13

Als Franziska Hrubesch und ich das Gasthaus verließen und in ein Taxi stiegen, fiel mir etwas ein, das Holzapfel erzählt hatte, und ich dachte, ich sollte es nachprüfen. Doch dann vergaß ich es wieder. Vielleicht weil ich ein Bier zu viel getrunken hatte, vielleicht weil ich an niemand anderen als an Paul Weber denken konnte.

Dank meiner trunkenheitsbedingten Beharrlichkeit gelang es mir, die alte Frau davon zu überzeugen, in einer kleinen Pension zu übernachten, bis die Leiche ihrer Tochter freigegeben wurde. Bis dahin habe sie Zeit, erste Vorbereitungen für die Beerdigung zu treffen, wobei sie noch nicht entschieden hatte, ob sie die Leiche nach Burghausen überführen solle.

»Ist das pietätlos, wenn ich sie hier in der Stadt begrabe?«, fragte sie.

»Natürlich nicht«, sagte ich.

Ein paar hundert Meter von meiner Wohnung entfernt gibt es eine Gaststätte mit Hotelbetrieb im ersten Stock. Manchmal ziehe ich dort ein, wenn mir die Wände zu nah kommen oder ich mir einbilde, in einem fremden Zimmer wäre ich leichter anwesend.

Schon als Jugendlicher empfand ich das Wort Fremdenzimmer wie einen Trost: Hier ist auch für einen Fremden gedeckt, dachte ich, hier werde ich als Fremder einmal unterkommen. Und bis heute habe ich noch kein Jahr in dieser Stadt verbracht, ohne mich einige Tage oder sogar Wochen wie jemand zu fühlen, der nicht hierher gehört, der auf der Straße plötzlich die Orientierung verliert, der sich in einem Hotel einmieten muss, um zur Ruhe zu kommen.

»Hab schon gedacht, du bist krank«, sagte Rollo zur Begrüßung.

Roland Zirl war der Wirt der »Brecherspitze« und betrieb die Pension.

Ich stellte ihm Frau Hrubesch vor.

»Zimmer 5 ist frei«, sagte Rollo.

»Aber ich bezahl alles selber!«, sagte Franziska Hrubesch. Das hatte sie, nachdem ich sie endlich überzeugt hatte mein Angebot anzunehmen, schon mehrmals erklärt.

»Die Dame zahlt nichts«, sagte ich zu Rollo. »Wir rechnen das über das Dezernat ab.« Grundsätzlich hatten wir nur einen Zeugenetat, ein Formular für die Unterbringung von Angehörigen existierte nicht, also würde ich tricksen und mich im schlimmsten Fall bei Volker Thon andienen müssen.

»Das ist mir nicht recht«, sagte die alte Frau.

»Macht nichts«, sagte ich.

Ich hinterließ ihr mehrere Telefonnummern und versprach, mich spätestens am nächsten Morgen zu melden. Dann steckte ich Rollo fünfzig Euro Vorschuss zu.

Bis zum Taxistand am Ostfriedhof ging ich zu Fuß. Es war später Nachmittag und kalt und grau. Was ich jetzt im Dezernat sollte, wusste ich nicht genau. Vielleicht wäre es besser gewesen, direkt ins Schwabinger Krankenhaus zu fahren. Womöglich waren meine Kollegen dort.

Trotzdem ließ ich mich in die Bayerstraße fahren. Meine Kollegen hatten sich alle in Thons Büro versammelt, nur Martin fehlte.

»Paul hat uns gefragt, ob wir zu ihm nach Hause kommen wollen«, sagte Karl Funkel, der Leiter des Dezernats 11, mit dem ich befreundet bin, wenn auch auf eine distanzierte Art. »Volker, Sonja, Martin, du und ich.«

»Warum so schnell?«, fragte ich. Am Telefon hatte mir Rolf Stern nichts weiter gesagt.

