8

Wenn ich Alkohol trank, geriet ich in einen Zustand von Selbstverlorenheit, den ich am nächsten Tag unfassbar fand. Ich wurde nicht laut oder aggressiv und selten versank ich in trostlosen Erinnerungen. Auch irrte ich nicht umher, taumelte nicht gegen Wände oder Menschen, redete nicht wirr oder grölte. Was mit mir passierte war, dass ich mich in meinen Schatten verwandelte und davonstahl wie ein Dieb. Als hätte ich den Mann, dem ich meine Existenz als Schatten verdankte, seiner eigenen Existenz beraubt und ihn als einen Haufen Lumpen zurückgelassen, der nicht einmal als Vogelscheuche taugte, weil kein Vogel ihn bemerken würde.

Für diesen Zustand gab es keine andere Beschreibung, ich sah die Worte vor mir, als hätte ich sie aufgeschrieben, jedes Mal, wenn ich zu früh begonnen hatte zu trinken und es nicht schaffte aufzuhören. Und so wie das Tageslicht schwand, verschwand ich selbst, so schien mir, im Gefolge meines Schattens, in den ich mich schließlich bei Einbruch der Nacht ganz verwandelte. Ich gehörte dann nicht mehr mir. Fast war es, als wäre ich fähig, mir bei all dem zuzusehen, was ich tat, während ich noch mehr Alkohol trank und immer stärker außer mich geriet.

Obwohl ich mir einbildete, keinen Körper zu besitzen, vielleicht etwas anderes als ein Mensch zu sein, glühte ein unbändiges Verlangen in mir, ich gierte nach den Händen einer Frau, ihrem Duft, ihrem Schweiß, ihrem Schreien. Maßlos steigerte ich mich in eine ekstatische Anwesenheit hinein, das vollkommene Gegenteil meines tatsächlichen Verhaltens, das aus nichts weiter bestand als dazusitzen, die Hand zu heben, zu trinken und zu schweigen, in die Ecke gekauert, den Kopf auf die Faust gestützt. Jeder hielt mich für den üblichen Säufer, niemand erkannte mich.

In solchen Momenten sah ich manchmal eine Straße vor mir, keine bestimmte Straße, nur eine Straße, auf der man gut gehen konnte. Und ich wusste, wenn ich dieser Straße folgen würde, wenn ich den Mut hätte mich nicht zu fragen, ob ich an der nächsten Gabelung die Richtung ändern solle, dann wäre ich fähig zu erkennen, wer ich wirklich war und was ich wirklich in dieser Welt wollte. Dann würde ich begreifen, warum meine Mutter gestorben und mein Vater verschwunden war, was die Gesänge bedeuteten, die ich in manchen Nächten in mir hörte, und welche Lehre ich aus der Einsamkeit zu ziehen hatte, die mich umgab, seit ich denken konnte.

»Höre«, sagte ich und begriff vage, dass ich mich im Fond eines Autos befand, an dessen Steuer Esther Kolb saß, »es ist eine Sache, sehen zu können, aber es ist ein viel größeres Geschenk, die Dinge sehen zu können, auf die es wirklich ankommt.«

»Wer sagt das?«, hörte ich eine Stimme von vorn.

»Ein indianischer Schamane«, sagte ich.

»Was hast du mit Schamanen zu tun?«

»Spielt keine Rolle jetzt.«

Als ich aufwachte, stand ich vor jener Missgeburt aus Beton.

In den folgenden Stunden stürzten wir uns ineinander. Hinterher tastete ich meinen schweißnassen Körper nach Feuerstellen ab, die noch immer glühten. Esther lag neben mir auf dem Bauch, die Beine leicht gespreizt, und weil ich sie länger als drei Sekunden betrachtete, fiel ich noch einmal über sie her.

Danach schliefen wir, bis in einer fernen Gegend des Universums etwas klingelte. Jemand schlug mir auf den Kopf.

»Wach auf, Schamane!« Mein linkes Auge gehorchte.

Esther drückte mir ihr schnurloses Telefon in die Hand, von der ich mir nicht sicher war, ob sie zu mir gehörte. Am anderen Ende der Verbindung hörte ich jemanden schnaufen.

»Ja?«, sagte meine Stimme.

