ihn zum Feind aller zivilisierten Nationen gemacht hat.« Die Provinzpresse folgte dem martialischen und russlandfeindlichen Kurs der Fleet Street. »Bloße Gespräche mit dem Zaren werden zu nichts führen«, hieß es in einem Leitartikel des Sheffield and Rotherham Independent. »Die Zeit scheint reif zum Handeln zu sein, wenn wir die bösen Pläne und Bemühungen Russlands vereiteln wollen.« In London, Manchester, Rochdale, Sheffield, Newcastle und vielen anderen Städten fanden öffentliche Versammlungen zur Verteidigung der Türkei statt. In Paisley sprach der antirussische Propagandist David Urquhart zwei Stunden vor einer Menschenmenge und endete mit einer Bitte an »das Volk von England sich an sein Staatsoberhaupt zu wenden und zu fordern, dass entweder Russland der Krieg erklärt wird oder dass sich das britische Geschwader aus türkischen Gewässern zurückzieht«. Zeitungen veröffentlichten Petitionen an die Queen, in denen eine aktivere Haltung gegenüber Russland verlangt wurde.27

Die Einstellung der britischen Regierung einer zerbrechlichen Koalition aus Liberalen und für den Freihandel eintretenden Konservativen, lose zusammengehalten von Lord Aberdeen änderte sich durch das öffentliche Echo auf Sinope drastisch. Zuerst reagierte die Regierung gelassen auf die Neuigkeit. Die meisten Kabinettsmitglieder teilten die Meinung des Premierministers, wonach man den Friedensinitiativen der Österreicher mehr Zeit einräumen solle. Man einigte sich darauf, dass die britische und die französische Flotte ihre Anwesenheit im Schwarzen Meer spürbar machen sollten, doch habe diese Kräftedemonstration den Zweck, die Russen zur Annahme von Friedensgesprächen zu bewegen, und nicht den, einen Krieg zu provozieren. Die allgemeine Haltung lautete, dass Großbritannien nicht von den Türken, die sich die Misere selbst eingebrockt hätten, in einen Krieg hineingezogen werden solle. Königin Viktoria persönlich hatte gewarnt:

Wie die Dinge jetzt liegen, scheint es …, daß wir im Verein mit Frankreich das ganze Wagnis eines europäischen Krieges auf uns genommen haben, ohne die Türkei an Bedingungen gebunden zu haben, unter welchen Umständen sie ihn herbeiführen dürfe. Den 120 fanatischen Türken, die den Divan in Konstantinopel ausmachen, bleibt es allein überlassen, welche Politik befolgt werden soll, und zugleich wird ihnen zu erkennen gegeben, daß England und Rußland sich gegenseitig verpflichtet haben, das türkische Gebiet zu verteidigen! Das heißt, sie mit einer Macht ausrüsten, die das Parlament selbst der Hand der britischen Krone anzuvertrauen mißtrauisch gewesen ist.28

In diesem Stadium stimmte die Queen mit Aberdeen darin überein, dass der Einmarsch in die Fürstentümer nicht als Grund für einen Krieg mit Russland gelten sollte. Wie er war sie immer noch geneigt, dem Zaren zu vertrauen, den sie zehn Jahre zuvor kennengelernt und sympathisch gefunden hatte, und sie glaubte, dass sich seine Aggressivität zügeln ließ. Privat war sie antitürkisch eingestellt, was sich ebenfalls auf ihre Haltung zu der russischen Invasion auswirkte. Vor Sinope hatte Viktoria in ihrem Tagebuch verzeichnet, dass es »im Interesse des Friedens und allgemein von großem Vorteil wäre, würden die Türken entscheidend geschlagen«. Später betrachtete sie den Einmarsch mit anderen Augen und hoffte, dass ein russischer Sieg über die Türken beide Seiten zugänglicher für europäische Friedensinitiativen machen würde. »Ein klarer Sieg der Russen zu Lande mag und wird, wie ich erwarte, einen besänftigenden Effekt haben, indem er den Kaiser großzügig stimmt und die Türken empfänglich für die Vernunft werden lässt«, notierte sie am 15. Dezember in ihrem Tagebuch.29

Der türkischen Kriegsstimmung gegenüberzutreten war eine Sache, doch es war etwas ganz anderes, dem Kriegsgeschrei der britischen Presse zu widerstehen, zumal sich Palmerston, der am 14. Dezember vorgeblich wegen der Parlamentsreform das Kabinett verlassen hatte, dem Chor derjenigen anschloss, die nach militärischer Aktion riefen. Sein Ziel war es, den friedensliebenden Aberdeen von außerhalb der Regierung herauszufordern, indem er die öffentliche Meinung in seine eigene Kampagne für eine aggressivere Außenpolitik einspannte. Palmerston behauptete, die Schlacht bei Sinope sei ein indirekter Angriff auf die Westmächte gewesen, die ihre Kriegsschiffe in den Bosporus geschickt hätten, um Russland zu warnen. »Das Geschwader des Sultans wurde in einem türkischen Hafen zerstört, in dem die englische und die französische Flotte, wären sie anwesend gewesen, Schutzmaßnahmen ergriffen hätten«, erklärte er Seymour. Sinope sei ein Beweis für russische Aggression und liefere den moralischen Vorwand, den Großbritannien benötige (und den Palmerston gesucht hatte), um die russische Bedrohung im Orient auszumerzen. Die Fortsetzung der Friedensgespräche in Wien werde es den Westmächten nur schwerer machen, diesen »gerechten und notwendigen Krieg« zu führen. Im Kabinett wurde Palmerston von Russell, dem Führer des Unterhauses, und vor allem von Außenminister Clarendon unterstützt, der zu Palmerstons Position umschwenkte, als er die öffentliche Reaktion auf die Vernichtung der türkischen Flotte wahrnahm (die Königin vermerkte am 15. Dezember in ihrem Tagebuch, er sei »aus Furcht vor den Zeitungen kriegerischer geworden, als er war«). »Sie meinen, ich kümmerte mich zu sehr um die öffentliche Meinung«, schrieb er Aberdeen am 18. Dezember, »aber wenn das grässliche Blutbad bei Sinope bekannt wird, werden wir völlig entehrt sein, falls wir nicht aus bloßer Menschlichkeit einschreiten, um weitere derartige Freveltaten zu verhindern.«30

Da Palmerston das Kabinett verlassen hatte, oblag es Clarendon, die Kriegspartei zu vertreten. Sinope habe gezeigt, dass die Russen »nicht wirklich beabsichtigen, Frieden zu schließen, selbst wenn die Türken annehmbare Bedingungen vorschlagen«, klagte Clarendon gegenüber Aberdeen, weshalb es keinen Zweck habe, weiter mit ihnen zu reden. Er drängte den Premierminister, Sinope als »moralisches Argument« heranzuziehen, um die österreichische Friedensinitiative zurückzuweisen und drastische Maßnahmen gegen Russland einzuleiten. Entschlossen, die Friedensverhandlungen zu untergraben, ließ Clarendon den Türken durch Canning mitteilen, sie sollten eine härtere Position beziehen, und er warnte Buol, dass Österreich zu zögerlich mit Russland umgehe. Es sei zu spät für Gespräche, informierte er Lord Cowley, den britischen Botschafter in Paris; vielmehr sei es an der Zeit für die Westmächte, »Russland als Seemacht im Orient zu vernichten«.31

