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Am Abend wartete ich bis zehn Uhr auf Martin Heuer, dann trank ich mein Bier aus, bezahlte und ging.

Wir waren in einem vietnamesischen Lokal nicht weit von seiner Wohnung entfernt verabredet gewesen, und ich hatte vier Stunden auf ihn gewartet. Dazusitzen, zu schauen und für mich zu sein inmitten redender, essender, flirtender Gäste war ein wachsendes Vergnügen, das nur zum Teil daher rührte, dass ich andere beobachtete und mich an ihren kleinen Tricks und Marotten erfreute. Was mich, je länger ich allein in einem Gasthaus saß, geradezu ermunterte noch etwas zu bestellen, war die Gewissheit, hinterher niemandes Anhang zu sein und niemanden in ein fremdes Zimmer begleiten zu müssen. Wie der Dichter sagt, hatte ich die Freiheit aufzubrechen, wohin ich wollte.

Allerdings ärgerte ich mich maßlos, wenn mich jemand wohin bestellte und dann nicht auftauchte. Dabei spielte es keine Rolle, ob ich denjenigen kaum kannte oder ob es sich um meinen besten Freund handelte.

»Heuer. Eine Nachricht wäre nett.« Zweimal hatte ich auf seinen Anrufbeantworter gesprochen, als wüsste ich nicht, dass ich ebenso gut an eine Wand hätte hinreden können. Wenn Martin in der Stadt gewesen wäre, hätte er sich längst gemeldet.

Wegen der Fahndung nach einem jugendlichen Geschwisterpaar hatte er nach Berlin fliegen müssen, dem Mekka aller jungen Ausreißer, und nach zwei Tagen Suche mit den dortigen Kollegen sollte er heute Abend mit dem Flugzeug zurückkommen.

Aber er kam nicht. Also bestellte ich die übliche Suppe, das übliche Hühnergericht, die üblichen Biere, wünschte heimlich einem streitenden Paar eine schnelle Trennung und hörte mir am Nebentisch eine Abhandlung über das Golfspielen an, die die Partnerin des Monologisierenden souverän ertrug, indem sie regelmäßig lächelte und nickte und ihm allen Ernstes die Hand streichelte, wenn er sie ihr gestenreich entgegenstreckte. Das Lokal war klein, und die Tische waren eng gestellt, so dass ich dem Gebrüll einer Frau hinter mir zuhören musste, die ihrem Begleiter ununterbrochen vorwarf, er sei ein Schwein und Lügner und Lügner und Schwein. Sofort wünschte ich, Bärbel Schäfer käme herein und böte den beiden einen Exklusivauftritt in ihrer Talkshow an.

Später atmete ich vor der Tür die Stille ein. Die vorbeifahrenden Autos, Linienbusse und Straßenbahnen hörte ich nicht. Ich streckte die Arme in die Höhe und schloss die Augen. Sekunden grandioser Unabhängigkeit. Auch wenn ich froh war, dass niemand mich fragte, wovon oder von wem ich eigentlich unabhängig sei.

Eine gewisse Menge Bier versetzte mich manchmal in einen Zustand innerer Überlegenheit, die unser Polizeipsychologe vermutlich als destruktive Aggression definiert hätte, auf die ich mir nichts, aber auch gar nichts einzubilden bräuchte.

Der Nachteil von zu langem Alleinsitzen in überfüllten Gasthäusern war, dass mich auf dem Heimweg Stimmen überfielen, die durch meinen Kopf rasten wie von der Leine gelassene Hunde. Dann machte ich Umwege, weil ich ahnte, ich würde im Bett nicht einschlafen können.

Da Martin in Neuhausen wohnt und ich in Giesing, musste ich quer durch die Stadt. Ich benutzte zuerst den Bus, dann die Tram, stieg aber bereits am Mariahilfplatz aus und ging zu Fuß den Nockherberg hinauf. Es war eine laue Nacht und in den Biergärten saßen immer noch Gäste.

»Guten Abend, Herr Süden!«

Fast wäre ich über die Stimme im Dunkeln erschrocken.

»Frau Schuster!«, sagte ich.

