9

Alle fünfzehn Minuten klingelte jemand an der Wohnungstür, Reporter, die allen Ernstes hofften, wir würden ihnen öffnen. Gelegentlich hörten wir vom Wohnzimmer aus, das im hinteren Teil des Hauses lag, ein Klopfen gegen die geschlossenen Fensterläden auf der Frontseite. Sollte ein Journalist es wagen, den Garten zu betreten, würde er von meinen uniformierten Kollegen, die mit zwei Streifenwagen vor dem Grundstück warteten und ähnliche Situationen schon erlebt hatten, sofort zurückgedrängt werden.

Eine Hundertschaft von Bereitschaftspolizisten hatte im Lauf des Tages die Gegend, vor allem den Wald oberhalb der Bahnlinie, durchstreift, eskortiert von zwei Hundeführern und einem Hubschrauber, der drei Stunden lang über der Ludwigshöhe kreiste. Noch legitimierte Volker Thon den Großeinsatz mit »Verdacht auf Entführung«, sämtliche Aktionen glichen denen bei einem Kapitaldelikt, das Auffinden des Kindes galt als oberstes Ziel, das Auswerten und Einordnen meiner Vernehmungen fanden vorübergehend im Windschatten der Suche statt. Gegen Ende des Tages, nachdem der Einsatz von Wärmebildkameras, Videos und Hunden keinen Erfolg gebracht und sich nach wie vor kein weiterer Zeuge mit einer brauchbaren Aussage gemeldet hatte, setzte Thon eine Besprechung an. Er wollte einen Teil der bisherigen Spuren mit den Ergebnissen der Befragungen vergleichen, speziell bezogen auf das undurchschaubare und egoistische Verhalten der Eltern Nastassjas und ihres Bruders, zu dessen Deutung die Großeltern weitere dunkle Mosaiksteine hinzufügten.

»Der Mann wollte unsere Tochter zweimal zu einer Abtreibung zwingen«, sagte Friedbert Hegel.

Ich sagte: »Hat Ihre Tochter Ihnen das erzählt?«

»Sie hat es angedeutet«, sagte Hegel. »Sie wollte nicht darüber sprechen, das ist doch verständlich. Verstehen Sie das nicht? Was für eine Demütigung!«

»Haben Sie mit Ihrer Tochter über dieses Thema gesprochen, Frau Hegel?«, sagte Sonja, die sich in den Korbstuhl gesetzt hatte, weil ihr die anderen Stühle zu hart waren. Ich sah ihr an, wie schwer es ihr fiel, sich nach sechsunddreißig Stunden ohne Schlaf zu konzentrieren. Mir ging es ähnlich.

»Antworte bitte!«, sagte Hegel. Seine Frau hatte ihm, wie auch Sonja und mir, Kaffee eingeschenkt, aber er hatte keinen Schluck getrunken, während sie ihre Tasse mit wenigen Schlucken geleert hatte.

»Als Fabian zur Welt kam, war sie sehr glücklich«, sagte Waltraud Hegel.

»Aber wie lange!« Hegel machte eine abweisende Geste.

»Der Mann hat sie nie unterstützt. Hat sie allein gelassen. Ich hab ihn zur Rede gestellt. Wissen Sie, was er zu mir gesagt hat? ›Verzieh dich!‹ Hören Sie? ›Verzieh dich!‹ Sagt er mir ins Gesicht. Früher haben schon mal Schüler derartige Bemerkungen gemacht, die hab ich zurechtgewiesen. So was haben sich die nie wieder getraut.«

»Wie haben Sie die Schüler zurechtgewiesen?«, sagte ich.

»Ohrfeige links, rechts. Erledigt, die Sache.«

»Das hättest du jetzt besser für dich behalten«, sagte Waltraud Hegel.

»Ich verrate Ihnen mal was«, sagte Hegel, ohne auf den Einwand seiner Frau einzugehen. »Wenn ein Schüler mich angelogen hat, hab ich mich mit ihm ins Lehrerzimmer gesetzt, nachmittags, nach dem Unterricht, wenn wir allein waren, und dann hab ich ihn bearbeitet.« Seine Frau wollte etwas sagen, entschied dann aber, sich Kaffee nachzugießen. Sonja hatte wie ich den Kopf geschüttelt, als die alte Dame die Kanne gehoben und uns einen Blick zugeworfen hatte.