Der französische Beistand war unabdingbar für Palmerston und die Kriegspartei im britischen Kabinett. Napoleon wollte Sinope unbedingt als Vorwand für energische Schritte gegen Russland nutzen, teils aus der Erwägung heraus, dass dies eine Gelegenheit war, ein Bündnis mit Großbritannien zu schmieden, und teils aus der Überzeugung, dass ein Kaiser von Frankreich die Erniedrigung seiner Flotte, sollte die russische Aktion ungestraft bleiben, nicht tolerieren dürfe. Am 19. Dezember schlug Napoleon vor, dass die französische und die britische Flotte ins Schwarze Meer eindringen und sämtliche russischen Kriegsschiffe zur Rückkehr nach Sewastopol zwingen sollten. Er drohte sogar damit, dass die Franzosen auf eigene Faust handeln würden, wenn die Briten die Mitwirkung verweigerten. Dies genügte, um Aberdeen widerwillig kapitulieren zu lassen die Furcht vor einem wiedererstarkenden Frankreich, wenn nicht auch vor Russland, hatte ihm keine Wahl gelassen. Am 22. Dezember vereinbarte man, dass eine gemeinsame Flotte die türkische Schifffahrt im Schwarzen Meer schützen werde. Palmerston kehrte am Heiligabend als unumstrittener Führer der Kriegspartei ins Kabinett zurück.32

* * *

Die Ursprünge des Krimkriegs sind jedoch nicht zu durchschauen, wenn man lediglich die Motive von Staatsmännern und Diplomaten untersucht. Dies war ein Krieg der erste in der Geschichte , der durch den Druck der Presse und der öffentlichen Meinung herbeigeführt wurde. Da die Entwicklung der Eisenbahnen in den 1840er und 1850er Jahren die Entstehung einer nationalen Presse ermöglicht hatte, wurde die öffentliche Meinung zu einem mächtigen Faktor in der britischen Politik, der möglicherweise den Einfluss des Parlaments und des Kabinetts selbst in den Schatten stellte. Die Times, die führende Zeitung des Landes, war lange Zeit eng mit der Konservativen Partei verbunden gewesen, doch sie handelte nun zunehmend so, als wäre sie nichts Geringeres als eine nationale Institution ein »Vierter Stand« laut Henry Reeve, dem Chef ihrer außenpolitischen Abteilung, der 1855 über seinen eigenen Beruf schrieb: »Der Journalismus ist nicht das Instrument, mit dessen Hilfe sich die verschiedenen Teile der herrschenden Klasse ausdrücken. Vielmehr ist er das Instrument, mit dessen Hilfe die vereinigte Intelligenz der Nation sie alle kritisiert und kontrolliert. In der Tat ist er der Vierte Stand‹ des Reiches nicht bloß das geschriebene Gegenstück und die Stimme des sprechenden Dritten Standes.« Der Regierung blieb kaum etwas anderes übrig, als diese neue Realität anzuerkennen. »Ein englischer Minister muss die Zeitungen zufriedenstellen«, klagte Aberdeen, ein Konservativer der alten Schule, der sich zwischen Westminster und dem Pall Mall Club hin und her bewegte. »Die Zeitungen grölen dauernd nach Einmischung. Sie sind Schinder, und dazu machen sie auch die Regierung.«33

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Lord Palmerston

Palmerston war der in diesem Sinne wirklich erste moderne Politiker. Er begriff, dass er die Presse hegen und pflegen und die Öffentlichkeit auf schlichte Weise ansprechen musste, wenn er eine massenhafte politische Anhängerschaft gewinnen wollte. Der Krieg gegen Russland ermöglichte ihm, dieses Ziel zu erreichen. Seine Außenpolitik erschien der britischen Öffentlichkeit als Ausdruck ihres eigenen Nationalcharakters und ihrer allgemeinen Ideale: Sie war protestantisch und freiheitsliebend, dynamisch und abenteuerlich, selbstbewusst und kühn, streitlustig in ihrer Verteidigung des kleinen Mannes, auf stolze Art britisch und verachtungsvoll gegenüber Ausländern, besonders wenn es sich um Vertreter der katholischen und der orthodoxen Religion handelte, die Palmerston mit den schlimmsten Lastern und Exzessen des Kontinents verknüpfte. Die Öffentlichkeit liebte seinen expliziten Einsatz für den liberalen Interventionismus im Ausland, denn dies bestärkte sie in ihrer Ansicht, dass England das großartigste Land der Welt sei und dass es die Aufgabe der Regierung sei, ihre Lebensweise den weniger Glücklichen jenseits der Grenzen nahezubringen.

Palmerston wurde so populär und die Bürger identifizierten seine Außenpolitik so stark mit der Verteidigung »britischer Werte«, dass jeder, der versuchte, das Abgleiten in den Krieg zu verhindern, mit Schmähungen durch die patriotische Presse rechnen musste. Dies war das Schicksal der Pazifisten und radikalen Freihändler Richard Cobden und John Bright, deren Weigerung, Russland als Gefahr für die britischen Interessen (denen ihrer Meinung nach besser durch den Handel mit Russland gedient gewesen wäre) einzuschätzen, dazu führte, dass die Presse sie als »prorussisch« und folglich »unenglisch« anprangerte. Sogar Prinz Albert, dessen kontinentale Gewohnheiten wenig Sympathie weckten, sah sich plötzlich als Deutscher oder als Russe attackiert (viele schienen nicht zwischen beidem unterscheiden zu können). Die Presse, vornehmlich der Morning Advertiser (die Boulevardzeitung jener Tage), bezichtigte ihn des Verrats, nachdem Gerüchte aufkamen, dass eine Hofintrige im Dezember den Rücktritt Palmerstons verursacht habe. Als Palmerston in die Regierung zurückkehrte, meldete der eher pöbelhafte Teil der Presse ohne Umschweife, Albert sei als Verräter im Tower of London inhaftiert worden, woraufhin sich dort Menschenmengen ansammelten, die einen Blick auf den Prinzen erhaschen wollten. Der Morning Advertiser verlangte sogar seine Hinrichtung und setzte obendrein hinzu: »Es ist besser, dass ein paar Tropfen schuldigen Blutes auf einem Schafott am Tower Hill vergossen werden, als dass ein Land seiner Kriegsgelüste beraubt wird!« Königin Viktoria war so empört, dass sie damit drohte abzudanken. Aberdeen und Russell sprachen im Namen der Königin mit den Herausgebern aller bedeutenden Zeitungen, doch deren Antworten ließen kein Ende der Kampagne erhoffen: Die Herausgeber selbst hatten die Artikel gebilligt und sie in manchen Fällen sogar eigenhändig geschrieben, denn durch solche Texte stiegen die Verkaufszahlen.34

In der Volksmeinung hatte der Kampf gegen Russland mit »britischen Prinzipien« zu tun: mit der Verteidigung von Freiheit, Zivilisation und Freihandel. Der Schutz der Türkei vor Russland wurde mit der ritterlichen britischen Tugend verknüpft, für die Hilflosen und Schwachen gegen Tyrannen und Schikaneure einzutreten. Der Hass auf die Russen ließ die Türken in der öffentlichen Einschätzung zu Ausbunden an Tugend werden eine romantische Anschauung, die ihre Ursprünge im Jahr 1849 hatte, als die Türken den ungarischen und polnischen Freiheitskämpfern Zuflucht vor zaristischer Unterdrückung geboten hatten. Als der turkophile Urquhart Anfang 1854 eine »Vereinigung für den Schutz der Türkei und anderer Länder vor der Teilung« gründete, schlossen sich ihr rasch mehrere Tausend Radikale an.

