Am Montag Früh zog Esther Kolb ihre Anzeige wegen Körperverletzung zurück. Gründe nannte sie keine, das Einzige, was sie sagte und ungefähr siebenmal wiederholte, war, der Mann sei wahrscheinlich betrunken gewesen, er habe sie sicher nicht absichtlich niedergeschlagen, und sie wolle keinem Unschuldigen Unannehmlichkeiten bereiten. Auch auf mehrmaliges Nachfragen hin bestritt sie, den Namen Jeremias Holzapfel schon einmal gehört zu haben oder gar den Mann zu kennen. Sie habe ihn nie zuvor gesehen. Woher sie das wissen wolle, fragten meine Kollegen von der Bahnpolizei, sie habe doch ausgesagt, der Überfall sei so überraschend für sie gewesen, dass sie nicht einmal eine brauchbare Beschreibung des Täters abgeben könne.
Von dieser Aussage rückte Esther Kolb auch nicht ab. Sie verließ das Büro erst, als der Kollege vor ihren Augen das von ihr unterschriebene Papier zerriss und die Angaben im Computer löschte. Für die Bahnpolizisten handelte es sich letztendlich um eine Bagatelle, sie wunderten sich zwar, waren aber wie immer froh, wenn sich angesichts des Wusts unaufgeklärter Alltagsfälle der eine oder andere von selbst erledigte.
Auf Grund unserer Begegnung am Hauptbahnhof informierten sie das Dezernat 11 über Frau Kolbs Entscheidung, und Sonja Feyerabend gab mir die Nachricht am Telefon weiter. Der zweite Grund ihres Anrufs war, dass sie wissen wollte, warum ich mich am Wochenende nicht wie versprochen bei ihr gemeldet hatte.
»Am Samstag«, sagte ich, »war ich den ganzen Tag unterwegs, abends habe ich Paul besucht und am Sonntag wollte ich allein sein.«
»Sie haben nicht vergessen anzurufen?«, fragte sie.
In der Vermisstenstelle waren wir die Einzigen, die sich siezten.
»Ich hab immer wieder dran gedacht.«
Sie sagte: »Es gibt eine Form von Ehrlichkeit, die ich nicht besonders gut ertrage.«
»Entschuldigen Sie!« Sie schwieg.
»Das Alleinsein ist sehr wichtig für mich«, sagte ich. »Ich habe kürzlich die Aussage eines Schriftstellers gelesen, der meinte, man solle Alleinsein als Fach in der Schule einführen. Guter Vorschlag.«
Während ich noch sprach, kicherte sie. Es hörte sich zumindest so an.
»Worüber lachen Sie?«, fragte ich.
»Weil Sie sagen: ›Die Aussage eines Schriftstellers‹. So redet nur ein Polizist. Außerdem hätte ich nicht gedacht, dass Sie das Feuilleton lesen.«
»Warum nicht?« Sie schwieg.
Ich sagte: »Das Interview stand im Lokalteil einer Boulevardzeitung.«
»Ich wollte schon bei Ihnen anrufen«, sagte sie. »Das möcht ich mir eigentlich ersparen, so was. Also wenn Sie das nächste Mal sagen, Sie rufen an, dann tun Sies auch, selbst wenn Sie absagen!«
»Entschuldigen Sie!«
»Tun Sies«, sagte sie, »dann können Sie sich Ihre Entschuldigungen sparen.«
Ich streckte die Beine aus. In dem einen der beiden Zimmer, die mit der Küche, dem Bad und dem engen Flur meine Wohnung waren, hockte ich auf dem Boden, an die Wand gelehnt, und trank schwarzen Kaffee.
»Wie gefällt es Ihnen in der neuen Wohnung?«, fragte ich.
»Ich gewöhn mich noch dran.«
»Milbertshofen ist eine eigene Gegend.«
»Zumindest bezahlbar«, sagte sie. Dann schwiegen wir.
Am anderen Ende hörte ich Telefone klingeln und andere Geräusche, die mich daran erinnerten, dass ich Urlaub hatte.
»Was vermuten Sie?«
»Bitte?« Ich stellte die Tasse auf den Boden.
»Warum hat die Frau die Anzeige zurückgezogen?« Ich sagte: »Das haben Sie mir doch vorhin erklärt.«
»Und Sie glauben das?«, fragte sie.
»Warum nicht?«
»Sie lügen«, sagte sie. Ja, sagte ich nicht.
