15

Tatsächlich sah er mir jetzt direkt in die Augen. Zum ersten Mal.

»Wo war ich?«, sagte er mit dünner Stimme.

Er sah sich um. Wollte aufstehen, schaffte es aber nicht. Wusste nicht, wohin mit seinen Händen. Ich nahm ihm das Tuch mit den fast geschmolzenen Eiswürfeln ab, knüllte es zusammen, ging in die Küche und warf es in den Ausguss.

»Diese Wohnung kenn ich von außen«, sagte er. »Hier bin ich gemeldet. Clarissa hat nichts dagegen, schadet ja niemandem.«

»Sie hat mir alles erzählt«, sagte ich.

»Alles?«, fragte er.

»Sie sind Schauspieler, Sie spielen, Sie verwechseln die Wirklichkeit mit ihrer Phantasie.«

»Tun Sie das nie?«, fragte er. Ich schwieg.

»Ich war verreist«, sagte er. Sein Blick war verschwommen, er breitete die Hände aus, dann ballte er sie zu Fäusten, blickte an sich hinunter wie an einem unbekannten Körper. »Wo war ich?«

»Sie waren in der Stadt, Sie waren bei der Polizei…«

»Ja«, sagte er. »Ja, ja…« Angestrengt dachte er über etwas nach. »Bei der Polizei, bei… Ihnen. Ich erkenne Sie wieder. Sie sind der Mann, der mich ausgefragt hat… im Bahnhof.«

»Woran erinnern Sie sich noch, Herr Holzapfel?«

Er presste die Knie aneinander und stemmte die Arme auf die Oberschenkel.

»Inge ist tot«, sagte er. »Sie ist gestorben.«

»Haben Sie Inge umgebracht?«

Er hob den Kopf, zupfte an Esthers blauem Rollkragenpullover.

»Ich?«, sagte er. Dann senkte er den Kopf. »Ich hab ihr Tabletten gegeben. Mit Alkohol. Ich hab ihr den Drink gegeben. Ich.«

»Warum, Herr Holzapfel?«

»Warum?« Er sprang auf. »Weil sie wegwollte. Wollt weg, deswegen! Sie hat Tabletten sowieso genommen, die Jahre… hat Tabletten gefressen…«

Mir fiel auf, in welch krassem Gegensatz seine jetzige Sprechweise zu der Art stand, wie er sich ausdrückte, als wir uns das erste Mal begegnet waren. Vor knapp einer Woche hatte er sich um korrekte Sätze bemüht, wie ein Sprecher im Rundfunk, und nun redete er schnell und unaufmerksam, als wäre ihm nicht bewusst, was er redete.

»Wann haben Sie Inge umgebracht?«, fragte ich.

»Am Sonntag«, sagte er schnell. »Am Sonntag oder am Montag.«

»Sicher?«

»Sicher, sicher! Nein!« Er hob die Hand. »Am Dienstag wars, am Dienstag!«

»Wie haben Sie sie umgebracht, Herr Holzapfel?«

»Sag ich Ihnen doch!« Er wurde immer erregter, immer nervöser. »Tabletten, Alkohol, Mischmasch, fertig!«

»Und den Mischmasch haben Sie Inge zu trinken gegeben«, sagte ich.

Da fing er an zu lachen. Er lachte laut und hektisch, sein Oberkörper bebte, er bückte sich und klopfte sich auf die Schenkel und wippte in den Knien. Es sah aus, als wäre er übermütig wie ein Kind.

»Der Mischmasch!«, rief er. »Der Mischmasch! Den hat sie getrunken, hahaha. Den hat sie getrunken!«

»Wo hat sie den Mischmasch getrunken?«, fragte ich. »In der Küche?«

»In der Küche?«, wiederholte er. »In der Küche?« Er holte Luft. Sein Lachen war verebbt. »In der Küche. Ja.«

»Und dann haben Sie die tote Inge ins Bett gelegt.«

»Ja!«, sagte er laut.

»Und dann haben Sie neben ihr geschlafen«, sagte ich.

»Nein!«, schrie er.

Mit einem Satz war er an der Balkontür und schlug mit dem Kopf dagegen. »Sie war tot! Ich schlaf nicht neben einer Toten, schlaf ich nicht!«

Wahrscheinlich sagte er die Wahrheit. Nach meinen und den Beobachtungen der Kollegen vom Hundertzwölfer gab es keine Hinweise darauf, dass eine zweite Person im Bett gelegen hatte.