Die alte Frau, die im selben Haus wie ich wohnt, kam mir im Innenhof mit einer Gießkanne entgegen.

»Ich hab Sie schon gesucht«, sagte sie. Sie hatte eine Strickjacke über ihrem braunen Kleid an und Filzpantoffeln an den nackten Füßen.

»Hier bin ich«, sagte ich.

»Sie haben Besuch gehabt, Herr Süden. Ein Mann.«

»Ein dünner Mann mit struppigem Haar, in meinem Alter?«

»Ich hab ihn nicht gefragt, wie alt er ist.« Sie stellte die Kanne ab und blickte zum Himmel.

Ich schaute ebenfalls hinauf. Nach einer Weile bemerkte sie es.

»Manchmal sind Sie sehr kindisch, Herr Süden«, sagte sie. Ich sagte: »Ich sehe mir auch gern Sterne an.«

Elsa Schuster legte die Hand in den Nacken. »Ich guck mir doch keine Sterne an! Wissen Sie nicht, dass einige von denen schon längst erloschen sind, aber das Licht bloß so lange braucht bis zu uns?«

»Na und?«

»Na und? Was soll ich da extra hinschauen, wenn das alles bloß Bluff ist!«

»Das ist doch kein Bluff!«, sagte ich. »Das sind physikalische Gesetze, die…«

»Ja, ja«, sagte sie und klopfte mit der flachen Hand auf ihren Nacken. »Ist mir egal, ich bin verspannt. Ich war den ganzen Abend bei Frau Gerber, die hat ein Sofa, das ist so durchgesessen, da sitzen Sie praktisch auf dem Teppich. Ich musste ›Scrabble‹ mit ihr spielen, stundenlang, sie gewinnt dauernd. Na ja… Ich hab ihre Blumen gegossen, die Frau Gerber sitzt ja im Rollstuhl zur Zeit, Sie wissen doch, wegen dem Fahrradunfall…«

»Wie gehts ihr?«

»Besser als sie tut«, sagte Frau Schuster, warf einen Blick zum Wohnblock auf der anderen Seite der Wiese und senkte die Stimme. »Sie lässt sich verwöhnen, sie hat das gut raus, sie denkt, wir merken das nicht. Na ja… Ich hab jedenfalls zu ihr hochschauen müssen, stundenlang, ich glaub, ich nehm jetzt erst mal ein Entspannungsbad.«

»Gute Idee«, sagte ich.

Ich holte den Schlüssel aus der Tasche.

»Der Mann war nicht dünn«, sagte Frau Schuster. »Aber so genau gesehen hab ich ihn nicht, ich war ja drüben bei Frau Gerber. Ich stand am Fenster, da hab ich ihn hier an der Tür gesehen.«

»Und woher wissen Sie, dass er zu mir wollte?« Ich hielt ihr die Haustür auf, und sie ging hinein.

»Das hat mir Frau Rinser gesagt, die ist nämlich grad rausgegangen, als der Mann da stand, und sie hat ihn gefragt, und er hat gesagt, er wollt nur sehen, ob ein gewisser Herr Süden hier wohnt…«

»Hat er seinen Namen genannt?«

»Das weiß ich nicht, ich hab Frau Rinser nicht gefragt.« Elsa Schuster sperrte ihre Wohnungstür im Parterre auf.

»Gute Nacht!«, sagte ich. »Und gute Besserung!«

»Na ja, so schlimm ist es auch wieder nicht. Ich setz mich schon nicht gleich in einen Rollstuhl deswegen.«

Zum Gruß hob sie die grüne Plastikkanne hoch. »Nacht, Herr Süden. Ach ja… Gibts eigentlich keine Friedhofspolizei? Andauernd klaut mir jemand meine Gießkannen, ich hab mir die jetzt von Frau Gerber geliehen…«

»Auf dem Friedhof können Sie doch welche ausleihen«, sagte ich.

