12

Ausgerechnet die beiden Oberkommissare Braga und Gerke begleiteten Franziska Hrubesch durch die trostlosen Gänge des Instituts für Rechtsmedizin in der Frauenlobstraße. Die beiden fast zwei Meter großen Männer folgten der kleinen alten Frau in einigen Metern Abstand, Braga, im ovalen Gesicht ein verzerrtes Grinsen, das er sich selbst nicht erklären konnte, daneben sein Freund, dessen akurat an beiden Enden nach oben gezwirbelter Schnurrbart eine Art Kunstwerk bildete, mit dem er schon an Wettbewerben teilgenommen hatte.

Seit mehr als einer Stunde wartete ich auf einer Holzbank, die eher einer Pritsche glich. Als ich die drei kommen sah, hielt ich ihnen die Tür auf. Ohne zu grüßen ging die alte Frau an mir vorbei durch den Vorraum und öffnete die Eingangstür.

»Servus!«, sagte Braga zu mir.

»Servus!«, sagte Gerke.

»Servus!«, sagte ich.

Als wir uns die Hände schüttelten, fiel die Eingangstür zu. Franziska Hrubesch war draußen.

»Wie hat sie reagiert?«, fragte ich.

»Gar nicht«, sagte Gerke. »Sie ist bloß dagestanden, hat sie angeschaut.«

»Sie hat auch nichts gefragt«, sagte Braga, ein ausgezeichneter Scorer, wie mir ein jüngerer Kollege einmal erzählt hatte. Leider hatte ich vergessen zu fragen, was ein Scorer genau tat außer mit einem Basketball zu hantieren.

»Was weiß sie?«, fragte ich.

»Dass ihre Tochter an einem Mix aus Alkohol und Tabletten starb«, sagte Gerke.

Wir gingen die Stufen zum Vorplatz hinunter, wo plötzlich die Sonne schien. Frau Hrubesch stand an der Einfahrt, zur Straße gewandt.

»Habt ihr nicht mit ihr gesprochen?«, fragte ich.

»Logisch«, sagte Braga. Wie sein Kollege trug er weiße Turnschuhe, die unwirklich groß und sauber wirkten.

»Wir haben sie vom Zug abgeholt, wir wollten sie zum Kaffee einladen, aber sie wollte nicht. Sie wollte gleich hierher. Auch Dr. Ekhorn hat mit ihr gesprochen, sie hat ihm bloß zugehört. Er hat sie gefragt, ob sie sich vorstellen könne, dass ihre Tochter Selbstmord begangen hat. Sie zuckte bloß mit der Schulter. Und dann hat sie sie angestarrt, mindestens eine halbe Stunde, im Stehen. Dann setzte sie sich auf den Stuhl, den Dr. Ekhorn für sie hingestellt hatte, und starrte ihre Tochter weiter an. Nochmal eine halbe Stunde.«

»Mindestens«, sagte Gerke.

»Mindestens«, sagte Braga.

Soweit ich wusste, spielten sie nicht im selben Team Basketball, und so unzertrennlich sie auch in der Mordkommission zusammenarbeiteten, in ihrer Freizeit ging jeder seiner Wege, außer sie spielten gegeneinander. Als Kollegen in einer Sonderkommission waren sie unschlagbar.

Wir verabschiedeten uns.

»Servus!«, sagte ich.

»Servus!«, sagte Gerke.

»Servus!«, sagte Braga.

Sie stiegen in ihren weißen Dienstopel, und ich ging zu Frau Hrubesch.

»Mein Name ist Tabor Süden«, sagte ich.

Sie hob den Kopf. Sie hatte helle blaue Augen und ein eingefallenes Gesicht. Wie viele alte Frauen trug sie einen grauen Mantel, braune Schuhe und einen grauen Hut. Sie hatte eine dunkle Handtasche bei sich, die sie mehrmals von einer Hand in die andere nahm. Offenbar benutzte sie sie nicht oft.

»Ich möchte mich gern mit Ihnen unterhalten«, sagte ich.

»Gut«, sagte sie.

Unschlüssig hielt ich nach einem Lokal Ausschau.

