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Die Frau saß auf einer Wolldecke, die die Sanitäter mitgebracht hatten, und hielt sich einen Wattebausch vor die Nase. Sie lehnte an der Glasfassade des Zeitungskiosks in der Nähe der Gleise, umringt von Neugierigen. Nach den Aussagen von Zeugen hatte ein Mann der Frau ohne jede Ankündigung ins Gesicht geschlagen, mit der blanken Faust, sagten einige, andere behaupteten, er habe sie geohrfeigt. Während die Frau zu Boden stürzte, sei der Mann davongelaufen, Richtung Südausgang, wo er die Treppe zur U-Bahn nahm.

Seltsamerweise hatte niemand ihn aufgehalten. Auf die Frage, warum er den Täter nicht verfolgt habe, sagte ein Zeuge, das Opfer sei ihm wichtiger gewesen. Ein anderer Mann erklärte, er habe Angst gehabt, der Mann würde eine Waffe ziehen und wild um sich schießen wie dieser Irre neulich in einem Schweizer Parlament.

Zwar gaben die Zeugen unterschiedliche Beschreibungen des Schlägers ab, doch ich hatte keinen Zweifel daran, dass es sich um Jeremias Holzapfel handelte. Also verbrachten wir die nächste Stunde bei unseren Kollegen vom Bahnhof, erzählten ihnen, was wir wussten, und ich gab ihnen die Adresse des Maklers und der Wohnung auf der Theresienhöhe.

Was die verletzte Frau betraf, Esther Kolb, so sagte sie aus, sie habe den Angreifer nie zuvor gesehen, allerdings sei alles so schnell gegangen, dass sie sich kaum an sein Aussehen erinnern könne.

»Sie werden ihn bald erwischen«, sagte Martin, als wir das Büro der Bahnpolizei verließen und endlich ins Sonnenlicht traten. Ich war nahe daran, einen Schrei auszustoßen und im Kreis zu springen aus vollkommenem Übermut.

»Hoffentlich erwischen sie ihn«, sagte ich und beobachtete Martin, der sich den Schweiß von der Stirn wischte und die Arme um den Körper schlang, als würde er frieren. »Er muss ins Krankenhaus, er muss sich untersuchen lassen. Warum haben wir uns nicht darum gekümmert, Martin?«

»Wahrscheinlich spinnt er bloß«, sagte er. Betrachtete die Salem-Schachtel, hustete und steckte sie wieder ein.

»Oder er hat eine miese Phase.«

»Oder er sucht Ansprache.«

»Hat er ja auch gefunden.«

Um ein Haar wären wir in die anfahrende Straßenbahn gelaufen. Der Fahrer schlug auf die Klingel, und wir blieben ruckartig stehen.

»Was hast du vor?«, fragte ich.

»Und du?«

Einige hundert Meter von uns entfernt befand sich das Rundfunkgebäude, und ich hatte die verrückte Idee hinzugehen.

»Nichts Spezielles«, sagte ich.

»Ich lüft mich aus«, sagte Martin. »Ich hab morgen Bereitschaft. Paul ist bei seiner Frau im Krankenhaus, er hat mich gebeten für ihn einzuspringen.«

»Hast du mit ihm gesprochen?«

»Am Telefon, es geht ihr nicht gut. Nein… er wollte nicht viel reden… Es ist…« Martin schüttelte den Kopf.

Seit zwei Monaten lag Elfriede Weber, die Frau unseres Kollegen Paul Weber, im Krankenhaus. Sie war ein paar Jahre jünger als er, Mitte fünfzig, ich wusste es nicht genau, und vor sechs Jahren musste sie schon einmal wegen eines Tumors im Darm operiert werden. Danach ging es ihr wieder gut, und sie brachte ihm regelmäßig Diätkuchen und Kräutertee ins Büro. Wenn ich den beiden zusah, wie sie miteinander umgingen, wie sie sich ungeniert an den Händen fassten und auf den Mund küssten, unbeschwert und innig, und wie sie ihr Zusammensein in winzigen Gesten feierten, dann kam ich mir jedes Mal wie ein verirrter Gast vor, der die verkehrte Tür geöffnet hatte.

