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Ein Holzbett, eine weiße Couch, ein Glastisch vor dem Fenster, darauf Bücher, Papiere und eine gelbe Rose in einer schmalen Vase, auf dem Boden ein Stapel Zeitungen: ein Ein-Zimmer-Appartement ohne besondere Merkmale.

»Ich studier Betriebswirtschaft«, sagte Silvia.

Die Balkontür stand offen und wir hörten den Lärm von der Theresienwiese, wo die letzten Aufbauten für das Oktoberfest vonstatten gingen, das in drei Wochen beginnen sollte.

»Wollen Sie einen Tee?«, fragte Silvia.

»Nein«, sagte ich.

Sie trank einen Schluck Wasser aus der Flasche.

»Ich kenn den Herrn Holzapfel überhaupt nicht«, sagte sie. »Eine Kommilitonin hat mir den Tipp mit dem Zimmer gegeben, ich hab dann angerufen, und die haben mich echt genommen.«

»Wer hat Sie genommen?«

»Der Makler.«

»Erinnern Sie sich an seinen Namen?«

Sie ging zu einem Holzschrank, der aussah, als wäre er vom selben Schreiner hergestellt worden wie das Bett, und durchsuchte mehrere Fächer voller Papiere.

»Hier!«, rief sie und zog eine dünne Mappe heraus. Sie blätterte darin. »Bernhard Schulze, so heißt der Makler. Ich wohn jetzt fast ein Jahr hier und ich hab seitdem nichts mehr von ihm gehört. Und von ihr auch nicht, der Frau Holzapfel. Aber ihn kenn ich nicht, den Herrn Holzapfel. Ich überweis die Miete jeden Monat…«

»Verdienen Sie so viel als Studentin?« Misstrauisch sah sie mich an.

»Sind Sie von der Steuerfahndung?«, fragte sie.

»Warum haben Sie mir nicht aufgemacht?«, fragte ich. Sie sagte schnell: »Hab ich doch.«

Ich drehte mich um und ging auf den Balkon hinaus. Unten, auf dem großen Platz mit den hunderten von Buden und Fahrbetrieben und dem Riesenrad, rangierten Lastwagen, montierten Arbeiter neue Schilder, trugen dunkelhäutige Männer unaufhörlich lange Tische und Bänke in die Bierzelte. Wer in dieser Gegend wohnte, bekam zwei Wochen im Jahr Gaudi brutal geboten. Auch meine Kollegen im Dezernat 11 gehen regelmäßig an einem Nachmittag auf die Wiesn, im Schützenzelt haben sie eine eigene Box und das Präsidium spendiert uns Hendl und Biermarken. Martin und ich sind die Einzigen, die sich weigern mitzugehen, wir betrinken uns lieber in Ruhe.

Auf dem Balkon stand ein Liegestuhl, und ich setzte mich.

Silvia war nach draußen gekommen. »Wollen Sie nicht doch was trinken? Sie sehen irgendwie… fertig aus.«

»Ich bin nicht fertig«, sagte ich. »Ich hab Urlaub. Ich nehm ein Glas Wasser.«

Sie goss mir ein Halbliterglas voll.

»Bleiben Sie während des Oktoberfestes hier?«, fragte ich.

»Ja«, sagte sie. »Ich seh gern zu. Ist doch ein guter Platz hier. Ich bin auf dem Land aufgewachsen, ich genieß es, in der Stadt zu sein, wo was los ist.«

Ich trank. Sie wich meinem Blick aus. Die Mappe mit den Mietunterlagen hatte sie wieder in die Hand genommen. Ohne zu lesen, blätterte sie darin, es schien, als wollte sie etwas sagen, traute sich aber nicht.

»Mich geht das nichts an, mit welchem Geld Sie Ihre Miete bezahlen«, sagte ich.

»Sie schauen aber so aus, als würd Sie das was angehen.« Wir schwiegen.

Ich streckte die Hand aus, und sie reichte mir die Mappe. Ich merkte mir die Adresse von Bernhard Schulze, die einer gewissen Clarissa Holzapfel tauchte nirgends auf.

»Wo haben Sie den Vertrag unterschrieben?«, fragte ich.

»Hier in der Wohnung.«

»War außer Herrn Schulze noch jemand dabei?«

»Ja, Frau Holzapfel.«

Ich gab ihr die Mappe zurück und stand auf. In meinem Bauch brodelte die Leere.

