12

»Erklären Sie uns diese Bemerkung«, sagte Dr. Michael Vester. »Warum hatte Ihr Kollege und Freund Martin Heuer es verdient, dass Sie ihn schwer verletzt und auf ihn eingeschrien haben?«

Ich öffnete die Augen und senkte den Kopf.

Volker Thon und Karl Funkel erwarteten eine Antwort, die sie aus einer für sie unerträglichen Anspannung befreien und ihre Gedanken zu den Ermittlungen zurückkehren lassen sollte. Der Staatsanwalt klopfte mit dem rechten Daumen auf den linken Handrücken und tauschte einen Blick mit Erika Haberl, deren Erkältung etwas abgeklungen zu sein schien, sie hatte nur noch ein Päckchen Papiertaschentücher neben ihrem Laptop liegen.

»Wir werden die Sache mit Hauptkommissar Heuer intern klären«, sagte Vester. »Momentan liegt er mit gebrochener Nase und schweren Prellungen im Krankenhaus Rechts der Isar, seine linke Schulter war ausgekugelt, die haben die Ärzte inzwischen wieder eingekugelt. Aber das wissen Sie ja alles.«

»Ich wusste es nicht«, sagte ich.

»Hat Ihnen Ihre Freundin, Frau Feyerabend, nicht gesagt, wie es um Heuer steht?«

»Nein.«

»Sie haben ihn übel zugerichtet«, sagte Vester. »Dem Bericht Ihrer Vernehmung von Torsten Kolb habe ich entnommen, Kolb habe Ihnen vorgeworfen, betrunken zu sein. Bezog sich dieser Vorwurf auf Hauptkommissar Heuer?«

Ich sagte: »Mit dem Vorwurf wollte er uns provozieren, wie es seine Art ist.«

»Sie würden also nicht sagen, dass Sie beide, Heuer und Sie, nach Alkohol gerochen haben?«

»Nein.«

Aus seiner Aktenmappe, die er ans Tischbein gelehnt hatte, holte er ein Blatt Papier in einer Klarsichtfolie.

»Hier steht«, sagte er, nachdem er Erika Haberl erklärt hatte, dass es sich um eine Anmerkung handele, »bei den Untersuchungen von Martin Heuer haben die Ärzte einen Alkoholgehalt von zwei Komma null eins Promille in seinem Blut festgestellt. Lesen Sie bitte!«

Er hielt mir das Blatt hin, und ich nahm es.

»Martin Heuer war bei der Vernehmung stockbetrunken«, sagte Vester. »Und Sie wollen mir weismachen, Sie haben das nicht bemerkt? War das der Grund, warum Sie die Kontrolle verloren haben? Weil Sie sich nicht von Torsten Kolb, sondern von Ihrem Kollegen provoziert gefühlt haben? Von seiner Trunksucht. Von seinem unprofessionellen Verhalten.«

Ich schwieg. Ich las die Zahlen auf dem Formular und vergaß sie sofort wieder.

»Mach endlich eine klare Aussage!«, sagte Volker Thon.

Funkel kratzte sich an der Lederklappe über seinem linken Auge. »Wir haben keine Zeit zu verlieren«, sagte er.

»Und wir haben jetzt zwei Mann weniger in der Soko. Ich bitte dich, Tabor, mach deine Aussage! Bitte.«

Und ich sagte: »Ich weiß nicht, warum ich Martin zusammengeschlagen und Torsten Kolb zu Boden geworfen habe. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.«

»Das reicht nicht!«, sagte Vester laut. Dann wollte er noch etwas anfügen, blieb aber stumm.

»Du bist vorübergehend vom Dienst befreit«, sagte Thon. »Hoffen wir, dass sich der Anwalt an unsere Abmachungen hält. Und vor allem, dass sich Kolb an die Anweisungen seines Anwalts hält. Über das weitere Vorgehen…«

Jemand klopfte an die Tür.

»… bespreche ich mich mit Dr. Vester. Sind Sie einverstanden?«

Der Staatsanwalt nickte, schüttelte den Kopf, steckte das Krankenhausblatt in die Mappe zurück.

»Ja!«, sagte Funkel.

Freya Epp streckte den Kopf herein. »Entschuldigung. Fabian Kolb hat gerade angerufen, er will dich sprechen, Tabor. Nur dich, hat er ausdrücklich gesagt, also ich hab… zuerst hab ich gefragt…«

»Wo ist er jetzt?«, sagte ich.

»Er ist… er sagt… also, er… zuerst wollt er das nicht sagen…«

»Wo ist er?«, sagte ich.

»Er sagt, du sollst in den ›Burgerking‹ am Stachus kommen.«

»Er wartet dort?«

»Hat er gesagt.«

»Wann hat er angerufen?«

»Vor zwei Minuten, ich hab gesagt, du bist in einer Besprechung und… Er wollte wirklich nur dich sprechen…«

Freya schloss die Tür wieder.

»Sie werden nicht gehen«, sagte Dr. Vester. »Jemand aus der Soko wird den Jungen treffen und ihn hierher bringen. Wenn er eine Aussage machen will, dann nur im Dezernat.«

»Ich gehe zu ihm«, sagte ich.

»Sie sind nicht befugt«, sagte Vester. »Sie sind nicht im Dienst.«

»Wir sollten es riskieren«, sagte Thon. »Der Junge hat Vertrauen zu ihm. Er hat schon einmal relativ offen mit ihm gesprochen.«

»Das hab ich gelesen!«, sagte Vester. »Was ist das für eine Disziplin in dieser Abteilung! Das ist ja lächerlich! Wir befreien einen Kollegen aus guten Gründen vom Dienst und fünf Minuten später schicken wir ihn zu einer wichtigen Vernehmung. Wenn sich das rumspricht…«

»Ich bin dafür«, sagte Funkel. »Ich finde es richtig, wenn er den Jungen trifft. Fabian würde mit niemand anderem sprechen, da bin ich sicher. Wir sind auf seine Aussage angewiesen.«

»Du nimmst Freya mit«, sagte Thon. Ich sagte: »Ich gehe allein.«

»Du nimmst sie mit.«

»Nein«, sagte ich und verließ das Zimmer.

Auf dem Weg zur Sonnenstraße, wo sich das Lokal befand, nur ein paar Minuten vom Dezernat entfernt, empfand ich eine vage Furcht vor dem, was mir der Junge zu sagen hatte.

Bevor ich hineinging, rief ich von einer Telefonzelle aus noch einmal im Dezernat an.

»Du musst doch kommen«, sagte ich.

»Bin gleich da«, sagte Freya Epp.

Natürlich hatte Thon Recht gehabt. Allein würde ich unmöglich die Vernehmung führen und gleichzeitig mehr mitschreiben können als bloße Stichpunkte, die in diesem Zusammenhang für einen verwertbaren Bericht nicht ausreichen würden. Und da Erika Haberl in der Vermisstenstelle gebraucht wurde, wandte ich mich an Freya, die bei Befragungen schon öfter protokolliert hatte. Außerdem schätzte ich ihre zurückhaltende distanzierte Art gegenüber Zeugen.

Den Jungen entdeckte ich im ersten Stock des Lokals, er saß auf einer der roten Plastikbänke am Fenster und blickte hinunter auf die viel befahrene Straße. Vor sich hatte er ein Tablett mit einer Cola und einer Tüte Pommes frites stehen. Ich hatte mir einen Kaffee und einen Cheeseburger gekauft und mich gefragt, wie ich dieses Frühstück runterbringen sollte.

Wortlos setzte ich mich Fabian gegenüber. Mit zusammengekniffenen Augen schaute er durchs Fenster.

»Eine Kollegin von mir kommt noch«, sagte ich. »Sie mischt sich aber in unser Gespräch nicht ein, sie schreibt nur mit, ich brauche hinterher ein Protokoll, du bist schließlich mein wichtigster Zeuge.«

Fabian sagte nichts. Ich trank einen Schluck des heißen schwarzen Kaffees aus dem Pappbecher. Wir waren die einzigen Gäste. In der Mitte des Raumes hing ein Fernseher, eine Musiksendung lief, und die Lautstärke war gerade noch erträglich.

Draußen, auf dem Mittelstreifen der Straße, durchquerten Trambahnen die Stadt von Norden nach Osten. Der »Burgerking« lag im Zentrum, neben einem Kino, in dem hauptsächlich Actionfilme gezeigt wurden, und in der Nähe der meistbesuchten Fußgängerzone der Stadt.

Bis Freya Epp auftauchte, hatten Fabian und ich kein Wort gewechselt, als habe er auf die Protokollantin gewartet. Denn kaum hatte sie sich neben mich gesetzt und ihren Block aufgeschlagen, sagte er: »Ist mein Vater im Gefängnis?«

»Nein«, sagte ich.

»Ist auch egal«, sagte der Junge, legte die Hände neben das Tablett und sah mich mit einem Ausdruck von Erwartung und, wie mir schien, ein wenig Herablassung an.

»Warst du wieder bei deiner Mutter?«, sagte ich.

»Ja«, sagte er. »Aber ich hab nicht mit ihr gesprochen.«

»Was hast du dann im Krankenhaus getan?«

»Ich hab sie angesehen, das hat mir gereicht.«

»Hat sie dich bemerkt?«

»Klar!«

»Wie geht es ihr?«

»Schlecht.« Als würde er aus dem Stand kopfüber in eine Schlucht springen, verfiel er in ein jähes Schweigen, das mindestens fünf Minuten dauerte. Währenddessen versuchte ich, den Burger zu essen, er schmeckte mir sogar, doch ich hatte keinen Hunger. Fabian starrte sein Tablett an, ohne jede Bewegung. Ich sah, wie Freya auf ihrem Block den Zustand des Jungen beschrieb.

»Du kommst einfach nicht mit deinen Eltern zurecht«, sagte ich.

»Na und?«

»Wir müssen deine Schwester finden, Fabian«, sagte ich. Er bückte sich und hob die Plastiktüte eines Supermarktes vom Boden auf, in der er etwas mitgebracht hatte. Einen Moment zögerte er, bevor er die Hand hineinsteckte. Das Rascheln kam mir laut und bedrohlich vor.

Fabian stellte einen blassblauen Turnschuh auf sein Tablett. Der Schuh hatte einen Klettverschluss. Ich hatte den Schuh nie zuvor gesehen und erkannte ihn dennoch sofort.

»Kann ich die Tüte haben?«, sagte ich fast automatisch.

Fabian reichte sie mir und ich legte sie zwischen Freya und mich auf die Bank.

Alle drei betrachteten wir den Turnschuh, der schwarze Schlieren an der Seite aufwies. Er stand neben den Fritten und der Cola wie ein Werbegeschenk. Und nicht wie ein grausames Almosen des Allmächtigen.

»Was war für dich das Schlimmste in deiner Kindheit?«, sagte ich. »Als du ungefähr so alt warst wie deine Schwester.«

Und Fabian ließ seine Hand in den Turnschuh gleiten.

»Dass ich nicht dabei war, als sie geheiratet haben.«

»Als deine Eltern geheiratet haben«, sagte ich.

»Ich war nicht dabei«, sagte Fabian. »Sie sind ohne mich aufs Standesamt gefahren.«

»Warum?«

»Ich hab sie nicht gefragt.«

»Warum hast du sie nicht gefragt?«

»Ist doch egal jetzt.«

»Aber es ist immer noch das Schlimmste, woran du dich erinnerst«, sagte ich.

Fabian zog die Hand aus dem Schuh und steckte sie in die Tasche seines Anoraks, den er anbehalten und dessen Reißverschluss er nicht aufgezogen hatte.

»Was glaubst du, warum haben dich deine Eltern zu ihrer Trauung nicht mitgenommen?«

»Wahrscheinlich haben sie sich geschämt.«

»Vor dir?«

»Vor sich selber vielleicht«, sagte er heftig und kniff wieder die Augen zusammen, drehte rasch den Kopf zum Fenster und starrte dann auf das Tablett mit den kalt gewordenen Fritten.

»Wie alt warst du da?«, sagte ich.

»Sechs.«

»So alt wie deine Schwester heute ist.«

»Ich hab in meinem Zimmer gewartet, bis sie zurückgekommen sind«, sagte er. »Dann sind wir zum Essen gegangen.«

»Und du hast sie nicht gefragt, warum sie dich nicht mitgenommen haben?«

Nach einer Weile schüttelte er den Kopf.

»War sonst jemand dabei?«

»Meine Großeltern.«

»Und du warst allein zu Hause?«

»Oma Traudl war da«, sagte er und wischte sich ruppig über den Mund. »Meine Großmutter Waltraud. Die hat auf mich aufgepasst. Die anderen waren weg.«

»Weißt du noch, was du gegessen hast?«

»Wann?«

»Beim Mittagessen«, sagte ich. »Mit deinen Eltern.«

»Ist doch egal jetzt.« Fabian sah auf seine große glänzende Armbanduhr.

»Du musst deine Eltern fragen, warum sie dich nicht mitgenommen haben.«

»Wozu denn?«

»Damit der Schmerz aufhört«, sagte ich.

Er drehte sich zur Seite und schaute hinunter auf die Straße, wo in diesem Moment zwei Trambahnen aneinander vorbeifuhren. Durch die isolierten Fenster drangen kaum Geräusche herein.

»Der hört sowieso nicht auf«, sagte Fabian leise.

Sofort beugte sich Freya vor, um bei der ununterbrochenen Musikbeschallung besser hören zu können. Ich nickte ihr zu, um ihr zu versichern, ich würde schon aufpassen, was der Junge sagte.

»Ich hab gesehen, dass Sie ihr ein Zeichen gegeben haben«, sagte Fabian.

»Ja«, sagte ich. »Aber ich habe dich verstanden.«

Wieder sagte er einige Minuten lang nichts. Dann nahm er die Hand aus der Anoraktasche und legte beide Hände wie vorhin neben das Tablett, flach auf den Tisch, als wolle er zeigen, wie sauber seine Fingernägel waren.

»Die haben mich nicht gebraucht«, sagte Fabian und sah mich an und wieder weg und zwischen mir und Freya hindurch. »Die waren nicht verheiratet, als ich geboren wurde, und dann haben sie gedacht, sie müssen jetzt doch heiraten. Wahrscheinlich wollten das meine Großeltern so. Außerdem war meine Mutter schwanger, das hab ich aber nicht gewusst. Sie haben wegen Nasti geheiratet. Nicht wegen mir. Als Nasti auf die Welt gekommen ist, hat sie richtige Eltern gehabt, keine unechten wie ich. Wegen ihr haben sie geheiratet. Aber mitnehmen hätten sie mich schon müssen. Die hätten mich nicht allein lassen dürfen, bei der Oma, die ich sowieso nicht mochte. Die hat immer alles besser gewusst, auch bei meinem Vater, der hat das auch nicht ausgehalten. Wieso haben die mich nicht mitgenommen zum Heiraten? Die sind mit dem Auto weggefahren und ich bin an der Tür gestanden. Sie haben gesagt, es dauert nicht lange, ich bin dann wieder reingegangen und hab irgendwas gespielt. Weiß nicht mehr, was. Meine Oma hat irgendwas erzählt, das weiß ich noch. Oder sie hat mir was vorgelesen, sie wollt mich ablenken, sie hat geglaubt, ich merk das dann weniger, dass meine Eltern jetzt heiraten und ich bin nicht dabei. Die hat mich für blöd verkauft. Ich werd oft für blöd verkauft. Egal ist das. Das ist praktisch, wenn die Leute denken, sie können mich austricksen, doch ich durchschau sie. Aber ich sag nichts. Nie. Ich behalt alles für mich. Meine Mutter denkt auch immer, sie kann mir was erzählen und ich glaubs dann. Ich widersprech nicht. Hab ich nicht nötig. Brauch ich nicht. Wenn du widersprichst, wissen die, du hast was kapiert, und das ist schlecht. Du darfst dir nichts anmerken lassen, nie. Dann denken alle, du bist okay. Die lassen dich dann in Ruhe. So geht das.«

Er schaute mir in die Augen. »Ich kann sehen, wenn einer falsch schaut.«

»Wie deine Mutter an dem Abend, als deine Schwester verschwunden ist«, sagte ich.

»Genau«, sagte er sehr leise.

Anmerkung: Der Zeuge nimmt den Turnschuh, hält ihn hoch und reicht ihn Hauptkommissar Süden über den Tisch. HK Süden steckt den Schuh in die Plastiktüte. Der Zeuge sieht mit großer Anspannung zu.

»Du wusstest, dass deine Schwester nicht mit euerm Vater zum Schwimmen gehen wollte.«

»Ja.«

»Trotzdem ist sie in sein Auto gestiegen.«

»Weil er sie gezwungen hat.«

»Woher weißt du das?«

»Ist doch egal jetzt.«

»Hast du mit deiner Schwester darüber gesprochen?«

»Spinnst du? Ich hab mit der doch nicht gesprochen! Die war doch nicht mehr da! Ich hab sie doch nicht gefunden! Ich hab alles abgesucht, ich war auf dem alten Bahngleis, überall. Dann ist es dunkel geworden. Die war doch weg! Weg war die.«

»Was hast du gedacht, wo sie hin sein könnte?«

»Weg, hab ich gedacht, dass sie weg ist, dass sie es satt hat, so behandelt zu werden. Dass sie abgehauen ist. Das hab ich gedacht.«

»Nastassja ist sechs Jahre alt.«

»Und? Glauben Sie, mit sechs ist man zu klein, um abzuhauen? Man kann immer abhauen, wenn man kapiert hat, dass man weg muss. Ist doch egal, das Alter.«

»Dann bist du nach Hause gegangen?«

»Ja.«

»Und dann hat sich deine Mutter auf die Suche gemacht.«

»Kann schon sein.«

»Was hast du gedacht, als sie zurückgekommen ist?«

»Dass sie Nasti gefunden und umgebracht hat.«

Anmerkung: Der Zeuge Fabian wischt sich über die Augen. Er unterdrückt seine Traurigkeit.

