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Name: Sigburg, Vorname: Ernst, Alter: einundsechzig, wohnhaft in der Teutoburger Straße, Beruf: freier Journalist.

»Haben Sie die Absicht, über diese Vernehmung einen Artikel zu schreiben?«

»Ich arbeite in einer Lokalredaktion in Wolfratshausen«, sagte Ernst Sigburg. »Für München bin ich nicht zuständig.«

»Schreiben Sie – in welcher Zeitung auch immer – etwas über diese Vernehmung?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Bitte?«

»Es ist Ihr Job, darüber zu schreiben. Ihre Kollegen werden Sie darum beneiden.«

»Mein Job ist es, zu den Jahresversammlungen vom Alpenverein oder Schützenverein zu gehen oder aus dem Stadtrat über die Umbenennung der Hauptstraße in Bürgermeister-Müller-Straße zu berichten. Ich bin ein Lokaljournalist, über Verbrechen und polizeiliche Sachen schreibt ein Kollege von mir.«

»Mögen Sie Ihren Job nicht?«

»Nicht besonders. Aber ich darf mich nicht beschweren, ich bin Pauschalist, ich hab ein festes Einkommen, egal, wie viel ich schreib. Und wenn ich die Redaktion verlasse, will ich meine Ruhe.«

»Was tun Sie in Ihrer Freizeit?«

»Ich bin Modellbauer, ich bau Schiffe, Flugzeuge, historische Fahrzeuge.«

»Dann berichten Sie auch von der Jahreshauptversammlung des Vereins der Modelleisenbahnfreunde.«

»So ungefähr.«

»Sie sind nicht verheiratet.«

»Ich bin geschieden.«

»Haben Sie Kinder?«

»Einen Sohn. Er lebt in Berlin, arbeitet dort als Streetworker. Oder ist drogensüchtig, ich weiß es nicht genau.«

»Sie haben keinen Kontakt zu ihm.«

»Nein. Zu meiner Exfrau auch nicht. Sie wollt ein anderes Leben, das, was ich ihr geboten hab, war ihr zu klein. Sie hat immer gesagt, ich soll mich beim ›Spiegel‹ bewerben, oder beim ›Stern‹, oder wenigstens im Stammhaus der ›Süddeutschen Zeitung‹. Wollt ich nicht. Ich bin Lokaljournalist. Da ist sie weg, samt meinem Sohn. Nach Hamburg, sie hat einen Geschäftsmann kennen gelernt, einen Modeeinkäufer, der ein Haus auf Sylt besitzt. Da ist die Welt natürlich größer. Mein Sohn war damals sieben, er musste die Schule verlassen, seine Freunde, alles. Meine Frau hat nicht lange gefackelt. Was hätt ich machen sollen? Wenn jemand weg will, darf man ihn nicht halten. Mein Kontakt zu Benedikt, das ist mein Sohn, war nicht besonders innig, weiß nicht, warum. Wir mochten uns nicht, wenn man so was sagen darf, wir waren uns irgendwie nicht sympathisch. Als Jugendlicher hat er mich ein paar Mal besucht, ich hab ihm Geld gegeben, er hat sich rumgetrieben, die Schule war ihm egal, er hat geraucht und getrunken und Drogen genommen. Schon mit fünfzehn, sechzehn. Er war von zu Hause abgehauen, war ihm zu spießig, hat er gesagt. Was nutzt einem die große Welt, wenn das Kind sagt, die ist ihm zu spießig, die große Welt, und abhaut? Mich hat er ausgelacht wegen meinem Hobby. Er war bekifft, ich hab es ihm nicht übel genommen. Dann ist er bei Nacht und Nebel wieder verschwunden. Irgendwann hat meine Exfrau mich angerufen und gefragt, ob ich wüsste, wo Benedikt steckt. Sie hat dann rausgefunden, dass er in Berlin ist. Und heute? Wie gesagt, Streetworker. Oder was anderes. Lisbeth war mal mit ihrem Mann zu Besuch in München, wir waren essen, er wollte ins ›Andechser am Dom‹ und in die Fünf Höfe. Haute Couture. Da hat mir Lisbeth erzählt, Benedikt wär jetzt Streetworker. Ich kann Ihnen nicht sagen, warum ich das nicht geglaubt hab. Ich glaub es bis heut nicht. Ich denk selten an ihn, fast nie. Merkwürdigerweise hab ich gestern an ihn gedacht, gestern kurz vor der Tankstelle, wo der Stau war, kurz bevor ich das Mädchen gesehen hab. Wer weiß, wenn ich nicht an Benedikt gedacht hätte, wär mir das Mädchen womöglich gar nicht aufgefallen.«

»Um wie viel Uhr haben Sie das Mädchen gesehen, Herr Sigburg?«

Anmerkung: Die Vernehmung muss kurz unterbrochen werden, da ein Mitarbeiter des ED ein Foto bringt, das Hauptkommissar Süden in Empfang nimmt. HK Süden wiederholt seine vor der Unterbrechung gestellte Frage.

»Nach halb sechs. Um halb kommen die Verkehrsmeldungen im Radio, und das war wenig später. Ich erinnere mich, weil ich noch gedacht hab, so ein Stau auf der Wolfratshausener Straße wird natürlich wieder nicht gemeldet.«

»Wo genau war der Stau?«

»Vor der Tankstelle, nahe der Einmündung der Ludwigshöher Straße. Da ist doch gegenüber eine Tankstelle, es war Feierabendverkehr, und zwei Autos sind zusammengestoßen. Nichts Dramatisches, ich hab nichts erkennen können, einer wollte einbiegen, der andere wollte rausfahren, ein Dritter kam aus Richtung München und hat nicht aufgepasst, ich weiß nicht genau. Zwei Männer, eine Frau. Sie haben sich angeschrien, ihre Autos standen im Weg, niemand kam vorbei.«

»Wo stand der silbergraue Audi, den Sie gesehen haben?«

»Auf der Ludwigshöher. Der Fahrer war ausgestiegen und kniete neben der Beifahrertür, die offen war. Er redete mit einem Mädchen, mit seiner Tochter.«

»Woher wissen Sie, dass es seine Tochter war?«

»Das sah so aus. Er hat sie geküsst und ihre Hand gehalten.«

»Warum, glauben Sie, ist er ausgestiegen? Er hätte auch im Auto mit ihr sprechen und sie küssen können.«

»Hab ich nicht drüber nachgedacht. Aber Sie haben Recht.«

»Können Sie sich erinnern, welche Kleidung das Mädchen trug?«

»Ja, deshalb hab ich mich auch gemeldet, als ich die Nachricht im Radio gehört hab. Sie trug eine rote Jeansjacke mit Pelzkragen, die hab ich deutlich sehen können. Und Jeans, glaub ich. Da bin ich mir aber nicht sicher.«

»Wie lange haben Sie den beiden zugesehen?«

»Eine oder zwei Minuten. Ich hab dann Zeitung gelesen. Und als ich wieder rausgeschaut hab, war das Auto weg.«

»Der silbergraue Audi.«

»Ja.«

»Und das Mädchen auch.«

»Die war doch im Auto.«

»Haben Sie gesehen, ob sie vorher mal ausgestiegen ist?«

»Ja. Ja, hab ich!«

»Wann vorher, Herr Sigburg?«

»Vorher. Nachdem der Vater mit ihr gesprochen hatte. Er wollte gerade wieder einsteigen, auf der Fahrerseite, da ist sie ausgestiegen und hat mit den Füßen aufgestampft und geweint, glaub ich.«

»Was hat der Mann dann getan?«

»War es nicht ihr Vater?«

»Beschreiben Sie ihn bitte.«

»Anfang dreißig, Lederjacke, Schnauzbart, Stoppelfrisur.«

»Das Mädchen hat geweint.«

»War es ihr Vater? Ja, das Mädchen hat geweint, er hat es getröstet.«

»Wie?«

»Bitte?«

»Wie hat er das Mädchen getröstet?«

»Er hat ihr über die Wange gestreichelt.«

»Sonst nichts?«

Anmerkung: Der Zeuge denkt lange nach.

»Nein, sonst nichts. Er hat dagestanden, vor ihr, ich hab sie nicht sehen können, dann ist er eingestiegen und sie auch.«

»Das haben Sie alles innerhalb von zwei Minuten beobachtet?«

»Möglich, dass ich doch länger hingesehen hab. Aus Langeweile. Es ging ja nichts vorwärts.«

Anmerkung: HK Süden legt dem Zeugen ein Foto von Nastassja Kolb vor.

»Ist das das Mädchen, das Sie gesehen haben?«

»Ja.«

»Sind Sie sicher?«

»Ja.«

Anmerkung: HK Süden legt dem Zeugen ein Foto des Tatverdächtigen Kolb vor, das der Erkennungsdienst angefertigt hat.

»Ist das der Mann, den Sie an dem silbergrauen Audi gesehen haben?«

»Sieht aus wie ein Fahndungsfoto. Ja, das ist der Mann.«

»Sind Sie sicher?«

»Ja.«

»Wenn Sie sich die Situation, die Sie beobachtet haben, noch einmal vor Augen führen, wie würden Sie sie interpretieren, was ist Ihrer Meinung nach passiert?«

»Ein Streit zwischen Vater und Tochter. Ist es denn der Vater gewesen? Oder dürfen Sie das nicht sagen?«

»Ihrer Beschreibung nach könnte es der Vater gewesen sein.«

»Bin ich der einzige Zeuge?«

»Bitte beantworten Sie meine Frage. Was ist zwischen den beiden vorgefallen?«

»Sie haben sich gestritten. Das war offensichtlich. Der Vater hat sich bemüht, sie zu beruhigen. Sehr eng scheint das Verhältnis nicht zu sein. Das Mädchen hatte die Hände die ganze Zeit in den Hosentaschen, das fällt mir jetzt ein.«

»Sie haben gesagt, er hat ihre Hand gestreichelt.«

»Ja. Jetzt weiß ich es wieder: Er hat sie am Handgelenk genommen und ihre Hand aus der Tasche gezogen. So war das! Und dann hat er sie getätschelt und dann hat sie die Hand wieder in die Tasche gesteckt. Ja. Also, da war eine Distanz. Mehr kann ich nicht sagen. Wie alt ist das Mädchen?«

»Sechs Jahre.«

»Sechs erst! Und schon so selbstbewusst. Oder eigensinnig. Stur. Schon mit sechs. Die Kinder werden immer früher eigenständige Wesen, da sind Sie als Eltern nur noch Statisten. Sechs Jahre! Als ich sechs war, war ich aus heutiger Sicht ein Baby, eingeschüchtert von den Erwachsenen, ich hab nur geredet, wenn ich gefragt wurde.«

»In welcher Richtung stand das Auto, Herr Sigburg?«

»Jetzt fällt es mir ein! Das Auto stand zuerst in Richtung Innenstadt. Aber dann muss er umgedreht haben. Denn er konnte doch nicht in die Wolfratshausener Straße einbiegen, weil Stau war. Und er war ja weg. Er muss zurückgefahren sein, die Ludwigshöher in die andere Richtung.«

»Sind Sie sicher?«

»Gesehen hab ich es nicht.«

»Er könnte sich also auch in den Stau eingeordnet haben.«

»Ja, aber das ist unwahrscheinlich. Wir standen ja alle, da ging nichts vorwärts. Er ist garantiert zurückgefahren.«

»Wie lange dauerte der Stau?«

»Eine Viertelstunde, mein ich.«

»In dieser Zeit haben Sie den silbergrauen Audi oder das Mädchen mit der roten Jeansjacke nicht mehr gesehen.«

»Nein.«

»Sind Sie sicher?«

»Absolut sicher.«

Bevor ich in die Josephinenstraße zu Nastassjas Großeltern, ihrem Bruder und Sonja Feyerabend fuhr, sah ich noch einmal nach Martin. Als Erstes fiel mir auf, dass die Zigaretten vom Boden verschwunden waren, Martin lag nicht mehr im Bett, und ich hörte Geschirrklappern aus der Küche.

Nur mit einer grünen, fleckigen Trainingshose bekleidet, spülte er Tassen und Teller ab, die mir vorhin nicht aufgefallen waren, und in seinem Mund steckte eine brennende Salem ohne. Ich sagte nichts zu ihm, er wandte sich nicht nach mir um, und ich setzte mich an den runden Tisch am Fenster. Nachdem er sich die Hände abgetrocknet und die Zigarette in einem frisch gespülten Aschenbecher ausgedrückt hatte, setzte Martin sich mir gegenüber hin. Seine blasse Haut spannte über den hervorstehenden Rippen, er schien noch schmaler geworden zu sein, seine Wangen waren eingefallen, seine wenigen Haare formten sich zu einem armseligen Nest, seine knochigen Finger zitterten. Ich wollte ihn nicht fragen, warum er sich nicht ein Hemd und Socken anzog. Ich wollte ihn nichts fragen. Wenn er nichts sagte, würde ich wieder gehen.

Er schaute mich an. Und in seinem Blick lag das ganze verfluchte Scheitern eines Mannes, der mein bester und ältester Freund war. Wir kannten uns, seit wir fähig waren zu schauen, zu sprechen und zu kämpfen, wir hatten uns gegenseitig aufgeklärt und am Schwanz gezogen, um zu testen, ob er hart wurde. Da waren wir fünf Jahre alt gewesen, und das Glück existierte von dem Moment an, wenn wir uns morgens am Schuppen mit den Hühnern und Schweinen trafen. Jeder Tag verkündete am Ende eine Zukunft, und wir waren uns unserer Unsterblichkeit bewusst. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte mir Martin Heuer als Freund gereicht, andere Menschen interessierten mich nicht, abgesehen von den Mädchen, für die wir beide vorübergehend unsere Freundschaft pausieren ließen, um als einsame Helden zu triumphieren. Für Martin hatte ich gelogen, und er für mich, unsere Alibis waren ausgereift, und wenn wir voll wütender Trauer von einem fehlgeschlagenen Beutezug in unser Stallversteck zurückkehrten, trösteten wir uns mit der Vorstellung, dass Mädchen, die ohne uns zurechtkommen wollten, als Nonnen oder Frau Ginger enden würden. Frau Ginger lebte allein in einem alten Haus am Taginger See, sie hatte einen Schnurrbart und behaarte Beine, und wenn man das verwilderte Grundstück betrat, auf dem ihr vermodertes Haus stand, krächzte sie aus dem offenen Fenster Worte, die wir nicht verstanden, und immer trug sie eine graue Bluse, bis oben zugeknöpft und ohne die geringsten Brüste darunter. Sie war aber ein weibliches Wesen, und Mädchen, die uns verschmähten, würden hundertprozentig als Frau Ginger enden oder, wenn sie sehr viel Glück hatten, als Nonnen wie die, die den Kindergarten leiteten.

Er schaute mich an, über den Tisch hinweg wie über ein ausgetrocknetes Meer, und ich wollte ihn fragen, ob er sich an Frau Ginger erinnerte, aber er schaute mich immer weiter an, und in diesem Blick verreckte unsere Kindheit wie ein angeschossenes Reh im Wald über Taging, und ich wollte ihn fragen, ob er Hunger und Lust habe, mit mir zum Essen zu gehen, und ich wollte ihn fragen, wie es ihm gehe, und er hörte nicht auf, mich anzuschauen, und ich wollte das Meer überqueren und ihn in die Arme nehmen und vielleicht ein wenig wärmen, und dann hörte ich seinen Magen knurren, einem Hund gleich, der eine Höhle bewachte, die man nicht betreten durfte wie das Haus von Frau Ginger, und ich stand auf, drehte Martin den Rücken zu und schrie gegen die Wand, so laut und lange ich konnte.

Ich schrie aus vollem Hals, die Hände zu Fäusten geballt, mit weit geöffnetem Mund. Und als ich innehielt und mich umwandte, schaute Martin mich noch immer an, unbeweglich, mit demselben Blick wie zuvor, als habe er mich nicht gehört, als nehme er mich nicht einmal wahr. In dieser Sekunde dachte ich, er wäre tot.

»Martin«, sagte ich mit einer Stimme, die aus den Resten meines Schreis bestand.

Ohne Regung im Gesicht sagte er: »Du musst los. Du musst das Mädchen finden.«

Vor dem Haus lehnte ich mich an die Wand, verschränkte die Arme, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Auf dem Nachbargrundstück begann eine Säge zu kreischen. Es hörte sich an wie das lächerliche Echo meines Schreis.

»Wo ist der Junge?«, fragte ich.

»Schließt sich im Zimmer ein. Bringen Sie ihn dazu aufzumachen!«

Seit ich die Wohnung der Familie Kolb betreten hatte, bestimmte der achtundsiebzigjährige Friedbert Hegel den Ton des Gesprächs. Missmutig hatte er Sonja und mich beobachtet, als wir uns zur Begrüßung auf beide Wangen küssten und uns länger ansahen, als er es vermutlich für dienstlich angemessen fand. Seine Frau, Waltraud Hegel, weißhaarig, braunes, teures Kostüm, goldene Ringe an den Fingern, hielt sich im Hintergrund, gerade so weit von uns entfernt, dass sie noch jedes Wort verstehen konnte. Es war, als behielte der ehemalige Gymnasiallehrer Sonja und mich im Auge und Waltraud Hegel wiederum ihren Mann.

»Wie geht es meiner Tochter? Ist sie wach? Kann man zu ihr?« Hegel sprach ausschließlich in diesem Duktus, fordernd, manchmal auf unterschwellige Art anklagend, und ich war mir nicht sicher, ob ihm bewusst war, wie er sich mir und Sonja gegenüber benahm. Vermutlich folgte er einer Gewohnheit, und es wäre sinnlos gewesen, sich dagegen zu verwahren. Friedbert Hegel trug einen dunklen, gut geschnittenen Anzug, eine dunkelrote Krawatte und glänzende schwarze Lederschuhe. Das Ehepaar wirkte, als habe es sich für einen Theaterbesuch herausgeputzt.

»Das Krankenhaus meldet sich, wenn es etwas Neues von Ihrer Tochter gibt«, sagte ich.

»Es wäre doch besser, du würdest hinfahren«, sagte Hegel mit einem kurzen Blick auf seine Frau.

»Erst wenn wir mit Fabian gesprochen haben«, sagte sie.

»Gehen Sie bitte ins Wohnzimmer«, sagte ich vor der verschlossenen Tür von Fabians Zimmer.

»Er macht einfach nicht auf«, sagte Hegel. »Seine Schwester ist spurlos verschwunden, und er spielt den Beleidigten. Sie müssen die Tür aufbrechen, anders hat das keinen Zweck. Der Junge darf sich so nicht verhalten.«

»Warten Sie im Wohnzimmer«, sagte ich. »Fabian?«, sagte ich dann, nachdem Sonja die Wohnzimmertür hinter sich zugezogen hatte. »Ich bin Tabor Süden, der Polizist. Ich will dir etwas sagen. Wir haben einen Zeugen gefunden, der deine Schwester gestern gesehen hat, und zwar zusammen mit deinem Vater. Ist das möglich?

Du musst mir helfen. Bei solchen Fällen tauchen immer Trittbrettfahrer auf, die Zeug erzählen, man weiß nie genau, mit wem man es zu tun hat. Ich mache mir große Sorgen um deine Schwester. Können wir uns unter vier Augen unterhalten? Ohne deine Großeltern und meine Kollegin. Was du mir sagst, ist vertraulich. Du bist ein wichtiger Zeuge, auch wenn du wenig gesehen hast. Außerdem musst du zu deiner Mutter ins Krankenhaus. Mir wäre es lieber, du würdest hingehen und nicht deine Großeltern. Schaffst du das? Ich kann dich begleiten, wenn du möchtest.«

Ich hörte, wie Fabian den Schlüssel im Türschloss drehte. Er zog die Tür einen Spaltbreit auf. Sein Gesicht war ein fahler Planet aus Müdigkeit.

»Hallo«, sagte ich.

Der Junge spähte an mir vorbei in den Flur.

»Sie sind im Wohnzimmer«, sagte ich leise. »Meine Kollegin passt auf deine Großeltern auf. Lass mich schnell rein, dann kannst du wieder absperren.«

Nach einem Moment machte er einen Schritt zur Seite, ich betrat das Zimmer, und er drehte wieder den Schlüssel herum. Dann ließ er sich aufs Bett fallen, das Gesicht im Kissen. Die Luft war abgestanden, und es roch nach Schweiß.

»Stört es dich, wenn ich das Fenster aufmache?«, sagte ich.