»Entschuldigung«, sagte eine andere Stimme. »Die Kleidung gehört mir nicht, die gehört Ihnen, Entschuldigung…«

Langsam kehrte ich dahin zurück, wo ich war.

»Herr Holzapfel?«

»Das bin ich nicht.«

»Wo sind Sie jetzt?«, sagte ich und sah sein Blouson und sein Hemd an einer Stuhllehne hängen.

»Vor der Tür«, sagte er. »Vor der Tür. Ich muss jetzt los.«

Ich sprang aus dem Bett, rannte durch den Flur, riss die Wohnungstür auf, lief eine Treppe hinunter und öffnete die Haustür. Da stand niemand. Ich ging um das Haus herum. Das Gartentor war geschlossen. Ich lief hin und hielt auf der Straße nach ihm Ausschau. Autos fuhren vorüber, deren Fahrer zu mir hersahen.

Jeremias Holzapfel hatte gelogen.

Außer, er hatte in einem Auto gesessen und war schnell weggefahren. Unwahrscheinliche Variante.

»Was fällt Ihnen ein!«, rief eine Frau, die auf dem Bürgersteig ihren Pudel spazieren führte.

»Mir?«, sagte ich.

»Das ist ja widerlich!«, rief sie und zerrte an der Leine. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich nackt war.

»Entschuldigung, Entschuldigung«, sagte ich zweimal hintereinander und ging ins Haus. Ich beeilte mich nicht. Nackter konnte ich nicht mehr werden. Die Frau schimpfte unaufhörlich weiter.

Nachdem ich mich angezogen hatte, setzte ich mich zu Esther in die Küche. Sie hatte einen Kaffee gekocht, der einen Pharao in seinem Sarkophag aufgeweckt hätte.

»Du bist schön flink für deine Figur«, sagte sie. »Und gewandt bist du auch.«

»Ich bin gewandt?«, fragte ich.

»Ja, gewandt.«

»Gewandt«, sagte ich. Und weil ich gerade an Pharaonen gedacht hatte, fiel mir etwas ein. »Weißt du, wie der erste Cinemascopefilm hieß?«

»Bitte?« Sie lächelte und ich überlegte sofort, ob ich dieses Lächeln schon kannte oder womöglich vergessen hatte.

Sie trug einen weißen Bademantel ohne Gürtel und hatte die Beine übereinander geschlagen. Im Grunde war sie unbekleidet.

»Der erste Kinofilm in Breitwandformat«, sagte ich. Sie sagte: »Ich weiß, was Cinemascope bedeutet.«

»Der Film hieß ›Das Gewand‹«, sagte ich.

»›Das Gewand‹«, wiederholte sie. »Du denkst vielleicht um sieben Ecken!«

»Wieso bin ich gewand?«

»Gewandt«, sagte sie. »Oder wendig. Du bist wendig. Würde man dir gar nicht zutrauen bei deinem Bauch und so weiter.«

»Was genau ist ›und so weiten?«

»Erinnerst du dich, dass du gesungen hast?« Ich erinnerte mich nicht.

»Auf der Straße. Kaum waren wir draußen, hast du angefangen zu singen.«

»Was habe ich gesungen?«

»Keine Ahnung. War nicht zu verstehen. Du hast gesungen, die Worte waren unverständlich.«

Ich schwieg.

»Und später warst du wendig«, sagte sie und trank ihren Kaffee und lächelte wieder. »Wer hat in dem Film mitgespielt? Ich kenn ihn nicht.«

In den Oberschenkeln spürte ich ein Ziehen und an anderen Stellen eine Art Muskelkater, auch wenn das garantiert nicht das richtige Wort dafür war.

»Richard Burton«, sagte ich. »Und Jean Simmons, die anderen Schauspieler habe ich vergessen. Das war Anfang der Fünfziger. Ich habe den Film im Fernsehen gesehen, in Schwarz-Weiß. Lächerlich!«

»Gehst du viel ins Kino?«

»Manchmal.«

»Manchmal gehst du viel ins Kino?«, sagte sie, stellte ihre Tasse auf den Tisch und kam zu mir her.

»Sei nochmal wendig mit mir!«, sagte sie.

Wenn man es genau nahm, war die Frau, die auf meinen Anrufbeantworter gesprochen hatte – ich hörte ihn ab, als ich an diesem Dienstag Mittag nach Hause kam –, meine Freundin. Andererseits sahen wir uns immer weniger, was bedeutete, wir schliefen auch immer weniger miteinander und keinesfalls immer dann, wenn wir uns sahen. Sie hieß Ute Fröhlich, war drei Jahre älter als ich, und seit etwa einem Jahr schafften wir es nicht uns zu trennen.

»Wo bist du?«, sagte sie auf dem Anrufbeantworter. »Warum rufst du mich nicht an?«

Wo bist du? Warum rufst du mich nicht an? Wo war ich? Warum rief ich sie nicht an?

Ich nahm mir vor, mich zu melden, heute noch. Von Esther würde ich ihr nichts erzählen. Was war mit Esther? Würde sie mir bald die gleichen Fragen stellen? Beim Abschied hatten wir nichts ausgemacht. Sie wusste, wo sie mich erreichen, und ich wusste, wo ich sie erreichen konnte. Ob sie einen Freund hatte, war mir egal. Mich hatte sie ebenfalls nicht ausgefragt. Oder doch? Ich hatte gesungen, hatte sie behauptet. Nicht, dass ich mir das nicht vorstellen könnte, ich sang öfter, allerdings nur, wenn ich allein war, meine spezielle Pfeife rauchte und um ein Sechseck aus kleinen Knochen tanzte. Ein Ritual, dem ich als Kind beigewohnt hatte, als mein Vater meine Mutter und mich zu einem Sioux-Schamanen nach Amerika mitgenommen hatte, weil er hoffte, dieser würde meine kranke Mutter heilen. Bis heute ist mir ein Rätsel, wie er auf diesen Medizinmann gekommen war und woher er das Geld für die Reise gehabt hatte.

Der weise Mann schenkte mir eine lederne Halskette mit einem blauen Amulett, auf dem ein Adler abgebildet war, einen Kranz aus Federn und eine Handvoll winziger Tierknochen, aus denen ich ein Sechseck bilden musste, wenn ich sie benutzte. Außerdem gab er uns eine Trommel aus Lärchenholz und Rentierleder mit, eine Pfeife aus Ton und einen Tabaksbeutel mit Kräutern und kleingehackten Pilzen darin. Einmal, höchstens zweimal im Jahr rauchte ich die Pfeife, legte die Knochen auf den Boden, schlug die Trommel und sang. Das tat ich zum Gedenken an meine Mutter, die starb, als ich dreizehn war, und als Gruß an meinen Vater, der fortging, als ich sechzehn war, und verschwunden blieb. Ich schlug die Trommel und schrie die Wände an.

Trotzdem konnte ich mich nicht daran erinnern, vor dem Billardcafé gesungen zu haben.

Ich duschte, zog eine schwarze Jeans an, die mir zu eng war wie die Lederhose, ein frisches weißes Hemd, braune Halbschuhe und meine Lederjacke, dann verließ ich das Haus. Wie nach einem kosmischen Gesetz kam mir Elsa Schuster entgegen, mit einer Gießkanne in der Hand.

»Herr Süden!«, sagte sie schon von weitem und fuchtelte mit der grünen Plastikkanne. »Heut hab ich einen erwischt! Ha!«

»Wen haben Sie erwischt?«

»Einen Dieb! Einen Gießkannendieb! Der wollt sich mit meiner Kanne davonschleichen. Dem bin ich sauber hinterher! Der hat sich was anhören müssen! So eine Unverschämtheit! Er hat behauptet, er wollte die Kanne zurückbringen. Da lach ich ja! Lügen auch noch!«

»Sehr gut«, sagte ich.

»Wenn die Polizei schon nichts tut, dann muss man selber was tun«, sagte Frau Schuster.

»Ganz genau«, sagte ich.

»Loben Sie mich mal!«

Ich sagte: »Lob und Anerkennung.«

Sie schüttelte den Kopf. »Sie nehmen mich nicht ernst, Herr Süden.« Dann runzelte sie die Stirn. »Irgendwie sehen Sie anders aus heut.«

»Wie denn?«

»Anders. So…« Sie hob die Kanne, schwenkte sie hin und her, betrachtete mich von oben bis unten. »Ich weiß nicht… Waren Sie wieder recht aushäusig, Herr Süden?«

»Ja«, sagte ich.

