7

Nach dem aktuellen Ermittlungsstand sah es so aus, als wäre Nastassja Kolb vom Erdboden verschluckt worden. Obwohl es zu der Zeit, als sie ihr Elternhaus verließ – sofern die Aussagen ihrer Mutter zutrafen –, noch hell gewesen war, hatte anscheinend niemand in der Josephinenstraße das Mädchen gesehen. Einige Nachbarn meinten gegenüber meinen Kollegen, sie wären sich nicht sicher, viele Kinder hätten an diesem Nachmittag draußen gespielt, wie immer, und ob Nastassja eines von ihnen gewesen war, könnten sie nicht sagen. Inzwischen waren die ersten Reporter aufgetaucht, was dazu führte, dass die Anwohner auf der Prinz-Ludwigshöhe in für uns ungewohnter Einmütigkeit jeden Kontakt nach draußen verweigerten, einige jüngere Soko-Mitarbeiter stießen bei ihren Befragungen deshalb auf zeitraubenden Widerstand.

An den Fenstern im Haus Josephinenstraße waren nach wie vor die grünen Rollläden heruntergelassen, und auch in den direkt angrenzenden Gebäuden ließ sich niemand sehen, nicht einmal hinter den Gardinen. Unmittelbar bevor die ersten Fotografen ihre Bilder schossen, hatte Sonja den Eltern von Medy Kolb die Tür geöffnet. Sie waren aus der Innenstadt gekommen, wo sie unweit des Theresiengymnasiums wohnten, in dem Friedbert Hegel als Lehrer tätig gewesen und auf das auch seine Tochter gegangen war.

Doch den Großeltern gelang es so wenig wie Sonja Feyerabend, Fabian dazu zu bewegen, die Musik in seinem Zimmer abzustellen und einen Ton zu sagen. Wenn er auf die Toilette musste, setzte er sich seinen Walkman auf, senkte den Blick, verschwand wortlos im Bad und nach einer Viertelstunde wieder in seinem Zimmer. Friedbert Hegel schrie ihn zweimal an, und Fabian erschrak. Doch im nächsten Moment verfiel der Junge erneut in seinen offensichtlich erprobten lethargischen Zustand. Für Sonja bedeutete der Aufenthalt in der Wohnung eine Tortur, zumal sie von Thon keinen Kollegen an die Seite gestellt bekam, weil keiner frei war.

»Und du?«, sagte sie am Telefon.

Ich sagte: »Ich zerlege einen Zeugen.«

»Nimm Paul mit!«, sagte sie.

»Nein«, sagte ich, obwohl ich wusste, dass sie Recht hatte. Ich ahnte, dass möglicherweise alles falsch sein würde, was ich von nun an tat.

Er trank Kaffee, hatte ein Sandwich gegessen und spülte den Mund mit Mineralwasser aus, als ich, gefolgt von Erika Haberl, den Raum betrat. Er hob den Kopf, schmatzte, schluckte das Wasser und lehnte sich zurück.

»Buon giorno«, sagte er und klebte seinen Blick auf mich. Für das Protokoll stellte ich ihm dieselben Fragen wie in der Camerloher Straße, er beantwortete sie weitgehend übereinstimmend. Inzwischen schien er Vergnügen daran zu finden, seine Sätze mit theatralischen Gesten zu unterwedeln.

»Wann haben Sie Ihre Tochter zum letzten Mal gesehen, Herr Kolb?«, fragte ich.

»Vergessen«, sagte Torsten Kolb. »Ich hab viel zu tun, ich steh früh auf, komm spät nach Hause, schwierige Zeiten…«

Anmerkung: Der Zeuge fuchtelt mit den Händen, er macht den Eindruck, als wolle er seine Nervosität überspielen. Diese Vermutung mit Hauptkommissar Süden vor dem Ausdrucken abklären!

»Wann ungefähr?«

»Vor einem Monat? Einem Monat! Hab sie ins Dantebad mitgenommen. Sie planscht gern, ich schwimm gern.«

»Warum waren Sie ausgerechnet im Dantebad?«

»Schönes Ambiente, ich kenn den Bademeister, Linksaußen früher. Knie kaputt, aus die Maus. Zum Bademeistern reichts. Haben Sie schon eine Spur von der Kleinen?«

»Wir müssen noch einmal über gestern sprechen.«

»Wieso?«

»Alle Familienangehörigen werden befragt, auch Ihre Frau. Sie haben gestern…«

»Vorher will ich mit ihr reden, capice

»Unterbrechen Sie mich nicht, Herr Kolb.«

»Ich unterbrech Sie, wann ich will! Das ist mein Recht! Bloß weil ich keinen Anwalt dabeihab, lass ich mich hier nicht unter Druck setzen! Das kommt sowieso alles in die Zeitung! Ich merk mir das. Ich bin freiwillig hier, schreiben Sie das mit, Frau! Ich lass mich doch nicht austricksen! Ist das überhaupt legal, dass Sie da rumstehen? Sie sollen sich hinsetzen! Ich steh doch auch nicht!

Schreiben Sie mit: Ich beschwere mich, dass der Bulle da rumsteht. Was ist? Probleme? Was ist?«

Anmerkung: Der Zeuge starrt HK Süden an, fährt dann mit einer hektischen Bewegung vom Stuhl hoch, wobei dieser umkippt, und verschränkt die Arme und grinst.

»Und jetzt? Was ist jetzt? Verhaftung? Nichts sagen kann ich auch. Pass auf! Jetzt pass auf!«

Anmerkung: Der Zeuge schweigt, er lässt HK Süden nicht aus den Augen. HK Süden erwidert den Blick.

»Coole Tour, Herr Kommissar.«

Anmerkung: Der Zeuge will sich setzen und bemerkt, dass der Stuhl umgekippt ist.

»Ist das eine strafbare Handlung, wenn ich den Stuhl anfass? Oder verstoß ich da gegen was? Ist ja Eigentum des Staates.«

»Sie können den Stuhl hinstellen und sich setzen.«

»Grazie.«

Anmerkung: Der Zeuge setzt sich, gießt Mineralwasser ins Glas, trinkt.

»Sie haben gestern Mittag um dreizehn Uhr mit Ihrem Freund Belut telefoniert.«

»Si.«

»In diesem Gespräch haben Sie angedeutet, Sie würden Ihre Tochter treffen.«

»Ist ja gut. Ja. Und? Hab ich mir gedacht. War die Idee. Hab ich aber nicht getan. Verboten?«

»Was haben Sie stattdessen getan?«

»Ich war allein da.«

»Wo waren Sie, Herr Kolb?«

»Im Dante. Ich war schwimmen. Bewegung. Ich hab den ganzen Tag Stress, ich brauch Abwechslung. Sitzen ist schlecht. Sie sitzen auch zu viel. Sieht man.«

»Wann waren Sie im Dantebad?«

»Abends.«

»Wann genau?«

»Ab sieben oder so.«

»Und vorher?«

»Wie vorher?«

»Wo waren Sie vorher, Herr Kolb?«

»Vorher, Herr Kommissar, war ich in der Arbeit. Haben Sie das mitgeschrieben? In – der – Arbeit. Autohaus Westend. Ich bin da Betriebsleiter. Westendstraße. Brauchen Sie die Telefonnummer auch?«

»Im Moment nicht.«

»Im Moment nicht.«

»Von wann bis wann waren Sie gestern im Autohaus Westend?«

»Gehts hier eigentlich um mich oder um meine Tochter, die weg ist? Langsam hab ich den Verdacht, Sie verschleudern hier Unmengen an Steuergeldern. Das ist irre. Wenn ich so arbeiten würd wie Sie, könnt ich meinen Laden dichtmachen. Das gibts doch gar nicht! Sie stehen hier rum, stellen mir Fragen, die null mit meiner Tochter zu tun haben, und ich antworte Ihnen auch noch. Jetzt mal ehrlich: Sie machen sich bloß wichtig, oder? Sie veranstalten das hier mit mir wegen der Presse. Oder? Ist doch so. Damit Sie sagen können, wir verhören Leute, wir tun was. Oder? Was sagen Sie jetzt?«

»Zum Lügen ist niemand zu dumm, Herr Kolb.«

Anmerkung: Der Zeuge verstummt schlagartig. Mit offenem Mund starrt er HK Süden an. Einige Zeit fällt kein Wort.