»Haben Sie Hunger, Frau Hrubesch?«

Erst reagierte sie nicht, dann trat sie einen halben Schritt näher.

»Glauben Sie, ich kann einen Wunsch äußern?«, sagte sie ein wenig gestelzt. Normalerweise, das war nicht zu überhören, sprach sie Dialekt. In meiner Gegenwart aber bemühte sie sich ihn zu unterdrücken.

»Natürlich«, sagte ich. »Wünschen Sie!«

»Ich… tät gern ins ›Weiße Bräuhaus‹ gehen, kennen Sie das?« Sie hatte tatsächlich die Stimme gesenkt.

»Ich kenne es«, sagte ich.

Kein einziges Taxi fuhr vorüber. Wir würden bis zur nächsten großen Kreuzung gehen müssen.

»Sie fragen mich gar nicht, warum ich da hinwill«, sagte Franziska Hrubesch, während wir uns auf den Weg machten. Sie hatte einen zügigen Schritt.

»Ich frage Sie, wenn wir dort sind.«

»Sie reden nicht gern, gell?«

»Nein«, sagte ich.

»Das ist ein Segen«, sagte sie.

In der Gaststätte nahe dem Marienplatz waren alle Tische besetzt, zumindest im vorderen Teil. Durch die unendliche Güte einer Bedienung, die uns zunächst in den ersten Stock schicken wollte, was Frau Hrubesch mit einem ebenso energischen wie kuriosen »Überhaupt nicht!« ablehnte, bekamen wir zwei Plätze im hinteren Raum, in dem die Tische gedeckt waren.

Frau Hrubesch bestellte ein kleines Bier, ich ein großes Wasser.

Obwohl auf der Speisenkarte ungefähr hundert Gerichte aufgeführt waren und die alte Frau auch einen Blick hineinwarf, zögerte sie keinen Moment, als die Bedienung die Bestellung aufnahm.

»Einen Schweinsbraten und eine Portion Blaukraut extra«, sagte sie.

»Da ist Speckkrautsalat dabei«, sagte die Bedienung.

»Das weiß ich«, sagte Frau Hrubesch. »Und eine Portion Blaukraut extra.«

»Für mich auch einen Schweinsbraten«, sagte ich. »Und einen gemischten Salat extra.«

»Ist recht.«

Nachdem die Bedienung gegangen war, sah Frau Hrubesch sich um.

»Sieht schön aus. Seit dem Umbau war ich nicht mehr hier. Davor auch lang nicht, ganz lang.«

Sie verstummte, schob ihr Besteck, um das eine Papierserviette gewickelt war, hin und her, legte die Hände übereinander, sah mich an. Sie trug eine graue Bluse und einen dunkelgrauen Rock. Das schöne Blau ihrer Augen war die einzige Farbe an ihr.

Sie senkte den Kopf, wenn sie trank, und noch bevor das Essen kam, war ihr kleines Bierglas leer.

»Woher kennen Sie das Lokal?«, fragte ich. Meinen karierten Block hatte ich in der Tasche gelassen, ich hoffte, sie würde sich einfach mit mir unterhalten und vergessen, dass ich Polizist war.

»Nach dem Krieg hab ich hier gearbeitet«, sagte sie. »Ich hab zwei Menschen ernähren müssen.«

Sie schwieg.

Wir saßen uns gegenüber. Manchmal glaubte ich ein graues Lächeln um ihren Mund zu erkennen. Dann nickte ich ihr freundlich zu.

Die Bedienung brachte den Braten und den Salat.

»Guten Appetit«, sagte ich.

»Ihnen auch«, sagte Frau Hrubesch.

Sie aß langsam und genussvoll und sprach kein Wort. Ich war mir nicht sicher, ob es klüger wäre etwas zu sagen. Aber dann schwieg ich wie sie, kaute die Kruste, salzte und pfefferte meinen Salat, und je länger wir aßen, desto einfacher schien es, dazusitzen unter Leuten, in einem Gasthaus mitten am Tag, in Gedanken an einen Menschen, der tot war und der, so dachte ich auf einmal, der alten Frau nicht weniger fern stand als mir.