»Das waren die berühmten Hegel-Verhöre am Theresiengymnasium. Davon sprechen die Kollegen heute noch. Wen ich verhört habe, der hat gestanden. Keine lauten Töne. Ich hier, der Schüler mir gegenüber, Tisch dazwischen. Nach spätestens zwei Stunden brach jeder zusammen, auch die abgebrühtesten Typen. Sie verstricken sich immer mehr in Lügen, und wenn Sie einmal ihre Lügentechnik durchschaut haben, ist das Verhör praktisch schon zu Ende. Sie erfahren alles, was Sie wollen. Jeder, der zu mir zum Verhör musste, wusste, dass er keine Chance hatte, aber sie versuchten es trotzdem, es gab immer einen, der glaubte, er wär oberschlau und ganz gerissen. Keiner hat es geschafft. Nicht ein Einziger in achtundzwanzig Jahren.«

»Haben Sie Ihre Tochter auch verhört?«, sagte ich.

»Medy?« Für einen kurzen Moment geriet er aus dem Konzept. Er griff nach der Kaffeetasse, hielt den Blick gesenkt und lehnte sich zurück. »Das kam vor. Früher. Während ihrer Schulzeit. Sie hatte schwierige Phasen, hab ich Recht, Traudl? Sie war nicht immer einfach.«

»Später haben Sie sie nicht mehr verhört«, sagte ich.

»Selbstverständlich nicht! Ich verhör doch nicht meine erwachsene Tochter! Selbstverständlich nicht! Worauf wollen Sie hinaus?«

»Haben Sie nicht mit ihr gesprochen, als sie Torsten Kolb heiratete, einen Mann, der Ihnen nicht gefiel?«

»Wir haben beide mit Medy gesprochen«, sagte Waltraud Hegel, die kurz davor war zu weinen. »Sie war nicht davon abzubringen. Es war ihre Entscheidung, und wir akzeptierten sie. Was auch sonst?« Sie blickte stumm in die leere Tasse.

»Und als Ihre Tochter schwanger wurde?«, sagte Sonja.

»Hat sie Ihnen dann gesagt, ihr Mann möchte, dass sie das Kind abtreiben lässt?«

»Ich weiß nicht mehr«, sagte Waltraud Hegel.

»Sie hat es angedeutet«, sagte ihr Mann.

»Wie hat sie es angedeutet?«, sagte ich. Hegel verstummte.

»Und bei Nastassja hat sie ähnliche Andeutungen gemacht?«, fragte Sonja.

Das Ehepaar schwieg.

Ich sagte: »Seit wann trinkt Ihre Tochter und nimmt Tabletten?«

»Seit sie verheiratet ist!«, sagte Hegel mit bellender Stimme. »Der Kerl hat sie von Anfang an erniedrigt. Missachtet. Misshandelt!«

»Bitte, Friedbert!«, sagte seine Frau.

»Was meinen Sie mit misshandelt?«, fragte Sonja.

Hegel zeigte mit dem Finger auf sie. »Was glauben Sie? Was heißt in Ihren Augen misshandelt? Was heißt das, Frau Feyerabend?«

»Bitte, Friedbert«, sagte seine Frau noch einmal, diesmal etwas leiser, weniger eindringlich als zuvor.

»Meinen Sie sexuell misshandelt?«, fragte Sonja.

»Der Mann ist schuld, dass unsere Enkelin verschwunden ist!« Hegel warf seiner Frau einen harten Blick zu, und als er bemerkte, wie sie ihre Tränen unterdrückte, beugte er sich vor und klopfte ihr beruhigend auf die Hand.

»Ich glaub auch, dass er sie entführt hat, Herr Kommissar«, sagte sie.

»Was für ein Motiv könnte er haben?«, sagte ich.

»Bestrafung«, sagte Hegel.

Sonja, die einen Schreibblock auf den Knien liegen hatte, machte sich Notizen. Auch ich schrieb das eine oder andere Stichwort in meinen kleinen Spiralblock. Aus unseren Aufzeichnungen würden wir später im Dezernat ein Vernehmungsprotokoll anfertigen.

Ich sagte: »Warum will Torsten Kolb Ihre Tochter bestrafen?«

»Weil sie nicht gefügig ist«, sagte Hegel. »Sie ist selbstständig. Sie braucht ihn nicht. Das weiß er. Das ärgert ihn. Und jetzt rächt er sich an ihr.«

»Warum lässt sich Ihre Tochter nicht scheiden?«, fragte Sonja.

»Wenn ich das wüsste!«, sagte Hegel.

»Wo könnte er Ihre Enkelin versteckt halten?«, sagte ich.

»Der hat doch Freunde! Die helfen ihm alle. Diese Autohändler da in Laim. Oder seine Familie!«

»Sie trauen seiner Familie zu, seine entführte Tochter zu verstecken?«, sagte ich.