Kein halbwegs erfahrener Polizist glaubt die Aussage eines Opfers, es ziehe die Anzeige zurück, damit kein Unschuldiger ins Gefängnis müsse, schließlich sei der Täter ja nur betrunken gewesen. Jeder halbwegs erfahrene Polizist vermutet sofort eine Täter-Opfer-Beziehung und ebenso schnell wird ihm klar, wie schwierig es sein würde, eine Frau dazu zu bringen, mutig zu sein und nicht klein beizugeben. Doch solche Überlegungen waren im Fall Holzapfel überflüssig, zumal die Verletzungen der Frau offenbar nicht schlimm waren und der Mann weder vorbestraft noch durch gewalttätiges Auftreten bekannt war.
Der Grund, warum ich nicht anders konnte als Sonja anzulügen, war, dass ich nicht weiter über die Sache sprechen wollte. Inzwischen war ich viel zu sehr darin verstrickt. Sogar mit Paul Weber hatte ich beim Bier fast eine Stunde über Holzapfel geredet, und am Ende saßen wir beide genauso ratlos nebeneinander wie am Anfang. Derzeit bearbeiteten meine Kollegen einschließlich Sonja Feyerabend vier komplizierte Vermissungen, darunter die Fälle zweier Kinder, und niemand hatte Zeit, sich um einen spinnenden Exsprecher und meine Kapriolen zu kümmern. Und es wäre mir unangenehm gewesen, wenn im Dezernat jemand erfahren hätte, was ich in meinem Urlaub trieb.
Als einzelgängerisch, unberechenbar und stur zu gelten war das Eine. Daran war ich gewöhnt. Das andere war, als Witzfigur dazustehen. Ich ertrug es, vor mir selbst lächerlich zu erscheinen, aber sonst vor niemandem. Höchstens vor Martin Heuer. Aber mit ihm war ich groß geworden, ihn kannte ich, seit ich ein Jahr alt war, keiner von uns beiden konnte sich vor dem anderen blamieren, oft begriffen wir den anderen bei dem, was er tat, schneller als uns selbst. Dass ich dennoch oft Angst um ihn hatte und er vielleicht um mich, war eine andere Geschichte.
Als Polizist wollte ich zumindest nach außen hin ein einigermaßen vernünftiges Bild abgeben, auch wenn mir bewusst war, dass ich, so wie ich aussah und mich kleidete, auf viele Leute, auf Kollegen und Vorgesetzte einen eher polizeiunähnlichen Eindruck machte.
»Ich weiß nicht, ob ich Sie reinlassen soll«, sagte sie, nachdem sie mich eine halbe Minute lang von oben bis unten angestarrt hatte.
Dabei hatte ich ein frisches weißes Hemd angezogen und mir die Haare gewaschen. Wie üblich trug ich meine an der Seite geschnürte Lederhose und meine gemusterten Stiefel. Die Lederjacke hatte ich zu Hause gelassen.
»Ich bin nicht offiziell hier«, sagte ich zum zweiten Mal. Für einen Polizisten, der seinen Ausweis vorzeigte und Fragen zu einem konkreten Fall stellte, war das eine zwielichtige Aussage.
»Ich bin nicht im Dienst«, korrigierte ich mich.
»Warum sind Sie dann hier?«, fragte Esther Kolb.
Sie wohnte in Harlaching in einer der Mißgeburten aus Beton, von denen es einige in diesem ansonsten aus Villen bestehenden Viertel gab. Manche Garagen waren garantiert geräumiger als meine Wohnung.
»Ich glaube, Herr Holzapfel braucht Hilfe«, sagte ich.
»Und Sie wissen, wo er sich aufhält.«
»Weiß ich nicht«, sagte Esther Kolb. Sie war Anfang vierzig, einen halben Kopf größer als ich und breitschultrig. Den Kragen ihrer weißen Bluse hatte sie hochgestellt und zu den Bluejeans trug sie schwarze Schuhe, die bis über die Knöchel reichten. Im Gegensatz zu ihrer Figur wirkte ihr Gesicht schmal.
Während ich sie betrachtete, fragte ich mich, wie es der schmächtige Holzapfel geschafft hatte, sie zu Boden zu werfen.
»Ich bin auf dem Sprung«, sagte sie. »Ich hab meine Anzeige zurückgezogen, das wars. Was noch?«
»Warum haben Sie sie zurückgezogen?«
»Das hab ich schon erklärt.«
»Woher kennen Sie Herrn Holzapfel?«, fragte ich.
Sie lächelte mit der Hälfte ihres Mundes. »Ich kenn ihn nicht.«
»Natürlich kennen Sie ihn.«
Wir standen uns gegenüber, zwei Weißhemden, die etwas wussten.