Ab und zu warf sie mir einen Blick zu, über ihre Hände hinweg, und dann vertiefte sie sich wieder in ihre Mahlzeit und hörte nicht eher auf zu essen, bis außer einem Streifen Fett nichts mehr auf ihrem Teller lag. Zum Schluss aß sie den Rest Blaukraut, wischte sich mit der Papierserviette den Mund ab, atmete tief, legte die Hände neben den großen Teller und sah mir ins Gesicht.

Auch ich hatte alles aufgegessen.

In den vergangenen fünfzehn Minuten hatten wir kein Wort gewechselt.

»Hats geschmeckt?«, fragte die Bedienung.

»Ja«, sagte ich. »Noch ein kleines und ein großes Bier bitte.«

Frau Hrubesch schaute mir noch immer ins Gesicht.

»Ihre Tochter«, sagte ich, denn jetzt war die Zeit zu sprechen. »Was war sie für ein Mensch?«

Es schien mir, als warte sie, bis die Bedienung das Bier brachte.

»Zum Wohl!«, sagte Frau Hrubesch.

»Auf Ihre Gesundheit!«, sagte ich. Wir tranken.

»Meine Tochter«, sagte Frau Hrubesch und strich mit der flachen Hand Brösel von der Tischdecke. »Meine Tochter… Stimmt schon, irgendwie war sie meine Tochter…«

»Ich hab sie halt großgezogen«, sagte Franziska Hrubesch mit leiser, fester Stimme. »Da hat keiner gefragt. Sie war zwei, als der Krieg aus war, ich hab geholfen, den Schutt wegzuräumen, wie alle Frauen, und da war sie halt immer dabei, die kleine Inge. Ihre Mama war da schon nicht mehr, die hat es nicht mehr in den Bunker geschafft, ich hab ihr gesagt, sie soll das lassen mit dem Brotholen, sie wollte unbedingt beim Erlinger noch ein Brot holen, weil es grad eins gab, so was Dummes. Ich hab gesagt, ich nehm das Ingelein mit, und dann hockten wir da unten, lauter Frauen und eine Handvoll Kinder, und die Paula ist nicht mehr gekommen, die Paula war draußen. Und das Ingelein hat genau gewusst, was da passiert, das hat die gewusst, die Kinder haben es immer als Erste gewusst, denen konnte man nichts vormachen, die haben das gespürt, die haben die Luft zittern sehen…«

Sie sah mich an. »Nicht?«, sagte sie. »Nicht?« Ich nickte.

»Hand in Hand sind wir am nächsten Tag raus aus dem Bunker, noch mehr Schutt, noch mehr Feuer, noch mehr Elend, es war halt Krieg. Gehen wir die Mama suchen, hat sie gesagt, gehen wir die Mama suchen! Natürlich. Sind wir die Mama suchen gegangen. Was sonst? Haben sie aber nicht gefunden. Wir haben Leute gefragt. Sogar der Erlinger hat seinen Laden aufgesperrt, so war der. Der hat Nerven gehabt, der hat einfach seinen Laden gleich wieder aufgesperrt.«

Sie trank. »Nicht? Nicht?«

Wir tranken beide viel schneller, als wir gegessen hatten.

»Und so blieb das Ingelein bei mir. Den Rest vom Krieg und die ganze Zeit später. Sie hat gewusst, dass ich nicht ihre Mama war, und ich habs gewusst, aber wir haben es verschwiegen. Was sollen die Leute groß reden? Ich hab gesagt, ich hab die Papiere verloren, da hab ich neue gekriegt. Nagelneue Papiere, und für die Inge gleich welche mit. Jetzt waren wir Mutter und Tochter. Vater gabs keinen. Der ist im Krieg geblieben. Inges Vater war an der Front. Ich weiß nicht, was passiert wär, wenn er zurückgekommen wär. Paula hatte schon ein Jahr lang nichts von ihm gehört gehabt. Er war praktisch verschollen. Er war halt tot, und sie wollten es der jungen Mutter nicht sagen.« Ich winkte der Bedienung und zeigte auf unsere Gläser. Um uns verließen die Gäste das Lokal, einmal kam der Wirt vorbei und fragte, ob es uns geschmeckt habe, und wir sagten beide Ja.