Neben Weber, der ein bulliger Kerl mit einem breiten Gesicht ohne Konturen war, wirkte Elfriede graziös. Sie war klein und drahtig, hatte die dunklen Haare streng nach hinten gekämmt, was ihre Wangenknochen noch mehr betonte und ihr manchmal das Aussehen einer spanischen Tänzerin verlieh, besonders wenn sie auf der Weihnachtsfeier des Dezernats ihren schwergewichtigen Mann über das Parkett schob und in ihrem roten Kleid mit dem schwarzen, um die Hüften gebundenen Tuch ebenso anmutige wie expressive Bewegungen vollführte. Vor einem Vierteljahr hatten erneut die Untersuchungen begonnen, und vom ersten Tag an war in Webers Augen nichts als Entsetzen gewesen. Er sprach mit uns über seine Besuche im Schwabinger Krankenhaus, er bemühte sich, uns an seinem Schmerz teilhaben zu lassen, obwohl er wusste und obwohl wir wussten, dass es uns nicht gelingen würde ihn zu trösten.

»Können wir sie besuchen?«, fragte ich Martin.

»Ich glaube nicht«, sagte er.

Er sah sich um, als müsse er überlegen, welche Richtung er einschlagen solle, dann hob er die Hand.

»Ich melde mich«, sagte er.

»Ja«, sagte ich.

Er schlurfte über die Straße, die Hände in den Hosentaschen, gebeugt wie ein alter Mann.

Es hätte keinen Zweck gehabt ihn zu fragen, ob er mich begleiten wolle. Erstens war er längst entschlossen Lilo zu besuchen, und zweitens hätte er mir wegen meinem Vorhaben den Vogel gezeigt.

Ich musste es tun. Ich brachte das Bild der verletzten Frau auf der Wolldecke nicht aus dem Kopf und die Bemerkung eines Zeugen, der gesagt hatte: »Ich hab gedacht, der tritt ihr auch noch ins Gesicht.«

»Grüß Sie! Junginger. Wenn Sie bitte einfach mitkommen möchten!«

Wir gingen in den ersten Stock, einen schmalen Flur entlang, auf dem uns niemand entgegenkam, und blieben unter einem Schild stehen, auf dem stand: »Arztzimmer«. Horst Junginger öffnete eine Tür.

»Hier lang bitte!«

Wir betraten die Räume der Pressestelle des Bayerischen Rundfunks, eine Frau sah mich eindringlich an, und ich wollte sie schon fragen, was das Schild auf dem Gang zu bedeuten hatte, als Junginger die Tür zu seinem Büro hinter mir schloss und auf einen Stuhl zeigte.

»Einen Kaffee? Was anderes?«

»Nein«, sagte ich.

Er setzte sich hinter seinen extrem aufgeräumten Schreibtisch und faltete die Hände.

»Sie wollen etwas über Herrn Holzapfel wissen?«

Ich hatte dem Pförtner im Parterre erklärt, worum es ging, und nachdem er eine Weile überlegt hatte, wer dafür zuständig sein könnte, rief er in der Pressestelle an. Zufälligerweise war an diesem Samstag der Chef persönlich anwesend, und während ich auf ihn wartete, fragte mich der Pförtner, ob ich von der Mordkommission sei. Als ich erwiderte, ich würde auf der Vermisstenstelle arbeiten, meinte er: »Da kenn ich eine Geschichte…« Er war aber nicht weit gekommen mit seiner Geschichte, weil Junginger bereits eine Minute später erschien.

»Hat er hier im Haus gearbeitet?«, fragte ich.

»Ja«, sagte Junginger, hob die gefalteten Hände und ließ sie wieder auf die blaue Schreibtischunterlage fallen. »Er war sehr beliebt, die Leute mochten seine Stimme, er war ein erfahrener Mann, gelernter Schauspieler…«

»Wieso ›war‹?«

»Tschuldigung?«

»Der Mann lebt noch.«

»Tschuldigung… tschuldigung, ist mir so rausgerutscht… Er ist… er arbeitet nicht mehr für den Funk, das meine ich, er hat aufgehört, vor… ungefähr vier Jahren…«

»Warum hat er aufgehört?«

Wieder machte Junginger die Bewegung mit den gefalteten Händen.