»Kommen Sie rein, verdammt!«, sagte sie, drehte sich um und ging voraus.
Ich schloss die Tür hinter mir. In einem Zimmer voller Grünpflanzen, in dessen Mitte eine rechts und links von einem Kästchen aus Acrylglas flankierte Couch stand, spielte leise Klaviermusik, und es roch nach einem Öl, dessen Duft ich nicht identifizieren konnte.
»Was trinken?«
Sie goss Campari in ein Glas und Wasser aus einem Apparat, mit dem man sein Mineralwasser selbst herstellte.
»Nein«, sagte ich.
Sie trank und sah mich an. Dann stellte sie das Glas ab, zögerte einen Moment, kam auf mich zu, sah mir in die Augen, machte eine Kopfbewegung in Richtung Flur, ging hinaus und öffnete eine Tür.
Ich folgte ihr. Und warf einen Blick an ihr vorbei ins Zimmer.
Auf einem Bett schlief Jeremias Holzapfel in seiner Straßenkleidung.
Dann begriff ich, dass nicht Holzapfel, sondern nur seine Kleidung dalag: das blassblaue Blouson, die Cordhose, sein hellbraunes ausgewaschenes Hemd. Und auf dem weißen Kopfkissen blinkte etwas: Holzapfels kleiner goldener Ohrring. Vor dem Bett standen seine abgetretenen Wildlederschuhe.
Esther Kolb drängte mich zur Seite und schloss die Tür.
»Okay?«, sagte sie und ging zurück ins Wohnzimmer.
»Haben Sie Bier?«, fragte ich.
»Im Kühlschrank«, sagte sie.
Ich suchte die Küche, nahm eine Flasche aus dem Kühlschrank und hielt nach einem Öffner Ausschau. In einer Schublade fand ich einen. In der Küche deutete nichts darauf hin, dass hier gekocht oder gegessen wurde. Der Kühlschrank enthielt nichts außer mehreren Flaschen Bier und Weißwein, zwei Gläsern mit eingelegtem Gemüse, einer Butterschale und einer blauen Tupperdose.
»Danke«, sagte ich, als ich ins Wohnzimmer kam.
Esther hatte sich auf die Couch gesetzt, die Beine übereinander geschlagen und das Glas auf ihrem Knie abgestützt.
»Und nun?«, fragte sie.
Ich sagte: »Nun bin ich neugierig auf Ihre Geschichte.«
»Wieso interessiert Sie die?«
»Ich bin Spezialist für merkwürdige Geschichten«, sagte ich.
»Dann erzählen Sie mir Ihre zuerst!«, sagte sie.
»Ich dachte, Sie sind auf dem Sprung.«
»Bin ich. Aber ich ’bin die Chefin.«
»Was machen Sie?«
»Ich hab ein Billardcafé im Westend. Spielen Sie Billard?«
»Manchmal.«
Ich setzte mich in einen bequemen Stoffsessel mit breiten Lehnen, trank einen Schluck und stellte die Flasche neben den Stuhl. Dann schaute ich Esther an. Offenbar hatte sie mich beobachtet.
»Meine Geschichte kann ich in einem Satz zusammenfassen«, sagte ich.
Sie hob ihr Glas an den Mund ohne zu trinken. Über den Rand hinweg sah sie zu mir her.
Ich sagte: »Ich arbeite auf der Vermisstenstelle der Kripo und kann meinen eigenen Vater nicht finden.«
Es war der Anblick der Kleidungsstücke gewesen, in denen ein Körper fehlte, der mich dazu gebracht hatte, diesen Satz auszusprechen, der normalerweise nur in meinem Kopf existierte. Nicht einmal zu Martin hatte ich je so etwas gesagt, obgleich er meine Biografie so gut kannte wie ich selbst.
Noch vor einer halben Minute war ich entschlossen gewesen, irgendeine Episode aus meinem Arbeitsleben zu erzählen. Und jetzt saß ich in der Wohnung einer fremden Frau, auf deren Bett ein Mann gelegen hatte, der mich nichts anging. Und ich hatte mich allen Ernstes aus keinem anderen Grund als Neugier auf einen Handel mit Lebensgeschichten eingelassen.
Entweder waren wir beide lächerliche Gestalten oder wir mussten hinterher Holzapfels Sachen woanders hinräumen.