Mit dem Rücken zu mir presste er die Hände gegen die Glasscheibe, und für einen Moment sah ich mich selbst so dastehen, nicht vor einem Fenster, sondern vor einer Wand, und die Wand war stärker als ich, und ich musste raus, raus aus meiner Wohnung.

»Wir gehen!«, sagte ich und stand auf.

Holzapfel fuhr herum. »Nein! Ich wohn hier, ich bleib da. Sie gehen, ich nicht.«

»Sie kommen mit!«

»Nein!«

Ich kam auf ihn zu. Er duckte sich.

»Wo ist Ihre Jacke?«, fragte ich.

»Hab keine Jacke, ohne Jacke hier!«

»Sie haben einen Anorak von Esther mitgenommen«, sagte ich.

Er wand sich an mir vorbei und ging in den Flur. An einem Haken hing der Friesennerz. Auf dem Boden stand eine schwarze Einkaufstasche. Als Holzapfel sich nach ihr bückte, rutschte ihm sein Geldbeutel aus der Hosentasche. Rasch steckte er ihn wieder ein. Der ebenso schnelle Blick, den er in meine Richtung warf, war mir nicht entgangen.

Er zog den Anorak an. »Jetzt Verhaftung?«, sagte er.

»Nein«, sagte ich. »Spaziergang.«

Er starrte mich an, wie schon oft, und ich machte die Tür auf.

»Los jetzt!«, sagte ich.

Silvia Bast ging im Flur auf und ab.

»Sie können in Ihre Wohnung zurück«, sagte ich. »Auf dem Teppich sind Flecke, die Reinigung bezahlt meine Haftpflichtversicherung. Wollen Sie gegen Herrn Holzapfel Anzeige wegen Hausfriedensbruch und Freiheitsberaubung erstatten? Und wegen Körperverletzung?«

Sie sah ihn an. »Vielleicht…«, sagte sie zögernd. »Wie macht man das?«

»Sie kommen ins Dezernat 11, dort erledigen meine Kollegen die Sache.«

»Gut«, sagte sie. »Was machen Sie mit ihm?«

»Ich nehme ihn mit«, sagte ich.

Holzapfel schaute die ganze Zeit zu Boden.

»Soll ich jemanden zu Ihnen schicken?«, sagte ich. »Meine Kollegen können Sie abholen.«

»Nein«, sagte sie. Noch einmal musterte sie Holzapfel.

»Er… er hat mir eigentlich nichts getan, nur eingesperrt hat er mich. Warum? Warum haben Sie das gemacht?« Holzapfel sah sie nicht an.

»Er ist krank«, sagte ich.

»Ich bin nicht krank!«, schrie er. Erschrocken wich Silvia zurück.

»Ich melde mich später bei Ihnen«, sagte ich.

»Sie müssen mir ziemlich viel erklären«, sagte sie.

»Ich weiß nicht, ob ich das kann.«

»Versuchen müssen Sie es.«

»Ja«, sagte ich.

Ich schob Holzapfel durch die geöffnete Tür.

Bevor wir im Erdgeschoß in die Durchgangshalle neben dem Kaufhaus traten, hielt ich ihn am Arm fest.

»Sie sind krank«, sagte ich. »Und ich bringe Sie zu einem Arzt. Und danach gehen wir ins Dezernat, dort werden Sie schon erwartet.«

»Von wem?«, fragte er.

»Und unterwegs sprechen Sie mit mir, einverstanden?«

»Ich will nicht gehen, meine Füße tun mir weh, kaputt sind die.«

»Wir gehen nicht«, sagte ich. »Wir fahren.«

Eine Viertelstunde später saßen wir in der Linie 19 und fuhren durch die Innenstadt.

In seinem Friesennerz, mit der schwarzen Tasche auf den Knien, den Kopf ans Fenster gelehnt, bot Jeremias Holzapfel alles andere als den lustigen Anblick, den Esther vermutet hatte.

Außerhalb seiner inneren Welt existierte noch immer wenig. Auch wenn ich den Eindruck hatte, dass seine Erinnerung zurückkehrte und er langsam wieder fähig war, die Dinge zu ordnen. Gleichzeitig aber schien er weiter ein Gefangener jener Welt zu bleiben, die er selbst erschaffen hatte, die er beschwor, als fürchte er unbewusst, für immer aus seinem Zimmerland verjagt worden zu sein.