Die Verteidigung der muslimischen Türken gegen die christlichen Russen war ein bedeutendes Hindernis für anglikanische Konservative wie Aberdeen und Gladstone und selbst für die Königin, deren religiöse Sympathien sie feindlich gegenüber den Türken stimmten (insgeheim wünschte sie sich die Gründung eines »griechischen Reiches«, das die Osmanen aus Europa verdrängen könnte, und hoffte, dass die Türken mit der Zeit »alle Christen werden würden«).35 Dieses Hindernis wurde von evangelischen Radikalen beiseitegewischt, welche die Tanzimat-Reformen als Beweis für türkischen Liberalismus und religiöse Toleranz anführten. Manche Kirchenvertreter argumentierten sogar, die Türken hätten zur Verbreitung des Protestantismus im Vorderen Orient beigetragen ein Gedanke, der sich hauptsächlich auf die Missionarsarbeit der Protestanten im Osmanischen Reich stützte. Da die Hohe Pforte ihnen verbot, Muslime zu konvertieren, hatten sich anglikanische Missionare stattdessen auf Orthodoxe und Katholiken konzentriert, und jeder Bekehrte lieferte Erzählungen über die Übeltaten seines Priesters. Das Thema wurde von Lord Shaftesbury im Oberhaus in einer Debatte über die osmanische Niederschlagung der griechischen Revolten in Thessalien und Epirus aufgegriffen. In einer Rede, die von evangelischem Missionarseifer beflügelt war, führte Shaftesbury aus, dass die Balkanchristen gewissermaßen Opfer der griechisch-orthodoxen Priesterschaft und ihrer russischen Helfer wie auch der türkischen Behörden seien. Was die Bekehrung von Christen zur protestantischen Konfession angehe, schloss Shaftesbury, sei die türkische Herrschaft dem wachsenden Einfluss des Zaren vorzuziehen, der in seinem eigenen Herrschaftsbereich nicht einmal die Benutzung der russischen Bibel zulasse.******* Sollten die Russen den Balkan erobern, werde sich dort die gleiche Finsternis ausbreiten und jegliche Hoffnung für den Protestantismus sei aufzugeben. Die Hohe Pforte dagegen stehe der Missionarsarbeit der Anglikaner nicht feindselig gegenüber, denn sie sei eingeschritten, um protestantische Konvertiten vor der Verfolgung durch andere Christen zu schützen, und habe dem Protestantismus im Jahr 1850 sogar Millet-Status gewährt (Shaftesbury erwähnte allerdings nicht, dass Konvertiten vom Islam zu anderen Religionen nach osmanischem Gesetz hingerichtet wurden). Wie viele Anglikaner malte er ein freundliches Bild des Islams, dessen ruhige Rituale mehr mit ihren eigenen Formen des besinnlichen Gebets als mit den lauten und halb heidnischen Bräuchen der Orthodoxen gemeinsam zu haben schienen. Derlei Vorstellungen waren in der evangelischen Gemeinde weit verbreitet. So erklärte ein Sprecher im Dezember auf einer öffentlichen Versammlung, wo man über den russisch-türkischen Konflikt diskutierte, dass »der Türke kein Ungläubiger, sondern Unitarier« sei. »Was die russischen Griechen oder die griechischen Christen betraf«, berichtete der Newcastle Guardian, »wolle er kein Wort gegen ihr Glaubensbekenntnis sagen, doch seien sie eine vernarrte, tanzende, fiedelnde Rasse. Er spreche aus persönlicher Erfahrung.«36

Die bloße Erwähnung des Sultans genügte, um stürmischen Applaus hervorzurufen. Zum Beispiel verabschiedeten 2000 Menschen bei einer Versammlung in einem Theater in Chester per Akklamation einen Entschluss, in dem die Regierung aufgefordert wurde, dem Sultan »mit den stärksten kriegerischen Maßnahmen« zu helfen, da

es keinen Souverän in Europa gibt, der höhere Ansprüche als der Sultan auf die Unterstützung dieses Landes hat – keinen Souverän, der mehr für religiöse Toleranz leistet, denn er hat religiöse Gleichheit in seinem Herrschaftsgebiet geschaffen. Es wäre keine Beleidigung für Engländer, ihn in eine Reihe mit den Alfreds und Edwards zu stellen, und wenn er in der gegenwärtigen Krise angemessenen Beistand durch die Nationen Westeuropas erhält, wird er seine Besitzungen glücklich und wohlhabend machen und Handelsbeziehungen von gegenseitigem Vorteil zwischen ihnen und Großbritannien herstellen.

Als die Times andeutete, die Balkanchristen könnten den Schutz des Zaren vielleicht der fortgesetzten Herrschaft des Sultans vorziehen, fielen der Morning Herald und der Morning Advertiser, die ihr vorwarfen, unenglisch zu sein, mit schrillen nationalistischen Tönen über sie her: »Sie wird in der englischen Sprache gedruckt, aber das ist das einzig Englische an ihr. Wo es um Russland geht, ist sie durch und durch russisch.«37

Auch in Frankreich übte die Presse einen starken Einfluss auf Napoleons Außenpolitik aus. Der größte Druck kam von der katholischen Provinzpresse, die seit dem Anfang des Disputs um das Heilige Land einen Krieg mit Russland befürwortete. Nach der Nachricht aus Sinope wurden ihre Rufe immer lauter. »Ein Krieg mit Russland ist bedauerlich, doch notwendig und unvermeidlich«, hieß es am 1. Januar 1854 in einem Leitartikel der Union franc-comtoise, denn »wenn Frankreich und Großbritannien der russischen Bedrohung in der Türkei nicht Einhalt gebieten, werden auch sie, wie die Türken, von den Russen versklavt werden«.

Das Leitmotiv dieser antirussischen Propaganda war »der Kreuzzug der Kultur gegen die Barbarei« ein Thema, das auch den russlandfeindlichen Bestseller von 1854, Gustave Dorés Histoire pittóresque, dramatique et caricarturale de la Sainte Russie, durchzog. Die Hauptidee von Dorés urtypischer Karikatur dass die Barbarei Russlands die Quelle seiner Aggressivität bilde war ein Gemeinplatz der Kriegslobby auf beiden Seiten des Kanals. In Großbritannien begegnete man damit dem Argument von Cobden und Bright, wonach Russland zu rückständig sei, um England anzugreifen. Man startete eine regelrechte Pressekampagne, um aufzuzeigen, dass Russland, eben weil es so rückständig sei, seine Ressourcen durch Gebietserweiterung vergrößern müsse. In Frankreich hatte das Argument einen stärker kulturellen Beiklang und lief auf einen Vergleich zwischen den Russen und den Hunnen hinaus. »Kaiser Nikolaus ist Attila recht ähnlich«, stand Ende Januar 1854 in einem Leitartikel der Zeitung L’Impartial.

Etwas anderes vorzutäuschen bedeutet, sämtliche Begriffe von Ordnung und Gerechtigkeit auf den Kopf zu stellen. Falschheit in der Politik und Falschheit in der Religion – das verkörpert Russland. Seine Barbarei, die versucht, unsere Kultur nachzuäffen, weckt unser Misstrauen; sein Despotentum erfüllt uns mit Entsetzen … Sein Despotentum mag für eine Bevölkerung geeignet sein, die an der Grenze zum Animalischen entlangkriecht wie eine Herde fanatischer Tiere, aber es ist nicht geeignet für ein kultiviertes Volk … Die Politik von Nikolaus hat in allen zivilisierten Staaten Europas einen Sturm der Entrüstung aufkommen lassen; dies ist die Politik der Vergewaltigung und Plünderung; es ist Banditentum in riesigem Maßstab.38