Silvia hatte die Geräusche auch gehört. »Möchten Sie eine Scheibe Brot?«

»Nein«, sagte ich. »Warum wollte der Makler, dass an der Tür der Name Holzapfel steht?«

»Wegen…« Sie zögerte.

»Wegen der Steuer?«, fragte ich.

»Ja«, sagte sie erleichtert. »Der Makler hat gesagt, der Name muss dranbleiben. Mir ist das egal, ich schreib ‘c/o’ auf meine Post. Ich wollt nichts sagen, ich wollt unbedingt die Wohnung. Ich hab zwei Jahre lang gesucht, und die meisten Zimmer, die ich besichtigt hab, waren extrem teurer als das hier.«

»Was zahlen Sie?«

»Vierhundert.«

»Das ist extrem billig«, sagte ich. »Vierhundert Mark! Da haben Sie aber Glück gehabt!«

»Wir haben inzwischen Euro, Herr…«

»Süden«, sagte ich.

Das hatte ich wieder einmal vergessen gehabt. Statt der Zahl fünftausend stand neuerdings die Zahl zweitausendfünfhundert auf meiner Gehaltsabrechnung.

»Sie jobben nebenher«, sagte ich. Sofort verfinsterte sich ihr Blick.

»Ich weiß nicht«, begann sie. Meine Anwesenheit schien sie langsam in Rage zu versetzen. »Ich weiß nicht… Ich hätt Sie nicht reinlassen müssen, ich mach sonst nie auf, wenns klingelt, die Typen können mich mal, vor allem der Wichtigtuer von nebenan, Ihr Kollege… Ich hab das vorhin nicht verstanden mit dem Holzapfel, der war verschwunden und jetzt ist er wieder da? Und was wollen Sie dann noch? Ich hab Ihnen gesagt, was ich weiß, ich hab Ihnen den Mietvertrag gezeigt, der ist korrekt, und ich finde, Sie sollten jetzt gehen.«

Ich strich mir die Haare nach hinten und machte den obersten Knopf an meinem Hemd zu. Silvia runzelte die Stirn.

»Ist Ihnen kalt?«, fragte sie.

»Nein«, sagte ich. »Entschuldigen Sie die Störung! Ich wollte Sie nicht belästigen.«

Ich streckte ihr die Hand hin, und sie schüttelte sie.

»Auf Wiedersehen«, sagte sie.

Als ich auf den Flur trat, verließ mein Kollege gerade seine Wohnung. Er trug jetzt einen dunklen Anzug und blank geputzte schwarze Schuhe. Er roch nach Rasierwasser. Silvia hatte hastig die Tür geschlossen und von innen abgesperrt.

»Kleiner Nebenverdienst«, flüsterte er. »Personenschutz, Siemens-Vorstandsfeier, mein Cousin ist dabei, im Vergleich mit dem krieg ich praktisch ein Arbeitslosengeld. Und? Das Mädchen? Illegale Prostitution?«

»Mich interessiert nur der Vermieter.«

»Ich find das Mädchen interessanter«, sagte er und hielt mir die Tür zwischen Flur und Treppenhaus auf.

Kaum hatte ich das Taxi, mit dem ich in die Schleißheimer Straße gefahren war, verlassen, stieg ich in das nächste, zusammen mit Bernhard Schulze, der auf dem Bürgersteig gestanden hatte, als ich angekommen war. Er hatte mich beobachtet, wie ich mehrmals auf den Klingelknopf neben seinem Namensschild drückte. Dann hatte er sich vorgestellt, und ich hatte ihm meinen Ausweis gezeigt, den er ausgiebig musterte. Das Taxi, das er bestellt hatte, kam, und er meinte, wenn ich was zu fragen hätte, sollte ich mitfahren, er sei in der Innenstadt verabredet.

Ich war ihm unglaublich lästig.

Immerhin kannte er Jeremias Holzapfel nicht nur dem Namen nach, sondern auch persönlich. Allerdings hatte er ihn nur ein einziges Mal gesehen, eher zufällig in einem bestimmten Lokal.

»Er und seine Frau sind früher da hingegangen«, sagte er und sah aus dem Fenster. Ich saß wie gewohnt auf der Rückbank, er auf dem Beifahrersitz. »Wenn ich das vorher gewusst hätte, wär ich mit ihr da nicht hin, garantiert nicht! So abgenutzte Plätze mag ich nicht.«

»Sie sind mit Frau Holzapfel verheiratet?«

»Nein.« Er schwieg.

Ich hatte mich hinter den Fahrer gesetzt, um Schulze ins Gesicht sehen zu können. Aber er drehte sich kein einziges Mal zu mir um.

»Haben Sie Herrn Holzapfel als vermisst gemeldet?«, fragte ich.

Nach einer Weile ließ er sich zu einer Antwort herab. »Ich kenn den Mann nicht, muss ich das wiederholen? Und meine Lebensgefährtin hat keinen Kontakt mehr zu ihm, schon seit Jahren nicht. Ob der vermisst wird oder nicht, ist uns wurscht.« Er wandte sich an den Fahrer. »Können wir etwas schneller fahren, ich habs eilig.«

»Ich hab den Stau nicht bestellt«, sagte der Fahrer.

Entlang der Schellingstraße parkten Autos auf beiden Seiten in der zweiten Reihe, ein Linienbus kam nicht durch, der Fahrer hupte ununterbrochen, und an den Kreuzungen blockierten sich die Fahrzeuge gegenseitig. Es war Samstag Mittag, die Sonne schien, ein ungewöhnlich warmer Tag. Und ich hatte Urlaub und führte Befragungen in einer Vermisstensache durch, die keine war.

Ein paar Fragen musste ich noch abhaken, aus reiner Selbstachtung.

»Warum steht der Name Holzapfel an der Wohnung auf der Theresienhöhe?«

»Die Wohnung gehört meiner Lebensgefährtin«, sagte er und gestikulierte wütend mit den Händen, weil das Taxi nicht vorankam.

»Aber Sie haben den Mietvertrag ebenfalls unterschrieben und Ihre Adresse angegeben.«

»Sie hat mich beauftragt, ich bin Makler von Beruf.«

»Warum der Name an der Tür? Was hat Frau Holzapfel davon?«

»Sie wollte es so. Und die Mieterin hat es freundlicherweise akzeptiert.«

»Die Mieterin sagte mir, es geht um eine Steuersache.«

»Woher will die das wissen? Die weiß gar nichts. Die wohnt da preiswert und soll den Mund halten.«

»Jeremias Holzapfel ist unter dieser Adresse gemeldet, wie ist das möglich?«

»Keine Ahnung.«

Zur Abwechslung war Grün, und wir erreichten die Ludwigstraße, von der wir auf den Altstadtring abbogen. Mehrmals sah Bernhard Schulze demonstrativ auf seine goldene Armbanduhr.

»Welchen Beruf hat Herr Holzapfel?«

»Haben Sie ihn nicht gefragt?«

»Nein«, sagte ich. Natürlich hatten meine Kollegen ihn danach gefragt, doch er hatte ihnen keine Antwort gegeben.

»Er ist Schauspieler«, sagte Schulze. »Kein richtiger Schauspieler, mehr so ein gescheiterter Schauspieler, einer, der beim Radio arbeitet, wo ihn kein Mensch sieht. Er hats zu nichts gebracht. Mehr weiß ich nicht, ich hab Clarissa nicht nach ihm gefragt, sie war froh, dass sie ihn los war, so viel steht fest. Wieso fährt der da vorn nicht weiter?«

»Er kennt sich nicht aus«, sagte der Taxifahrer. Schulze winkte ab.

»Wann haben sich die beiden getrennt?«, fragte ich.

Wieder wartete Schulze ungefähr eine Minute mit seiner Antwort. »Keine Ahnung.«

»Und wie lange sind Sie und Frau Holzapfel zusammen?«

Er hob den Kopf und starrte geradeaus durch die Windschutzscheibe.

»Bei allem Respekt, Herr… bei allem Respekt, das geht Sie nichts an. Wir haben mit diesem Mann nichts zu tun, das ist vorbei, meine Lebensgefährtin ist ordentlich geschieden, und ich hab Ihnen schon gesagt, sie hat keinen Kontakt mehr mit ihm. Und ehrlich gesagt, find ich es extrem unangenehm, dass Sie an einem Samstag bei mir aufkreuzen, um mich über den Exmann meiner Frau zu verhören, der, soweit ich das verstanden hab, nicht mal was angestellt hat. Hab ich doch richtig verstanden?«

Er deutete mit dem Zeigefinger nach vorn.

»Ich steig an der Ecke aus.«

Das Taxi bog in die Maximilianstraße ein und hielt. Wir stiegen aus.

Schulze bezahlte und zog sein kariertes Sakko aus.

»Auf Wiedersehen«, sagte er.

»Wiedersehen«, sagte ich.