»Hast du mit ihr gesprochen?«

»Wozu denn? Ich hab gesehen, dass sie lügt. So was seh ich, hab ich doch grade gesagt!«

»Sie hat nichts gesagt?«

»Sie hat die Polizei angerufen, und ihr habt nichts gemerkt.«

»Warum hast du uns nichts gesagt?«

»Hab keine Lust gehabt, was zu sagen. Ich hab mir gedacht, vielleicht ist sie doch nicht tot und bloß weg, weit weg, superweit weg und ewig.«

»Wo hast du Nastassjas Schuh gefunden, Fabian?«

Anmerkung: Der Zeuge sieht aus dem Fenster und steht dann ruckartig auf.

»Haben Sie ein Auto?«

»Im Dezernat, fünf Minuten von hier.«

»Dann fahren wir jetzt hin.«

»Wo fahren wir hin, Fabian?«

»Irgendwohin.«

Anmerkung: Der Zeuge steigt aus der Bank und geht ohne ein weiteres Wort zur Treppe.

Ende der Vernehmung: elf Uhr fünfundfünfzig.

Wir verließen die Stadt in südlicher Richtung und fuhren zum Wasserkraftwerk Höllriegelskreuth, unmittelbar am Isarkanal. Von dort nahmen wir die schmale Straße zwischen Kanal und Wald, bis wir eine Stelle erreichten, an der gefällte und zugeschnittene Baumstämme lagen. Hier stieg Fabian aus, machte ein paar Schritte und blieb dann stehen, dem Hang zugewandt.

Freya hatte einen kleinen Recorder mitgenommen, um die Aussagen Fabians unter freiem Himmel aufzuzeichnen. Aber seit der Junge aus dem Auto gestiegen war, hatte er nichts gesagt.

»Wo hast du den Schuh gefunden?«, sagte ich.

Fast unmerklich nickte Fabian in Richtung Unterholz.

»Wie bist du hierher gekommen?«

Nach einer langen Pause, in der er mit schmalen Augen zu den Sträuchern und den abgeschlagenen Nadelholzästen blickte, sagte er: »Mit dem Fahrrad.«

»Bist du öfter hier?«, sagte ich.

Ich sah, wie Freyas Hand, mit der sie den Recorder in die Höhe hielt, leicht zitterte.

»Manchmal«, sagte Fabian.

»Kennen deine Eltern diese Gegend auch?«

»Wegen dem Biergarten.«

In einigen hundert Meter Entfernung, unterhalb der Grünwalder Brücke, lag der »Brückenwirt«, ein beliebtes Ausflugslokal.

»Wann hast du den Schuh gefunden, Fabian?«

»Gestern«, sagte er. Dann sah er mich an. »Ich hab nicht nach ihr gesucht, ich hab nur ihren Schuh gefunden, ich hab gedacht, wenn meine Mutter Nasti umgebracht hat, dann hat sie sie wo vergraben, wo sie schon mal war. Ich hab nicht nach ihr gesucht, ich schwörs, ich hab nur den Schuh gefunden.«

»Warum glaubst du denn, dass deine Mutter Nastassja umgebracht hat?«

»Weil sie nicht fertig geworden ist mit ihr«, sagte er und schaute wieder wie beim »Burgerking« zwischen Freya und mir hindurch. »Weil die Nasti sie gestört hat. Und weil ich schon zu alt bin, dass sie mich umbringen kann. Aber Nasti kann sich nicht wehren. Sie müssen Sie jetzt finden, bitte!«

Er wandte sich ab, ging zu den gefällten Baumstämmen nahe dem Kanal und setzte sich, senkte den Kopf und hielt sich die Arme vors Gesicht.

»Mein Gott«, sagte Freya und ihre Hand zitterte jetzt stärker.

Wir fanden sie unter Zweigen, Ästen, Gesträuch und einem Hügel alten Laubes, sie lag auf dem Rücken, die Hände auf der roten Jeansjacke gefaltet, ihr Gesicht war schwarz von Erde und an ihrem linken Fuß fehlte ein Schuh, und die Socken sahen weiß und sauber aus wie frischer Schnee. Freya weinte stumm, und ich dachte an die Männer und Frauen, die ich von meinen Wegen durch die Nacht kannte, wandelnde Wunden, die zeitlebens aus der Liebe fallen, weil es im Innern ihres Herzens unendlich dunkel ist.