Während wir über die Maximiliansbrücke fuhren, holte er aus der schwarzen Tasche einen Sixpack Bier, riss eine Dose aus der Verpackung und steckte die anderen wieder in die Tasche. Mir bot er nichts an.

Jeremias Holzapfel trank Bier und schaute aus dem Fenster.

Wir schwiegen. Eng aneinander gedrückt saßen wir auf den schmalen Sitzen und dennoch jeder für sich. Ich hatte keinen Plan. Ich hatte gedacht, dass er in der Straßenbahn vielleicht eine Ruhe empfand wie sonst kaum an einem Ort. Und dass er mir hier die Wahrheit darüber sagen würde, was am vergangenen Dienstag, dem einunddreißigsten August, in der Wohnung in der Wörthstraße wirklich geschehen war.

Ohne einen Blick durch das gegenüberliegende Fenster der Tram zu werfen, wo er das Haus, in dem Inge Hrubesch gestorben war, hätte sehen können, trank er gierig die Dose leer, verstaute sie in der Tasche und öffnete eine neue.

Die ganze Zeit sagten wir kein Wort. Wir kamen am Ostbahnhof vorüber, mussten am Orleansplatz wegen Bauarbeiten warten, bogen nach Berg am Laim ab und wendeten an der St.-Veit-Straße, um die kilometerlange Strecke in entgegengesetzter Richtung zurückzufahren.

An einer Straßenecke in Haidhausen sagte Holzapfel plötzlich: »Da, in dem Haus da, da drüben, da war früher ein Kino. Da war ich.« Er wischte mit dem Ärmel über die Scheibe. »Die meisten Kinos sind weg heut, weg sind die, weg.«

»Welchen Film haben Sie in dem Kino gesehen?«, fragte ich.

Er antwortete nicht.

»Der erste Film, den ich als Kind gesehen habe«, sagte ich, »hieß ›Sinuhe, der Ägypter‹.«

»Den kenn ich!«, sagte Holzapfel und fuhr herum. »Hab ich auch gesehen, ich auch, als Jugendlicher aber, als Jugendlicher.« Nickend trank er, und das Bier tropfte ihm aus dem Mund.

»Wie alt sind Sie?«, fragte er und sah an mir vorbei.

»Vierundvierzig.«

»Ich einundfünfzig«, sagte er so laut, dass die Frau vor uns sich umdrehte.

»Grüß Gott«, sagte ich zu ihr.

»Grüß Gott«, sagte Holzapfel ebenfalls, ohne sie anzuschauen.

Die Frau wandte sich wieder nach vorn.

Holzapfel neigte den Kopf zu mir. »Sie?«, flüsterte er.

»Ja«, flüsterte ich.

»Haben Sie geweint im Kino damals? Damals im Kino?« Sein Mund war nah an meinem Ohr. Als ich den Kopf drehte, roch ich seinen Bieratem und ich wünschte, er würde mir auch eine Dose anbieten.

»Nein«, sagte ich. »Ich war glücklich, dass mein Vater neben mir saß.«

»Das versteh ich«, sagte Holzapfel und sah wieder aus dem Fenster. »Das versteh ich doch.«

Nach einer Weile fuhr er wie zuvor herum: »Früher«, sagte er. »Früher, nachts, in der Nacht, wenn ich Angst hatte, als Kind, kleiner Junge, wenn es schlimm war, Mutter laut, Vater laut, schlimm schlimm, da hab ich mir vorgestellt, ich bin Schauspieler. Bettschauspieler. Bin Schauspieler und muss das jetzt spielen, das alles, schlimme Rolle spielen, ist eine Rolle, ist nur die Rolle, die man spielen muss. Mutter gemein, Vater unberechenbar, alles Rollen, Charakterstudien, ein Drama, ich der Sohn. Hans Ichtersohn, so war mein Rollenname, ganz klar, so kam ich durch, durch die Nacht und durch die nächste Nacht. Und im nächsten Film wirds besser dann, wirds besser, sicher. Es ist nicht von Vorteil, immer dieselben Rollen zu spielen. Das hat geholfen. Das hilft.«

Mit einem Ruck wandte er sich ab.

»Es hat sich nichts geändert«, sagte ich.

Er trank. Er stöhnte.