An den Tischen vor dem »Roma« drängten sich hübsche Menschen in Markenkleidern, und ich sah ihnen eine Zeit lang zu, wie sie sich auf die Wangen küssten, ihre Handys und Autoschlüssel vor sich hinlegten und zurückgelehnt dem Kellner ihre Wünsche mitteilten. Und ich dachte, vielleicht war es das, was Jeremias Holzapfel mit seiner Ich-bin-wieder-da-Geschichte bezweckte: Er wollte irgendwo dazugehören.

Er saß am selben Platz wie vorher, ein Glas Wasser vor sich, und blickte, als ich das Bistro betrat, an mir vorbei oder durch mich hindurch und schien alles Mögliche zu sehen, bloß nicht mich.

»Grüß Gott«, sagte ich.

Sein Gesichtsausdruck veränderte sich leicht. Mit einem Mal wirkte Jeremias Holzapfel entspannter, beinah zufrieden. Er nickte ein paarmal hintereinander und klopfte mit dem rechten Zeigefinger auf den Tisch.

»Alles klar alles klar?«, sagte er.

Ihm gegenüber saß Martin Heuer, ein kleines Bier vor sich. Er hatte seine graue Filzjacke nicht ausgezogen, die er jahrein, jahraus trug, abgesehen von der Zeit, in der er ausschließlich ein und dieselbe Daunenjacke anhatte.

»Bin seit zehn Minuten da«, sagte Martin.

Ich wusste nicht, was ich sagen oder tun sollte. Als Susi auf mich zukam, schüttelte ich den Kopf. Unschlüssig stand ich da und vermisste in dem Qualm und dem Fettgeruch den Sommer.

»Sie sind mir gestern gefolgt, bis zu meiner Wohnung«, sagte ich zu Holzapfel, denn das hatte mich die ganze Zeit beschäftigt: Wie hatte er es fertig gebracht, trotz seiner offensichtlichen Verwirrtheit hinter mir herzugehen, ohne dass ich auch nur den geringsten Verdacht schöpfte? Und er musste die ganze Zeit dicht hinter mir gewesen sein, auf der Straße, in der Tram, zu Fuß den Nockherberg hinauf bis zu meinem Haus.

»Ja«, sagte er abwesend. »Ja, ja, ja.« Was bedeutete das?

Martin trank sein Bier aus und gab Susi ein Zeichen für Nachschub.

»Herr Holzapfel«, sagte ich.

Einige Sekunden später hob er den Kopf und sah zu mir herauf. Ich versuchte, seinen Blick festzuhalten, was mir nicht gelang. Zum ersten Mal fiel mir auf, dass seine Augen unterschiedlich groß waren, zumindest kam es mir so vor, sogar die Brauen hatten auf eine kuriose Weise nicht dieselbe Form. Als wäre ein unerfahrener Maskenbildner am Werk gewesen.

»Die Frau in Ihrer Wohnung«, sagte ich, »Silvia Bast, kennen Sie sie? Warum wohnt sie dort und nicht Sie? Herr Holzapfel! Verstehen Sie mich?«

»Sehr gut sehr gut«, sagte er. Und verstummte. Sah weiter zu mir herauf. Und klopfte wieder mit dem Zeigefinger auf die Tischplatte.

»Kennen Sie die Frau in Ihrer Wohnung auf der Theresienhöhe?«, wiederholte ich.

Susi brachte Martin ein frisches Bier, verzog beim Anblick von Holzapfel den Mund und ging kopfschüttelnd weiter.

»Ich muss los!«, stieß Holzapfel hervor und stand ruckartig auf. Die Frau am Nebentisch zuckte zusammen.

»Wohin?«, fragte Martin ruhig.

Holzapfel zog den Reißverschluss an seinem Blouson hoch und starrte sein Wasserglas an, das halb voll war. Durch die Glastür, die zur Nordseite des Bahnhofs führte, sah ich die Helligkeit des Tages und ich beschloss, diesen Mann zu vergessen.

Seit zwölf Jahren arbeitete ich auf der Vermisstenstelle, vermutlich kannte ich Familiengeheimnisse, von denen nicht einmal ein Priester wusste, und jede Lüge, jeder Versuch, die Umstände in einem besseren Licht erscheinen zu lassen, waren mir so vertraut wie die Motive, wegen denen jemand von einem Tag auf den anderen seine gewohnte Umgebung hinter sich ließ, um etwas zu riskieren, dem er dann doch nicht gewachsen war. In neun von zehn Fällen war es zumindest so. Ich hatte Menschen getroffen, die schworen, ihr Mann oder ihre Frau, ihr Freund oder ihre Schwester würden »so etwas« niemals tun. Es gebe überhaupt keinen Grund, ihnen »so etwas Schreckliches« zuzumuten. Und dann hatten diese Angehörigen ungeheure Mühe damit, eine exakte Beschreibung des Vermissten abzugeben – manchmal fanden sie nicht einmal ein brauchbares Foto –, seine speziellen Eigenschaften zu benennen, seine Ticks, seine Leidenschaften, seine heimlichen Vorlieben. Spätestens bei diesem Thema fingen die Lügen an. Und am Ende kehrten wir mit einem einzigen Lügenkonstrukt ins Dezernat zurück und konnten nichts tun als die puren Daten ins Netz zu stellen und zu hoffen, diese würden nicht mit den Angaben über bisher unidentifizierte Tote übereinstimmen. Abgesehen davon, dass ich für Vermisste zuständig war und nicht für Nichtvermisste, gehörten die Dinge, die ich in diesen beiden Tagen sowohl von der Studentin als auch von diesem Makler und Holzapfel erfahren hatte, zu meinem normalen Alltagsgeschäft. Eine Binnenwelt wie viele, es ging um etwas Geld und etwas Macht und etwas Liebe und etwas Wut, und niemand wollte sich dabei stören lassen, und auch ich hatte kein Recht dazu.

Bevor sich meine Neugier und mein Mitgefühl ins Gegenteil verwandelten, wollte ich mich rechtzeitig von Holzapfel verabschieden. Stattdessen verabschiedete er sich von mir. Und zwar in Sekundenschnelle.

Mit einem röchelnden Seufzer riss er sich vom Anblick seines Wasserglases los, stieß die Tür zur Bahnhofshalle auf und verschwand im Durchgang zu den Gleisen.

Martin und ich machten einen relativ tölpelhaften Eindruck.

»Und wer zahlt jetzt seine zwei Wasser?«, fragte Susi.

Ich sagte: »Du nicht.«

»Danke«, sagte sie und nahm Martins leeres und Holzapfels halb volles Glas mit.

Ich setzte mich.

Wir schwiegen.

Wir schwiegen so lange, bis Susi die Geduld verlor.

»Das ist hier keine Wärmestube!«, blaffte sie. »Für Staatsbeamte erst recht nicht!«

So hatte sie uns noch nie genannt.

»Noch ein kleines Bier«, sagte Martin.

»Einen Kaffee und ein Wasser«, sagte ich.

»Wer war der Typ?«, fragte Susi in einem Anflug von Nettigkeit.

»Das wissen wir nicht«, sagte Martin.

Susi hielt diese Bemerkung für eine Beleidigung und ließ uns allein. Auf unsere Getränke würden wir vorerst verzichten müssen.

»Was denkst du?«, fragte Martin.

Ich sah zur immer noch offenen Tür, durch die Holzapfel gegangen war.

»Wir hätten ihn zum Arzt bringen sollen.« Andererseits war ich überzeugt, er hätte sich dagegen gewehrt und wäre rechtzeitig abgehauen.

»Glaubst du, er steht unter Schock?«

»Er hat mich verfolgt«, sagte ich, noch immer konsterniert über meine Blindheit. »Hat jemand eine solche Disziplin, der unter Schock steht?«

Martin erwiderte nichts. Ich wusste es auch nicht.

Wir hielten Ausschau nach Susi. Vielleicht brachte ihr der asiatische Koch gerade Konfuzius näher, jedenfalls existierte keine Welt um sie herum.

»Du musst dich ausschlafen!«, sagte ich zu Martin.

»Später«, sagte er.

Draußen schien unverändert die Sonne.

Ich erinnerte mich, dass ich meiner Kollegin Sonja Feyerabend versprochen hatte sie anzurufen. Sie hatte heute frei und mich gestern am Telefon gefragt, ob ich Zeit hätte, mit ihr etwas zu unternehmen. Was?

Ich dachte daran, sie anzurufen und abzusagen.

In diesem Moment stürzten zwei Kollegen der Bahnpolizei aus ihrem Büro, das an das Bistro angrenzte. Sie erkannten uns.

»Schlägerei!«, rief der eine. »Ein Kerl hat eine wildfremde Frau niedergeprügelt!«

Ich sah Martin an und wusste, dass er dasselbe dachte wie ich.