Funkel, der über dem linken Auge eine schwarze Klappe trug, schüttelte den Kopf.

»Sollen wir was mitbringen?«, fragte Sonja.

»Was?«, fragte Funkel. Niemand wusste eine Antwort.

Wir brachten gelbe Chrysanthemen mit, Brot, Wurst und Käse, dazu vier Flaschen Rot und Weißwein. Als wir in die Wohnung kamen, hatte Weber schon den Tisch gedeckt. Er empfing uns mit einer weißen Schürze, die er sich umgebunden und vergessen hatte abzunehmen.

Wir umarmten uns. Niemand sagte ein Wort. Sonja ging in die Küche, um das mitgebrachte Essen auf Teller zu verteilen, Funkel, der ihr helfen wollte, wurde von ihr zurück ins Wohnzimmer geschickt.

Zu dritt standen wir um unseren Kollegen, in dem kleinen Zimmer, in dem ich mit ihm gesessen und ein spätes Bier getrunken hatte. Paul hatte noch zwei weitere Stühle geholt.

Nach einer Weile ging Funkel wieder in die Küche.

»Wo bleibt Martin?«, fragte Thon.

Ich hatte keine Ahnung. Seit zwei Tagen hatte ich nicht mehr mit ihm gesprochen. Er recherchierte den ganzen Tag im Fall der beiden verschwundenen Mädchen und abends hatte er offenbar keine Zeit sich zu melden. Wie ich. Einen kurzen Moment dachte ich an Esther, doch Funkel und Sonja kamen ins Zimmer, und ich trat einen Schritt zur Seite.

Schließlich saßen wir um den niedrigen Couchtisch. Und boten wahrscheinlich einen kuriosen Anblick. Als Einziger saß Weber auf dem Sofa, von uns anderen hatte jeder auf einem Stuhl Platz genommen. Im Halbkreis vor Paul hoben wir die Gläser.

»Herzliches Beileid«, sagte Sonja.

Jeder sagte dasselbe, und Paul sagte jedes Mal Danke.

Während wir die Teller auf unseren Knien balancierten, weil es zu umständlich war, sich dauernd zum Tisch hinunterzubeugen, trank Weber sein Bier aus der Flasche und rührte das Salamibrot, das er sich auf den Teller gelegt hatte, nicht an.

Keiner von uns aß mehr als eine Scheibe, dafür tranken wir in Windeseile zwei Flaschen Wein leer. Zwischendurch holte ich Weber eine neue Flasche Bier.

»Wollt ihr Schnaps?«, fragte er.

»Nein«, sagte Funkel.

»Du kannst rauchen«, sagte Weber zu ihm.

»Jetzt nicht«, sagte er.

»Du auch«, sagte Weber zu Thon, der den Kopf schüttelte.

»Hier ist kein Rauchverbot«, sagte Weber.

Dann schwieg er. Seine Frau hatte er noch mit keinem Wort erwähnt. Wozu auch? Sie war ja da. Neben ihm. Deshalb saß er allein auf der Couch. Damit Raum war für die Tote. Ich brauchte nur hinzusehen.

Ich hatte Elfriede kaum gekannt. Wenn sie ins Büro kam, ließen wir die beiden meist allein. Auf den Weihnachtsfeiern tanzte sie. Manchmal war ich am Telefon, wenn sie anrief und ihren Mann sprechen wollte. Dann fragte sie mich, wie es mir gehe, und ich hatte immer den Eindruck, die Antwort interessiere sie wirklich. Ich versuchte dann ehrlich zu sein.

Alles, was ich von ihr wusste, wusste ich von Paul. Oft, wenn er sich am Abend verabschiedete, stellte ich mir vor, wie es sein musste, wenn man jeden Tag zu einer Frau nach Hause kam, die man seit fast dreißig Jahren kannte. Und oft dachte ich dann, dass es wahrscheinlich ein Glück war. Egal, was andere Ehepaare dazu sagen mochten, Paare, die vergessen hatten, weshalb sie zusammen waren oder sich verloren hatten.

Manchmal, wenn ich zur gleichen Zeit wie er Dienstschluss gehabt hatte, begleitete ich ihn absichtlich nicht auf die Straße. Weil ich ihn auf seinem besonderen Heimweg nicht stören wollte. Ich stellte mir vor, wie er, kaum dass er das Dienstgebäude verlassen hatte, anfing sich zu freuen. Wie er Schritt für Schritt beschwingter wurde, ganz gleich, ob er wieder zugenommen hatte. Und wie er aus der U-Bahn stieg, mit der Rolltreppe nach oben fuhr, bekannte Gesichter sah, an den immer gleichen Häusern vorbeiging, bis er die Drachenseestraße erreichte und vor dem schlichten Mehrfamilienhaus stehen blieb, in dem er wohnte, seit er mit Elfriede verheiratet war. Und wie er kurz zögerte, bevor er auf die Klingel drückte oder den Schlüssel aus der Tasche zog. Wie dann an der Tür im zweiten Stock, die genau in dem Moment geöffnet wurde, in dem er um die Flurecke bog, nichts weiter zu sehen war als die Berührung zweier Wangen, das Streichen von Elfriedes Hand über Pauls Arm und eine ungelenkte Drehung des bulligen Polizisten, der im engen Flur seinen Lodenmantel auszog.

Und ich sah mich vor der wieder geschlossenen Tür stehen, an der ein Metallschild mit dem Namen Weber angebracht war und hinter der gedämpfte Stimmen zu hören waren. Bis vor kurzer Zeit und nun nicht mehr.

»Früher«, sagte Weber, »früher hab ich mich oft geschämt, wenn ich allein war. Ich war ja viel allein. Hab mich geschämt. Hab gedacht, ich bin krank. Wenn du in so einem Dorf viel allein bist, fällst du auf, auch als Kind. Du weißt, was ich meine.«

Er sah mich an.

»Ja«, sagte ich.

»Bis ich begriff«, sagte er, »dass jeder eine eigene Einsamkeit hat – wie eine Stimme.«

Er trank, stellte die Flasche auf den Tisch, nahm sie wieder in die Hand.

»Wenn ich so was zu meiner Mutter gesagt hätt, die hätt mich davongejagt. Einsamkeit! So ein Wort gabs bei uns nicht. Wir hatten Arbeit, wir hatten keine Zeit für so Gefühlszeug, mein Vater war beim Straßenbauamt, wenn der abends heimkam, dann wurde gegessen, und fertig. Er stand morgens um halb sechs auf, im Winter noch früher, Schnee schaufeln, streuen, im Sommer Reparaturarbeiten, neue Beläge. Der hätte mir was gepfiffen, wenn ich gesagt hätt: ›Papa, ich bin einsam.‹ Der hätt mir erst eine Ohrfeige gegeben und dann hätt er mich gezwungen, den Garten aufzuräumen, jedes Laubblatt einzeln wegzutragen. So war er, er hat an nichts anderes gedacht als daran, uns drei über die Runden zu bringen. Und das hat er geschafft. Noch eine Woche vor seinem Tod hat er die Fertigstellung einer Brücke beaufsichtigt, da hatte er schon Morphium im Leib, anders hätt er… anders…«

Er senkte den Kopf.

Sonja machte eine Bewegung um aufzustehen, aber Funkel schüttelte den Kopf.

»Ihr müsst was essen«, sagte Weber und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen, die Bierflasche in der Hand. Er sah uns an, einen nach dem anderen, und es kam mir vor, als wäre es ihm lieber, wir würden jetzt gehen.

»Das Herz hat nicht mehr mitgespielt«, sagte er. »Hat die Medikamente nicht mehr verkraftet. So was kommt vor, das kann man nicht kontrollieren. Das ist schwer zu messen, schwer…« Wie immer hatte er die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt, und wir sahen die dichten grauen Haarbüschel auf seinen Unterarmen. »Ich war grad draußen im Park, die Schwester hat gesagt, ich soll eine Runde spazieren gehen, war auch angenehm in der kühlen Luft. Ich war nicht lang weg, eine halbe Stunde. Als ich zurückkam, hieß es, ich muss in die Intensivstation, da bin ich hin, da hab ich dann gewartet. Die Schwestern haben mir Kaffee gebracht, das war nett. Dann ist der Oberarzt gekommen. Ich hab an seinem Gang gesehen, dass er nichts Gutes zu sagen hat.«

Er schwieg lange. Trank sein Bier aus, strich über die Flasche, fast zaghaft.

In der Ecke tickte die antike Uhr.

»Ich hab mich von ihr verabschiedet«, sagte Weber und sah uns nicht an. »Sie haben mich allein mit ihr gelassen. Früher, als Kind am Chiemsee, da hab ich gedacht, ich bin allein, sogar einsam. Aber heut Mittag, in dem hellen Raum, neben Friedes Bett, da hab ich gewusst, allein und einsam ist man nur, wenn man neben seiner toten Frau sitzt. So allein ist man nicht mal in der allerbeschissensten Kindheit. So allein ist man nur im Krankenhaus ganz am Schluss.«

Er stand auf und ging hinaus. Wir hörten eine Tür schlagen.

»Soll jemand von uns heut Nacht hierbleiben?«, sagte Sonja.

»Wir fragen ihn«, sagte Funkel.

Ich stand ebenfalls auf und suchte zwischen den dicht stehenden Möbeln eine Stelle, wo ich mich an die Wand lehnen konnte.

Funkel griff nach Sonjas Hand und hielt sie fest. Bis vor kurzem hatten sie zusammen gewohnt und die Absicht gehabt zu heiraten. Inzwischen lebte jeder von ihnen wieder allein.

Nach zwei Stunden sagte Weber: »Würd es euch was ausmachen zu gehen?«

Natürlich wollte Sonja ihm helfen, das Geschirr abzuräumen, aber er verbot es ihr.

»Ich kann sowieso nicht schlafen«, sagte er.

An der Tür umarmten wir uns wie bei der Begrüßung.

»Danke, dass ihr da wart!«, sagte Weber.

Im Hausflur wartete ich noch, bis er die Tür schloss. Er machte sie sehr langsam zu, so als müsse er darauf achten, jemanden, der in der Nähe schlief, nicht zu wecken.

Dann lehnte ich meine Stirn an die Tür, drückte beide Hände flach dagegen und schloss die Augen. Meine Kollegen waren längst auf der Straße, da beugte ich mich zurück, die Hände weiter gegen die Tür gepresst, und sagte leise das Gedicht, das mir Paul bei meinem Besuch vorgelesen und von dem ich bis zu diesem Moment nicht gedacht hätte, dass ich es Wort für Wort wiedergeben könnte.

»Die laubigen Laubfrösche bitten laut / der Morgen stellt sich häufig taub und blind / mit Laub auf den Stimmen mit Zungen betaut / für alle die im Herzen barfuß sind.«

In der Stille, die folgte, kam es mir vor, als hörte ich ein Scharren hinter der Tür. Wahrscheinlich täuschte ich mich. Ich wandte mich um und ging die Treppe hinunter.

Vor dem Haus warteten meine Kollegen in Thons Auto auf mich. Das Seitenfenster war offen.

»Fährst du mit?«, fragte er.

»Nein«, sagte ich.

Ich bückte mich, um einen Blick ins Innere des Wagens zu werfen. Sonja saß auf dem Beifahrersitz, sie sah kurz zu mir her. Auf der Rückbank kratzte sich Funkel an der Oberkante seiner Augenklappe und sah mich mit seinem rechten, gesunden Auge traurig an. Ich war mir nicht sicher, ob es richtig war, dass wir Weber allein gelassen hatten.

»Bist du morgen im Urlaub oder arbeitest du weiter für den Mord?«, fragte Thon.

Ich sagte: »Ich arbeite im Urlaub weiter für den Mord. Läuft die Fahndung nach Holzapfel?«

»Morgen ist sein Bild in der Zeitung.«

»Gute Nacht!«, sagte ich.

Funkel winkte mir zu. Thon wendete mit dem Auto, und sie fuhren weg.

Wo war Martin Heuer? Warum hatte er nicht wenigstens angerufen?

Zwei Straßen weiter fand ich eine Telefonzelle.

»Martin?«, sagte ich in den Hörer. Anscheinend hatte ich ihn aufgeweckt. »Wie gehts dir?«

»Entschuldige«, sagte er. »Ich hab das nicht geschafft, ich wollt nicht in die Wohnung. Ich hätt nicht gewusst, was ich sagen soll.«

»Das haben wir alle nicht gewusst.«

»Bleibst du bei ihm?«

»Nein«, sagte ich. »Er will allein sein.«

»Das ist nicht gut«, sagte Martin.

»Sehen wir uns morgen Früh?«

»Ich hab eine Verabredung mit einem Typ aus der Szene, er kennt angeblich jemanden, der jemanden kennt, der weiß, wo die Mädchen stecken.«

»Machst du das allein?«, fragte ich.

»Du bist ja im Urlaub«, sagte er.

»Ich kann mitkommen.«

»Nein. Ist dein Holzapfel schon wieder aufgetaucht?«

»Nein«, sagte ich.

Wir verabschiedeten uns.

Ich hatte die Telefonzelle schon verlassen, als mir wieder einfiel, woran ich im Taxi mit Franziska Hrubesch schon gedacht und das ich dann vergessen hatte. Hastig machte ich kehrt.

Von der Auskunft ließ ich mir die Nummer des »Hotels Post« in Salzburg geben.

»Welches Datum?«, fragte die Frau an der Rezeption.

»Nein, das ist unmöglich festzustellen, nach vier Jahren und wie vielen Monaten, sagten Sie?«

»Sechs«, sagte ich. »Und der Name sagt Ihnen nichts?«, fragte ich.

»Tut mir Leid, mein Herr.«

»Kann ich Ihre Chefin sprechen?«

»Wissen Sie, wie spät es ist? Es ist fast Mitternacht!«

»Das weiß ich«, sagte ich. »Ich habe Ihnen gesagt, ich bin Polizist, ich schicke Ihnen gern morgen Früh ein Fax aus dem Dezernat, im Moment bin ich unterwegs…«

»Bis so spät arbeitet die Gendarmerie nicht, was?«, sagte die Frau. »Ich schau mal, ob die Frau Dr. Prechtl noch da ist. Augenblick…«

Ich wartete.

»Prechtl.«

Ich nannte meinen Namen und fragte sie nach Jeremias Holzapfel. Sie kannte ihn nicht.

»Wir haben so viele Gäste während des Jahres«, sagte die Direktorin. »Wir speichern die Namen im Computer, aber nach einiger Zeit löschen wir sie, wenn der Gast dann nicht mehr wiedergekommen ist.«

Ich beschrieb ihr Holzapfels Aussehen. Und seine Kleidung.

»Das ist interessant«, sagte Frau Prechtl. »So einer war gestern hier, also gestern ist er abgereist, gekommen ist er… warten Sie…«

Sie fragte ihre Mitarbeiterin.

Vor der Telefonzelle stand ein älterer Mann mit einem Rauhaardackel. Der Hund schaute zu mir herauf, als flehe er mich an, ihn von einem schweren Schicksal zu erlösen. Ich betrachtete den Mann und hatte Mitleid mit dem Tier.

»Herr Süden?«, sagte Frau Prechtl. »Der Gast ist vorgestern gekommen, also am Montag, das war der sechste September, und gestern ist er wieder abgereist, am Nachmittag um vier Uhr. Er hatte die Nacht noch gebucht und auch schon bezahlt, aber dann ist er überraschend abgereist.«

»Wie hieß der Mann?«, fragte ich.

»Hrubesch«, sagte Frau Prechtl. Sie buchstabierte den Namen.

»Vorname?«

»Franz. Wohnhaft in München, Theresienhöhe 6 c… Das ist doch da, wo das Oktoberfest ist, stimmts nicht?«

»Ganz genau«, sagte ich. »Was wollte der Mann in Salzburg?«

»Das weiß ich nicht, er hatte eine kleine Tasche dabei, eine Umhängetasche. Meine Mitarbeiterin sagt, er hat behauptet, er wär schon mal bei uns gewesen, vor ein paar Jahren.«

»Ist er zurück nach München?«, fragte ich.

»Moment…« Sie sprach wieder mit der Frau von der Rezeption.

Dackel und Herrchen standen immer noch vor der Telefonzelle. Allerdings machte der Mann nicht den Eindruck, als wolle er telefonieren.

»Herr Süden?«, sagte Frau Prechtl. »Meine Mitarbeiterin meint, ja. Er wollte zurück nach München. Aber sicher ist sie sich nicht. Ist das ein Verbrecher, der Herr?«

»Nein«, sagte ich. »Auf Wiedersehen!«

»Wiederschaun, Herr Kommissar!«

Als ich die Zellentür aufschob, bellte der Dackel.

»Guten Abend«, sagte der Mann.

»Guten Abend.«

»Ich muss dauernd mit ihm raus«, sagte der Mann mit reglosem Gesicht. »Er schläft nicht mehr. Er ist total unruhig. Schauen Sie ihn an! Er zittert. Der Arzt hat nichts festgestellt. Das ist Wahnsinn. Ich bin bei der Post, ich muss jeden Morgen um fünf raus. Und der Xaver macht mich fertig.«

»Xaver«, sagte ich.

Der Blick des Hundes war erbarmungswürdig. Vielleicht war er im vorigen Leben eine Gazelle gewesen und begriff nicht, was er angestellt hatte, dass er jetzt als bayerischer Biergartenzwerg dahinvegetieren musste.

»Hoffentlich muss ich ihn nicht einschläfern lassen«, sagte der Mann und zerrte an der Leine. »Geh weiter, Xaver, los jetzt!«

Tatsächlich drehte sich Xaver noch einmal zu mir um. Ich winkte ihm. Er bellte und bekam dafür von dem Mann einen Schlag auf den Kopf.

In dieser kalten Nacht war ich froh, schnell ein freies Taxi zu erwischen.

Bevor ich in meiner Wohnung den blinkenden Anrufbeantworter abhörte, zog ich mich aus und duschte. Danach ging ich nackt in den Flur und spulte das Gerät zurück.

Martin hatte eine Nachricht hinterlassen. Und Ute.

»Hallo«, sagte sie knapp. »Wo bist du? Warum rufst du nicht an? Pass auf, der Kerl, der da in der Zeitung von morgen abgebildet ist, der saß vor ungefähr einer Stunde in meiner Tram. Ich bin mir ziemlich sicher. Ich hab natürlich nicht auf ihn geachtet. Ich hab die Zeitung erst später gekauft, vorhin erst. Ich hab ihn an dem gelben Ding erkannt, das er anhat. So, das wars. Meine Pflicht als aufmerksame Staatsbürgerin ist damit erfüllt.«

Dann hatte sie aufgelegt.

Wie aus einem zwanghaften Impuls heraus öffnete ich das Fenster meines Schlafzimmers und sah hinunter in den Hof. Mindestens fünf Minuten. Dann fing ich an zu frieren und legte mich ins Bett.

Franz Hrubesch. Kehrte der Schauspieler als gewöhnlicher Lügner allmählich in die Wirklichkeit zurück?