Der ultramontanen Presse zufolge war Russlands Religion die größte Gefahr für die westliche Zivilisation. Falls der Marsch der russischen Heere nach Westen nicht aufgehalten werde, so behauptete sie, würden die Orthodoxen die Christenheit an sich reißen und die Katholiken in einem neuen Zeitalter religiöser Verfolgung zu Sklaven machen. »Wenn wir den Russen gestatten, die Türkei zu erobern«, schrieb der Herausgeber der Union franc-comtoise, »werden wir bald erleben, dass Kosakenwaffen uns allen die griechische Ketzerei aufdrängen. Europa wird nicht nur seine Freiheit, sondern auch seine Religion verlieren Wir werden zuschauen müssen, wie unsere Kinder über die griechische Glaubensspaltung unterrichtet werden, und die katholische Religion wird in den zugefrorenen Wüsten Sibiriens untergehen, wohin man jene, welche die Stimme zu ihrer Verteidigung erheben, schicken wird.« Der Spectateur de Dijon machte sich die Worte des Kardinals von Paris zu eigen und rief die Katholiken Frankreichs zu einem »heiligen Krieg« gegen die Russen und Griechen auf, damit sie ihr religiöses Erbe verteidigen könnten:

Russland stellt eine besondere Gefahr für alle Katholiken dar, was keiner von uns missverstehen sollte. Kaiser Nikolaus spricht von Privilegien für die Griechen am Heiligen Grab – Privilegien, die mit russischem Blut erkauft wurden. Jahrhunderte werden vergehen, bevor die Russen auch nur einen Bruchteil des Blutes vergießen, das die Franzosen in den Kreuzzügen für die Heiligen Stätten vergossen haben … Wir müssen dort ein Erbe wahren, ein Interesse verteidigen. Aber das ist nicht alles. Wir werden direkt vom Proselytentum der griechisch-russischen Kirche bedroht. Wir wissen, dass man in St. Petersburg davon träumt, dem Westen eine religiöse Autokratie aufzuerlegen. Dort hoffen sie, uns durch die grenzenlose Expansion ihrer Militärmacht zu ihrer Häresie bekehren zu können. Wenn sich Russland auf dem Bosporus festgesetzt hat, wird es Rom und Marseille gleichermaßen schnell erobern. Ein rascher Angriff würde ausreichen, um den Papst und die Kardinäle zu beseitigen, bevor es jemand verhindern könnte.

Für die katholische Provinzpresse bot dieser heilige Krieg auch eine Chance, die religiöse Disziplin in der Heimat zu festigen, um dem säkularen Einfluss der Revolution entgegenzuwirken und die Kirche wieder ins Zentrum des nationalen Lebens zu rücken. Franzosen, die 1848 auf entgegengesetzten Seiten der Barrikaden gestanden hatten, sollten nun durch die Verteidigung ihres Glaubens wiedervereinigt werden.39

Napoleon machte sich diese Idee zunutze. Zweifellos glaubte er, dass ein glorreicher Krieg die Nation mit der tyrannischen Armee seines Staatsstreichs versöhnen werde. Sein Enthusiasmus wurde jedoch nie wirklich vom französischen Volk geteilt, das dem Streit um das Heilige Land und der Orientalischen Frage gegenüber insgesamt gleichgültig blieb, sogar nachdem es von der Schlacht bei Sinope erfahren hatte. Napoleon sprach davon, den »Pfad der Ehre« einzuschlagen und die russische Aggression zu bekämpfen; und es war die Presse, welche die »Empörung der französischen Öffentlichkeit« zum Ausdruck brachte. Doch laut den Berichten der Ortspräfekten waren die gewöhnlichen Menschen ungerührt. Obwohl die Franzosen in viel größerer Zahl als die Briten auf der Krim kämpfen und sterben sollten, waren sie über die Kriegsursachen nie so aufgebracht wie ihre Verbündeten. Im Gegenteil, ihnen missfiel der Gedanke an einen Krieg, in dem sie mit den Engländern, ihren traditionellen Feinden, alliiert sein würden. Weithin herrschte die Meinung, Frankreich werde in einen Krieg für britische Imperialinteressen hineingezogen ein Thema, das die Opposition gegen Napoleon immer wieder ansprach und dafür den Preis zahlen. Insbesondere die Geschäftswelt lehnte den Krieg ab, da sie mit höheren Steuern und einer Belastung der Wirtschaft rechnete. Man sagte voraus, der Krieg werde vor Ablauf eines Jahres so unpopulär sein, dass Frankreich keine andere Wahl haben werde, als um Frieden nachzusuchen.

Gegen Ende Januar hatten Antikriegsgefühle auch auf das Gefolge des Kaisers übergegriffen. Auf einer Versammlung hoher Amtsträger, die Napoleon einberufen hatte, um über den russischen Protest gegen die Ankunft der französischen und britischen Flotte am 4. Januar im Schwarzen Meer zu sprechen, empfahlen zwei der engsten politischen Verbündeten des Kaisers, Finanzminister Jean Bineau und Staatsrat Achille Fould, eine Einigung mit Russland, um ein Abgleiten in den Krieg zu verhindern. Sie waren besorgt über den Mangel an militärischen Vorbereitungen, denn die Armee war in den ersten Monaten des Jahres 1854 weder mobilisiert noch kriegsbereit, da man sie verringert hatte, um britische Ängste vor einer französischen Invasion nach dem Putsch vom Dezember 1851 auszuräumen. Bineau drohte für den Fall des Kriegsausbruchs sogar mit Rücktritt, da es unmöglich sein werde, die erforderlichen Steuern ohne größere soziale Unruhen zu erheben (eine Drohung, die er nicht wahrmachte). Napoleon sah sich durch diese abweichenden Stimmen so weit ernüchtert, dass er seine Kriegspläne noch einmal überdachte und die Suche nach einer diplomatischen Beilegung der Krise erneuerte. Am 29. Januar schrieb er direkt an den Zaren und bot an, mit Vermittlung Österreichs ein Abkommen auszuhandeln. Als Grundlage dafür könne das Angebot der Franzosen und Briten dienen, ihre Flotten aus dem Schwarzen Meer zurückzubeordern, wenn der Zar seine Soldaten aus den Donaufürstentümern abzog. Napoleons Schreiben wurde umgehend veröffentlicht, womit er der besorgten französischen Öffentlichkeit beweisen wollte, dass er sich mit allen Kräften für den Frieden einsetzte, wie er Baron Hübner, dem österreichischen Botschafter in Paris, anvertraute.40

Palmerston und seine Kriegspartei behielten die Franzosen aufmerksam im Auge. Ihre Befürchtung war, dass Napoleon einer militärischen Konfrontation mit Russland in letzter Minute ausweichen würde, und sie setzten alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel ein, um seine Entschlossenheit zu festigen und seine Bemühungen um eine diplomatische Lösung zu untergraben. Nicht die Franzosen, sondern die Briten wollten den Krieg, und sie machten sich Anfang 1854 am energischsten dafür stark.

* * *

Den Briten wurde ihre Aufgabe durch die Unversöhnlichkeit des Zaren erleichtert. Am 16. Februar brach Russland die Beziehungen zu Großbritannien und Frankreich ab und rief die Botschafter aus London und Paris zurück. Fünf Tage später lehnte der Zar Napoleons Vorschlag für ein Quid pro quo zum Schwarzen Meer und den Fürstentümern ab. Stattdessen regte er an, dass die westlichen Flotten die Türken daran hindern sollten, Waffen an die russischen Schwarzmeerküsten zu befördern ein klarer Hinweis auf die Ursachen von Sinope. Allein unter dieser Bedingung sei er bereit, mit den Gesandten der Hohen Pforte in St. Petersburg zu verhandeln. Da Nikolaus wusste, dass er mit seiner trotzigen Haltung einen Krieg provozierte, warnte er Napoleon, Russland werde im Jahr 1854 dasselbe sein wie im Jahr 1812.

