14

»Der verarscht uns!«, sagte Rolf Stern, nachdem er meinen Bericht gelesen hatte. »Der weiß genau, was er tut, der spielt mit uns. Wir werden den hochkant und quer in die Mangel nehmen, diesen Simulanten!«

»Spinnst du?«, sagte ich.

In der Nacht zuvor hatte ich kaum geschlafen, um halb sechs war ich aufgestanden, hatte Kaffee gekocht und in übler Stimmung in der Küche gesessen, fast eine dreiviertel Stunde lang, bevor ich die Wohnung verließ, um durch die Stadt ins Dezernat zu gehen. Als ich ankam, gegen halb acht, arbeitete Stern schon an seinem Schreibtisch. Und anscheinend war seine Nacht auch nicht gerade erholsam gewesen.

»Was?«, sagte er laut.

»Der simuliert nicht!«, sagte ich.

»Ist schon recht.« Stern feuerte die Klarsichtfolie mit den beiden Blättern auf einen Stapel, von dem sie sofort runterrutschte.

»Verdammt!« Stern bückte sich, fegte dabei seine Tabakspackung und mehrere Stifte zu Boden und schlug sich das Knie am Tischeck an. Er schrie auf. Sein Telefon klingelte. Kurz hintereinander kamen die beiden groß gewachsenen Oberkommissare Braga und Gerke herein.

»Servus!«, sagte Braga zu mir.

»Servus!«, sagte Gerke.

»Servus!«, sagte ich.

»Wer ist das?«, schrie Stern ins Telefon. »Was will der jetzt in der Früh? Verdammt! Hallo? Stern, Kommissariat hundertzwölf…«

Braga und Gerke hängten ihre Jacken an den Kleiderständer und grinsten ihren Chef an.

Ich stand auf.

»Bleib sitzen!«, sagte Braga. »Wir müssen eh gleich wieder los.«

»Was ist mit der alten Frau?«, fragte Gerke, während er sich Kaffee eingoss.

»Sie wartet darauf, dass die Leiche freigegeben wird.«

Fast gleichzeitig sagte Stern laut ins Telefon: »Hängt davon ab, wann die Leiche freigegeben wird. Ja. Wiederhören!« Er knallte den Hörer auf, hustete und sah uns an, als wären wir verdammte Eindringlinge. »Das war der Vermieter von der Wohnung in der Wörthstraße. Der will wissen, wann die Wohnung entsiegelt wird, damit er sie weitervermieten kann, der Abzocker! Diese Typen ruinieren die ganze Stadt, jedes Viertel, was glaubt ihr, was der verlangt für die Wohnung, wenn er sie neu vermietet?«

»Das Doppelte«, sagte Braga.

»Darauf kannst du wetten, verdammt!« Stern streckte den Arm mit seiner leeren Tasse aus. »Füll da mal was rein, bitte!«

Es war nicht ganz klar, wenn genau er meinte. Ich nahm ihm die Tasse ab.

»Du nicht!«, sagte er genervt. »Du bist hier Gast, verdammt!«

»Schlecht geschlafen?«, fragte Gerke.

»Ich will meine Ruhe«, sagte Stern.

Zur Beruhigung gab ich ihm seine Tasse mit heißem Kaffee zurück.

»Danke«, sagte er.

»Wann wird die Leiche freigegeben?«, fragte ich leichtsinnig.

»Wenn wir mit diesem Simulanten gesprochen haben!« stieß Stern hervor. »Bring ihn her! Und zwar heute noch! Franz Hrubesch! Das ist doch nicht zu fassen!« Zornzerfurcht sah er seine beiden Mitarbeiter an. »Was macht ihr noch hier? Ihr habt einen Zeugen abzuholen!«

»Wir sind auf dem Weg«, sagte Gerke.

»Bis später!«, sagte ich und ging.

Im Parterre traf ich Sonja Feyerabend, die gerade ins Gebäude kam. Sie trug eine schwarze Schirmmütze aus Leder und schwarze Stiefel. Im Gegensatz zu Stern und mir wirkte sie ausgeruht.

»Morgen!«, sagte ich.

Sie sagte: »Morgen! Es geht mich nichts an, aber was ist los mit Ihnen? Sie melden sich nicht mehr, erzählen mir nichts, ich hab Sie gebeten, mit dem verwirrten Mann zu sprechen, ich finde, Sie könnten mich schon auf dem Laufenden halten.«

»Ja«, sagte ich. »Ich war viel unterwegs in den letzten Tagen.«

Sie ging die Treppe hinauf.

Vom Bahnhof gegenüber rief ich in der Leitstelle der Verkehrsbetriebe an. Kurz darauf stieg ich am Stachus in eine Bahn der Tramlinie 27.

»Hallo«, sagte ich.

»Was willst du?«, fragte Ute und drückte einen Knopf, um die Türen zu schließen.

Bis zum verdammten Petuelring im Norden der Stadt und wieder zurück zur Endhaltestelle im Osten musste ich mit der Straßenbahn zockeln, bis ich gnädigerweise mit Ute sprechen konnte. Wir hatten uns in der Siebenundzwanziger kennengelernt und diese Linie fuhr auf meiner Hausstrecke. An diesem Morgen hatte ich nicht die geringste Geduld. Außerdem spürte ich, dass an diesem Morgen eine Entscheidung fallen würde, was ich, wenn ich ehrlich war, nicht verhindern wollte.

»Er war also in der Achtzehner unterwegs«, sagte ich.

»Und dann?«

»Dann ist er ausgestiegen«, sagte Ute und aß eine Banane.

Wir standen auf dem Platz zwischen den Gleisen. Ute hatte zehn Minuten Aufenthalt.

»Kann sein, am Isartor«, sagte sie. »Kann auch sein, auf der Museumsbrücke. Ich weiß es nicht. Am Max-Weber-Platz war er jedenfalls nicht mehr da.«

»Und er hatte den Friesennerz an.«

Sie warf die Schale in einen Mülleimer, wischte sich die Hände an einem Papiertaschentuch ab und ließ es in den Blechkasten fallen.

»Ja«, sagte sie. »Aber ich hab sein Gesicht erkannt, ich kenn ihn von früher, ich hab ihn oft in der Bahn gesehen, er war ein Dauerfahrer. Wahrscheinlich hatte er eine Jahreskarte. Es gibt solche Leute. Manchmal hat er heimlich was getrunken, aber ich habs übersehen. Ich hab nichts gesagt, das ist ja nicht verboten.«

»Was hat er getrunken?«, fragte ich.

»Bier, glaub ich.«

Sie streifte mich mit einem Blick.

Ein paar Leute stiegen in die Straßenbahn und sahen ungeduldig aus dem Fenster.

»Ich mag nicht mehr, Tabor«, sagte Ute. »Ich mag mich nicht mehr so behandeln lassen. Es ist aus mit uns. Ich kann nicht mehr.« Sie schaute mich an, und ich wollte sagen: Es tut mir Leid, es tut mir Leid, dass ich so oft abwesend bin. Ich wollte sagen: Ich möchte bei dir bleiben. Ich sagte nichts.

»Hast du eine neue Freundin?«, fragte sie.

»Nein«, sagte ich.

»Scheiße«, sagte sie, drehte sich um, ging zur Straßenbahn, stieg ein, die Türen schlossen sich, und die Bahn fuhr ab. Wir hatten uns nicht mehr angesehen.

Ich stand auf dem Platz. Wie einfach alles. Wie schnell. Wie praktisch. Ich war nicht erleichtert. Ich war nicht besonders traurig, vielleicht war ich nur so viel traurig, wie es sein musste. Vielleicht war mir alles egal, und ich merkte es nicht. Vierundvierzig Jahre alt. Ute war drei Jahre älter. Wir waren zwei Jahre zusammen gewesen. Brutto. Netto war es etwa ein Jahr. Und dazwischen? Dazwischen waren wir allein, als gebe es uns füreinander nicht. Ich wollte es so. Sie wollte es nicht so. Ich wollte es ändern und schaffte es nicht. Und sie sagte, sie habe Verständnis. Und das hatte sie auch. Ich hatte kein Verständnis für ihren Wunsch, mehr Zeit mit mir zu verbringen. Und ich hatte zweimal mit anderen Frauen geschlafen. Zuletzt mit Esther. Mit Esther schon zweimal innerhalb von zwei Tagen. Ohne einen Gedanken an Ute. Ohne einen Zusammenhang mit ihr. Aber Esther war keine neue Freundin, so wenig wie Sonja eine werden würde.

Bevor ich anfing Stolz abzusondern, machte ich mich auf den Weg.

Ich wollte Jeremias Holzapfel finden und war mir sicher, wenn er gestern mit der Straßenbahn gefahren war, dann würde er es heute wieder tun. Und dann würde jemand ihn sehen und mich benachrichtigen.

Mit Letzterem hatte ich recht. In einer Straßenbahn allerdings war der Mann nicht gesehen worden.

Nachdem ich vergebens bei Esther angerufen hatte, um zu fragen, ob Holzapfel sich bei ihr gemeldet habe, hörte ich von unterwegs meinen Anrufbeantworter ab. Vielleicht hatte Stern oder jemand anders aus dem Dezernat eine wichtige Nachricht hinterlassen.

Stattdessen hörte ich die aufgeregte Stimme von Silvia Bast: »Bitte kommen Sie, ein Mann, der sagt, er heißt Holzapfel, ist in meiner Wohnung, er hat mich ins Bad gesperrt, ich weiß nicht, was er vorhat. Bitte kommen Sie…«

Ich rannte zum Taxistand.

Zurückzurufen traute ich mich nicht. Offenbar hatte sie ein Handy bei sich, das Holzapfel nicht bemerkt hatte. Was wollte er von der jungen Frau? Er kannte sie überhaupt nicht.

Vor dem Hochhaus auf der Theresienhöhe sprang ich aus dem Wagen. Ich klingelte bei verschiedenen Mietern. Jemand drückte den Türöffner und ich lief in den achten Stock hinauf.

Weil auf mein Klingeln und Klopfen niemand öffnete, schrieb ich meinen Namen auf einen Zettel meines kleinen Blocks. Vorsichtig, damit es nicht knickte, schob ich das Blatt bis zur Hälfte zwischen Tür und Rahmen durch. Dann klopfte ich noch einmal.

»Herr Holzapfel«, sagte ich, den Mund nah an der Tür.

»Bitte lassen Sie mich rein! Ich bin allein hier.«

Minuten vergingen. Ein Schlüssel klickte. Die Tür ging einen Spalt breit auf.

»Hallo, Herr Holzapfel«, sagte ich.

»Polizei«, sagte er.

»Ja«, sagte ich. »Polizei, aber im Urlaub.«

»Ich hab auch Urlaub«, sagte er.

Mit einem festen schnellen Ruck drückte ich die Tür nach innen. Holzapfel stolperte und bevor er begriff, was geschah, hatte ich die Tür hinter mir geschlossen und den Schlüssel an der Badezimmertür gedreht.

Silvia saß verstört auf dem Rand der Badewanne. Als ich die Tür öffnete, sprang sie auf.

»Alles in Ordnung, Silvia«, sagte ich.

Holzapfel stand in der Mitte des Wohnzimmers, mit einem Brotmesser in der Hand. Er starrte Silvia und mich an.

»Ziehen Sie eine Jacke an und gehen Sie!«, sagte ich zu ihr. »Bleiben Sie im Hausflur und sprechen Sie mit niemandem!«

»Und Sie?«, fragte sie angstvoll.

»Ich bleib hier, gehen Sie!«

Hastig riss sie eine Wildlederjacke vom Bügel, warf Holzapfel noch einen unsicheren Blick zu und öffnete die Wohnungstür.

»Danke«, sagte ich.

Als sie draußen war, schloss ich die Tür, drehte mich um, sah Holzapfel in die Augen und machte fünf Schritte auf ihn zu, so schnell, dass er heftig erschrak, als ich ihm eine Ohrfeige verpasste und auf die Hand schlug, in der er das Messer hielt. Er ließ es fallen und ich hob es auf. Dann packte ich ihn, schleifte ihn zum Sofa und pflanzte ihn darauf.

Er leistete keinen Widerstand.

»Sitzen bleiben!«, sagte ich.

Ich legte das Messer in die Schublade zurück, nahm mir einen Stuhl und setzte mich vor Holzapfel hin.

»Wie heißen Sie?«, fragte ich.

Er antwortete nicht. Saß da in seinen geborgten Sachen, die ihm zu groß waren, und schaute mich an oder durch mich hindurch oder an mir vorbei.

»Sie waren in Salzburg«, sagte ich. »Sie haben bei Esther übernachtet, Sie haben ihre Hose, ihren Pullover und ihre gelbe Jacke an. Und der Freund Ihrer Exfrau hat Sie verprügelt. Und jetzt will ich wissen, warum Sie die junge Frau, die in dieser Wohnung lebt, als Geisel genommen haben. Was wollen Sie hier?«

Er antwortete nicht.

Ich dachte nichts, als ich den Entschluss fasste. Ich hatte die Idee und die Idee setzte sich auf eine unheimliche Weise selber in die Tat um: Wie auf ein inneres Kommando hin sprang ich auf, packte Holzapfel an der Schulter, hob ihn hoch, drehte mich mit ihm zweimal im Kreis und warf ihn zurück aufs Sofa. Er prallte gegen die Rückenlehne, rollte nach vorn und kippte auf den Boden.

Aus seiner Nase tropfte Blut auf das dezente Grau des Teppichs. Holzapfel keuchte. Sein Gesicht war kalkweiß. Seine Haare standen noch struppiger ab als sonst. Den Mund hatte er weit geöffnet, rasselnde Geräusche kamen aus seiner Kehle, und sein Kinn war blutverschmiert. Er blickte schräg zu mir herauf, überaus fassungslos. Ich holte eine Papierrolle und ein nasses Geschirrtuch aus der Küche. Dann drückte ich Holzapfels Kopf nach hinten und presste mehrere Papierstreifen auf seine Nase, so lange, bis er kapierte, dass er sie selbst festhalten musste. Das Tuch legte ich auf den Teppich, über die Flecken. Dann packte ich Holzapfel erneut an der Schulter, wuchtete ihn in die Höhe und setzte ihn aufs Sofa.

»Nicht den Kopf bewegen!«, sagte ich.

Vielleicht hatte ich es aus Schlafmangel getan, vielleicht weil schon den ganzen Morgen über mein Befinden in den Keller zu rasen schien und ich spätestens nach dem Abschied von Ute hätte nach Hause gehen und mich an meiner Trommel verausgaben sollen. Vielleicht aber ertrug ich nur diesen jämmerlichen Anblick nicht mehr. Und vielleicht wollte ich mich endlich von dieser Gestalt befreien, die mich gezwungen hatte, in meine Vergangenheit zurückzukehren, ohne dass ich verstand, wieso ich das zugelassen hatte.

»Wieso?«, sagte ich.

Den Kopf im Nacken, murmelte er etwas, röchelte und zitterte mit den Beinen.

Ungeduldig ging ich in die Küche, holte Eis aus dem Gefrierfach, klopfte ein paar Würfel aus dem roten Plastikbehälter, wickelte sie in ein Tuch, nahm Holzapfel die blutverschmierten Papiertücher aus der Hand und drückte ihm das Eis auf die Nase, die langsam aufhörte zu bluten.

Die Tücher warf ich in die Toilette. Dann wusch ich mir die Hände und das Gesicht, trocknete mich ab und setzte mich wieder auf den Stuhl vor Holzapfel.

»Haben Sie Ihre Freundin vergiftet?«, fragte ich.

Er schniefte.

»Ich möchte, dass Sie mir zuhören«, sagte ich.

Langsam, mit halb geöffneten Augen, senkte er den Kopf.

»Sie… Sie haben mich geschlagen…«, krächzte er.

»Nein«, sagte ich. »Tuts weh?« Zaghaft schüttelte er den Kopf. Wir schwiegen.

Er betrachtete das blut und wasserdurchnässte Tuch in seinen Händen.

»Den Kopf gerade halten!«, sagte ich.

»Warum haben Sie das getan?«, fragte er. Ich sagte: »Damit Sie aufwachen.«

Er verzog den Mund.

»Das schadet doch nicht«, sagte er stockend. »Das schadet doch nicht, wie ich bin.«