Wie in einem rückwärts, in derselben Geschwindigkeit laufenden Film passierten wir erneut den Hauptbahnhof, kamen am Dezernat 11 vorüber und folgten der Bayerstraße, bis wir irgendwann in Pasing sein würden. Wie Statisten saßen wir da, oder Touristendarsteller, und es gab niemand, der uns Anweisungen gab oder uns entließ. Ich sagte: »Wollten Sie nie etwas anderes machen? Mit der Schauspielerei aufhören?«

»Hab ich doch!«, rief er. »Hab ich! Hab ich!« Er bemerkte, dass die Frau vor uns, eine andere als vorher, dabei war sich zu uns umzuschauen, und sagte mit gedämpfter Stimme: »Aber ändern klappt nicht. Man kommt nicht raus, man bleibt immer gleich. Ganz gleich.«

»Kennen Sie die Geschichte von den Affen auf den japanischen Inseln?«, fragte ich.

Er fing an zu kichern. Zwischendurch trank er, dann kicherte er weiter. Sein Oberkörper schüttelte sich, er wippte mit den Knien, die Tasche auf seinen Beinen hüpfte, es sah aus, als würde er sich gleich in ein Kind verwandeln, das vor Freude in die Hände klatscht.

»Was ist?«, fragte ich.

»Affen«, gluckste er, »Affen kenn ich, kenn ich genau, kenn ich! War doch selber einer. Haben Sie mich nicht gesehen? Was versäumt!«

Er hob die Dose an die Lippen und setzte nicht ab, bis er sie leer getrunken hatte. Er ließ sie in die Tasche fallen, griff hinein und holte eine weitere Dose heraus.

»Krieg ich auch eine?«, fragte ich.

»Selbstverständlich, mein Herr!«, sagte er und hielt mir die Dose hin. Dann nahm er sich eine neue, und wir tranken gleichzeitig.

»Gerade Verzicht auf jeden Eigensinn war das oberste Gebot, das ich mir auferlegt hatte«, sagte er. »Ich, freier Affe, fügte mich diesem Joch. Dadurch verschlossen sich mir aber ihrerseits die Erinnerungen immer mehr.« Er spielte mit der Dose in seinen Händen, drehte sie, hob sie hoch, klopfte damit ans Fenster. »Mit Freiheit«, sagte er und schob den Unterkiefer vor, zog die Stirn in Falten, blickte verdrossen drein. »Mit Freiheit, mit Freiheit betrügt man sich unter Menschen allzu oft. Und so wie die Freiheit zu den erhabensten Gefühlen zählt, so auch die entsprechende Täuschung zu den erhabensten…« Er holte Luft, warf den Kopf hin und her, keuchte. »Ich habe mich… ich habe mich in die Büsche geschlagen… Ich hatte keinen anderen Weg… keinen anderen Weg, immer vorausgesetzt, dass nicht die Freiheit zu wählen war…«

Was er da sagte, was er deklamierte, war aus einer Geschichte, die ich vor langer Zeit gelesen hatte, und ich erinnerte mich, dass es immer wieder Schauspieler gegeben hatte, die den Text für die Bühne bearbeitet hatten.

»Wo haben Sie das gespielt?«, fragte ich.

Und er kicherte wieder. »Wo? Überall! Immer doch! Doch überall doch immer überall! Das ist doch logisch. Überblicke ich meine Entwicklung und ihr bisheriges Ziel, so klage ich weder, noch bin ich zufrieden.«

»Ja«, sagte ich.

Er verfiel in ein Schweigen, das von einem Rasseln aus seiner Brust begleitet wurde.

»Meine Affengeschichte geht anders«, sagte ich. Er reagierte nicht.

»Wissenschaftler«, sagte ich, das Gesicht ihm zugewandt, während er aus dem Fenster sah, »haben jahrelang Affenkolonien auf den japanischen Inseln beobachtet. Und dann legte einer der Wissenschaftler eines Tages Süßkartoffeln an den Strand. Und tatsächlich holte sich ein Affe eine Kartoffel und aß sie. Dann kam ein ganz junger Affe daher, nahm eine der Kartoffeln, die dort lagen, und wusch sie im Meer.«

Holzapfel hob den Kopf.

