10

»Eines verrat ich Ihnen gleich«, sagte Clarissa schließlich, warf mir einen schnellen Blick zu und betrachtete von nun an nur noch ihre Hände. »Wenn ich vor Gericht aussagen muss, dann verweiger ich die Aussage. Ich sag nicht gegen meinen Exmann aus, niemals! Und niemand wird mich dazu zwingen, Sie auch nicht!«

»Vielleicht kommt es zu keiner Verhandlung«, sagte ich. Sie zögerte einen Moment. »Wieso nicht?«

»Wieso?«, sagte ich.

Sie verfiel in trotziges Schweigen.

Seit ich diesen Beruf ausübe, begegne ich Leuten, die sich selber Fallen stellen, die glauben, je mehr sie verheimlichen, desto schwieriger sei es für uns etwas herauszufinden. Leute, die sich mit Dingen herumquälen, die sie ebenso gut von sich weisen könnten, indem sie mit uns reden, indem sie überhaupt den Mund aufmachen und die Situation, die sie als Verhör empfinden, zügig beenden. Sie lügen und blocken ab, sie erfinden Ausreden in dem irren Glauben, die oft simple Wahrheit nehme ihnen niemand ab. Sie verhedderten sich in einem Gestrüpp aus Gespinsten, dass es manchmal beinah peinlich ist, ihnen dabei zuzusehen.

Es gefiel mir, wie Clarissa ihren Exmann verteidigte und ihn schützen wollte, ohne genau zu wissen, wovor. Oder wusste sie es doch?

»Jeremias«, sagte ich. Pause. Sie dachte nicht daran den Kopf zu heben. »Sie haben ihn getroffen, vor kurzem. Sie haben mit ihm gesprochen. Er hat Ihnen etwas erzählt, Sie haben versprochen ihm zu helfen.«

Jetzt nickte sie.

»Sagen Sie bitte Ja oder Nein, wegen dem Protokoll.«

»Ja«, sagte sie.

»Was hat er Ihnen erzählt?« Sie schwieg.

»Wann haben Sie ihn getroffen?« Ich rechnete nach, wann ich ihn getroffen hatte. Am vergangenen Freitag. Und am Mittwoch davor war er im Dezernat aufgetaucht. Einen Versuch war es wert.

»Sie haben ihn am letzten Mittwoch getroffen«, sagte ich. Sie lächelte. Die Falten um ihrem Mund machten ihr Gesicht freundlich.

»Am letzten Mittwoch, den ersten September«, sagte ich. Sie sagte: »Ich hab nicht aufs Datum geschaut.«

»Wo haben Sie sich getroffen? In Ihrer Wohnung?«

Ihr Lächeln endete so abrupt, wie es begonnen hatte. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch dann stockte sie. Sie schaute zum Fenster, das von Schlieren übersät und schmutzig war. Mehrmals tippte sie die Finger aneinander, in Gedanken vertieft. Sie drehte den Kopf in meine Richtung, vermied es aber mich anzusehen.

»Bernhard hat ihn weggejagt. In den Park. Er hätt ihn verprügelt, wenn ich nicht dazwischengegangen wäre.« Sie keuchte, fuhr sich über die Augen. »Es war furchtbar. So furchtbar.«

»Jeremias ist zu Ihnen in die Wohnung gekommen«, sagte ich.

Bevor sie antwortete, setzte ich mich ihr schräg gegenüber. Sie saß an der Schmalseite des Tisches. Jetzt sah sie mir in die Augen. Sie wollte sprechen, fand aber die Worte nicht. Ich streckte den Arm aus und berührte ihre Hand. Sie zog sie nicht weg. Ich umfasste ihre Finger, die kalt waren.

»Er hat geklingelt, Sie haben geöffnet«, sagte ich.