»Was haben Sie gesagt? Was war das? Was? Jetzt pass mal auf! Jetzt sag ich dir mal was…«

»Duzen Sie mich nicht, Herr Kolb.«

»Ich duz dich, da kannst du dich auf den Kopf stellen!« Anmerkung: Der Zeuge schreit.

»Ich lass mich doch von dir nicht anmachen! Ich hab doch hier Rechte! Ich lass mich doch hier nicht dumm nennen! Spinnst du? Ich will sofort deinen Vorgesetzten sprechen! Los, hol den her! Sonst sag ich überhaupt nichts mehr. Er! Was war das? ›Zum Lügen ist niemand zu dumm‹? Pass bloß auf! Spinnst du? Hol deinen Chef jetzt, sonst passiert was! Los! Abzug! Avanti! Schleich dich! Hol deinen Chef, ich will mich beschweren! Was ist?«

»Die Vernehmung wird auf Wunsch des Zeugen unterbrochen.«

Anmerkung: HK Süden verlässt den Raum. Der Zeuge grinst. Er stellt der Protokollantin eine Frage, auf welche sie erwidert, sie sei nicht befugt, mit dem Zeugen zu sprechen. Der Zeuge nickt, starrt mit ernster Miene auf den Tisch. Er macht den Eindruck, als denke er angestrengt über etwas nach.

»Dann erkläre mir, warum er noch hier ist«, sagte ich.

»Bitte?«

»Wenn er nichts zu verbergen hätte, wäre er längst gegangen«, sagte ich.

Volker Thon trug ein dunkelblaues Halstuch zum ockerfarbenen Hemd, dazu eine perfekt sitzende Hose in beinah derselben Farbe wie das Tuch. Er verströmte den Geruch nach gutem Rasierwasser, und wenn er sich mit dem Zeigefinger am Hals kratzte oder an seinem Kragen nestelte, wirkte er gerade in Phasen angespannter Hektik und im Kreis seiner durchschnittlich bis nachlässig gekleideten Kollegen wie ein Pfau, der sich verlaufen hatte. Mit seinen fünfunddreißig Jahren war er der jüngste Abteilungsleiter im Bereich des Polizeipräsidiums München und einer der wenigen Kriminalisten, die verheiratet waren und zwei Kinder hatten und der sich gleichermaßen als Familienmensch wie als unermüdlicher, erfolgsorientierter Ermittler verstand. Vielleicht konnte man sein Leben nicht unbedingt als gesichert bezeichnen, aber es war auf eine Weise geordnet – vor allem nach seiner eigenen Definition –, um die ich ihn manchmal beneidete. Und dieser Neid versetzte mich dann in einen Zustand von unausgegorener Wut, die ich nur durch gastronomische Aushäusigkeit und bodenloses Schweigen wieder los wurde. Für Martin Heuer verkörperte Thon den Inbegriff eines geglückten Menschen. Diese Einschätzung fand ich übertrieben. Bis zu jenem Tag, an dem ich begriff, wie dumm es von mir gewesen war, Martin für solche und ähnliche Äußerungen zu belächeln, als wäre es nicht vielmehr meine Pflicht gewesen, bedingungslos Freund zu sein.

»Soll ich jetzt raufgehen und mich für dich entschuldigen?«, sagte Thon.

»Du musst kurz mit ihm sprechen.«

»Was ist mit Martin? Wieso ist der plötzlich krank? Wieso führt ihr die Vernehmung nicht zusammen?«

Selten geriet Thon so unter Stress wie in der Anfangsphase von Fällen, bei denen Kinder vermisst wurden. Er neigte dann sogar dazu, wenn er sich unbeobachtet fühlte, zu Hause anzurufen und ein paar Worte mit seinem fünfjährigen Sohn oder seiner neunjährigen Tochter zu wechseln, nur, wie ich vermutete, um sich zu versichern, dass er sich keine Sorgen zu machen brauchte. Wurde ich zufällig Zeuge dieser Gespräche, kam es mir vor, als halte jemand ein Vergrößerungsglas über meine Einsamkeit.

»Der Grippeanfall hat ihn heute Nacht erwischt«, sagte ich.

»Und wie lange dauert der Anfall?«, sagte Thon. »Ich hab schon genug Ausfälle. Wenn wir das Mädchen übers Wochenende nicht finden und die Soko erweitern müssen, brauch ich Kollegen von anderen Dezernaten, die werden sich bedanken.«

»Vielleicht ist er morgen wieder fit.«

»Wenn der Vater lügt, dann sags ihm ins Gesicht! Du weißt, wie manche Leute darauf reagieren.«

»Dieser Mann nicht«, sagte ich.