»Er musste… er hat… die Abteilung hat ihm nahegelegt, kürzer zu treten, er hat… Ich möchte nichts Negatives über ihn sagen, ich kannte ihn nicht sehr gut, ich war damals noch Vize hier in der Abteilung, ich leite die Pressestelle erst seit einem Jahr…«

»Herrn Holzapfel wurde gekündigt«, sagte ich. Vor vier Jahren und sechs Monaten, hatte er meinen Kollegen erklärt, sei er als vermisst gemeldet worden.

Junginger nickte.

Das Telefon klingelte.

Ich stand auf. Dieses ständige Sitzen, während anderswo die Sonne schien, machte mich unruhig. Ich ging zur Wand und lehnte mich dagegen. Den Hörer am Ohr, schaute Junginger zu mir her.

»Ist kein Problem, Eva, ja… hernach… Ich bin noch nicht fertig, gut, geh schon mal vor…«

Er legte auf.

»Alles in Ordnung?«, fragte er.

»Ja.«

Weil ich nichts weiter sagte, stutzte er, rollte mit dem Stuhl ein Stück zurück und schlug die Beine übereinander. Meiner Meinung nach passte seine gelbe Krawatte nicht gerade ideal zu dem dunkelroten Hemd.

»Gekündigt«, sagte er, ohne mich anzusehen. »Die Sache ging hinauf bis zum Intendanten. Holzapfel war ein superbekannter Sprecher, haben Sie den nie gehört?«

»Nein«, sagte ich. Mir fiel auf, dass ich kaum noch Radio hörte, meist nur im Taxi, wenn ich dienstlich unterwegs war.

»Er war… er wollte nicht kündigen, er hat mit dem Arbeitsgericht gedroht…«

»War er fest angestellt?«

»Er war freier Fester«, sagte Junginger. »Er hatte einen besonderen Status, ich müsste nachschauen. Auf alle Fälle kann man so einen Mann nicht einfach rausschmeißen…«

»Was hat er denn angestellt?«

Junginger rollte wieder zum Schreibtisch und faltete die Hände.

»Angestellt… Er hat getrunken… das tun viele… er hat getrunken und er… Er hat sich vernachlässigt… Es gab auch Fotos in der Presse, er hatte Frauengeschichten, Prostituierte waren auch dabei… Ich persönlich fand das Ganze unangenehm, ich fand, er ist da in was reingeraten, er hat sich ausnutzen lassen, es war nicht seine Schuld, das alles. Aber hier im Haus hatte man Befürchtungen wegen der schlechten Presse…«

»Gab es einen Prozess?«

»Nein, nein, er hat die Kündigung dann akzeptiert, er hat alles unterschrieben und sich nie mehr blicken lassen. Ich persönlich habe nie wieder was von ihm gehört. Was ist passiert, ist er verschwunden?«

»Das wissen wir noch nicht«, sagte ich. »Kennen Sie seine Frau?«

»Nein. Er war geschieden, habe ich gedacht. Ich habe nur gehört, er soll eine Freundin gehabt haben, Flurgerede, angeblich war die Freundin der Grund für die Scheidung…«

»Wie hieß die Freundin?«

»Sekunde.« Er ging zur Tür und riss sie auf. »Eva, gut, dass du noch da bist! Erinnerst du dich an den Jeremias Holzapfel, der hatte doch eine Freundin…«

Eva hatte eine dünne Jacke an und ein dickes schwarzes Mäppchen in der Hand. Sie war gerade dabei gewesen, sich die Lippen zu schminken.

»Holzapfel«, sagte sie und klappte den kleinen Spiegel zu.

»Gibts den auch noch? Woher soll ich wissen, wie die Freundin hieß? Das ist ewig her.«

»Danke, Eva«, sagte Junginger.

»Hatte er einen Freund hier im Haus?«, fragte ich.