»An einem Sonntag…«, sagte ich. Und stand auf. Und indem ich aufstand, an Esther vorbeiging und mich hinter sie stellte, trat ich in die Geschichte eines anderen ein. Ich wollte jetzt nicht der sein, der ich damals in Wirklichkeit war, mit sechzehn, an jenem Sonntag…
Sie drehte den Kopf, aber ich sagte: »Zuhören können Sie auch so. Es dauert nicht lang.«
Sie lehnte sich zurück und legte den Kopf ein wenig schief.
»An einem Sonntag forderte mein Vater mich auf mich hinzusetzen. In der Küche. Ich setzte mich. Er fing an zu sprechen. Und bevor ich begriff, worum es ging, war er schon fertig. Wahrscheinlich war ich vom ersten Wort an so geschockt über das, was er sagte, dass es sofort dunkel wurde in meinem Kopf und die Sätze an meinen Ohren abprallten wie an geschlossenen Türen. Ich sah ihn an, ich kann noch heute sein Gesicht sehen, ein Gesicht mit wässrigen Augen, und der Mund ging auf und zu, und ich saß vor ihm, er sprach auf mich herunter, und wann immer ich seither an diese Szene denke, höre ich nichts. Es ist, als dächte ich an einen Stummfilm, als sähe ich Bilder, aber niemand spricht dazu, obwohl ich die Mundbewegungen ganz deutlich erkennen kann.«
Wortlos schob ich meinen Unterkiefer hin und her. Mit geschlossenen Augen. Als würde ich mit Schweigen einen Monolog synchronisieren. Und dann musste ich an Jeremias Holzapfel denken. Auch er hatte seinen Mund eigenartig bewegt, wie jemand, der seine Gesichtsmuskeln nicht unter Kontrolle hat.
Eilig fuhr ich mit der Geschichte jenes anderen fort, der ich jetzt nicht sein wollte: »Er küsste mich, und Tränen liefen ihm übers Gesicht. Wie damals, als meine Mutter starb. Anschließend ging ich in mein Zimmer und blieb dort. Ich war wie gesagt sechzehn, aber im Gegensatz zu meinen Freunden hatte ich noch keine Freundin, Partys interessierten mich nicht besonders, und geredet habe ich auch nicht gern. Ich fand, dass fast alles, was ich sagte, entweder falsch oder blöde war. Am jenem Nachmittag kamen mein Onkel Wilhelm und seine Frau Elisabeth, Willi und Lisbeth, zu mir und erklärten mir, mein Vater sei weggegangen. Da fiel mir ein, was er in der Küche zu mir gesagt hatte, und ich lief hinüber, und die Küche war menschenleer. Nur eine Jacke hing über dem Stuhl, seine Lederjacke. Und auf dem Tisch lag ein Brief, ein Blatt Papier, auf dem stand: ›Lieber Tabor‹. Das war ich. Ich nahm den Brief aber nicht. Sondern ich zog die Lederjacke an, die mir viel zu groß war, sie roch nach dem Rasierwasser meines Vaters, sie war schwer, und ich fühlte mich sofort sicher in ihr. Wie beschützt. Ich drehte mich um, und da stand Willi und reichte mir eine Flasche Bier. Ich trank sie aus, steckte den Brief ein und verließ das Haus. Lisbeth und Willi wollten mich begleiten, aber ich rannte davon. In der Kneipe, in der sich die Jugendlichen des Dorfes trafen, trank ich ein zweites Bier und dann ging ich hinunter zum See, um den Brief zu lesen.«
Erst jetzt machte ich die Augen wieder auf. Esther hatte sich umgedreht und sah mich an. Das war mir unangenehm.
»Der Mann ist immer noch verschwunden«, sagte ich.
»Angeblich wollte er nach Amerika. Bisher haben alle meine Nachforschungen nichts ergeben. Die Kollegen drüben waren sehr hilfsbereit.«
»Sie werden ihn finden«, sagte Esther Kolb.
Ich sagte: »Wir haben aufgehört ihn zu suchen.« Und fügte hinzu: »Er ist nicht als vermisst gemeldet.«
»Wie Jerry.«
Ich ging zu dem Stoffstuhl mit den breiten Lehnen und nahm die Bierflasche, die ich auf den Teppich gestellt hatte. Ich trank die Flasche in einem Zug aus.
»Sie haben ihn verpasst«, sagte Esther. »Ich hatte ihn nicht erwartet, es klingelte, ich machte auf… Im Bahnhof war ich mir nicht sicher gewesen, ich hab ihn lange nicht mehr gesehen… Jerry…«
»Waren Sie befreundet mit ihm?«
»Das auch. Aber vor allem hatten wir ein Verhältnis.