»Das traue ich denen zu!«

»Bitte, Friedbert!« Mit einem weißen Stofftaschentuch tupfte sich Waltraud Hegel die Nase und dann die Augen ab. Mit einem Mal wirkte sie maßlos traurig und verloren.

Aus Fabians Zimmer war Musik zu hören, ein melodisch getragener Song.

»Bringen Sie uns unsere Enkelin zurück!«, sagte Hegel.

»Den Jungen haben wir schon verloren, der will mit uns nichts zu tun haben. Meine Frau leidet darunter sehr. Ich dagegen seh ihn mir an und denke: Wenn ich einmal mit ihm unter vier Augen reden könnte, so richtig unter vier Augen – ich hier, er da, leerer Tisch dazwischen –, dann war vielleicht noch was zu machen aus ihm.«

Obwohl zwei Mitarbeiter der Sonderkommission den Vater von Torsten Kolb bereits vernommen hatten, beeilten Sonja und ich uns, an den wartenden Journalisten in der Josephinenstraße vorbeizukommen, um Nikolaus Kolb vor dem Hintergrund unserer aktuellen Gesprächsergebnisse noch einmal zu befragen. Er wohnte in Planegg, einem Vorort westlich von München, zusammen mit seiner zweiten Frau Mona, die sechsundzwanzig Jahre jünger war als er.

Vom Autotelefon aus erkundigte ich mich im Dezernat, ob Torsten Kolb inzwischen seine Haltung geändert und sich vielleicht bereit erklärt habe, doch noch auszusagen.

»Er will warten, bis sein Anwalt am Montag aus dem Urlaub zurückkommt«, sagte Thon am Telefon. »Was ist mit dem Jungen? Bringt ihr ihn mit?«

»Nein«, sagte ich. »Im Moment sind zwei Kollegen von der Streife mit den Großeltern in der Wohnung. Wir entscheiden nach der Besprechung, wie wir mit ihm weiter verfahren.«

»Glaubst du ihm?«

»Ja.«

»Das heißt, der Tatverdacht ist untermauert. Mit Staatsanwalt Vester hab ich schon telefoniert, er ist zuständig für den Fall. Was ist mit Martin los?«

Das war eine beunruhigende Frage. »Warum?«

»Er hat angerufen, er sagt, es geht ihm besser. Ist er krank oder ist er nicht krank? Oder hat er gesoffen?«

»Nein«, sagte ich. »Er ist krank. Er will nur helfen.«

»Er soll zu Hause bleiben«, sagte Thon. »Das fehlt noch, dass er andere Kollegen ansteckt. Beeilt euch in Planegg! Laut Bericht der Kollegen ist der Vater nicht besonders ergiebig.«

Ich beendete das Gespräch und lehnte mich auf der Rückbank in die Ecke hinter dem Beifahrersitz. Sonja lenkte den anthrazitfarbenen Opel über die Boschetsrieder Straße in Richtung Garmischer Autobahn.

»Martin ist überzeugt, dass die Mutter mit dem Verschwinden ihrer Tochter zu tun hat«, sagte ich.

»Wann hast du mit ihm darüber gesprochen?«, sagte Sonja.

»Als ich bei ihm in der Wohnung war.«

»Das ist doch albern.« Ich ahnte, welche Meinung Sonja von Martins Verhalten hatte.

»Ich glaube ihm, er hat ein Gespür für solche Leute.«

»Er ist Alkoholiker, Tabor!«

Sie hupte, bremste, jagte den Wagen über eine Kreuzung, deren Ampel dunkelgelb leuchtete. »Er hat kein Gespür mehr!«

»Er ist kein Alkoholiker.«

»Hör auf! Wir haben einen hochgradig Tatverdächtigen, und du nimmst deinen Freund in Schutz. Ich will davon nichts mehr hören. Verschon mich mit deinen Verteidigungsreden! Er ist ein Säufer und er gefährdet unsere Ermittlungen, er ist ein absolutes Risiko.«

»Und wenn Torsten Kolb nicht der Täter ist?«, sagte ich, entschlossen, ihr zu widersprechen, entgegen aller Überzeugung und Vernunft.