»Und dann sind Sie aufs Land gezogen«, sagte ich.

»Nein«, sagte Franziska Hrubesch. »Ich bin erst aufs Land gezogen, als die Inge angefangen hat sich fotografieren zu lassen. Da war sie Anfang zwanzig. Sie hat diese Musik gehört und war dauernd beim Tanzen, und ich bin immer gestorben vor Angst. Das wollt ich nicht länger aushalten müssen. Ich hab sie gebeten anzurufen von unterwegs, wir hatten ja schon Telefon im Haus, aber das hat sie nicht getan. Sie wollte raus, wir hatten da eine kleine Wohnung in der Nähe vom Hirschgarten, Wendl-Diedrich-Straße, sie wollte immer dort weg, dahin, wo was los war, nach Schwabing natürlich, in die Türkenstraße, auf die Leopoldstraße.«

Sie sah an mir vorbei. »Nicht? Nicht?«

Dann glitt ein Schatten über ihr Gesicht. »Ich hab mich für sie nicht mehr verantwortlich gefühlt. Klingt das schlecht für mich? Ich hab gedacht, sie ist jetzt erwachsen, ich hab bloß auf sie aufgepasst all die Jahre, ich hab nur geschaut, dass sie wächst und satt wird und zur Schule geht und was lernt, und ich hab als Köchin gearbeitet, ich hab ganz gut verdient. Hier zum Beispiel.«

»Danke«, sagte ich zur Bedienung, die die Gläser hinstellte.

»Klingt das negativ, wenn ich sag, ich hab mich nicht mehr verantwortlich gefühlt?«

Sie sah mich ernst an. »Entschuldigen Sie«, sagte sie.

»Jetzt weiß ich Ihren Namen nicht mehr.«

»Süden«, sagte ich. »Das klingt nicht negativ. Nein.«

»Haben Sie Kinder?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Weiß ich nicht.«

Sie hob ihr Glas. Wir stießen an, behutsam, als fürchteten wir, die Gläser könnten zerspringen.

»Ich hatte eine Bekannte«, sagte Frau Hrubesch, »eine Kollegin, die hat in Burghausen gewohnt, die hab ich mal besucht. Mir hats da gefallen, es ist eine große Stadt, die Burg, der Fluss, man ist schnell in Österreich. Ich war genau zweimal drüben, aber ich könnt jederzeit hin, wenn ich will. Ist schon in Ordnung dort.«

»Inge wollte nicht mitkommen«, sagte ich.

»Um Gottes willen! Sie war froh, als ich weg war. Nein.

Ich weiß nicht. Vielleicht… vielleicht… Ich glaub, sie hat sich auch nicht mehr verantwortlich für mich gefühlt, sie hat ihr eigenes Leben gehabt, und ich war eine fremde Frau für sie ein Leben lang. Wir haben uns… wir haben zusammen gewohnt, ich hab gesorgt für sie, und sie hat im Haushalt mitgeholfen, das hat sie getan. Da kann ich nichts sagen, am Wochenende, wenn keine Schule war, hat sie geputzt und sogar versucht zu kochen, auch wenn das nicht grad ihre Stärke war. Sie gehörte eher zu den Leuten, die sogar heißes Wasser anbrennen lassen, das macht aber nichts.«

Sie schwieg eine Weile.

»Nein«, sagte ich dann. »Das macht nichts.«

»In den letzten Jahren haben wir keinen Kontakt mehr gehabt, ich hab ihr zum Geburtstag geschrieben, und sie hat sich manchmal am Telefon dafür bedankt. Geschrieben hat sie mir nicht mehr, auch nicht zum Geburtstag, sie hat ihn wahrscheinlich vergessen gehabt. Und in meinem Alter. Es gibt immer noch genug Leute, die einen daran erinnern, wie alt man ist. Ich bin zweiundachtzig, nächsten Monat werd ich dreiundachtzig.«

Wir tranken.

Außer uns waren nur noch zwei junge Asiaten im Raum, die sich unbändig über ihre Schweinshaxe zu freuen schienen.