Wenn er zu mir kam, dann meistens nachts, mal mehr, mal weniger angetrunken. Und dann gingen wir gleich ins Bett, ohne bürgerliche Warteschleife…«
»Wann war das?«, fragte ich. Bei passender Gelegenheit wollte ich mir noch ein Bier holen.
»Kennen gelernt haben wir uns… ja, ist fast zehn Jahre her, ich hatte damals ein kleines Restaurant mit meinem Exmann, wir waren Partner. Bis ich merkte, dass wir total verschuldet waren… Ist vorbei. Jerry kam manchmal zum Essen zu uns, er flirtete die ganze Zeit mit mir. Und er hatte eine schöne Stimme. Irgendwann hab ich ihn dann im Radio gehört und das sagte ich ihm auch, er freute sich darüber. Er war auch da, als wir unseren letzten Abend gegeben haben, Rolf, mein Exmann, unsere Köche und ich. Und danach haben wir uns verabredet, Jerry und ich…«
»Wo wohnte er damals?«
»Im Westend, in dem Hochhaus überm Karstadt.«
»Waren Sie mal da?«
»Nein. Er wohnte doch mit seiner Frau dort. Er kam zu mir. War mir auch recht. Ich hab diese Wohnung hier gemietet, weil ich den Stadtteil mag, das Haus ist natürlich nicht so schön.«
»Es sieht aus wie der Racheakt eines Architekten«, sagte ich.
»So furchtbar ist es auch wieder nicht.«
»Kann ich noch ein Bier haben?«
»Bringen Sie mir auch eins mit!«
Ich holte das Bier und wir stießen mit den Flaschen an.
»Und heut Nacht taucht er plötzlich hier auf, es war drei ungefähr, ich hab schon geschlafen. Zuerst dachte ich, es ist Elsa, eine junge Frau, die bei mir arbeitet, die hat Probleme mit ihrem Kerl, der schlägt sie, und sie hat schon ein paarmal hier übernachtet. Aber es war Jerry. Und als ich ihn sah, wusste ich, dass er das war im Bahnhof.«
»Was für ein Zufall!«, sagte ich.
»Ja«, sagte sie und klopfte mit dem Flaschenhals an ihr Kinn. »Es war Zufall, dass wir uns im Bahnhof über den Weg gelaufen sind. Aber ich glaube nicht, dass es Zufall war, dass er mir eine verpasst hat, der alte Jerry.«
»Haben Sie mit ihm gesprochen?«
»Gesprochen?« Sie tippte sich mit der Flasche an die Stirn. »Mit dem kann man nicht sprechen, keine Ahnung, was mit ihm los ist. Vielleicht ist er verrückt geworden. Alles, was er gesagt hat, war, er sei wieder da. Natürlich hab ich gedacht, er will vögeln, wie früher, was sonst? Aber das wollte er nicht. Und jetzt passen Sie auf: Er kam also rein, schaute sich um, ging ins Schlafzimmer, legte sich aufs Bett, wo ich gerade gelegen und fest geschlafen hatte, und eine Minute später fing er an zu schnarchen. Wie finden Sie das?«
»Konsequent.«
»Bitte?«
»Er war müde«, sagte ich. »Endlich hatte er ein Bett gefunden, in dem er sich wohl fühlte.«
»Interessanter Aspekt«, sagte Esther und trank. »Ich hab dann auf der Couch hier geschlafen. Heut Morgen hab ich einen Blick ins Schlafzimmer geworfen und er schlief immer noch. Ich hab mich angezogen und bin zum Bäcker gegangen, wo ich immer meinen Morgenkaffee trinke, und das hab ich auch heut früh getan. Dann hab ich zwei Brezen und Milch gekauft, weil ich dachte, vielleicht will er frühstücken. Als ich nach Hause kam, lagen die Sachen auf dem Bett, und Jerry war verschwunden. Er hat eine Hose von mir angezogen, einen Pullover, irgendwelche alten Turnschuhe und meinen Friesennerz mitgenommen.«
»Was?«
»Den hab ich mir für die Nordsee gekauft, ich fahr da oft hin, besonders im Spätherbst, da braucht man so eine Ölzeugjacke, die hilft gegen das Wetter dort.«
»Und diese Jacke ist gelb?«, fragte ich.
Sie sagte: »Gibts die auch in anderen Farben?«
»Das bedeutet«, sagte ich, »Jeremias Holzapfel ist in einer gelben Ölzeugjacke in der Stadt unterwegs? An einem sonnigen warmen Tag wie heute?«
»Ist bestimmt ein lustiger Anblick«, sagte Esther.