Wir waren auf dem Weg in den zweiten Stock. Aus den Büros drangen das schrille Klingeln der Telefone und eine Endlosschleife von Stimmen. Im Zusammenhang mit allen übrigen bis zur Stunde mehr oder weniger unaufklärbaren Fragen der Journalisten gehörte die nach dem seelischen Zustand und Aufenthaltsort der Eltern zu den gefährlichsten. Was die Mutter betraf, so lautete die offizielle Version, sie habe einen Schwächeanfall erlitten und stehe unter ärztlicher Beobachtung. Auf die Frage, ob sie sich zu Hause aufhalte, hatte Thon in der Pressekonferenz mit Nein antworten müssen, da es – ähnlich wie in einer Zeugen oder Tätervernehmung – das schlechtestmögliche Licht auf ihn und sein Team geworfen hätte, wenn er später der Lüge überführt worden wäre. Um welches Krankenhaus es sich handelte, hatte er nicht gesagt.

»Du hast meine Frage, warum er noch hier ist, noch nicht beantwortet«, sagte ich vor der geschlossenen Tür des Vernehmungszimmers.

»Womöglich ist er ein Wichtigtuer«, sagte Thon.

»Der eigene Vater?«

»Fängst du an, Dinge auszuschließen?«

Ich schwieg. Natürlich schloss ich alles andere aus, sowohl dass Medy Kolb etwas mit dem Verschwinden ihrer Tochter zu tun haben könnte als auch ihr Sohn, für mich zählte nur der Ehemann, er war die Schlüsselfigur, er war der Hauptlügner.

»Nein«, sagte ich und öffnete die Tür.

Erika Haberl steckte das Taschentuch ein, mit dem sie sich gerade geschnäuzt hatte, und warf mir einen fragenden Blick zu. Ich nickte. Sie tippte einen Satz in den Laptop.

»Volker Thon, ich bin Leiter der Vermisstenstelle, Sie wollten mich sprechen?«

»Genau. Der Mann hat mich beleidigt.«

»Was hat er zu Ihnen gesagt?«

»Er hat gesagt, ich wär dumm und würd lügen.«

»Ich habe zu ihm gesagt, zum Lügen sei keiner zu dumm.«

Das hätte ich nicht sagen dürfen. Unter keinen Umständen hätte ich diese Bemerkung machen dürfen, nun hatte Erika Haberl keine andere Wahl, als sie zu protokollieren, und Torsten Kolb musste das Protokoll unterschreiben. Ich sah, wie Thon innerlich erstarrte. Er rieb sich die Hände, als würde er sie eincremen, nestelte an seinem Halstuch und setzte sich an den Tisch.

»Herr Kolb, Ihre Tochter ist seit gestern Abend unauffindbar, niemand hat sie gesehen. Ich hab eine Sonderkommission einberufen, zwanzig Kolleginnen und Kollegen beschäftigen sich mit dem Fall. Wenn Sie uns etwas mitzuteilen haben, tun Sie das jetzt bitte. Wir sind alle sehr angespannt, wie Sie sich denken können.«

»Ich lass mich doch nicht beleidigen!«, blaffte Kolb und zeigte auf mich. »Der bedroht mich. Der steht da am Fenster und bedroht mich. Ich will mit einem anderen Polizisten reden, mit dem nicht! Wenn der dableibt, sag ich nichts mehr! Null! Capice

»Bitte?«, sagte Thon.

»Ich sag nichts mehr. Der Typ ist total unberechenbar. Da, schon wieder! So steht der die ganze Zeit da. Pass bloß auf!«

»Bitte beruhigen Sie sich«, sagte Thon. »Der Kollege Süden stellt Ihnen ganz normale Fragen, beantworten Sie sie, dann können Sie sofort gehen. Wenn Sie möchten, fahren wir Sie auch ins Krankenhaus.«