»Wussten Sie, dass Ihre Tochter Tabletten genommen hat?«, fragte ich.

»Nein«, sagte sie. »Aber sie hat schon früher Pillen geschluckt, ich hab sie auch gefragt, aber sie hat mir keine Antwort gegeben. Wahrscheinlich Drogen, ihre Freunde haben alle Drogen genommen, über die stand manchmal was in der Zeitung, einmal war auch das Ingelein abgebildet, da bin ich erschrocken. Ich hab sie zur Rede gestellt, sie hat gesagt, sie ist da nur aus Versehen drauf, sie kennt die Leute gar nicht. Im Schwindeln war sie nie besonders gut. Ich weiß gar nichts über sie. Ich hab sie da liegen sehen, unter dem Tuch, ich hab sie angeschaut und angeschaut und gedacht, ich muss doch jetzt was fühlen, das ist doch praktisch meine Tochter, die da tot liegt. Aber ich hab gar nichts gespürt in meinem Herz, es hat geschlagen wie immer, ich bin dagesessen auf dem Stuhl und hab das Ingelein daliegen sehen. Und die Zeit ist vergangen.«

Sie schwieg wieder. Im Hintergrund kicherten die beiden Asiaten.

»Hat sie sich umgebracht?«, fragte Franziska Hrubesch. Und ihre Stimme war so klar wie ihr Blick.

»Das wissen wir noch nicht«, sagte ich. »Ihr Freund ist verschwunden.«

»Wenigstens hatte sie einen Freund«, sagte die alte Frau.

Ich überlegte einen Moment. »Sie haben nicht geheiratet?«, fragte ich.

»Nein«, sagte sie. »Ich hab nicht geheiratet.«

»Aber doch nicht wegen Inge«, sagte ich.

»Nein«, sagte sie. »Mir hat keiner gepasst.«

Als wäre damit alles gesagt, verschränkte sie die Arme und schloss für einen Moment die Augen.

»Darf ich schnell telefonieren gehen?«, fragte ich.

Sie öffnete die Augen. »Haben Sie kein Handy?«

»Nein.«

Auf dem breiten Bürgersteig vor dem Gasthaus standen mehrere Telefonzellen. Ich rief Rolf Stern an, um ihm kurz von Franziska Hrubesch zu berichten und zu fragen, ob Holzapfel aufgetaucht sei.

Als ich zum Tisch zurückkam, begriff ich sofort, dass ich der alten Frau nichts vormachen konnte. Dass es sogar lächerlich war zu denken, ich müsste ihr etwas vormachen.

»Was ist passiert?«, sagte sie und sah mir wieder mit ihren blauen Augen ins Gesicht. Vielleicht kamen sie mir auch nur so blau vor, weil sie so leuchteten.

Das war ein irrer Moment. Die ganze Zeit, mehr als zwei Stunden lang, hatte ich dieser Frau zugehört, wie sie ihre Geschichte vor mir ausbreitete, ruhig und gefasst und voller Anmut in all dem Schmerz. Ich, ein Fremder, war ihr Zuhörer, und sie erlaubte es sich nicht überschwängliche Gefühle preiszugeben. Und nun, kaum dass ich mich wieder hingesetzt und das erste Wort gesprochen hatte, bekam ich keine Luft mehr. Und ich öffnete den Mund, als wollte ich schreien. Ich schaffte es nicht, der alten Frau diesen Anblick zu ersparen. Ich schaffte es nicht. Schaffte es nicht, nicht mit größter Anstrengung. Ich brachte meinen Mund nicht mehr zu.

Warum hatte ich mir keine Zeit gelassen? Warum war ich wie hypnotisiert ins Restaurant zurückgelaufen, als fände ich dort Erleichterung? Warum tat ich dieser alten Frau das an, die sich heute für immer von dem Menschen verabschiedet hatte, der ihr, aller inneren und äußeren Entfernung zum Trotz, am nächsten stand?

Warum gelang es mir nicht, bloß Polizist zu bleiben?

»Die Frau eines Kollegen ist heute Mittag gestorben«, sagte ich. Und schlug die Hände vors Gesicht wie ein Kind, das glaubt, dass niemand es dann sieht.