Es war eine erstaunlich schroffe Zurückweisung an die Adresse der Franzosen, die dem Zaren die beste Möglichkeit geboten hatten, eine Kraftprobe mit den Briten und Türken zu vermeiden. Der französische Vorschlag enthielt seine letzte Chance, der totalen Isolation auf dem Kontinent zu entgehen. Ende Januar hatte er versucht, Bande zu den Österreichern und Preußen zu knüpfen, indem er den Grafen Orlow nach Wien schickte. Dieser erläuterte, dass der Zar Österreich gegen die Westmächte verteidigen werde (eine offensichtliche Bezugnahme auf Franz Josephs Sorgen, Napoleon könnte in Italien Unruhe für die Habsburger stiften), wenn sie zusammen mit Preußen und den anderen deutschen Staaten eine Neutralitätserklärung unterzeichneten. Die Österreicher aber waren entsetzt über die russische Offensive auf dem Balkan sie wollten von dem Vorschlag des Zaren, sich an der Zerstückelung des Osmanischen Reiches zu beteiligen, nichts wissen und machten deutlich, dass sie mit den Russen nur kooperieren würden, wenn die türkischen Grenzen unverändert blieben. Die Gefahr eines serbischen Aufstands zur Unterstützung der russischen Offensive erschien ihnen so bedrohlich, dass sie 25 000 zusätzliche Soldaten an ihre Grenze mit Serbien verlegten.41

Am 9. Februar erfuhr Nikolaus, dass Orlows Mission gescheitert war. Damit nicht genug, trafen die Österreicher Vorbereitungen, ihre Streitkräfte ins Innere von Serbien zu schicken, um dessen Besetzung durch russische Truppen zu verhindern. Insofern ist es merkwürdig, dass der Zar seine letzte Chance Napoleons Angebot verschmähte, einem Krieg mit den Westmächten aus dem Weg zu gehen, zumal er befürchtet haben muss, dass er ihn verlieren würde, wenn sich auch Österreich gegen Russland wandte. Man ist geneigt, wie manche Historiker zu glauben, dass Nikolaus nun jegliches Augenmaß verloren hatte, dass sich seine angeborene Neigung zu psychischen Störungen abzulesen an seiner Impulsivität, seinem übereilten Handeln und seiner melancholischen Reizbarkeit mit der Arroganz verquickt hatte, die ein autokratischer Herrscher nach fast dreißigjähriger Berieselung durch Schmeicheleien erwirbt.42 In der Krise von 1853/54 benahm er sich zuweilen wie ein unbekümmerter Glücksspieler, der seine Karten überreizt: Nach Jahren geduldigen Spiels, in denen er die Position Russlands im Vorderen Orient aufgebaut hatte, riskierte er alles für einen Krieg gegen die Türken.

Aber war dies von seinem Standpunkt aus wirklich ein Glücksspiel? Wir wissen aus Nikolaus’ privaten Schriften, dass er Selbstvertrauen und Zuversicht aus Vergleichen mit 1812 bezog. Ständig nannte er den Krieg seines älteren Bruders gegen Napoleon als Grund dafür, dass Russland ohne jegliche Hilfe gegen die Welt bestehen könne. »Wenn Europa mich nötigt, in den Krieg zu ziehen«, schrieb er im Februar, »werde ich dem Beispiel meines Bruders Alexander im Jahr 1812 folgen. Ich werde einen kompromisslosen Krieg gegen den Kontinent wagen, ich werde mich, wenn nötig, hinter den Ural zurückziehen, und ich werde die Waffen nicht niederlegen, solange ausländische Streitkräfte irgendwo über russisches Land trampeln.«43

Dies war kein durchdachtes Argument, denn es beruhte weder auf einer Einschätzung der ihm zur Verfügung stehenden Truppen noch auf einer sorgfältigen Reflexion über die praktischen Schwierigkeiten, die Russland im Kampf gegen die überlegenen Kräfte der europäischen Staaten bewältigen musste Schwierigkeiten, auf die Menschikow und seine anderen Befehlshaber häufig hingewiesen hatten. Mehrfach hatten sie ihn davor gewarnt, durch den Einmarsch in die Donaufürstentümer einen Krieg mit der Türkei und den Westmächten zu provozieren. Das Ganze war vielmehr eine rein emotionale Reaktion, die sich aus dem Stolz und dem Hochmut des Zaren ergab, aus seiner Überschätzung der russischen Macht und des russischen Prestiges und vielleicht vor allem aus seiner zutiefst empfundenen Überzeugung, dass er durch einen Religionskrieg die himmlische Mission Russlands auf Erden zu vollenden habe. Nikolaus war der ehrlichen Meinung, dass er von Gott berufen sei, einen heiligen Krieg für die Befreiung der Rechtgläubigen von muslimischer Herrschaft zu führen, und nichts konnte ihn von dieser »göttlichen Sache« abbringen. Wie er dem preußischen König Friedrich Wilhelm im März 1854 erklärte, war er bereit, diesen Krieg allein und auch gegen die Westmächte zu bestreiten, wenn sie Partei für die Türken ergriffen:

Muss ich, der ich nicht für weltliche Vorteile noch für Eroberungen Krieg führe, sondern für einen rein christlichen Zweck, allein gelassen werden, um unter der Fahne des heiligen Kreuzes zu kämpfen und zuzusehen, wie sich die anderen, die sich Christen nennen, um den Halbmond vereinigen und das Christentum bekämpfen? … Mir bleibt nichts anderes übrig, als zu kämpfen, zu siegen oder ehrenhaft unterzugehen, als Märtyrer unseres heiligen Glaubens, und dies erkläre ich im Namen ganz Russlands.44

So klangen nicht die Worte eines tollkühnen Spielers, sondern die Berechnungen eines Gläubigen.

Vom Zaren brüskiert, hatte Napoleon keine andere Möglichkeit, als seine Unterschrift dem britischen Ultimatum hinzuzufügen, dem zufolge sich die Russen aus den Fürstentümern zurückzuziehen hätten. Dies war für ihn eine Frage der nationalen Ehre und des Prestiges. In dem Ultimatum, das dem Zaren am 27. Februar geschickt wurde, hieß es, wenn er nicht innerhalb von sechs Tagen antworte, werde automatisch ein Kriegszustand zwischen den Westmächten und Russland bestehen. Da von Friedensgesprächen keine Rede mehr war dem Zaren blieb die Möglichkeit versagt, entsprechende Vorschläge zu machen , hatte das Ultimatum zweifellos das Ziel, den Krieg zu beschleunigen. Man setzte voraus, dass der Zar das Ultimatum verwerfen werde tatsächlich hielt er es für unter seiner Würde, auch nur darauf zu reagieren , weshalb die Westmächte nun so handelten, als wäre der Krieg bereits erklärt. Ende Februar mobilisierten sie ihre Streitkräfte.

Antoine Cetty, der Quartiermeister der französischen Armee, schrieb am 24. Februar an Marschall de Castellane:

Der Zar hat negativ [auf Napoleons Schreiben] reagiert; damit können wir uns nur auf den Krieg vorbereiten. Der Kaiser beabsichtigte, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um kein Expeditionskorps in den Orient schicken zu müssen, aber England hat uns durch sein Vorpreschen mit in den Krieg gerissen. Wir konnten unmöglich zulassen, dass eine englische Fahne ohne unsere eigene an den Mauern von Konstantinopel gehisst wird. Wo immer England auf eigene Faust auftritt, wird es rasch zum alleinigen Herrn und lässt seine Beute nicht los.