Ich hatte nicht daran gedacht, Thon über die Situation zu informieren. Als ich vorhin den Raum verlassen hatte, stürzte ich die Treppe hinunter wie jemand, der vor einem Feuer flüchtete, einer nahenden fürchterlichen Explosion. In einem mageren Anfall von Selbstkontrolle gelang es mir, zwei Minuten nicht an den Mann zu denken, seine Stimme auszuschalten, meine Empfindungen zu bändigen, als würde ich eine Horde gereizter Rottweiler anleinen und ahnen, dass es mir nicht gelingen würde, sie festzuhalten. Und so hatte ich in Thons Büro erst einmal eine Tasse schwarzen Kaffee getrunken, ehe ich mein plötzliches Auftauchen erklärte. Zudem hatte er mich nicht gefragt, wie die Vernehmung bisher verlaufen war. Seine Gedanken galten der Koordination der Kollegen, und ich störte ihn bei seinen Planungen.

Aus Versehen hüstelte Erika Haberl, instinktiv hatte sie Thon noch warnen wollen.

»Was für ein Krankenhaus?«, sagte Kolb mit gleißender Stimme. »Wer ist im Krankenhaus? Was ist? Was? Wer?«

»Bitte?«, sagte Thon, um Zeit zu gewinnen. Sofort, als Kolb loslegte, hatte Thon begriffen, dass dieser vom Zusammenbruch seiner Frau noch nichts wusste.

»Zu Ihrer Frau«, sagte ich. »Sie ist im Krankenhaus.«

»Und warum erfahr ich das nicht? Trick oder? Sauber reingefallen. Was ist mit der? Los jetzt! Kriegt sowieso alles die Zeitung, also packt aus jetzt!« Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, sah uns der Reihe nach an und schlug ein zweites Mal auf den Tisch. »Maul auf jetzt!«

»Sind Sie betrunken?«, sagte Thon.

»Ich bin nicht betrunken!« Das Telefon klingelte.

»Klingeln lassen!«, schrie Kolb.

Ich nahm den Hörer ab. Es war Sonja. Nachdem ich ihr zugehört und aufgelegt hatte, sagte ich: »Stimmt es, dass Sie schon mehrere Male Ihre Tochter zum Schwimmen abgeholt und dann erst spät in der Nacht zurückgebracht haben, Herr Kolb?«

»Was ist?«

»Haben Sie die Frage verstanden?«, sagte Thon.

»Wollen Sie mich verarschen oder was? Halten Sie mich für einen Behinderten? Wie reden Sie überhaupt mit mir?«

»Stimmt das, Herr Kolb?«, sagte ich.

Er fuhr sich mit dem Finger über den Schnurrbart und schniefte. »Nein.«

»Sie haben Ihre Tochter nach dem Schwimmen nie erst spät in der Nacht zurückgebracht?«

»Nein.«

»Wir haben einen Zeugen, der das beschwört.«

»Dann lügt er!« Er hielt inne, nickte zum Telefon hin, schob den Stuhl nach hinten und verschränkte die Arme.

»Der Alte! Lehrerpack! Das sind menschliche Rassisten, alle zwei, der Alte und seine Frau.«

»Was sind menschliche Rassisten?«, fragte Thon.

»Die scheißen auf einen wie mich«, sagte Kolb. »Capice? Für die bin ich ein Schrotthändler, weil ich gebrauchte Autos verkauf. Aber ich verkauf auch neue Autos. Interessiert die nicht. Ich bin Betriebsleiter, ich bin doch nicht irgendein dahergelaufener Schraubendreher! Hat die nie interessiert. Ihre Tochter hat fürs Lehramt studiert. Geschichte. Englisch. Deutsch. Das ist was. Und dann heiratet die einen Autohändler. Abstieg. Das ist Rassismus, wie die mit andern umgehen. Der hat doch keine Ahnung, der Alte!«

»Er lügt also«, sagte ich.

»Was ist jetzt mit meiner Frau?«, sagte Kolb. »Wieso ist die im Krankenhaus?«

»Sie hat zu viel getrunken«, sagte ich.

»Ich sags! Die trinkt. Wahrscheinlich hat sie auch noch Tabletten geschluckt! Oder? Oder? Hab ich Recht? Freilich hab ich Recht.«

Ich sagte: »Warum haben Sie sich eigentlich noch nicht scheiden lassen, Herr Kolb?«

»Wieso denn? Spinnst du? Wieso soll ich mich scheiden lassen? Spinnst du? Ich hab zwei Kinder, da zahl ich mich blöd, wenns schlecht läuft. Und heutzutage läufts immer schlecht für den Mann. Ich lass mich doch nicht scheiden! Ist ihr doch recht so. Fragen Sie sie! Das ist halt eine moderne Ehe, die wir führen, verstehst mich?«

Er grinste.

