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Sehr geehrter Herr Süden,

ich schreibe an Sie, weil die anderen nicht lesen können.

Ich gehe weg und werde nicht zurückkommen, ich bin zwar erst dreizehn, aber ich weiß, wo ich sein möchte und wo nicht, und dort, wo ich jetzt bin, gehöre ich nicht hin. Meine Schwester ist gestorben, weil niemand sie haben wollte, sie ist lediglich mitgelaufen, so wie ich, aber ich habe wenigstens die Musik, die mich mitnimmt, wohin ich will. Weil mich niemand vermissen wird, brauchen Sie mich nicht zu suchen, außerdem würden Sie mich sowieso nicht finden. Was ich Ihnen noch sagen wollte, ist, dass ich mich bedanke, weil Sie meine Schwester gefunden haben. Jetzt hat sie im Grab ein Zuhause, und das ist bestimmt besser als jedes andere. Dann wollte ich Ihnen auch noch sagen, dass ich nicht habe verhindern können, was geschehen ist, und das ist ganz schlimm. Ich habe Nastassja gezeigt, wie man sich die Tüte über den Kopf zieht und sie schnell wieder runternimmt, sie hat das Spiel von mir, wenn ich es ihr nicht gezeigt hätte, würde sie noch leben. Ich bin schuld. Ich verstehe auch nicht, warum sie das getan hat. In zwei oder drei Jahren schon hätten wir gemeinsam weggehen können, wir wären dann zusammen gewesen und niemand hätte uns mehr eingesperrt und geschlagen. Ich weiß nicht, warum sie nicht gewartet hat, ich habe ihr oft gesagt, sie soll Geduld haben, sie soll mir ganz vertrauen. Das hat sie nicht geschafft. Ich bin jetzt allein. Das macht nichts. Ich gehe weg, und die anderen müssen dableiben. Wenn Sie mich finden, obwohl ich Ihnen das Suchen verboten habe, bringe ich mich um. Ist nicht schwer. Sogar meine Schwester hat es geschafft, und die war erst sechs. Ich hasse die ganze Welt, und am meisten hasse ich mich. Vielleicht höre ich woanders auf, mich zu hassen, das weiß ich noch nicht. Und jetzt muss ich los. Bitte verbrennen Sie den Brief, wenn Sie ihn gelesen haben!

Und tschüss.

 

Nach Nastassjas Beerdigung fragte ich die Eltern, wieso sie Fabian nicht zu ihrer standesamtlichen Trauung mitgenommen hätten.

»Stimmt doch gar nicht«, sagte Matrimonia Kolb.

»Finden Sie ihn erst mal, dann reden wir weiter, capice?«, sagte Torsten Kolb.