Das brachte es auf den Punkt. Im Moment der Entscheidung über den Krieg hatte Napoleon gezögert, doch letzten Endes benötigte er das Bündnis mit den Briten, und er hatte Angst, bei der Verteilung der Beute leer auszugehen, wenn er sich ihnen nicht bei der Verteidigung der westlichen Interessen im Vorderen Orient anschloss. Genau das gestand der französische Kaiser am 2. März in einer Rede vor dem Senat und der Gesetzgebenden Versammlung:

Frankreich hat ein genauso großes Interesse wie England – vielleicht ein größeres –, zu gewährleisten, dass sich der Einfluss Russlands nicht permanent auf Konstantinopel erstreckt. Denn in Konstantinopel zu herrschen bedeutet, über das Mittelmeer zu herrschen. Und ich glaube, keiner von Ihnen, meine Herren, wird behaupten, dass nur England ein vitales Interesse an diesem Meer habe, welches über 300 Ligen unserer Küsten hinwegschwappt … Warum ziehen wir nach Konstantinopel? Wir ziehen zusammen mit England dorthin, um die Sache des Sultans zu verteidigen und, was nicht weniger wichtig ist, um die Rechte der Christen zu schützen; wir ziehen dorthin, um die Freiheit der Meere und unseren rechtmäßigen Einfluss im Mittelmeergebiet zu verteidigen.45

In Wirklichkeit war keineswegs klar, wofür die Verbündeten kämpfen würden. Wie so viele Kriege begann die alliierte Expedition in den Orient damit, dass niemand so recht wusste, worum es ging. Es sollte Monate dauern, bis sich die Westmächte 1854 in langwierigen Verhandlungen untereinander und mit den Österreichern über die Kriegsgründe verständigten. Sogar nachdem die Verbündeten im September auf der Krim gelandet waren, konnte von einer Einigung über die Kriegsziele noch längst keine Rede sein.

Franzosen und Briten hatten von Anfang an unterschiedliche Vorstellungen. Im März hielten sie in Paris eine Reihe von Konferenzen ab, um über Ziele und Strategie zu sprechen. Die Franzosen wünschten sich nicht nur einen Krim-, sondern auch einen Donaufeldzug. Falls Österreich und Preußen dazu bewogen werden konnten, sich den Alliierten anzuschließen, schwebte den Franzosen eine groß angelegte Landoffensive in den Fürstentümern und in Südrussland vor, verbunden mit einer österreichisch-preußischen Kampagne in Polen. Die Briten aber misstrauten den Österreichern, die sie für zu nachsichtig gegenüber Russland hielten, und wollten sich nicht auf ein Bündnis mit ihnen einlassen, das ihre eigenen ehrgeizigeren Pläne im Hinblick auf Russland einschränken konnte.

Das britische Kabinett war in Bezug auf Kriegsziele und Strategie gespalten. Aberdeen bestand auf einem begrenzten Feldzug zur Wiederherstellung der türkischen Souveränität, während Palmerston und seine Kriegspartei eine aggressivere Offensive befürworteten, die den russischen Einfluss im Vorderen Orient beschränken und Russland in die Knie zwingen sollte. Beide Seiten gelangten zu einer Art Kompromiss durch die Flottenstrategie, die Sir James Graham, der Erste Lord der Admiralität, im Dezember 1853 als Reaktion auf Sinope entworfen hatte. Sein Plan sah einen raschen Angriff auf Sewastopol vor, um die russische Schwarzmeerflotte zu zerstören und die Krim zu besetzen, ehe man die wichtigere Frühjahrskampagne in der Ostsee startete, bei der britische Streitkräfte St. Petersburg erreichen sollten. Diese Strategie stützte sich auf Pläne, die bereits für den Fall eines Krieges mit Frankreich vorlagen (man ersetze Sewastopol durch Cherbourg).46

Während Großbritannien in den ersten Monaten des Jahres 1854 aufrüstete, ging der Gedanke an einen begrenzten Feldzug zur Verteidigung der Türkei in dem allgemeinen Kriegsfieber unter, welches das Land erfasste. Die britischen Kriegsziele eskalierten nicht nur durch den streitlustigen Chauvinismus der Presse, sondern auch weil man glaubte, dass die ungeheuren potenziellen Kosten des Krieges bedeutendere Zielsetzungen erforderten, die »der Ehre und Größe Britanniens würdig« seien. Palmerston kam immer wieder auf diesen Punkt zu sprechen. Seine Kriegsziele änderten sich im Detail, doch nie hinsichtlich ihres antirussischen Charakters. Am 19. März skizzierte er in einem Memorandum ans Kabinett einen ehrgeizigen Plan für die Aufteilung des Russischen Reiches und die neue Grenzziehung in Europa: Finnland und die Aland-Inseln würden von Russland an Schweden übergehen; Preußen sollte die Ostseeprovinzen des Zaren erhalten; Polen würde als unabhängiges Königreich und als Pufferstaat zwischen Europa und Russland vergrößert werden; Österreich sollte die Donaufürstentümer und Bessarabien von den Russen übernehmen (und Norditalien aufgeben müssen); die Türkei würde die Krim und Georgien bekommen, während Tscherkessien unter türkischer Protektion unabhängig werden sollte. Der Plan setzte einen großen europäischen Krieg mit Russland voraus, der Österreich und Preußen und im Idealfall Schweden auf antirussischer Seite einbezog. Im Kabinett stieß er auf erhebliche Skepsis. Aberdeen, der sich einen kurzen Feldzug erhoffte, damit seine Regierung »sich wieder mit Eifer der Aufgabe inländischer Reformen zuwenden« könne, wandte ein, dass dieses Vorhaben einen zweiten Dreißigjährigen Krieg notwendig mache. Palmerston hörte jedoch nicht auf, für seine Pläne zu werben. Im Gegenteil, je länger der Krieg dauerte, desto entschlossener war er, ihn fortzusetzen. Seine Begründung lautete, dass nur »gewaltige territoriale Veränderungen« die enormen Verluste an Menschenleben rechtfertigen könnten.47

Gegen Ende März hatte der Gedanke, die Verteidigung der Türkei zu einem größeren europäischen Krieg gegen Russland auszuweiten, im britischen Establishment viel Zuspruch gefunden. Prinz Albert bezweifelte, dass die Türkei gerettet werden könne, doch er war zuversichtlich, dass es möglich sei, den Einfluss Russlands in Europa durch einen Krieg zu mindern, der es seiner westlichen Gebiete beraubte. Er glaubte, Preußen könne durch das Versprechen eines »Territoriums, das es gegen russische Überfälle absichert«, zur Teilnahme am Krieg bewogen werden. Daneben befürwortete er Maßnahmen, mit denen auch die deutschen Staaten dazu gebracht werden sollten, bei der Zähmung des russischen Bären zu helfen, »dessen Zähne es zu ziehen und dessen Krallen es zu stutzen gilt«. Dem belgischen König Leopold schrieb er: »Ganz Europa, einschließlich Belgiens und Deutschlands, hat das größte Interesse daran, dass die Unversehrtheit und Unabhängigkeit der Pforte für die Zukunft gesichert wird, doch noch wichtiger ist, dass Russland besiegt und bestraft wird.« Sir Henry Layard, der berühmte Assyrologe und Parlamentsabgeordnete, der als Staatssekretär für Auswärtige Angelegenheiten diente, wollte Krieg führen, bis Russland »verkrüppelt« sei. Stratford Canning meinte, das Reich des Zaren solle »zum Nutzen Polens und anderer beraubter Nachbarn und zur dauerhaften Befreiung Europas vom russischen Diktat« zerbrochen werden. In einem späteren Brief an Clarendon betonte Stratford, dass der Wille Russlands gezügelt werden müsse, nicht nur durch die Eindämmung seines »gegenwärtigen Ausbruchs«, sondern auch »dadurch, dass seine eigene innere Wahrnehmung durch ein Gefühl permanenter Zurückhaltung ergänzt wird«. Das Ziel jeglichen Krieges der europäischen Mächte solle darin bestehen, die russische Gefahr ein für alle Mal zu beseitigen; man müsse die Kämpfe so lange fortsetzen, bis Russland von einer Pufferzone aus unabhängigen Staaten (den Donaufürstentümern, der Krim, Tscherkessien und Polen) umgeben sei, um jenes »Gefühl permanenter Zurückhaltung« zu garantieren. Während sich die Regierung anschickte, Russland den Krieg zu erklären, forderte Russell Clarendon auf, keine Formulierung in die Botschaft der Königin ans Parlament aufnehmen zu lassen, welche die Westmächte auf die bestehenden territorialen Grenzen Europas festlegen würde.48

Selbst in diesem Stadium zögerte Aberdeen noch, den Krieg zu erklären. Am 26. März, am Tag vor der britischen Bekanntmachung, ließ er die Königin und Prinz Albert wissen, er sei von Palmerston, der die Presse und die öffentliche Meinung auf seiner Seite habe, »in einen Krieg hineingezogen« worden. Drei Monate vorher hatte die Königin Aberdeens Abneigung geteilt, britische Soldaten für die Verteidigung der Türken einzusetzen. Nun jedoch war Viktoria von der Notwendigkeit des Krieges überzeugt, wie sie und Albert dem Premierminister erklärten:

Wir beide wiederholten unsere Ansicht, dass [der Krieg] nun notwendig sei, was er nicht bestreiten konnte, und ich bemerkte, dass wir ihn meiner Meinung nach nicht hätten vermeiden können, wiewohl es Fehler und Unglücksfälle gegeben habe, denn der Macht und den Übergriffen Russlands müsse widerstanden werden. Dies sah er nicht ein und hielt es für ein »Schreckgespenst« – die einzige Macht, die wir zu fürchten hätten, sei Frankreich! Die drei nördlichen Mächte müssten zusammenhalten, obwohl er nicht sagen konnte, auf welcher Grundlage. Natürlich konnten wir ihm nicht beipflichten und sprachen von dem Zustand, in den Deutschland durch Kaiser Nikolaus gebracht worden sei, und von der Unmöglichkeit, die gegenwärtigen Zeiten so zu betrachten wie die früheren. Alles hat sich gewandelt. Lord Aberdeen wollte uns in diesem Punkt nicht zustimmen und sagte, unser Land werde seine Einstellung zum Krieg zweifellos in kurzer Zeit ändern und ganz und gar für den Frieden sein.49

Was sie mit den Worten »Alles hat sich gewandelt« meinte, ist nicht völlig klar. Vielleicht dachte sie an die Tatsache, dass sich Frankreich dem britischen Ultimatum an die Russen angeschlossen hatte und dass die ersten britischen und französischen Soldaten bereits in Richtung Türkei in See gestochen waren. Oder vielleicht meinte sie wie Albert, dass es an der Zeit sei, die deutschen Staaten in einen europäischen Krieg mit Russland zu verwickeln, dessen Einmarsch in die Fürstentümer eine neue und aktuelle Gefahr für den Kontinent darstellte. Möglicherweise dachte sie aber auch an die fremdenfeindliche Pressekampagne gegen den Prinzgemahl (eine ständige Sorge in ihrem Tagebuch jener Monate) und hatte begriffen, dass ein kurzer siegreicher Krieg der Monarchie die Unterstützung der Öffentlichkeit sichern würde.

An jenem Abend gab die Königin einen kleinen Familienball zur Feier des Geburtstags ihres Cousins, des Herzogs von Cambridge, der bald nach Konstantinopel abreisen würde, um den Befehl über die britische 1. Division zu übernehmen. Graf Vitzthum von Eckstädt, der sächsische Gesandte in London, war zu dem Ball eingeladen worden:

Die Königin nahm aktiv an den Tänzen teil, etwa an einem Scotch Reel mit dem Herzog von Hamilton und Lord Elgin, die beide die Nationaltracht trugen. Da ich Walzer aufgegeben hatte, tanzte die Königin eine Quadrille mit mir und plauderte mit der liebenswürdigsten Zwanglosigkeit über die Ereignisse des Tages. Sie vertraute mir an, dass sie zu ihrem großen Bedauern am folgenden Morgen gezwungen sein werde, Russland den Krieg zu erklären.

Am nächsten Morgen einen Tag bevor die Franzosen das Gleiche taten wurde die Erklärung der Königin von Clarendon im Parlament verlesen. Alexander Kinglake, der große Historiker des Krimkriegs, schrieb dazu (und seine Worte könnten für jeden Krieg gelten):

Die Mühe, die Gründe für eine bedeutsame Handlungsweise schriftlich niederzulegen, ist eine heilsame Disziplin für Staatsmänner; und es wäre gut für die Menschheit, wenn zu einem Zeitpunkt, da die Frage wirklich noch offen ist, die Freunde einer Politik, die zum Krieg führt, verpflichtet wären, den Nebel mündlichen Austausches und privater Notizen zu verlassen und ihren Standpunkt in einem eindeutigen Text darzulegen.

Wäre ein solches Dokument von den Verantwortlichen erstellt worden, hätte es enthüllt, dass ihr wirkliches Ziel im Krimkrieg darin bestand, die Größe und Macht Russlands zum Nutzen »Europas«, insbesondere der Westmächte, zu beschneiden. Das jedoch konnte nicht in der Botschaft der Königin zum Ausdruck kommen. Sie sprach stattdessen äußerst vage davon, dass die Türkei uneigennützig »für die Sache des Rechts gegen das Unrecht« verteidigt werden müsse.50

* * *

Sobald die Erklärung an die Öffentlichkeit gelangte, bezeichneten Kirchenführer den Krieg als gerechten Kampf und als Kreuzzug. Am Sonntag, dem 2. April, wurden von Kanzeln überall im Land Predigten zum Lob des Krieges gehalten. Viele erschienen in gedruckter Form, und manche fanden Zehntausende von Käufern, denn dies war ein Zeitalter, in dem Prediger sowohl in der anglikanischen als auch in der nonkonformistischen Kirche den Status von Berühmtheiten genossen.51 Reverend Henry Beamish von der Londoner Trinity Chapel in der Conduit Street, Mayfair, ließ seine Gemeinde wissen, es sei die »christliche Pflicht« Englands,

seine Macht zu nutzen, um die Unabhängigkeit eines schwachen Verbündeten gegenüber der ungerechtfertigten Aggression eines ehrgeizigen und heimtückischen Despoten aufrechtzuerhalten und einen Akt der egoistischen und barbarischen Unterdrückung zu bestrafen – einer Unterdrückung, die umso abscheulicher und destruktiver ist, als der Versuch gemacht wird, sie mit dem Aufruf zu rechtfertigen, dass sie die Sache der religiösen Freiheit und der höchsten Interessen des Königreichs Christi fördere.