»Er hat geklingelt, ich hab geöffnet«, sagte sie leise. »Ich hörte, wie jemand die Treppe hochkam, schwerfällig wie ein alter Mann, ich ging ins Treppenhaus und sah ihn hochkommen. Er sah mich auch, und in diesem Moment stürzte Bernhard aus der Wohnung. Normalerweise ist er um diese Zeit in seinem Büro oder bei Kunden. Und dann fing die Keilerei an. Dabei hat… Jeremias hat überhaupt nichts gesagt, das ist mir erst hinterher bewusst geworden… Er hat nur zu mir hochgesehen, verstört. Er machte so einen verstörten Eindruck…«

»Ja«, sagte ich. »Ich habe ihn auch gesehen.«

»Ja, Sie auch… Ich bin dann hinter den beiden Männern her die Treppe runter, aus dem Haus raus. Und Bernhard hat ihn geschubst und gestoßen und ihn beleidigt. ›Du Hund du‹, hat er gerufen, ›du blöder Hund du, willst du Geld schnorren?‹, hat er gerufen, und Jeremias hat sich geduckt, immer geduckt, so… so…«

Sie zog die Schulter hoch und senkte den Kopf. »So… und Bernhard hat nicht aufgehört… mit seiner Schreierei. Und dann hat er ihn geschlagen, hat ihn zu Boden geschlagen, und da hab ich ihn festgehalten. Ich hab mich wie eine Idiotin an ihn geklammert.«

Mit einer sanften Bewegung zog sie ihre Hand aus meiner.

»Jeremias ist weggelaufen«, sagte sie. »Er ist in den Park gelaufen. Ich hab Bernhard festgehalten, Leute haben uns beobachtet, mir war das alles so peinlich, so unsäglich peinlich. Ich kanns nicht erklären… Ich weiß nicht, warum er so ausrastet, wenn er nur den Namen Jeremias hört, er ist sehr eifersüchtig, Bernhard, er verträgt das irgendwie nicht, dass ich so lange mit einem Mann zusammen war. Wir… wir waren mal in einem Lokal, wo ich oft mit Jeremias gewesen war, und als Bernhard das erfahren hat, hat er durchgedreht, er hat Gläser runtergeschmissen, dann ist er aus der Kneipe raus und gegenüber in eine andere und da hat er sich einen Schnaps bestellt. Können Sie mir das erklären? Er hat doch gar keinen Grund eifersüchtig zu sein, das ist alles vorbei mit Jeremias. Ach…«

Hastig rieb sie sich übers Gesicht. Und stand auf, schob den Stuhl nach hinten, dass er gegen die Wand krachte, erschrak darüber und stellte sich in die Ecke. Als müsse sie dort stehen, hinter der Tür, an die Wand gedrängt.

»Was hat Jeremias zu Ihnen gesagt?«

»Ich hab ihn gesucht«, sagte sie abwesend. »Er hatte sich versteckt, er hatte sich auf den Boden gelegt! In dem kleinen Labyrinth in dem Park, kennen Sie das? Er lag da, auf dem Bauch, die Hände über dem Kopf, voller Angst. Ich hab mich neben ihn gekniet, hab versucht mit ihm zu reden. Er hat nicht geantwortet. Er war völlig verstört.«

»Hatten Sie den Eindruck, er war schon so, als er die Treppe hochkam?«

»Ja«, sagte sie. »Aber da wusste ich noch nicht, wie schlimm es wirklich war.«

»Was meinen Sie damit?«

Sie sah zu Boden, als läge Jeremias vor ihr, und hob ein wenig den Arm.

»Er brachte keinen vollständigen Satz raus, er fing immer wieder an, stotterte, sagte Sachen, die ich nicht verstand…«

»Was sagte er?«

»Er sagte, er wär jetzt wieder da, er… er wär zurück… zurück zurück, wiederholte er dauernd. Ich versuchte ihn zu beruhigen. Es gelang mir nicht. Gelang mir nicht.« Sie sah mich an. »Jetzt red ich schon so wie er! Er wiederholt auch immer alles.«

»Was haben Sie noch getan?«, fragte ich.

»Ich hab ihm geholfen aufzustehen. Er stand da, wankte, schaute mich eigenartig an, total wirr, und dann sagte er diesen Satz.«

Sie ließ den Arm sinken und spielte mit ihren Fingern.

»Er sagte: ›Ich hab die Frau umgebracht.‹ Nein, genau sagte er: ›Ich hab die Frau umgebracht, die Frau umgebracht.‹ Er wiederholte die drei Wörter. Und dann ging er weg.«

»Hat er keinen Namen genannt?«

»Nein, er sagte nur ›die Frau‹. Die Frau. ›Ich hab die Frau umgebracht.‹ Natürlich bin ich ihm hinterhergelaufen, aber er blieb nicht stehen. Ich wollt ihn festhalten. Ich hab mich an ihn geklammert wie vorher an Bernhard, genauso, genauso lächerlich. Und die Leute standen immer noch da und haben uns zugeschaut. Oder es waren andere Leute, ich weiß nicht. Vor unserem Haus ist eine Haltestelle für die Tram, da ist er hin. Und vorher hat er sich noch beim Bäcker eine Dose Bier geholt.«

»Hat er die Dose bezahlt?«, sagte ich.

»Bitte?« Sie blinzelte heftig.

»Hatte er Geld dabei?«

»Klar«, sagte sie. »Er hat die Dose bezahlt. Er hat sie bezahlt, hat sie aufgerissen, hat einen Schluck getrunken und ist rüber zur Haltestelle. Und ich bin hinter ihm her. Ich hab auf ihn eingeredet, er hat mich nicht gehört. Und dann kam die Tram, er stieg ein und fuhr weg. Ich war viel zu durcheinander, um mitzufahren, die Situation war so… so absurd… Was hätt ich tun sollen? Ich hab einen Fehler gemacht, stimmts? Ich hätt ihn nicht allein fahren lassen dürfen. Die Straßenbahn…«

Sie wischte sich über den Mund, leckte sich die Lippen. Ich stand auf und reichte ihr ein Glas Wasser. Sie hielt es mit beiden Händen fest und trank.

»Er ist früher dauernd mit der Straßenbahn gefahren«, sagte sie. »Das war sein Lieblingsgefährt. Kein Auto, keine U-Bahn, nur Straßenbahn. Stundenlang. Er hat sogar seine Rollen in der Straßenbahn gelernt. Jeden Monat kaufte er sich eine Karte, regelmäßig, gesamter Innenbereich, bis nach Grünwald konnte er mit seiner Karte fahren.«

Ich nahm ihr das Glas ab.

»Sind Sie sicher, dass er den Namen der Frau nicht genannt hat?«

Sie nickte. Dann fiel ihr ein, was ich am Anfang zu ihr gesagt hatte. »Ja«, sagte sie. »Ich bin mir sicher. Er hat nur gesagt: ›die Frau‹.«

»Haben Sie einen Verdacht, wen er gemeint haben könnte?«

»Nein«, sagte sie.

Ich sagte: »Wir machen eine Pause. Möchten Sie etwas essen?«

Erschöpft lehnte sie sich an die Wand.

Nach drei Stunden brach ich die Vernehmung von Clarissa Holzapfel ab. Aus dem türkischen Lokal im Erdgeschoß hatten wir uns Börek und Salat bringen lassen. Während wir aßen, fragte ich sie ein wenig über ihren Sender aus, bei dem sie anscheinend nicht mehr lange arbeiten würde, und sie erkundigte sich vorsichtig nach meinen Beobachtungen in der Wohnung von Inge Hrubesch. Dann schaltete ich wieder den Recorder an.

Ich hatte keinen Grund daran zu zweifeln, dass sie Holzapfel nach der Begegnung in und vor ihrem Haus nicht mehr gesehen hatte. Und dass er nichts weiter gesagt hatte als diesen einen Satz.

»Ich hab die Frau umgebracht.«

Nach Meinung von Volker Thon, meinem Vorgesetzten, sagte Clarissa nicht die Wahrheit.

»Die trickst von Anfang an«, sagte Thon. »Was steht hier?« Er blätterte in den drei Seiten meines Berichts, den ich in meinem Büro geschrieben hatte, umringt von Kollegen, die grinsten, weil ich in ihren Augen urlaubsunfähig war.