»Da sieht man, dass Sie nie hingehen«, sagte sie. »Dort kriegen Sie keine! Die sind ständig weg. Und die Leute bringen sie nie zurück, die lassen die einfach stehen. Oder sie nehmen sie mit nach Hause. Können Ihre Kollegen da nicht mal auf Streife gehen?«

»Auf dem Friedhof?«

»Warum denn nicht? Die laufen ja sonst auch überall rum!«

»Gute Nacht, Frau Schuster.«

»Manchmal denk ich ja, Sie sind gar kein richtiger Polizist, Herr Süden.«

»Was soll ich sonst sein?«

»Na ja… Es gibt doch so Männer, die gehen morgens aus dem Haus und die Frau denkt, die gehen zur Arbeit. Aber die gehen nicht zur Arbeit, die tun nur so.«

»Sie meinen, ich bin ein Simulant? Ein Polizistensimulant?«

»Nein«, sagte sie und zog die Schultern hoch. »Sie sind schon echt. Bloß eben kein Polizist…«

»Ich bin Polizist, Frau Schuster, das wissen Sie doch! Soll ich Ihnen meinen Ausweis zeigen?«

»Ausweis zeigen!«, sagte sie und rieb sich am Hinterkopf.

»Natürlich weiß ich, dass Sie ein Polizist sind, ich sag nur, manchmal denk ich eben, Sie sind ein ziemlich eigenartiger Polizist…«

»Wäre es Ihnen lieber, wenn ich eine Uniform anhätte?«

»Das fehlte noch! Ein Mann in einer grünen Uniform hier im Haus! Vielen Dank! Und jetzt gut Nacht.«

Mit einer kurzen Kopfbewegung, die vielleicht mir galt oder nur ein Reflex ihrer Nackenschmerzen war, schloss sie die Wohnungstür.

Im ersten Stock klingelte ich. Ich wusste nicht, wie spät es war, weil ich keine Uhr hatte, aber ich bildete mir ein, in der Wohnung noch Stimmen zu hören.

Eine Frau, die etwas jünger war als Frau Schuster, öffnete.

»Entschuldigung«, sagte ich.

»Sie sinds!«

»Hoffentlich störe ich nicht, Frau Rinser.«

Sie machte die Tür weiter auf. In ihrem roten Kimono, der ihre zerbrechlich wirkende Figur betonte, und mit den hochgesteckten Haaren und den dezent aufgetragenen Lidschatten bildete sie einen schönen Gegensatz zu meiner bauchlastigen, langhaarigen Gestalt.

»Möchten Sie einen grünen Tee?«, fragte sie.

»Nein. Jemand hat nach mir gefragt, sagt Frau Schuster.«

»Ein Mann. Er wollte wissen, ob Sie hier wohnen. Was hätt ich lügen sollen, er hat Ihren Namen an der Tür gelesen.«

»Wissen Sie seinen Namen?«

»Bevor ich danach fragen konnte, war er wieder weg. Er hatte eine blaue Jacke an und seine Haare…« Sie betrachtete meinen Kopf und schien sich sogleich für diesen Blick zu genieren. »Die waren… ungekämmt, also… Und er hatte einen Ohrring.«

»Danke, Frau Rinser«, sagte ich.

»Kennen Sie den Mann?«

»Vermutlich.«

»Also keinen Tee?«

Gerade als ich mich umdrehte, um in den dritten Stock zu meiner Wohnung hinaufzugehen, tauchte der Kopf eines Mannes hinter Frau Rinser auf. Hastig schloss sie die Tür. Wer sollte der Besucher, von dem die Frauen erzählten, gewesen sein, wenn nicht Jeremias Holzapfel? Aber woher wusste er, wo ich wohnte? Über die Telefonauskunft war meine Adresse nicht zu erfahren. Genauso wenig über das Dezernat.

Was wollte er von mir? Seine Geschichte noch einmal erzählen?

Sollte er morgen wieder auftauchen, wäre ich gezwungen etwas zu unternehmen. Im schlimmsten Fall müssten meine Kollegen ihn zur Untersuchung in eine psychiatrische Klinik bringen.

Ich wollte jetzt nicht weiter an ihn denken.

Auf meinem Anrufbeantworter war eine Nachricht von Martin Heuer. Er sagte, er komme erst morgen Früh aus Berlin zurück und wolle sich mit mir zum Frühstück treffen. Es beruhigte mich, dass er sich gemeldet hatte. Ich hatte Angst gehabt, er könnte wieder zu lange in den falschen Gegenden unterwegs gewesen sein und nicht mehr herausgefunden haben.

Ausnahmsweise war ich froh über meinen Anrufbeantworter. Den hatten mir meine Kollegen in diesem Jahr zum Geburtstag geschenkt, weil sie der Meinung waren, ohne ein solches Gerät sei man nicht kommunikationsfähig. Ich teile diese Auffassung nicht im geringsten. Unweigerlich fürchtete ich, sie würden mir zum nächsten Geburtstag ein Handy schenken. Außer Martin war ich der einzige Polizist im Dezernat 11, der noch keines besaß. Ich fand, ich war erreichbar genug.

»Wieso bist du erst heute gekommen?«, fragte ich. Er sagte: »Ich hab das Flugzeug verpasst.«

Weiter brauchte er mir nichts zu erklären, ich sah ihm an, warum er das Flugzeug verpasst hatte. Seine Tränensäcke waren dick und grau, seine Knollennase schien bläuliche Risse zu haben, und das Nest seiner spärlichen Haare klebte ihm schweißnass auf dem Kopf. Sein Gesicht wirkte ausgebleicht und alt. Dabei war er ein Jahr jünger als ich.

Wenn meine Nachbarin Frau Schuster von ihm sagen würde, er wirke nicht wie ein Polizist, dann würde ich ihr zustimmen.

Es fiel Martin schwer, die Augen offen zu halten, und wenn er es schaffte, mich länger als fünf Sekunden anzusehen, klappten seine Lider automatisch nach unten. Er bemühte sich, weniger zu rauchen, aber seine Hand lag ständig auf der grünen Salem-Schachtel.

Eine Zeit lang saßen wir da und schwiegen. Wir hatten uns dort verabredet, wo wir uns immer trafen, wenn er oder ich oder wir beide auf dem Weg zur Arbeit waren oder vom Dezernat kamen: im Bistro des Hauptbahnhofs. Es ist ein Durchgangslokal mit einer Küche in der Mitte und einem Tresen drum herum, ein Aufenthaltsort für Leute, die mehr oder weniger im Bahnhof wohnen, und solche, die unterwegs sind und keine Zeit haben, ein anderes, gemütlicheres, weniger verrauchtes Restaurant zu suchen.

Ich hatte Kaffee und Wasser bestellt, Martin einen schwarzen Tee mit Milch.

»Und wo ist der Junge jetzt?«, fragte ich, bevor Martin womöglich einschlief.

Nach der Landung hatte er am Flughafen ein Taxi genommen, in seiner Wohnung die Reisetasche abgestellt, um dann mit demselben Taxi zum Bahnhof zu fahren. Es war ihm egal, wie er aussah und ob seine Kleidung schlecht roch. Zuerst wollte er »frühstücken«, wie er sich ausdrückte, dann in aller Kürze seinen Bericht tippen und sich anschließend hinlegen und erst morgen Früh wieder aufstehen.

Leider kannte ich ihn zu gut um zu wissen, dass er nach der Arbeit nicht nach Hause, sondern zu Lilo gehen würde, einer sechsundfünfzigjährigen Prostituierten, die er in gewisser Weise liebte und die ihn in gewisser Weise liebte.

»Der Junge ist bei seinen Eltern«, sagte Martin und steckte sich eine Zigarette an. Seit mindestens zehn Minuten hatte er nicht geraucht. »Sie geben ihm Hausarrest, das Übliche. Seine Schwester wird sich irgendwo am Alexanderplatz rumtreiben, wie gesagt, sie war schneller als wir…«

Er sog den Rauch ein, betrachtete seine leere Teetasse und wollte gerade der Bedienung winken, als er stutzte. Er sah in eine bestimmte Richtung und schüttelte schnell den Kopf, bevor ich reagieren konnte. Also wartete ich ab ohne mich umzudrehen.

Wir saßen am Tresen in der Mitte des Bistros, und weil Martin sich schräg auf den Hocker gesetzt hatte, konnte er sehen, was hinter meinem Rücken passierte.

»Da sitzt ein Kerl, der beobachtet uns«, sagte er leise. »Er ist vor ungefähr einer halben Stunde reingekommen, wahrscheinlich hatten wir mal was mit ihm zu tun, ich kann mich nicht an ihn erinnern, er aber an uns, scheint mir… «

»Hat er ein hellblaues Blouson an?«, fragte ich. Und hoffte, Martin würde Nein sagen.

»Ja«, sagte er.

»Dann hör zu!« Ich erzählte ihm die Sache mit Jeremias Holzapfel und beschrieb den Mann.

»Das ist er«, sagte Martin.

»Er muss mir gefolgt sein und ich habe es nicht gemerkt.«

»Das wundert mich nicht«, sagte er. »Sollen wir die Kollegen rufen?«

Nebenan befand sich die Direktion der Bahnpolizei.

»Nein«, sagte ich.

Ich stand auf und ging zu Holzapfel.

»Hören Sie auf mich zu verfolgen«, sagte ich.

Der Mann sah mindestens so müde aus wie Martin, er trug dieselben Sachen wie am Vortag, und sein struppiges Haar stand ihm vom Kopf ab.

»Verzeihen Sie«, sagte er mit müder Stimme.

»Was wollen Sie von mir?«, fragte ich.

»Ich bin wieder da.«

»Kann ich Ihren Ausweis sehen, ich bin Polizist.« Martin Heuer war ebenfalls an den Tisch gekommen.

Mechanisch griff Holzapfel in die Innentasche seines Blousons und holte seinen roten, in einer Plastikfolie steckenden Pass hervor. Martin blätterte darin und gab ihn zurück.

»Haben Sie eine Waffe?«, fragte er.

»Nein.« Unaufgefordert öffnete Holzapfel den Reißverschluss des Blousons und hielt es mit beiden Händen auf.

»Sorry, Cops.«

Susi, die Bedienung, stellte ein kleines Glas Mineralwasser auf den Tisch.

»Noch einen Wunsch?«

Holzapfel schüttelte den Kopf. Susi warf uns einen Blick zu und ging zum nächsten Gast.

»Wenn Sie nicht aufhören, meinen Kollegen zu belästigen, müssen wir Sie festnehmen«, sagte Martin.

»Ich belästige den Süden… den Herrn…« Holzapfel räusperte sich und begann in der gleichen Tonlage den Satz von vorn. »Ich belästige den Herrn Süden nicht, ich möchte, dass er zur Kenntnis nimmt: Ich bin wieder da.«

»Das wissen wir«, sagte Martin.

»Ja«, sagte Holzapfel. »Aber Sie wissen es nicht.« Martin kratzte sich am Kopf und schaute auf die Uhr.

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, sagte ich. »Warten Sie hier auf mich, ich bin in einer Stunde zurück, dann reden wir miteinander, zum letzten Mal. Einverstanden?«

»Ich bin da«, sagte Holzapfel.

Während ich meine und Martins Zeche bezahlte, sagte ich zu Susi: »Pass auf ihn auf! Wenn er gehen will, sag ihm, er soll dableiben. Bring ihm was zu trinken, auch was zu essen! Ich bezahl alles.«

Sie nickte. Vermutlich dachte sie ähnlich über uns wie meine Nachbarin: dass heutzutage merkwürdige Männer bei der Polizei arbeiteten.

Erleichtert darüber, keinen Mord begangen zu haben, klingelte ich an der Haustür. Im Abstand von dreißig Sekunden klingelte ich siebenmal, da ich in der Sprechanlage ein Knacken gehört hatte. Jemand hatte den Hörer abgenommen, aber nichts gesagt.

»Kriminalpolizei, Tabor Süden!«

Keine Antwort.

Obwohl ich mir beim Gehen Zeit gelassen hatte, dröhnte noch immer die Stimme des Taxifahrers, den ich im letzten Moment doch nicht erwürgt hatte, in meinem Kopf.

»Die verdammten Araber… die vom Balkan… Sicherheitsrisiko… nehm ich von Haus aus nicht mit… vermummtes Pack, feiges…«

Manchmal bereue ich meine Gewohnheit, mit dem Taxi zu fahren anstatt mit dem Dienstwagen. Aus dubiosen Gründen bilde ich mir immer wieder ein, es sei entspannender, einfach auf der Rückbank zu sitzen, die Stadt vorbeiziehen zu lassen und mich auf den aktuellen Fall zu konzentrieren. Und so geriet ich wieder an eines dieser Minushirne, die manche Taxiunternehmer offenbar bevorzugt einstellen.

»Die Wahrheit ist… In Wirklichkeit sind diese Typen… Das weiß doch jedes Kind… Ich verrat Ihnen was…«

Endlich summte es und ich stieß die Tür mit dem großen weißen »6c«-Symbol auf. Hinter mir hörte ich aus der Sprechanlage eine Stimme: »Hallohallo!«

An gerahmten Alltagsfotos hinter Glas entlang ging ich die Treppe in den achten Stock hinauf.

An einer Tür fand ich den Namen, den ich gesucht hatte. Ich klingelte. Mit dem Ohr an der Tür horchte ich. Schritte. Dann klopfte ich mit der Faust gegen die Tür.

»Kriminalpolizei. Mein Name ist Tabor Süden. Ich bin wegen einer Befragung hier. Dauert nur ein paar Minuten.«

Stille. Eine Tür am Ende des Flurs ging auf und ein Mann in einem weißen Unterhemd und einer frisch gebügelten Hose trat heraus.

»Was ist?«, fragte er schnittig.

»Polizei«, sagte ich. »Kennen Sie die Mieter in dieser Wohnung?«

»Ausweis!«, sagte der Mann.

Ich klopfte wieder, ohne mich weiter um ihn zu kümmern. Der Mann verschwand, ließ die Tür aber offen.

»Bitte machen Sie auf!«, rief ich. »Ich muss mit Ihnen über Herrn Holzapfel sprechen.«

Wieder waren leise Schritte zu hören. Und dann ein anderes Geräusch. Ich drehte den Kopf.

Der Mann im Unterhemd hielt eine Pistole in der einen und ein Plastikteil in der anderen Hand. Ich sah genauer hin: ein Dienstausweis der Grünen, meiner uniformierten Kollegen.

»Und jetzt obacht! Ausweis, aber schnell!«, blaffte der Mann.

Vorsichtig zog ich meinen blauen Ausweis aus der Lederjacke.

»Können Sie ihn erkennen?«, fragte ich.

Der Mann machte einen Schritt auf mich zu. Die Waffe hatte er entsichert, er hielt sie auf mein Gesicht gerichtet. Mein Taxifahrer von vorhin wäre sehr zufrieden mit ihm gewesen.

»Alles klar, Kollege«, sagte der Mann. Irgendwie enttäuscht ließ er den Arm sinken. »Hier tauchen öfter üble Typen auf. Sie kennen ja die Gegend, Westend, ein Haufen Gschwerl…«

»Kennen Sie den Herrn Holzapfel?«, fragte ich.

»Nö. Da wohnt eine Frau, glaub ich. Junge Frau, glaub ich. Sollen wir reingehen?«

»Wie meinen Sie das?«

»Die Tür öffnen, mein ich, reingehen.«

»Nein«, sagte ich und klingelte nochmals.

Der Kollege mit der Pistole schmatzte und kam noch einen Schritt näher.

Hinter der Tür klirrte ein Schlüsselbund. Jemand sperrte auf. Die Tür wurde einen Spalt breit geöffnet. Ich sah die Hälfte eines Frauengesichts.

»Grüß Gott, ich bin Tabor Süden.« Ich hielt meinen Ausweis hoch. »Darf ich einen Moment reinkommen, es ist wichtig.«

»Warum?«, fragte die Frau. Ihre Stimme klang jugendlich.

»Das möchte ich mit Ihnen allein besprechen.«

»Ich bin allein«, sagte sie. Ich sagte: »Aber ich nicht.« Sie streckte den Kopf heraus.

»Oje«, sagte sie.

Sie machte die Tür weiter auf und ließ mich eintreten. Hinter mir sperrte sie sofort wieder ab.

»Wie heißen Sie?«, fragte ich.

»Silvia Bast.«

»An der Tür steht Holzapfel.«

»Ja«, sagte sie. »Der Makler wollte das so.«