»Sehen Sie, das seh ich Ihnen an!«

»Wiedersehen«, sagte ich.

»Wiedersehen.«

Am Giesinger Bahnhof stieg ich in die Straßenbahn, setzte mich auf einen Einzelplatz am Fenster und ärgerte mich, weil ich vergessen hatte eine Zeitung zu kaufen. An der nächsten Haltestelle sprang eine Gruppe Schüler aus dem Asamgymnasium in den Waggon. Sie redeten laut aufeinander ein, und einer von ihnen rempelte mich aus Versehen an.

»Tschuldigung«, sagte der Junge schnell.

Durch den Stoß hatte ich den Kopf zum Fenster gedreht. In der Tram, die gerade in entgegengesetzter Richtung vorbeifuhr, saß eine gelbe Gestalt. Eine Sekunde lang sahen wir uns ins Gesicht.

Ich sprang auf und rannte zum Fahrer.

»Polizei! Halten Sie bitte sofort an!«

»Wir sind gleich da.«

»Sofort!«

»Ich darf auf offener Strecke nicht halten. Wir sind doch gleich da!«

Nach dreihundert Metern hielt die Bahn gegenüber der Aussegnungshalle des Ostfriedhofs.

Es kam mir unsinnig vor, die ganze Strecke zurückzulaufen. Im Friesennerz seiner Exfreundin hatte ich Jeremias Holzapfel an mir vorbeifahren lassen. Und bis ich mich auf den Weg gemacht hätte, wäre er verschwunden gewesen. Wieder einmal. Vor meinen Augen.

»Tut mir leid«, sagte der Straßenbahnfahrer. »Das sind halt die Vorschriften.«

Ich war so wütend, dass ich den Rest des Weges zur Wörthstraße, ungefähr zwei Kilometer, zu Fuß zurücklegte.

Kurz bevor ich das Haus erreichte, fing es wieder an zu regnen. Ich beeilte mich und blieb in der Einfahrt stehen.

Im Erdgeschoß befand sich ein kurdisches Restaurant, in dem ich einmal gemeinsam mit Ute den Bauchtanz eines wahrhaft »wendigen« Mannes miterlebt hatte.

Durch den Hinterhof gelangte ich zu der Tür, an der unter anderem der Name Hrubesch stand. Die Tür war offen. Im Treppenhaus roch es nach Essen. Ich stieg in den dritten Stock hinauf, vorbei an bunt bemalten Namensschildern, zerfledderten Taschenbüchern, die jemand zum Verschenken auf verschiedene Fensterbretter gelegt hatte, und einem kleinen Mädchen, das umständlich mit dem Schlüssel an der Wohnungstür hantierte.

»Soll ich dir helfen?«, fragte ich.

»Nein«, sagte sie.

Der Schlüssel fiel ihr zu Boden, und sie fluchte. Auf dem Rücken trug sie einen roten Schulranzen mit der Aufschrift: »Supergirl«. Trotz aller Mühen gelang es ihr nicht aufzusperren. Ich war schon auf der Treppe nach oben und ging noch einmal zurück.

»Ich helf dir«, sagte ich.

Sie schenkte mir einen finsteren Blick, schob die Unterlippe vor und verengte die Augen. Beinah hätte ich lachen müssen.

»Ich tu dir nichts«, sagte ich. Der Schlüssel passte nicht.

»Das ist der falsche«, sagte ich.

Sie sagte: »Du spinnst ja!«, und riss mir den Schlüssel aus der Hand.

Nebenan ging eine Tür auf. Eine junge Frau streckte den Kopf heraus.

»Was will der Mann von dir, Sandra?«

»Ich wollte ihr helfen«, sagte ich.

Die Frau traute mir nicht im geringsten. Also hielt ich ihr mein Autoritätsplastikteil vor die Nase.

»Sie sind Polizist?«

»Ja.«

Inzwischen hatte Sandra eingesehen, dass der Schlüssel nicht passte.

»Da hat Claudia ihr wieder den falschen Schlüssel gegeben«, sagte die Frau. »Du kannst bei mir warten, Sandra. Ich mach dir was zu essen.«

»Super«, sagte das Mädchen und drängte sich an mir vorbei in die Wohnung.