»Hier steht«, sagte Thon, »sie hat behauptet, ihn vor zwei Jahren zum letzten Mal gesehen zu haben. Sie hat uns bewusst getäuscht.« Er nestelte an seinem Seidenhalstuch und sah uns herausfordernd an: Paul Weber, Sonja Feyerabend, Freya Epp und mich. Vielleicht schätzte ich seinen Blick falsch ein, vielleicht war er nicht provozierend, sondern einfach aufmunternd. Doch mit solchen Bewertungen musste ich vorsichtig sein. Nur weil meine Sympathie für Thon extrem schwankte, neigte ich dazu ihm zu misstrauen. Was ging es mich an, dass er nach teurem Aftershave duftete und besser gekleidet war als jeder andere Polizist im Dezernat? Dass er ständig an seinem Halstuch herumspielte und die Angewohnheit hatte, seine Hände zu reiben, als habe er sie gerade eingecremt? Dass er blaue Seidensocken zu seinen Slippern trug? Das ganze Jahr über strahlte er Gesundheit und Jugendlichkeit aus, er wirkte, als verbringe er jede Minute seiner Freizeit in Fitnessstudios oder beim Joggen und ernähre sich abartig biologisch. Dabei hatte er eine Frau und zwei Kinder, und ich wusste, dass er eigentlich nie Sport trieb, sondern sich seiner Familie ebenso leidenschaftlich hingab wie seiner Arbeit als Hauptkommissar. Von den Kollegen in der Vermisstenstelle und, soweit ich wusste, auch von denen bei den Todesermittlern und der Brandfahndung war er neben Paul Weber der Einzige, der verheiratet war, der so etwas wie ein funktionierendes Privatleben hatte, einen ganz eigenen Bereich, der allein ihm gehörte.

Volker Thon war fünfunddreißig, einer der jüngsten Kommissariatsleiter im Land, und ganz egal, was er anzog, wie er roch und welche Ticks er hatte – an der Effektivität seiner Abteilung zweifelte niemand.

Trotzdem mochte ich ihn selten.

»Kannst du uns erklären, was sich da hinter den Kulissen abspielt?«, fragte er. Aus einem silbernen Etui nahm er ein Zigarillo, legte das Etui ordentlich zwischen einen bunten Behälter mit Stiften und das Foto seiner Familie und zog ein auffallend poliertes Zippo aus seiner Jacke, einem Leinensakko.

»Entschuldigung«, sagte Sonja Feyerabend. Thon sah sie freundlich an.

»Würde es Ihnen was ausmachen, nicht zu rauchen?«

Thon sah sie nicht mehr freundlich an.

»Ja«, sagte er.

»Bitte«, sagte Sonja.

»Ich kipp das Fenster, wenn Sie möchten.«

»Wenn Sie das Fenster kippen, wird es zu laut«, sagte sie.

Seit Jahren weigerte sich das Ministerium Geld für Schallisolierung unserer Büros auszugeben. Die meisten Büros gingen auf die Straße und der Lärm bei offenem oder halb offenem Fenster war unerträglich.

Anstatt das Zigarillo wegzulegen, kaute Thon darauf herum. Ein Anblick, der Sonja, wenn ich ihren Gesichtsausdruck richtig interpretierte, bis in die Haarspitzen nervte.

»In zwei Stunden meldet sich Dr. Ekhorn«, sagte ich.

»Möglicherweise hat die Frau Selbstmord begangen.«

»Und liegt dann eine Woche tot in ihrer Wohnung?«, sagte Thon. Das Zigarillo hüpfte zwischen seinen Lippen.

»Was ist mit dem Mann los?«, fragte Paul Weber.

Ich hatte noch keine Gelegenheit gehabt mit ihm zu sprechen. Warum war er nicht im Krankenhaus bei seiner Frau? Wie war ihr Zustand? Wie hielt er es aus, im Dezernat zu sein und an solchen Besprechungen teilzunehmen?

Wie immer waren seine Ohren unglaublich gerötet.

»Er ist krank«, sagte ich. »Etwas stimmt nicht mit ihm.«

Thon sah mich an. Ich wartete auf die Bemerkung: So wie mit dir.

»Erklär mir, wieso die Frau eine Woche tot in ihrer Wohnung lag?«, sagte er. Dann nahm er das Zigarillo aus dem Mund und legte es auf den Tisch.

»Die Kollegen werden es rausfinden«, sagte ich.

Obwohl wir darüber redeten, ging uns dieser Fall im Grunde nichts an. Nach wie vor war niemand als vermisst gemeldet worden, und auch wenn nach Jeremias Holzapfel noch heute öffentlich gefahndet werden sollte, würde er als Zeuge oder Tatverdächtiger gesucht werden, nicht als Vermisster.

Weil ich plötzlich im Büro aufgetaucht war, um meinen Bericht für Rolf Stern zu schreiben, hatte Thon mich zur Rede gestellt. Natürlich vermutete er sofort, ich würde wieder einmal etwas verschweigen und eigene Spuren verfolgen, ohne die Kollegen zu informieren. Völlig unrecht hatte er damit nicht.

»Wir haben zwei neue abgängige Kinder«, sagte Thon und gab mir meinen Bericht zurück. »Martin und Florian sind unterwegs. Johann ist krank, und du hast Urlaub.

Wir sind unterbesetzt und zusätzlich kümmern wir uns um Dinge, die nicht in unsere Abteilung gehören. Wenn du schon mal da bist, willst du deinen Urlaub nicht abbrechen?«

»Warum?«, fragte ich.

»Du scheinst viel Zeit zu haben. Nutze sie für uns!«

»Ich baue Überstunden ab«, sagte ich.

Gerade als ich mit Weber sprechen wollte, wurde er ans Telefon gerufen. Und ein Blick zu Sonja genügte, und ich begriff, sie legte keinen Wert darauf, dass ich ihre Nähe suchte.

So brachte ich Rolf Stern meine Aufzeichnungen. In seinem Büro herrschte die blanke Hektik. Stimmen am Telefon, Stimmen über die Schreibtische hinweg, ein endloses Klingeln, haufenweise Faxe, Kollegen, die hereinstürmten, Mappen auf den Tisch knallten und sich gegenseitig anrempelten.

Stern dagegen saß ruhig da, die Beine auf dem Tisch, und betrachtete Fotos von einem Tatort samt Leiche.

»Setz dich!«, sagte er.

Das wäre nur möglich gewesen, wenn ich mir einen Stuhl mitgebracht hätte.

»Was Neues?«, fragte ich.

»Zu viel«, sagte er, legte die Fotos weg, schüttelte den Kopf und nahm die Plastikhülle, in die ich meinen Bericht gesteckt hatte. »Die Sache wird sich für uns nicht auswachsen, kann ich mir nicht vorstellen. Was hast du von der Frau für einen Eindruck, Südi?«

»Sie sagt die Wahrheit.«

»Das tut niemand.« Wahrscheinlich hatte er Recht.

»Sie weiß nicht mehr«, sagte ich. »Gebt ihr eine Suche nach dem Mann raus?«

Stern legte den Bericht auf einen Stapel, der bald umkippen würde, und griff nach der Tabakpackung. »Nur wenn Mordverdacht besteht. Wenn nicht, warten wir noch einen Tag, vielleicht meldet er sich freiwillig. Wir brauchen ihn natürlich für den Abschlussbericht. Er ist vermutlich der Einzige, der weiß, was passiert ist. Außerdem hat er vermutlich mehrere Tage neben der toten Frau verbracht. Was ja nicht strafbar ist. Kannst du das begreifen, dass jemand so was macht? Neben einer Toten leben?«

Er zündete sich die Zigarette an.

»Ich würde es nicht ertragen«, sagte ich.

»Ich auch nicht«, sagte Stern. »Es gibt schon Lebende, neben denen ich es kaum aushalte.«

»Wann ruft Ekhorn an?«

Er sah auf die Uhr. »Ich muss nochmal raus, wir haben einen Leichenfund in Trudering, sieht nach einem Streit unter Junkies aus. Wenn Ekhorn sich bis in einer halben Stunde nicht gemeldet hat, ruf ich ihn an.«

»Sagst du mir Bescheid?«

»Wo erreich ich dich?«

»Ich ruf dich in einer halben Stunde aus der Stadt an«, sagte ich. »Habt ihr die Nachbarn und Freunde der Toten befragt?«

»Ja, war wohl eine verschlossene Frau. Sie hat pornografische Filme gedreht, wusstest du das, in ihrem Alter?«

»Ich wusste es nicht«, log ich.

»Sie hat Tabletten geschluckt, auch viel getrunken. Braga und Gerke waren in ein paar Bars, deren Adressen wir in der Wohnung gefunden haben. Du kennst die Leute, denen ist das egal, ob einer wegstirbt, noch dazu eine Frau, die fast sechzig ist und solche Filme dreht.«

»Wie alt war sie?«, fragte ich.

»Achtundfünfzig. Ich hätte sie älter geschätzt.«

»Ich auch.«

»Sie hat eine Mutter, die lebt in Burghausen, in Niederbayern.«

»Burghausen liegt in Oberbayern.«

»Ehrlich? Ich war mal dort, kam mir vor wie Niederbayern.«

»Habt ihr mit der Mutter gesprochen?«, fragte ich.

»Wir haben sie noch nicht erreicht. Moment mal.« Er nahm die Beine vom Tisch, beugte sich vor und sah hinüber ins andere Büro. »Nadine! Nadine!«

Sie telefonierte. Als sie ihren Namen in all dem Stimmenwirrwarr hörte, hob sie den Kopf.

»Gleich!«, rief sie.

»Das wird hart, das seh ich schon voraus«, sagte Stern.

»Müttern solche Umstände erklären…«

»Hatten die beiden Frauen Kontakt?«

»Darüber weiß niemand was, auch die Nachbarn nicht«, sagte er. »Sie kannten die Tote alle, die meisten wussten auch, womit sie gelegentlich ihr Geld verdiente. Aber sonst… Das übliche Desinteresse…«

Sein Telefon klingelte.

»Sekunde«, sagte er und nahm den Hörer in die Hand.

»Stern… Herr Doktor!« Er gab mir ein Zeichen. »Ja… ja…« Er kritzelte Notizen auf einen großen Block. »Hab ich verstanden… ja… Danke für den prompten Service, bis morgen…«

Er legte auf.

»Die Frau hat Barbiturate genommen, verschiedene Tabletten in großer Menge«, sagte Stern. »Dazu sehr viel Wodka, eine Flasche möglicherweise. Es sieht alles nach Selbstmord aus. Bleibt die Frage, warum der Mann ihren Tod nicht gemeldet hat. Und Dr. Ekhorn bleibt dabei: Der Tod ist vor etwa einer Woche eingetreten, vermutlich genau heute vor einer Woche.«

»Am Dienstag«, sagte ich.

»Am Dienstag«, sagte Stern. Dann lehnte er sich zurück und sah mich aufmerksam an.

Nadine Bach hatte aufgelegt und stand in der Tür.

»Ich hatte grad die Mutter dran«, sagte sie. »Sie kommt morgen früh.«

»Wie hat sie auf den Tod ihrer Tochter reagiert?«, fragte Stern.

»Kann ich nicht beurteilen«, sagte Nadine. »Geweint hat sie nicht.«

»Morgen Früh…« Stern berichtete seiner Kollegin, was der Pathologe gesagt hatte.

»Und der Grund?«, fragte Nadine.

Stern hob die Schultern. Dann nahm er wieder mich ins Visier.

»Du«, sagte er. »Hast du nicht Zeit, morgen mit der Mutter zu sprechen? Du bist doch hier der Schicksalsversteher. Wir sind absolut überlastet, wie du siehst.«

»Ich hab Urlaub«, sagte ich, hob die Faust als Zeichen der Solidarität mit allen Altachtundsechzigern und verließ das Büro.

Auf dem Flur kam mir Paul Weber entgegen.

»Gehst du?«, fragte ich ohne jeden Sinn, weil mir nicht schnell genug die richtigen Worte einfielen.

»Sie haben angerufen«, sagte er. »Es gibt wieder Komplikationen. Ist schwer jetzt.«

Ich umarmte ihn. Dann drückte er auf den Sicherungsknopf und öffnete die Glastür zum Treppenhaus. Vor dem Aufzug blieb er stehen und wartete. Die Glastür fiel zu. Als er in den Lift stieg, sah er noch einmal zu mir her, ein bulliger Mann mit unglaublich roten Ohren. Vor fast dreißig Jahren, als er noch eine Uniform trug und als Streifenpolizist arbeitete, sprach ihn auf der Straße eine Frau an und fragte ihn nach dem Weg. Und weil diese Stimme ein Zeichen für ihn war, folgte er der Frau und heiratete sie bald darauf. Und weil er nicht wollte, dass sie einen Mann bekam, der lebenslang in einer langweiligen Uniform herumlief, wechselte er in den Innendienst und landete im Dezernat 11.

Und deshalb war der neunundfünfzigjährige Paul Weber der einzige Kriminalbeamte, der seine Existenz als Hauptkommissar der Stimme der Liebe verdankte.