Er reagierte nicht, und ich ging hin und öffnete es. Die Luft war kühl. Abendlicht fiel ins Zimmer. Ich stellte mich an die Tür, schräg gegenüber dem Bett.

»Der Zeuge, von dem ich dir erzählt habe, klang überzeugend«, sagte ich. »Ein überzeugender Zeuge also.«

Fabian drehte den Kopf zur Wand, seine Haare waren ungewaschen und strähnig, und seine nackten Füße sahen schmutzig aus.

»Wir haben deinen Vater vorübergehend festgenommen«, sagte ich. »Ich weiß, dass er mir etwas verschweigt, aber er verbringt lieber das Wochenende in einer Zelle, als dass er den Mund aufmacht. Erkläre mir, was das bedeutet. Du kennst ihn besser als ich.«

Fabian murmelte etwas, das ich nicht verstand.

»Der Typ ist mir egal«, sagte er, nachdem ich nachgefragt hatte.

»Er lügt«, sagte ich.

Fabian hob den Kopf, sah zu mir her und ließ den Kopf, das Gesicht jetzt mir zugewandt, wieder sinken.

»Warum lügt er?«, sagte ich. »Das ist doch riskant für ihn.«

Dann schwiegen sie eine Weile.

»Sind Sie schon lange bei der Polizei?«, fragte Fabian. Ich sagte: »Fünfundzwanzig Jahre.«

»Ist das nicht langweilig?«

»Nein«, sagte ich. »Es ist mein Beruf.«

»Wollten Sie immer schon Polizist werden?«

»Ich wusste nicht, was ich werden sollte.«

Nach einer Weile sagte Fabian: »Vielleicht werd ich auch Polizist. Dann kann ich so Leute wie meinen Alten einsperren.«

»Ich habe deinen Vater nicht eingesperrt, ich habe ihn nur vorübergehend festgenommen. In zwei Tagen ist er wieder frei.«

»Warum denn?« Fabian richtete sich auf und lehnte sich an die Wand und sah mich mit grimmigem Gesicht an.

»Wir können ihm nicht beweisen, dass er etwas Schlimmes getan hat.«

»Und was ist mit dem Zeugen? Oder haben Sie mich angelogen?«

»Ich lüge dich doch nicht an«, sagte ich und schwieg.

Er musterte mich und zog die Augen zu Schlitzen zusammen.

»Der Zeuge behauptet, er hat deinen Vater und deine Schwester gesehen. Gestern am späten Nachmittag in der Ludwigshöher Straße. Er ist bisher der einzige Mensch, der die zwei gesehen hat.«

»Ich hab sie auch gesehen«, sagte Fabian.

Scheinbar achtlos fragte ich: »Deinen Vater und deine Schwester zusammen?«

»Ihn hab ich gesehen, sein Auto, ich habs vom Fenster aus gesehen, er ist vorbeigefahren. Er hat auf Nasti gewartet.«

»Er wollte mit ihr ins Schwimmbad«, sagte ich.

»Klar.« Fabian kratzte sich am Oberschenkel und anschließend in den zerzausten Haaren.

»Hast du gesehen, wie deine Schwester ins Auto gestiegen ist?«, sagte ich.

»Hab ich nicht!«, sagte er heftig. »Aber sie ist bestimmt eingestiegen. Und dann ist sie wieder ausgestiegen.«

»Woher weißt du das?«

»Weil ich das weiß.«

»Du hast mir sehr geholfen, Fabian«, sagte ich. »Willst du jetzt zu deiner Mutter ins Krankenhaus?«

Er sah aus, als sei er verblüfft darüber, dass ich ihn nicht weiter ausfragte. Er warf einen Blick auf seine breite Armbanduhr und zog wieder die Augen zusammen. Natürlich hätte ich ihn weiter befragen müssen, doch ohne elterlichen Beistand waren seine Aussagen nicht gerichtsverwertbar. Also hoffte ich, er würde von sich aus mehr erzählen.

Ich schwieg. Er hob den Kopf.

»Ich weiß nur, dass er Nasti abgeholt hat«, sagte Fabian.

»Und mehr weiß ich nicht.«

Ich überlegte, ob er das Lügen von seinem Vater vererbt bekommen hatte.