6

Näher kamen wir uns nicht. Wir verließen das Haus und stiegen in Esthers blauen Saab.

Holzapfels Sachen lagen nach wie vor auf dem Bett. Ich war noch einmal ins Schlafzimmer gegangen und hatte mich umgesehen. Wie die unheimliche Hülle eines unsichtbar gewordenen Menschen wirkten das Blouson, die Hose, das Hemd, und ich fragte mich, warum er sich umgezogen hatte. Und warum er dazu eine Frau aufgesucht hatte, mit der er vor zehn Jahren befreundet war und zu der er keinen Kontakt mehr hatte. Und wo hatte er sich den gestrigen Tag über aufgehalten? Und wo war er jetzt?

Und was war es, das mich zwang, in diesem Schlafzimmer zu stehen und ein ungemachtes Bett anzustarren? Ich hörte, wie Esther hinter mir mit dem Hausschlüssel klirrte, ich drehte den Kopf. Aber ich schaute sie nicht an. Ich schaute an ihr vorbei oder durch sie hindurch.

Und da begriff ich, warum ich hier war. Warum ich diesem Mann hinterherlief, obwohl ich scheinbar nichts mit ihm zu tun hatte, weder privat noch beruflich.

Vollkommen falsch.

Wegen ihm hatte ich vorhin die Geschichte vom Abschied meines Vaters erzählt. Wegen ihm war ich bereit gewesen, einen fremden Menschen in meine Welt zu lassen, ohne jede Absicht, ohne einen einzigen Gedanken an Vorsicht. Durch den Anblick der zerknitterten alten Kleidungsstücke auf dem weißen Bett wurde mir klar, wie wenig ich bisher über diesen verwirrten Schauspieler nachgedacht, wie wenig ernst ich seine Situation genommen, wie wenig ich von seinem Zustand begriffen hatte.

Was mich veranlasst hatte ihm zuzuhören, ihn zu verfolgen, Personen zu befragen, so zu tun, als würde ich tatsächlich an einem Fall recherchieren, obwohl ich wusste, dass es sich um keine typische Vermissung handelte – all das geschah nicht aus Interesse, nicht einmal aus Neugier, wie ich mir einredete. Vom ersten Moment an hatte ich in der Person des Jeremias Holzapfel den Mann gesehen, der zurückgekommen war. Mit seinem Auftauchen war etwas wirklich geworden, das bisher wie ein Schattengebilde in meiner Vorstellung existiert hatte, eine Bedrohung, ein Schmerz, eine Sehnsucht.

Dieser Mann, der behauptete vermisst worden zu sein, hatte die Wahrheit gesagt. Auch wenn es nicht seine Freunde oder seine Exfrau waren, die gewünscht hatten, dass er zurückkommt.

Der Grund, warum ich hier war, auf der Rückbank von Esthers Auto, frei von dienstlichen Verpflichtungen und doch mitten in einer Suche, war Holzapfels Entscheidung gewesen, seine Kleider zu wechseln und sie auf dem Bett einer ehemaligen Geliebten liegen zu lassen.

Ich wollte, dass dieser Mann seine Sachen wieder anzog. Ich wollte, dass er nicht in fremder Kleidung herumlief. Ich wollte ihn finden, um mich zu vergewissern, dass er in der Gegenwart angelangt und erwünscht war.

Wie wenig es ihm selbst gerade darum ging, merkte ich erst spät, am Ende meiner fanatischen Suche. Mir aber kam der Weg dorthin wie ein Überlebenstraining in einer von Finsternis überfluteten Landschaft vor. Im Nachhinein bewunderte ich meinen Mut.

»Woran denken Sie?«, fragte Esther Kolb.

»Der Ohrring«, sagte ich, »ist der ein Geschenk von Ihnen?«

»Er trug ihn schon, als wir uns kennen lernten«, sagte sie.

»Seine Frau hat ihm den Ring geschenkt, glaube ich.«

»Als Sie ein Verhältnis mit ihm hatten, war er noch verheiratet.«

»Hab ich doch gesagt. Er wohnte mit ihr in dem Hochhaus.«

»In einem Einzimmerappartement?«

»Was?«

»Sie waren nie dort?«

»Haben Sie Alzheimer? Ich war nicht dort!«, sagte sie.

»Was für ein Einzimmerappartement?«

»Wusste seine Frau davon?«, fragte ich.

Sie sah in den Rückspiegel, lächelte kurz und konzentrierte sich wieder auf den Stau, der sich in der Brudermühlstraße gebildet hatte.

»Kennen Sie eine Frau namens Inge Hrubesch?«

Esther stellte das Radio leiser, in dem ständig neue Berichte über bewaffnete Auseinandersetzungen im Nahen Osten kamen.

»Ich hab von ihr gehört«, sagte sie.

»Kennen Sie sie?«

»Nein.«

Auch im Trappentreu-Tunnel standen die Fahrzeuge und ich legte mich flach auf die Rückbank. Esther drehte sich zu mir um.

»Müde?«, fragte sie.

»Im Gegenteil.«

Sie wandte sich wieder nach vorn. Es kam mir vor, als würde die Luft in dem Saab schwer auf mir lasten und dabei immer weniger werden. Ich fing an zu schwitzen. Knöpfte mir das Hemd auf und summte vor mich hin. Wir kamen zehn Meter vorwärts.

»Jerry hatte immer Freundinnen in seiner Ehe«, sagte Esther. »Er hat mit zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig geheiratet, glaube ich. Clarissa. Seitdem waren sie zusammen. Und sie kannten sich auch schon vorher. Kein Mensch kann so lange treu sein. Haben Sie mit Clarissa gesprochen?«

Ich lag auf dem Rücken, die Arme an den Körper gepresst, das Hemd bis zum Nabel geöffnet, die Augen fest geschlossen. Was nichts nützte. Mein Herz trommelte und die Stimmen aus dem Radio, so leise sie waren, klangen bedrohlich. Ich atmete mit weit aufgerissenem Mund.

»Wir haben es gleich geschafft«, sagte Esther.

Ich wollte sagen: Ich ersticke. Brachte aber kein Wort heraus. Meine Stimme war schon zerbröselt und der Rest meines Körpers zerfiel langsam.

Plötzlich riss Esther das Lenkrad herum, drängte den Wagen neben uns auf die rechte Spur, überholte hupend einen Motorradfahrer und raste in die Ausfahrt Richtung Sendling. Ich richtete mich auf und sah, wie sie mehrere Autos beinahe an die Wand drückte. Die Fahrer waren so erschrocken, dass sie tatsächlich Platz machten, wie für einen Notarztwagen.

Endlich wieder im Tageslicht, setzte ich mich aufrecht hin.

»Soll ich das Fenster öffnen?«, fragte Esther.

»Unbedingt.«

Dann hielt sie am Straßenrand an. »Wollen Sie aussteigen?«

»Ja.«

Draußen legte ich den Kopf in den Nacken und streckte die Arme in die Höhe. Wolken zogen vorüber. Ein kühler Wind wehte, die Sonne brannte nicht mehr.

Esther lehnte an der offenen Wagentür. Als ich den Kopf senkte, sah sie mich an, wie sie es schon öfter getan hatte.

Ich sagte: »Ich muss ganz von vorn anfangen.«

»Soll ich sie hinbringen?«, fragte sie.

Für einen Moment dachte ich, sie wisse wirklich, was ich meinte.

»Nein«, sagte ich. »Ich finde allein hin.«

Esther sagte: »Ich arbeite bis eins, dann räum ich bis halb zwei auf. Erinnern Sie sich noch an die Adresse?«

»Ja«, sagte ich.

»Vielleicht möchten Sie später noch ein Bier trinken.«

»Möglich«, sagte ich.

Bevor ich endlich mein Hemd zuknöpfte, küsste sie mich auf den Mund, worüber ich erschrak. Das gefiel ihr.

»Viel Glück!«, sagte sie.

Ich wartete, bis sie weggefahren war, dann machte ich mich auf den Weg…

… zu einer weiteren Frau, die mich nicht empfangen, nicht mit mir sprechen, mich für einen Verrückten halten würde.

Und als sie mir die Tür öffnete, kam es mir vor, als habe sie mich erwartet.

»Mögen Sie Rioja?«, fragte Clarissa Holzapfel.

Es war kurz nach ein Uhr mittags, und es gab keinen Grund, keinen Rotwein zu trinken.

Clarissa war Mitte vierzig, hatte halblange blonde Haare und sah aus wie eine Nachrichtensprecherin im Fernsehen. In Wahrheit war sie Chefredakteurin eines lokalen Privatsenders und Besitzerin von drei Handys, die vor ihr auf dem Tisch lagen.

Durch das offene Fenster drang Straßenlärm herein, ziemlich laut, den Clarissa nicht mehr zu hören schien. Sie saß auf einer kleinen roten Couch und prostete mir zu. Vielleicht waren ihre Kontaktlinsen verschmutzt. Oder sie hatte eine Entzündung der Netzhaut. Oder die Flasche auf dem Tisch war nicht ihre erste für heute.

Aber sie machte keinen betrunkenen Eindruck. Sie machte den Eindruck von jemandem, der sich jeden Satz genau überlegte. Und der den ganzen Vormittag damit verbracht hatte nachzudenken. Und zwar allein.

»Schmeckt Ihnen der Wein?«, sagte sie.

»Ja«, sagte ich. »Wie gehts Ihnen?«

Ein Ausdruck von Verwirrung huschte über ihr Gesicht.

Und bevor sie verärgert wurde, weil sie vermutete, ich hätte auf ihr Trinken angespielt, sagte ich: »Machen Sie sich Sorgen um Ihren Exmann?«

Sie nickte. Fuhr mit dem Daumen sehr langsam über den Rand des Glases.

»Er war nicht hier. Mein Freund hat mir erzählt, Sie hätten ihn verhört…«

Ich sagte: »Ich verhöre nicht.«

»Ist ja auch egal«, sagte sie. »Ich weiß nicht, was passiert ist. Jeremias ist als vermisst gemeldet worden? Von wem? Und wo ist er jetzt?«

»Ich bin hier, weil ich das wissen möchte.«

»Warum…« Sie trank und stellte das Glas akurat auf das blaue runde Deckchen. »Warum möchten Sie das wissen, Herr…«

»Süden.«

»Sie sind von der Mordkommission?«

»Vermisstenstelle.«

»Klar, Sie suchen ja meinen Exmann. Aber wer hat ihn als vermisst gemeldet, das hab ich noch nicht verstanden. Inge?«

»Seine Freundin?«, sagte ich.

»Das weiß ich nicht, ob sie noch seine Freundin ist.«

»Niemand hat ihn als vermisst gemeldet, er ist plötzlich aufgetaucht und hat erklärt, er war jetzt wieder da.«

»Ja?«, sagte sie und runzelte die Stirn. Offenbar dachte sie mehr und mehr, ich würde ein Spiel mit ihr treiben, das sie nicht durchschaute.

»Haben Sie eine Erklärung dafür?«

»Wofür?«

Ich beugte mich vor und stellte mein Glas auf den Tisch. Dann stand ich auf, ging zum Fenster und sah auf die viel befahrene Straße und die Kreuzung hinunter, wo abbiegende Autos die Tram blockierten. Und der Straßenbahnfahrer, als wäre er tatsächlich überzeugt, er würde damit etwas erreichen, drückte unermüdlich auf die schnarrende Klingel.

Ich drehte mich zu Clarissa um. Sie hatte den Kopf gesenkt.

»Ist Ihr Exmann krank?«, fragte ich.

»Das weiß ich nicht«, sagte sie, den Blick noch immer auf ihr Weinglas gerichtet. »Erklären Sie mir, was passiert ist!«

»Das kann ich nicht«, sagte ich.

Sie biss sich auf die Unterlippe, trank ihr Glas aus und sah zur Tür, die in den Flur hinausführte.

Auf der Straße hatte das Klingeln aufgehört. Vor dem Haus war eine Haltestelle der Linie, mit der ich hergekommen war, nachdem ich mich von Esther verabschiedet hatte und mit dem Taxi zum Sendlinger Tor gefahren war. Eine kurze Strecke, die den Taxifahrer fabelhaft geärgert hatte.

»Wann haben Sie Ihren Exmann zum letzten Mal gesehen?«

»Das weiß ich nicht!«, sagte sie laut.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust.

»Ungefähr«, sagte ich.

»Vor zwei Jahren«, sagte sie.

Ich schwieg.

Es blieb ihr nichts, als mich anzusehen. Ich schwieg weiter. In der Art, wie sie »vor zwei Jahren« gesagt hatte, war ein neuer Ton.

»Was war vor zwei Jahren?«, fragte ich.

Sie sagte: »Wir haben uns zufällig in der Stadt getroffen, beim Einkaufen, wir sind einen Kaffee trinken gegangen, das war alles.«

»Worüber haben Sie gesprochen?«

»Das weiß ich doch jetzt nicht mehr!«, sagte sie ebenso nachdrücklich wie vorhin.

»Wie ging es Ihrem Exmann damals?«

»Gut.«

Gut. Schnitt. Schweigen. Ich blickte zur gegenüberliegenden Wand, wo eine Vitrine mit Gläsern und Geschirr stand, darauf eine kleine Vase.

Gut.

Sie hatte ihn nicht vor zwei Jahren gesehen. Sondern später. Vielleicht erst vor kurzem. Sicherlich sogar.

»Wo ist Herr Schulze?«, fragte ich.

Sie hob ihr Glas. »In seinem Büro.« Sie trank. Ich ging zum Tisch und nahm die Flasche.

»Wollen Sie mich betrunken machen?«, fragte Clarissa. Ich zog den Korken aus der Flasche.

»Was hat Ihnen Herr Schulze über meinen Besuch erzählt?«

Sie hielt mir das Glas hin, und ich schenkte nach.

»Er sagte, dass ein Spinner von Polizist ihn wegen Jeremias verhört hat.«

Ich sagte wieder: »Ich verhöre nicht.«

»Mein Freund hat es aber so empfunden.«

»Sonst haben Sie nichts geredet?«

»Wir reden zur Zeit nicht sehr viel miteinander.«

Vielleicht weil wir beide nicht genau wussten, was wir in diesem Moment tun sollten, stießen wir an. Wortlos. Mein Glas war leer, und Clarissa zeigte auf die Flasche, die ebenfalls fast leer war, und ich goss den Rest in mein Glas.

»Wo könnte er sein?«, fragte ich. Sie schüttelte den Kopf.

»Warum steht an der Wohnung auf der Theresienhöhe Ihr Name?«

Sie lachte kurz auf. »Waren Sie dort?«, sagte sie.

»Ja. Frau Bast behauptet, es sei eine Steuersache. Sie hätten ihr das gesagt. Ich verstehe nichts davon, ich bin Beamter, meine Steuern werden jeden Monat abgezogen. Um welche Steuersache handelt es sich da?«

Sie stand auf, nahm die Flasche und ging aus dem Zimmer.

Als sie zurückkam, saß ich auf ihrem Platz auf der roten Couch. Sie stutzte, umfasste die Weinflasche, die sie mitgebracht hatte, mit beiden Händen. Wenn jemand nicht gut log, hatte ich Freude daran, ihn aus der Fassung zu bringen, auch mit minimalen Mitteln. Clarissa hatte die Flasche bereits in der Küche geöffnet, nun beugte sie sich über den Tisch um einzuschenken.

»Frau Bast ist vor einem Jahr eingezogen«, sagte ich. »Ich habe die Verträge gesehen. Sie vermieten Ihre Wohnung und bitten die Mieterin, ihren Namen nicht an Klingel und Tür zu machen. Haben Sie ihr Geld dafür geboten?« Clarissa stand vor dem Tisch, das Weinglas in der Hand, und rang um eine Antwort.

»Nein«, sagte sie und setzte sich auf den Stuhl, auf dem ich vorhin gesessen hatte. »Wir haben ihr kein Geld gegeben, sie hat es freiwillig gemacht.«

»Und warum?«

Sie stellte das Glas hinter sich aufs Fensterbrett. »Das geht Sie nichts an.«

»Doch«, sagte ich.

Wir schwiegen. Ich knöpfte mein Hemd bis zum Hals zu und genoss die Trunkenheit, die allmählich einsetzte.

»Was genau wollen Sie eigentlich von mir?« Endlich hatte sie die entscheidende Frage gestellt.

»Ich will, dass Sie mir sagen, wo sich Jeremias Holzapfel aufhält.«

»Wieso denn?«

»Das geht Sie nichts an.«

»Doch.«

Vielleicht sollten wir uns in einer Stunde wieder treffen. Wenn uns neue Worte einfielen.

Ein kalter Wind wehte herein. Es wurde dunkler draußen.

»Die Wohnung«, sagte Clarissa, »lief immer auf meinen Namen, ich hab sie gekauft, meine Mutter hat mir Geld vererbt. Was sollt ich damit anfangen? Ins Kopfkissen stopfen? Ich hab Steuern damit gespart, was denn sonst?«

»Das interessiert mich nicht!«, schrie ich sie an.

Wie elektrisiert zuckte sie zusammen.

Ich schrie weiter: »Ich will wissen, warum Ihr Name immer noch dort steht! Und warum Ihr Exmann kopflos durch die Stadt rennt! Und warum Sie so tun, als wären Sie blöd!«

Ich hatte ihr nicht ins Gesicht geschrien, sondern in Richtung Flurtür, und das erschreckte sie offenbar doppelt. Ich sah, wie ihr Bauch sich bewegte und wie viel Mühe es sie kostete kein Wort zu erwidern. Vermutlich hätte sie am liebsten zurückgebrüllt, und ich stellte mir vor, wie sie reagiert hätte, wenn ich ihr Freund gewesen wäre.

»Warum ist Ihr Exmann so geworden?«, sagte ich in normalem Tonfall.

Sie schaffte es, einen Schluck zu trinken, doch ihre Hand zitterte so, dass sie unfähig war, das Glas abzustellen. Sie musste es mit beiden Händen festhalten.

»Ich hätt Sie nicht reinlassen sollen«, sagte sie. Mittlerweile beruhigte sie sich wieder.

»Das stimmt«, sagte ich.

Minuten vergingen. Wir tranken unsere Gläser leer. Unverändert drang der Lärm der Straße herein. Der Wind war noch kälter geworden. Wir hörten das Rauschen der Bäume. Und dann, von fern, Regen auf Asphalt.

Das Klirren des Glases, das Clarissa auf den Tisch stellte, neben das blaue Deckchen, ließ mich den Kopf heben.

»Mein Exmann«, sagte sie, »hat nie wirklich gelebt. Er stand morgens auf und stellte sich vor, er betritt eine Bühne. Den ganzen Tag verbrachte er als Darsteller. Und er stellte sich vor, alle Leute um ihn herum sind auch Darsteller. Und der ganze Tag ist eine Inszenierung. Bis er ins Bett geht. Und von mir sagte er immer, ich war seine Hauptdarstellerin. Aber ich war keine Hauptdarstellerin. Ich war nicht einmal eine Darstellerin. Ich war echt. Klar? Und er sagte, das macht ihm nichts aus, ich soll ihn nur sein lassen, er stört mich doch nicht. Aber das tat er. Das tat er. Und irgendwann ist er dann runtergestürzt von seiner Bühne. Irgendwann hat er zu viel gespielt. Oder falsch? Egal. Er ist aus seiner eigenen Inszenierung rausgefallen. Er hat einen Fehler gemacht, vielleicht hatte er nicht gut genug geprobt.«

Sie lachte mich an. Lautlos.

»Und dann kapierte er, dass er allein war. Und dass es die Welt, die er sich vorgestellt hatte, nicht gab. Die Welt, in die er gestürzt war, kannte ihn nicht, und er kannte die Welt nicht. Jeremias Holzapfel existierte auf einmal nicht mehr. Und jemand…«

Sie zeigte mit dem Glas, das sie ausgetrunken hatte, auf mich.

»Jemand, der nicht existiert, kann niemals vermisst werden. Das ist vollkommen logisch, Herr Süden.«