»Er wusch sie, weil sie ihm dann wahrscheinlich besser schmeckte. Außerdem wurde sie bei der Gelegenheit gesalzen.«

»Das stimmt!«, sagte Holzapfel. »Das stimmt aber!«

»Ja«, sagte ich. »Und nach und nach wuschen immer mehr Affen ihre Kartoffeln, bis sie es schließlich alle taten. Alle Affen wuschen ihre Kartoffeln.«

»Hihi«, machte Holzapfel.

»Aber das Unglaubliche war, so behaupten Wissenschaftler, dass auch auf den anderen Inseln die Affen anfingen, ihre Kartoffeln vor dem Fressen im Meer zu waschen. Obwohl diese Inseln nicht miteinander verbunden sind!«

Holzapfel leckte sich die Lippen und legte die Dose an sein Ohr, als lausche er einem Klang.

»Und seither fressen alle Affen auf den japanischen Inseln gewaschene Kartoffeln. Den einen Affen aber, den jungen, mit dem alles begonnen hat, den nannte einer der Forscher den ›hundertsten Affen‹, seiner Meinung nach war dieses Tier der Beginn einer elementaren Veränderung. Wenn wir also aufhören, meinte dieser Wissenschaftler, an den ›hundertsten Affen‹ zu glauben, geben wir die Hoffnung auf, dass sich jemals was ändern kann mit uns.«

Ruckartig stand er auf.

»Ich muss sofort aussteigen! Sofort!«, rief er.

Also stiegen wir in der Nähe der Friedenheimer Brücke aus der Straßenbahn.

Holzapfel, die Tasche unter den Arm geklemmt, fing an im Kreis zu laufen, er ging um ein Wartehäuschen herum, erst in die eine Richtung, dann in die andere, stierte vor sich hin und achtete auf niemanden.

Dann blieb er genau vor mir stehen und sah mir in die Augen.

»Hoch lebe die Wissenschaft!«, sagte er ernst. »Aber wird mich das retten? Ich hab keine Freiheit mehr, die ist verbraucht. Ich beklag mich doch nicht, nein.«

»Nein«, sagte ich. Und da er so nah vor mir stand und offensichtlich in der Lage war, mich wahrzunehmen, sagte ich: »Ich glaube nicht, dass Sie Ihre Freundin Inge mit Tabletten und Alkohol vergiftet haben. Ich glaube es nicht. Ich glaube, Inge war schon tot, als Sie in die Wohnung kamen, und von da an kam Ihnen die Wirklichkeit abhanden.«

Er sagte nichts.

Eine Straßenbahn hielt. Leute drängten sich an uns vorbei. Ich bemerkte, wie der Fahrer den Mann in dem gelben Anorak lange betrachtete. Dann holte er ein Mobiltelefon heraus und tippte eine Nummer.

Wenn ich noch etwas erfahren wollte, musste ich mich beeilen.

»Können Sie mir bitte Geld für Zigaretten leihen?«, sagte ich.

Er war verwirrt.

»Bitte«, sagte ich. »Ich hab kein Geld dabei. Ich muss aber jetzt rauchen.«

Zögernd griff er nach dem Geldbeutel in seiner Hosentasche. Und gerade, als er das Portmonee öffnen wollte, riss ich es ihm aus der Hand. In einem Seitenfach steckte ein klein zusammengefaltetes Blatt, das ich herausnahm.

»Entschuldigung«, sagte ich und gab ihm den Geldbeutel zurück. Er nahm ihn, hatte aber nur Blicke für das Blatt in meiner Hand. Ich faltete es auseinander. Es war ein Brief, handgeschrieben, die Anrede lautete: »Mein liebster Jeremias, mein einziger Freund!«