»Kennen Sie Frau Hrubesch?«, sagte ich.

»Natürlich, sie wohnt einen Stock höher, ist was passiert?«

»Ist sie da?«

»Haben Sie schon geklingelt?«

»Nein.«

»Ich hab sie seit ein paar Tagen nicht gesehen«, sagte die Frau, an deren Tür kein Namensschild war. »Ihren Freund auch nicht, den Jeremias. Vielleicht sind sie verreist. Obwohl… gestern, nein, was ist heut…«

»Dienstag«, sagte ich.

»Vorgestern war er da, am Sonntag, genau, am Sonntag, Sonntag Abend, ich hab noch kurz mit ihm gesprochen, er kam grad die Treppe runter…«

»Was haben Sie zu ihm gesagt?«

»Nichts Besonderes, er hatte es eilig, er hat schnell ›guten Abend‹ gesagt, glaub ich, ich hab ihn gefragt, wie es Inge geht, er war aber schon unten…«

»Wann haben Sie Inge zum letzten Mal gesehen?«

»Zum letzten Mal?«, fragte sie. Langsam wurde sie unruhig.

»Haben Sie einen Schlüssel zu ihrer Wohnung?«, fragte ich.

Sie warf einen besorgten Blick hinter sich. Aber Sandra war nicht zu sehen. Ich hörte Stimmen aus dem Fernseher.

»Vielleicht ist sie ja da«, sagte ich und wandte mich zum Gehen.

»Ich warte hier«, sagte die Frau.

Auf mein Klingeln passierte nichts. Ich klingelte fünfmal. Dann beugte ich mich über das Geländer.

»Haben Sie einen Zweitschlüssel?«, rief ich nach unten.

»Nein«, sagte die Frau. »Der Hausmeister hat einen, Herr Roderich.«

Nach kurzem Überlegen entschied ich zu ihm zu gehen. Er wohnte im Erdgeschoß und natürlich wollten er und die Frau, die bei ihm war und mit Vornamen Nike hieß, mit mir in die Wohnung kommen. Ich bat die beiden vor der Tür zu warten.

Es war eine geräumige Wohnung, einfache Holzmöbel, eine Truhe im Flur, ein ovaler, fast wandhoher Spiegel, unzählige Paar Schuhe. Parkettboden. In der Küche war das abgewaschene Geschirr ordentlich neben der Spüle aufgereiht, im Wohnzimmer gab es einen breiten, niedrigen modernen Fernseher, Ledersessel, Glasregale. Keine Zeitung lag herum, nirgends Hinweise darauf, dass sich hier vor kurzem jemand aufgehalten hatte.

In einem kleinen Zimmer hingen Fotos an der Wand, die eine Frau in jungen Jahren zeigten, in Bars, auf einer Insel, umringt von jungen schönen Männern. Auf einem antiken Sekretär lagen Illustrierte und Ringordner. Auch dieses Arbeitszimmer wirkte wie verlassen, es war sauber und gemütlich und gleichzeitig leblos.

Daneben lag das Schlafzimmer. Die Tür war angelehnt, und noch bevor ich sie aufstieß, sah ich, dass jemand im Bett lag, zugedeckt bis zum Hals.

Eine Frau. Ihr Gesicht war weiß wie die dicke Daunendecke, unter der sie lag. Ihre Augen waren geschlossen. Ihr braunes Haar lag wie ein Kranz um ihren Kopf. Das Gesicht war ungeschminkt, die Haut faltig, die Lippen schmale Striche, bläulich.

Ich schätzte sie auf Anfang bis Mitte sechzig. Ohne die Decke zu berühren, drückte ich mit zwei Fingern gegen ihren Hals. Die Frau war tot.

Vom Telefon einer Faxanlage im Arbeitszimmer rief ich im Kommissariat 112 an. In zwanzig Minuten würden die Kollegen von der Todesermittlung hier sein. Bis dahin hatte ich keine Chance herauszufinden, ob die Frau ermordet worden oder eines natürlichen Todes gestorben war.

Ich dachte an den Mann in der gelben Jacke, der nun zu einem Verdächtigen geworden war, allerdings zu einem der am auffälligsten gekleideten, nach denen wir im Dezernat 11 jemals gefahndet hatten.