Am Mittwoch, dem 26. April, einem speziellen Fastentag für »nationale Demut und Gebete aus Anlass der Kriegserklärung«, hielt Reverend T. D. Harford Battersby eine Predigt in der St. John’s Church, Keswick, in der er verkündete:

Das Verhalten unserer Botschafter und Staatsmänner ist so ehrenhaft und aufrichtig, so nachsichtig und gemäßigt in der Abwicklung der Geschehnisse gewesen, die zu diesem Krieg geführt haben, dass es zu diesem Zeitpunkt keinen Grund zur Demut gibt. Vielmehr sollten wir uns in unserer Rechtschaffenheit stärken, mit Worten der Selbstbeglückwünschung vor Gott hintreten und sagen: »Wir danken Dir, o Gott, dass wir nicht sind wie andere Nationen: ungerecht, begehrlich, tyrannisch, grausam; wir sind ein religiöses Volk, wir sind ein die Bibel lesendes, frommes Volk, wir schicken Missionare in die ganze Welt.«

In der Brunswick Chapel, Leeds, sagte Reverend John James am selben Tag, dass Russlands Offensive gegen die Türkei ein Angriff »auf die heiligsten Rechte unserer gemeinsamen Menschlichkeit [ist], eine Schandtat derselben Kategorie wie der Sklavenhandel und kaum minder verbrecherisch«. Die Balkanchristen, behauptete James, besäßen unter dem Sultan ein höheres Maß an Religionsfreiheit, als es ihnen je unter dem Zaren vergönnt wäre:

Überlasst die Türkei dem Sultan, und durch die Vermittlung Frankreichs und Englands werden diese bescheidenen Christen mit Gottes Segen einer vollkommenen Gewissensfreiheit teilhaftig werden … Übergebt sie Russland, und ihre Einrichtungen werden zerschlagen, ihre Schulhäuser geschlossen, ihre Gebetsstätten entweder zerstört oder zu Tempeln eines Glaubens umgestaltet werden, der so unrein, demoralisierend und intolerant ist wie der Papismus selbst. Welcher britische Christ kann zögern, wenn die richtige Handlungsweise für ein Land wie unseres in einem Fall wie diesem gewählt werden muss? … Es ist ein gottgefälliger Krieg, ungeachtet jeglicher Gefahr die Horden des heutigen Attila zurückzutreiben, der die Freiheit und das Christentum nicht nur der Türkei, sondern der zivilisierten Welt bedroht.52

Zur Einschiffung der »christlichen Soldaten« Großbritanniens in den Orient hielt Reverend George Croly eine Predigt in der Londoner St. Stephen’s Church, Walbrook. Er betonte, dass England an einem Krieg zur »Verteidigung der Menschheit« gegen die Russen ein »hoffnungsloses und entartetes Volk«, das es auf die Eroberung der Welt abgesehen habe teilnehme. Dies sei ein »Glaubenskrieg«, in dem die wahre westliche Religion vor der griechischen Abweichung in Schutz genommen werde: »der erste orientalische Krieg seit den Kreuzzügen«. »Während England im letzten Krieg [gegen Napoleon] eine Zuflucht für die Grundsätze der Freiheit war, könnte es im nächsten als Zuflucht für die Grundsätze der Religion dienen. Mag es nicht der göttliche Wille sein, dass England, nachdem es als Verfechter des Glaubens triumphiert hat, die noch erhabenere Auszeichnung des Lehrers der Menschheit zugewiesen wird?« Englands Bestimmung im Orient, so Reverend Croly, könne durch den kommenden Krieg vorangebracht werden. Sie bestehe in nichts Geringerem als darin, die Türken zum Christentum zu bekehren: »Das große Werk mag langsam und schwierig sein und durch den Untergang von Königreichen oder die Leidenschaften von Menschen aufgehalten werden aber es wird gedeihen. Warum sollte die Kirche von England diesem Werk nicht zu Hilfe kommen? Warum sollte sie nicht sogleich feierliche und öffentliche Gebete für den Erfolg unseres gerechten Krieges, für die Wiederherstellung des Friedens und die Bekehrung der Ungläubigen abhalten?«53

In unterschiedlichem Maße riefen alle Hauptakteure des Krimkriegs Russland, die Türkei, Frankreich und Großbritannien die Religion aufs Schlachtfeld. Doch als der Krieg schließlich begann, waren seine Ursprünge im Heiligen Land vergessen und von dem europäischen Krieg gegen Russland verdrängt worden. Laut James Finn, dem britischen Konsul in Jerusalem, verliefen die Osterfeierlichkeiten am Heiligen Grab 1854 »sehr ruhig«. Wegen des Kriegsausbruchs erschienen kaum russische Pilger, und die griechischen Gottesdienste wurden von den osmanischen Behörden straff organisiert, um eine Wiederholung der religiösen Handgreiflichkeiten zu verhindern, die in den Jahren zuvor zur Regel geworden waren. Innerhalb von Monaten würde sich die Aufmerksamkeit der Welt den Kampfplätzen der Krim zuwenden, und Jerusalem würde aus dem Blickfeld Europas verschwinden, doch vom Heiligen Land aus betrachtet, erschienen diese fernen Ereignisse in einem anderen Licht. So schrieb der britische Konsul in Palästina:

In Jerusalem sah es anders aus. Diese wichtigen Ereignisse schienen bloß Aufbauten auf dem ursprünglichen Fundament zu sein. Denn obwohl in der Diplomatie die Angelegenheit (die Orientalische Frage) nominell zu einer Frage des religiösen Schutzes geworden war … hatte sich unter uns die feste Überzeugung herausgebildet, dass der Kern des Ganzen bei uns an den heiligen Stätten zu finden sei; dass sich die Ansprüche von St. Petersburg, kraft eines Vertrags kirchlichen Schutz gewähren zu müssen, immer noch, wie ganz am Anfang, auf den tatsächlichen Besitz der Heiligtümer an der hiesigen Quelle des Christentums richteten – dass diese Heiligtümer fürwahr der Preis seien, um den gigantische Athleten in der Ferne stritten.54

* Nesselrode wurde unterstützt von Baron Meyendorff, dem russischen Botschafter in Wien, der dem Zaren am 29. November meldete, dass die »kleinen christlichen Völker« nicht an der Seite Russlands kämpfen würden. Sie hätten in der Vergangenheit nie Hilfe von Russland empfangen und seien nun in »einem Zustand militärischer Armut« und unfähig, den Türken standzuhalten (Peter von Meyendorff. Ein russischer Diplomat an den Höfen von Berlin und Wien. Politischer und privater Briefwechsel 1826–1863, hrsg. von O. Hoetzsch, 3 Bde. [Berlin und Leipzig 1923], Bd. 3, S. 103 f.).

** Ein Hinweis auf die Expeditionsstreitmacht von General Oudinot in den Jahren 1849/50, welche die antipäpstliche Römische Republik angriff und Pius XI. nach Rom zurückbrachte. Die französischen Soldaten blieben bis 1870 in Rom, um den Papst zu beschützen.

*** Während der Opiumkriege von 1839–1842.

**** Ein Hinweis auf die Don-Pacifico-Affäre.

***** In der Schlacht von Poltawa (1709) besiegte Peter der Große die Schweden und etablierte Russland als Ostseemacht.

****** Es ist eine der Ironien des Krimkriegs, dass Sidney Herbert, der britische Kriegsminister von 1852 bis 1855, ein Neffe dieses hohen russischen Generals und Anglophilen war. Dessen Vater, Graf Semjon Woronzow, wohnte 47 Jahre in London, die meiste Zeit davon nach seinem Abschied als russischer Botschafter. Semjons Tochter Catherine heiratete George Herbert, den Earl of Pembroke. Michail, der im Krieg gegen Napoleon als General diente, wurde 1823 zum Generalgouverneur von Neu-Russland berufen. Er trug erheblich zur Entwicklung von Odessa bei, wo er einen prächtigen Palast baute, förderte die Dampfschifffahrt auf dem Schwarzen Meer und kämpfte im Krieg gegen die Türken (1828/29). Der anglophilen Tradition seiner Familie folgend, errichtete Woronzow einen märchenhaften anglomaurischen Palast in Alupka an der Südküste der Krim, wo die britische Delegation 1945 während der Konferenz von Jalta untergebracht wurde.

******* Bis nach 1870 gab es keine russische Bibel, nur einen Psalter und ein Stundenbuch.