»Ich habe den Moment abgepasst, wenn du nicht da bist. Ich bitte dich um Verzeihung, und du musst wissen, dass du nicht Schuld bist an dem, was ich tue und was ich auch tun muss, weil ich mir sonst nicht mehr in die Augen schauen kann und dir erst recht nicht. Ich habe festgestellt, ich will nicht mehr leben. Ich bin eine alte Frau. Mit dem, was ich mache, um Geld zu verdienen, bin ich mit achtundfünfzig eine alte Frau, und ich sehe auch so aus. Du warst gut zu mir und bei dir habe ich manchmal sogar vergessen, wie alt ich bin. Das war das Glück in meinem Leben, dieses Glück kann aber nicht andauern, weil ich das nicht will, es wird dann ein abgestandenes Glück, und das ist fürchterlich. Lieber Jeremias, als ich dich kennen gelernt habe, warst du ein komischer Schauspieler, und je länger ich dich kannte, desto mehr bist du ein Mensch geworden, der normal ist. Ich habe das beobachtet, und das hat mir gefallen. Bei diesen Fotosachen, die ich gemacht habe, habe ich zu viel Schlechtes und Widerliches erlebt, das möchte ich nicht mehr. Aber was anderes als das, was ich gemacht habe all die Jahre, kann ich nicht. Ich bin eine ungelernte Frau, alles, was ich konnte, war mich fotografieren lassen und mich ausziehen. Ist das nicht erbärmlich? Warum bist du so lange bei mir geblieben? Immer wieder wollte ich dich wegschicken, aber du bist immer wiedergekommen wie eine Katze. Jetzt geht alles nicht mehr. Ich ekele mich so, dass ich mich nicht einmal betrinken kann, und die Tabletten helfen auch nicht mehr. Nichts hilft mir mehr, nicht einmal du. Du musst mir verzeihen, wenn du kannst. In der Schatulle sind 3000 Euro, die nimm für die Beerdigung und für alles, was du brauchst. In der grünen Schublade unter meinem Schreibtisch liegt noch alte Währung. Alles, was in der Wohnung ist, gehört dir, aber du musst nichts davon aufbewahren, das ist alles überhaupt nichts wert, an allem klebt mein schlechtes Leben. Und jetzt, mein Liebster, küsse ich dich. Und eine Bitte habe ich: Vergrab dich nicht wieder so wie früher, geh ins Leben wie man an die frische Luft geht, geh raus, spiel auf der Bühne und sonst nirgends! Du bist ein freier Mensch, was ich nie gewesen bin. Deine Inge PS: Kannst du dafür sorgen, dass ich im Grab meine Perücke aufhaben darf? Danke.«

Er litt, sagte Professor Werner Rosacher, an einer vorübergehenden psychogenen Amnesie, ausgelöst durch den Schock beim Anblick seiner toten Lebensgefährtin. Da er bereits von Jugend an die Tendenz gehabt hatte, Ereignisse und Wirklichkeit zu verdrängen, was schließlich dazu geführt hatte, dass er sich ein Weiterleben nur noch als Schauspieler auf einer imaginierten Bühne vorstellen konnte, bedeutete der Tod von Inge Hrubesch für ihn eine existentielle Katastrophe. Zumal, wie der Professor erklärte, Holzapfel seit ungefähr zwei Jahren in der Lage gewesen war, seine alte Maske abzulegen und dank der Unterstützung von Inge Hrubesch ein ungekünsteltes selbstbewusstes Leben zu führen. Dass seine Ehefrau ihn vor vier Jahren und sechs Monaten als vermisst gemeldet habe, war reine Einbildung gewesen, auch wenn er damals tatsächlich nach Salzburg gefahren war, offenbar in der irrigen Vorstellung, ein Engagement bei den Festspielen zu haben.

»Und wie wird er in Zukunft leben?«, fragte ich.

»Wir werden ihn beobachten«, sagte der Professor.

Nach einer kurzen Vernehmung Holzapfels durch meine Kollegen Stern, Braga und Gerke kopierte ich den Abschiedsbrief für die Akten.

»Der gehört Ihnen«, sagte ich.

Holzapfel legte das auf beiden Seiten beschriebene Blatt auf den Tisch und griff in seine Hosentasche.

»Und der gehört Ihnen«, sagte er.

Ich nahm den kleinen Zettel. Mein Name stand darauf. Es war der Zettel, den ich durch die Tür im Hochhaus geschoben hatte.

Als ich das Büro verließ, um einige Minuten allein in dem kleinen Vernehmungsraum im dritten Stock zu verbringen, rief Rolf Stern mich ans Telefon.

»Für dich«, sagte er und hielt mir den Hörer hin.

»Tabor Süden.«

»Hier ist Clarissa Holzapfel, ich möchte mich für die Ohrfeige entschuldigen, die ich Ihnen gegeben habe.«

Ich sagte: »Das ist nicht nötig.«

Das Gedicht von den »laubigen Laubfröschen« im 4. Kapitel schrieb Jan Skácel.

Der Affentext, den Holzapfel im 15. Kapitel zitiert, stammt aus der Erzählung »Bericht für eine Akademie« von Franz Kafka.

Friedrich Ani