»Wie meinen Sie das, einen Freund?«

Ich sagte: »Jemand, dem er sich anvertraut hat.« Junginger zuckte mit den Achseln.

»Jetzt fällt mir was ein!«, sagte Eva. »Hrubesch! Ich glaub, die Frau hieß Hrubesch, wie der Fußballspieler damals…«

»Du interessierst dich für Fußball?«, sagte Junginger.

»Du nicht?«, sagte sie. Ich fragte mich, ob solche Blicke auf der Sekretärinnenschule gelehrt wurden, nur Frauen in diesem Beruf konnten so schauen. Erika, unsere Assistentin auf der Vermisstenstelle, beherrschte diesen Blick ebenfalls perfekt.

Ich verabschiedete mich von den beiden.

»Ich bring Sie runter«, sagte Junginger.

»Ich schaffs allein«, sagte ich.

Im Foyer rief der Pförtner: »Grüßen Sie Herrn Holzapfel von mir!«

Ich ging zu ihm. »Kannten Sie ihn näher?«

»Überhaupt nicht«, sagte der Pförtner. »Schade, dass er nicht mehr für uns arbeitet. Seine Stimme fehlt im Programm.«

Es störte mich nicht, dass wir im Dunkeln saßen. Vom Flur fiel Licht herein, und das genügte, um das kleine Wohnzimmer so weit zu erhellen, dass wir uns gut sehen konnten, Paul Weber und ich.

Nach dem Besuch im Rundfunkhaus war ich zwei Stunden durch die Stadt gelaufen, nicht ohne mich immer wieder umzudrehen. Was ich auf die Dauer lächerlich fand. Wo immer sich Holzapfel aufhalten mochte, an meine Fersen hatte er sich garantiert nicht mehr geheftet. Zu Fuß ging ich zurück in meine Wohnung, zog mich aus, legte mich nackt aufs Bett und fiel in einen leichten Schlaf. Als es dunkel war, rief ich Weber an, der gerade aus dem Krankenhaus zurückgekehrt war. »Wir müssen nichts sprechen«, sagte ich am Telefon zu ihm, und er:

»Das weiß ich.«

Beim Betreten seiner Wohnung sah ich, dass im Wohnzimmer kein Licht brannte. Natürlich wollte er es wegen mir anmachen, aber ich bat ihn es aus zu lassen.

Wir saßen nebeneinander auf der Couch. Er hatte immer noch seine Jacke und die Straßenschuhe an.

Minutenlang sagten wir kein Wort. Eine antike Uhr tickte in der Ecke.

Paul Weber war eine kuriose Erscheinung. Mit seinen lockigen Haaren, seiner kräftigen Figur, seinen speckigen Kniebundhosen und den karierten Hemden, die seine bevorzugte Kleidung waren, sah er aus wie der klassische Postkartenbayer. Zudem benutzte er weißblaue Stofftaschentücher, groß wie ein halbes Tischtuch, und trug im Winter einen Lodenmantel. Trotzdem sprach er fast dialektfrei, was ungewöhnlich war, da er am Chiemsee aufgewachsen war, wo die Leute breites Oberbayerisch reden. Kurios waren auch seine Ohren. Sie waren meist tomatenrot. Nur die Ohren, nicht das ganze Gesicht.

Als ich vor zwölf Jahren als Oberkommissar auf die Vermisstenstelle kam, arbeitete er bereits dort. Anfangs dachte ich, er würde der neue Chef werden, da er mindestens zehn Jahre älter war als die meisten Kollegen, die meiste Erfahrung besaß und als absolut integere Person galt. Doch dann begriff ich, dass ihn die Stelle nicht interessierte. Er hatte ein Leben außerhalb des Büros, und darin unterschied er sich von meisten jüngeren Kommissaren. Wir freundeten uns an, fragten uns in all den Jahren aber nie aus. Wenn das Gespräch auf unsere Vergangenheiten kam, zögerten wir auf eine ähnliche Art uns mitzuteilen. Nur einmal, in einer langen komplizierten Nacht, in der wir beide als Mitglieder einer Sonderkommission Stunde um Stunde auf einen Einsatz warteten, erzählte er mir, warum er Polizist geworden war.