»Wer schweigt, lügt, Tabor!« Sie sah kurz in den Rückspiegel, aber ihr Blick erwischte mich nicht. »Solange ich Polizistin bin, hab ich noch keinen Verdächtigen, keinen einzigen, erlebt, der die Aussage verweigert hat und hinterher unschuldig war. Keinen! Und Torsten Kolb hat seine Tochter zu Hause abgeholt, wofür wir Beweise haben, wir haben zwei zuverlässige Zeugen, und er hat sie mitgenommen, und wir wissen nicht, was er mit ihr getan hat. Wir wissen nur, dass er uns angelogen hat, von Anfang an. Er hat uns ins Gesicht gelogen, und ich lass mir nicht von einem Alkoholiker diesen Fall kaputtmachen. Das Mädchen ist sechs Jahre alt!«

»Ist mir egal, was du denkst«, sagte ich. »Wenn Martin sagt, die Frau ist die Hauptverdächtige, dann glaube ich ihm.«

»Du glaubst alles, was er sagt! Ihr seid Freunde, eure Freundschaft ist was Heiliges, dafür setzt ihr euern Beruf aufs Spiel, wenns sein muss. Das sind Kinderspiele von Männern. Dieser Mann, Tabor, ist ein Wrack, er braucht Hilfe, und zwar medizinische und psychologische Hilfe. Ich kann ihm nicht helfen, und du kannst es auch nicht. Sieh das doch ein! Ich weiß, du verteidigst ihn, ich versteh das auch, du lügst Thon an, glaubst du wirklich, er nimmt dir ab, dass Martin krank ist? Er hat nur keine Zeit, sich mit dir auseinander zu setzen, und schon gar nicht mit Martin. Mach dir doch nichts vor!«

»Hat er dir gesagt, du sollst mit mir reden?«, sagte ich. Sie stieg auf die Bremse, fuhr den Wagen an den Straßenrand, stellte den Motor ab und riss die Fahrertür auf.

»Steig aus! Du sollst aussteigen!«

Draußen standen wir uns gegenüber, zwischen uns das Auto.

»Martin Heuer ist ein kaputter Mann!«, sagte sie laut und unangenehm. »Und wenn du ihn weiter in Schutz nimmst, hast du ein Problem mit mir. Ich kann nämlich so nicht arbeiten. Ich will nicht jeden Tag einem Mann begegnen, der wie ein wandelnder Leichnam durchs Dezernat torkelt, ich will…«

»Er torkelt nicht«, sagte ich. »Er torkelt nie.«

»Es gibt Dinge, die sind wichtiger als die Sauferei deines besten Freundes. Und ich garantiere dir, wenn dieses sechsjährige Mädchen stirbt, weil wir schlampig gearbeitet haben, weil dein bester Freund Mist gebaut hat, weil du dich mehr um ihn kümmerst als um den Fall, dann werd ich mich von dir trennen. Und ich werd mich auch wieder versetzen lassen, denn ich hab keine Lust und keine Kraft, mit zwei Kerlen wie euch zusammenzuarbeiten. Ich geh zurück zum Mord, obwohl ich das nie mehr wollte. Immer noch besser als jeden Tag diesen lebenden Toten Martin Heuer und seinen Schatten, Herrn Süden. Du bist Polizist, Tabor, du bist Fahnder, du hast an eine Kindsvermissung zu denken und an nichts anderes, und wenn du das nicht kannst, dann musst du raus aus der Soko, dann mach Urlaub, fahr mit deinem Freund auf die Kanarischen Inseln – du fliegst ja nicht, hab ich vergessen. Dann fahr nach Rügen oder nach Sylt, lüfte deinen Kopf aus, nimm deinen Freund mit, kurier ihn aus, hör ihm zu, hör dir seine Theorien über Kindsentführungen an, mach, was du willst! Aber torpedier nicht unsere Arbeit. Es tut mir Leid, dass ich dich anschreie, ich möchte dich nicht verlieren, ich will diesen Fall klären, ich will diesen Mann überführen, der seine Tochter und seine Frau misshandelt, ich will, dass wir keine Zeit verlieren!«

Ich sah ihr blasses Gesicht und ihre Augen, über denen ein Schleier aus Erschöpfung und Müdigkeit lag, ich sah die Spitze ihrer Nase, die leicht nach oben zeigte, ihren Mund, ihre zitternden Lippen. Ich wollte etwas sagen, aber Sonja war schon eingestiegen und ließ den Motor an. Autos fuhren vorüber, und auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig stand eine alte Frau mit einem Rauhaardackel, beide reglos mir zugewandt, und bevor ich mich wieder in den Wagen setzte, winkte ich ihnen zu.

An den Dackel musste ich denken, als ich zwanzig Minuten später am Haus von Nikolaus Kolb klingelte und das Schild am Gartenzaun sah: »Obacht, Hund hat Migräne!«