Als es an der Tür klopfte, hoffte ich, es würde Freya Epp sein, die ich beauftragt hatte, in Kolbs Autohaus anzurufen und die Arbeitszeiten zu überprüfen.

»Entschuldigung«, sagte Florian Nolte, ein junger Oberkommissar aus der Vermisstenstelle. »Ich hätt eine wichtige Nachricht für Herrn Süden.«

Im Flur schloss ich die Tür hinter mir.

»Wir haben einen Zeugen«, sagte Nolte. »Der behauptet, er hat das Mädchen in ein Auto steigen sehen, silbergrauer Audi, vom Münchner Kennzeichen hat er sich ein B und zwei Ziffern gemerkt. Wir haben die Nummer gecheckt.«

»Wem gehört der Wagen?«

»Wir haben fünfzehn Fahrzeuge, die mit der Ziffern und Buchstabenkombination in Frage kommen.«

»Ist der Zeuge hier?«

»Er hat angerufen, ich hab ihm gesagt, er soll herkommen. Er sagt, er schafft es in einer halben Stunde.«

»Warten Sie bitte einen Moment.« Ich ging zurück ins Vernehmungszimmer. »Welches Auto fahren Sie, Herr Kolb?«

»Wieso?«

»Bitte beantworten Sie die Frage«, sagte Thon.

»Einen Audi natürlich.«

»Wieso natürlich?«, sagte Thon.

»Weil das unsere Marke ist.«

»Welche Farbe hat Ihr Auto?«, sagte ich.

»Silbergrau.«

»Und das Kennzeichen?«

Er nannte es, und ich ging wieder in den Flur hinaus.

»Steht diese Autonummer auf Ihrer Liste?«

Florian Nolte betrachtete das Din-A4-Blatt, das er mitgebracht hatte. »Hier ist sie!«

Zurück im Zimmer sagte ich: »Ich wiederhole eine Frage, Herr Kolb: Waren Sie gestern Abend mit Ihrer Tochter Nastassja zusammen oder in der Nähe der Wohnung in der Josephinenstraße?«

»Der Typ nervt. Nein. Bist du irgendwie schwerhörig?«

»Hören Sie auf, meinen Kollegen zu duzen!«, sagte Thon.

Ich sagte: »Ich belehre Sie darüber, dass Sie von jetzt an nicht mehr als Zeuge, sondern als Tatverdächtiger vernommen werden. Das bedeutet, Sie haben das Recht, die Aussage zu verweigern und einen Anwalt hinzuzuziehen. Ich beschuldige Sie, am Verschwinden Ihrer sechsjährigen Tochter beteiligt zu sein und die Arbeit der Polizei massiv zu behindern. Wir haben das Recht, Sie achtundvierzig Stunden festzuhalten und zu befragen. Haben Sie verstanden, was ich gesagt habe?«

Torsten Kolb machte einen verwirrten Eindruck. Er beugte sich vor und wusste offenbar nicht, was er sagen sollte.

»Sie werden beschuldigt, Ihre Tochter entführt zu haben«, sagte Thon.

Ich sagte: »Ein Zeuge hat Ihr Auto gestern Abend in der Nähe der Josephinenstraße gesehen und beobachtet, wie Ihre Tochter zu Ihnen in den Wagen gestiegen ist.«

Kolb rückte auf seinem Stuhl hin und her. Im Gegensatz zu bisher wirkte er verunsichert. Er gestikulierte mit den Händen, ohne etwas zu sagen. Dann streckte er den Rücken und bemühte sich um einen entschlossenen Ausdruck.

»Ich sag nichts mehr. Ist mir egal, wenn Sie mich einsperren. Das sitz ich aus. Das wird euch noch Leid tun! Und jetzt aus die Maus!«

Eine halbe Stunde später betrat der Zeuge, der Torsten Kolb gemeinsam mit seiner Tochter gesehen haben wollte, mein Büro.

Beginn der Vernehmung: Samstag, der sechste April, siebzehn Uhr zwanzig.