Daran musste ich jetzt wieder denken, als ich neben ihm auf der Couch saß. Denn Elfriede spielte in dieser kleinen Geschichte die Hauptrolle.

»Sie ist stark«, sagte ich.

»Der Tod ist stärker«, sagte er.

Er zog sein riesiges Taschentuch aus der Hose und drückte es ausgebreitet auf sein Gesicht. Dann faltete er es zusammen und legte es auf den Holztisch, an dem wir saßen.

»Weißt du, wie lang wir verheiratet sind?«, sagte er. Ich sah ihn an.

»Siebenundzwanzig Jahre.« Er strich sich über den Mund.

»Kann sein, dass sie nicht mehr nach Hause kommt«, sagte er übergangslos. »Der Arzt ist ehrlich. Er sagt, man kann was tun, aber eine Garantie gibt es nicht. Metastasen sind unberechenbar.«

Er beugte sich vor und sah zu dem antiken Holzbüffet, auf dem eine gerahmte Fotografie des Ehepaars stand. Dann drehte er den Kopf zu mir.

»Es geht sehr schnell alles abwärts.«

Eine Weile glaubte ich ein Echo dieses Satzes in diesem Zimmer oder in meinem Kopf zu hören.

»Manchmal«, sagte er und senkte den Blick, »bin ich so verzweifelt, dass ich aufhöre, Gott zu hassen.« Er wandte sich von mir ab. »Friede hält auch nicht viel davon, sie liest lieber Gedichte als Gebete.«

Plötzlich erhob er sich. Sein Blick irrte durchs Zimmer, mehrere Male hin und her, seine dünne graue Jacke raschelte, und dieses Rascheln klang unheimlich in der Stille der Wohnung. Dann streckte er den Arm vor, als stütze er sich an einer unsichtbaren Wand ab, machte einen breiten Schritt von der Couch weg ins Zimmer hinein, verließ schwerfällig den Raum und war schon wieder zurück, bevor ich die Hände runternehmen konnte, die ich vors Gesicht geschlagen hatte.

Er setzte sich wieder neben mich, auf eine ungewöhnliche Art. Er sackte nicht einfach nach unten, wie ich es wegen seines Gewichts vielleicht erwartet hätte, vielmehr war seine Bewegung ein Ausdruck größtmöglicher Behutsamkeit. Als nähere er sich einem kostbaren Untergrund, bei dem sich jede Ruppigkeit verbat. Und er setzte sich ganz an den Rand der Couch, seine Knie stießen gegen den Tisch, und sein Bauch wölbte sich mächtig.

In der Hand hielt er ein Taschenbuch. Er schlug es auf.

»Ihr Lieblingsgedicht«, sagte er.

Ich sah, dass es nur vier Zeilen lang war.

Weber holte Luft, dann las er: »Die laubigen Laubfrösche bitten laut / der Morgen stellt sich häufig taub und blind / mit Laub auf den Stimmen mit Zungen betaut / für alle die im Herzen barfuß sind.«

Aufgeschlagen legte er das Buch auf den Tisch, ebenso sacht, wie er sich hingesetzt hatte.

Wir schwiegen.

»Weißt du«, sagte er dann, an mich gewandt, »von wem ich das Gedicht gehört hab, außer wenn meine Frau es mir vorgelesen hat? Von Jeremias Holzapfel, im Radio. Vor vielen Jahren. In einer Gedichtesendung. Friede wollte die Sendung unbedingt hören, das weiß ich noch, sie hat ja in ihrer Bücherei eine eigene Lyrikabteilung eingerichtet. Das war schon beeindruckend, wie der Holzapfel gelesen hat. Und jetzt taucht der auf einmal mit seiner kuriosen Geschichte auf.«

»Die Kollegen fahnden nach ihm«, sagte ich. In kurzen Worten erzählte ich ihm, was am Bahnhof passiert war. Weber hörte mir zu und schüttelte den Kopf. Das war alles.

Wir saßen im Dunkeln und es war still.

Ich musste an den Satz des Pförtners denken: Seine Stimme fehlt im Programm.

Später holte Weber zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank.