5

Ich wollte allein sein. Mit einem Mal, nach der Nacht mit der verlogenen, betrunkenen, undurchschaubaren, weinenden Frau, hatte mich, als Martin Heuer und ich durch den kühlen Morgen zum Auto gingen, die Vorstellung heimgesucht, ich könne diesen Fall nur entflechten, indem ich so tat, als wäre die Wahrheit ausschließlich ein Teil meiner Identität und niemand anders könne sie erfassen und begreifen. Es war ein Moment maßloser Selbstüberschätzung gewesen, und ich kostete ihn auf dem Weg nach Laim noch immer aus. Natürlich hätte ich Martin mitgenommen, ich hätte ihn oder einen anderen Kollegen aus ermittlungstaktischen und möglicherweise juristischen Gründen mitnehmen müssen, aber da er sich entzog, empfand ich mich plötzlich als befreiten Ermittler, dessen Strategie unumstößlich war, für den die Erfahrungen und das technische Rüstzeug seines Berufes zu Rankenwerk wurden, als wäre ich ein Tiefseetaucher, der sein schweres Gerät nicht mehr wahrnimmt und bloß noch aus Schauen besteht.

Beim Betreten von Torsten Kolbs schlecht gelüftetem Appartement gehörten die Regeln des Sach und Personenbeweises schon nicht mehr zu meinem System, die Antworten auf die klassischen W-Fragen – wer, was, wann, wo, wie lange – interessierten mich so wenig wie die üblichen Leer-, Anstoß-, Sondierungs und Auswahlfragen, und ich bildete mir ein, eine der Grundvoraussetzungen für gerichtsverwertbare Vernehmungen als verkehrt entlarven zu müssen: die innere Distanz. In diesem Zimmer mit dem breiten Messingbett in der Ecke, der Couch aus billigem Leder und dem vorhanglosen, schmutzigen Fenster wollte ich nicht zu einem Taucher werden, der aus Schauen besteht, ich wollte das Meer sein. Und niemand hinderte mich daran.

»Es ist wirklich ungünstig heut«, sagte Torsten Kolb. Er war zweiunddreißig Jahre alt, hatte extrem kurz geschnittene Haare, einen Schnurrbart und einen silbernen Knopf im Ohr. Er trug ein olivgrünes Sweatshirt über bunt gemusterten Boxershorts. Er war barfuß und roch nach Schweiß und Alkohol. Er fläzte sich auf die Couch, zündete sich eine Zigarette an und starrte zum Fenster. Die Wohnung lag im ersten Stock zur Straße hin.

»Sie meinen, es ist ungünstig, dass Ihre Tochter ausgerechnet heute, am Samstag, verschwunden ist«, sagte ich. Er inhalierte und legte die Beine auf den viereckigen schwarzen Holztisch vor der Couch.

Weder in der schmalen Küche, die in den Raum integriert war, abgeteilt durch eine niedrige Schrankwand, noch im Zimmer lagen oder standen Dinge, die darauf hätten schließen lassen, dass jemand hier regelmäßig ein und aus ging oder sogar wohnte. Kein Geschirr, keine Zeitungen, keine Pflanzen, keine Möbel außer dem Bett, der Couch und dem quadratischen Tisch, nicht einmal ein Stuhl. Es gab nicht nur keine Vorhänge, auch keine ordentlichen Lampen; zwei Glühbirnen hingen an einem Haken an der Decke. Neben dem Bett entdeckte ich Kolbs Klamotten, Hose, Pullover, Socken, außerdem ein zusammengeknülltes Handtuch und eine halb volle Packung Papiertaschentücher. Neben dem Eingang war eine Tür, dahinter befanden sich vermutlich das Bad und die Toilette. Die Tür war angelehnt, und ich bildete mir ein, einen muffigen Geruch wahrzunehmen.

Vom ersten Augenblick an widerten mich das Zimmer und der Mann an.

Ich schwieg.

Er sah mich müde an, rauchte, beugte sich vor, zog unter der Couch einen Teller hervor, der voller Asche und Kippen war, und drückte seine Zigarette aus. Dann verschränkte er die Arme vor der Brust, so wie ich, und versuchte, so wie ich zu schweigen. Aber er schaffte es nur eine halbe Minute.

»He!«, sagte er und wartete vergeblich auf eine Reaktion von mir. »Mein Sohn hat mich angerufen, er hat mir alles gesagt. Ich weiß nicht, wo die Kleine ist.«

Ich schwieg.

Er grinste, sprang auf, kam auf mich zu, den Blick fest auf mich gerichtet, als wolle er mich über den Haufen rennen. Einen knappen Meter vor mir bog er ab, stapfte zum Bett und tastete unter dem Laken herum, ohne es zur Seite zu schlagen. Wie einen großen Fund hielt er sein schwarzes Handy in die Höhe.

Weniger als einen Meter von mir entfernt blieb er stehen.

»Für die Kleine ist die Mutter zuständig«, sagte er. »Ich nicht. Die Mutter hat die Verantwortung. Ich nicht.«

Ich roch seine Fahne, die Ausdünstungen seines fleckigen Sweatshirts. Je länger er mir in die Augen sah, desto mehr hielt ich es für möglich, dass seine Blicke anfingen zu stinken.

»Capice?«, sagte er und wandte sich um.

»Sie waren gestern mit Ihrer Tochter verabredet«, sagte ich.

Er zündete sich eine neue Zigarette an, inhalierte tief, nickte und ließ sich wieder auf die Couch fallen.

»Wer sagt das?«

»Ihr Freund Hartmut Belut.«

»Arschgeige.«

»Sie haben es ihm am Telefon gesagt.«

»Blödsinn.« Angewidert verzog er das Gesicht, betrachtete die Zigarette und rauchte weiter. »Ich hab sie nicht getroffen. Wenn sie weg ist, sollten Sie ihre Mutter fragen, die weiß, wo sie ist. Sie ist die Mutter.«

Ich sagte: »Sie leben von Ihrer Frau getrennt.«

»Si.«

»Aber Sie sind nicht geschieden.«

»Si.«

»Gelegentlich wohnen Sie auch bei ihr.«

»Ich fahr manchmal hin«, sagte er. Nach einem letzten tiefen Zug drückte er die Glut der Zigarette im Teller aus, und zwei Kippen und Asche fielen auf den Tisch. »Sie will das so. War ihre Entscheidung. Ich wollt das Kind nicht. Ich sag, eins ist genug, sie will zwei. Hat sie jetzt. Manchmal fahr ich hin, stimmt.« Er wischte sich über den Mund.

»Wir sind verheiratet, gut beobachtet. Das heißt…« Er schlug einmal mit der flachen Hand auf seine senkrechte Faust.

»Das heißt, Sie fahren hin, um mit Ihrer Frau zu schlafen«, sagte ich.

»Nein«, sagte er. »Ich fahr hin, um sie zu ficken.«

Ich sagte: »Bestimmt freut sich Ihr Sohn, wenn Sie kommen.«

Kolb starrte mich an. Er hatte helle, frostige Augen.

»Was wollen Sie?«, sagte er. »Ich hab einen Anwalt. Was soll das?«

»Rufen Sie ihn an.«

»Hä?«

»Rufen Sie Ihren Anwalt an, das ist besser für Sie.«

»Ich brauch keinen Anwalt!«, schrie er. »Und jetzt hau ab!« Er kaute auf der Unterlippe, schnellte hoch, blieb stehen, sah mich an und kam wieder, wie vorhin, auf mich zu. Im letzten Moment traute er sich dann doch nicht, mich anzurempeln.

»Ich muss Sie mitnehmen«, sagte ich.

»Das können Sie ja mal probieren.« Breitbeinig, die Hände in die Hüften gestemmt, wartete er ab.

»Ich belehre Sie darüber, dass Sie nicht das Recht haben, die Aussage zu verweigern, ich vernehme Sie als Zeugen, Sie haben die Pflicht auszusagen.«

In seiner Ratlosigkeit wirkte er, trotz seines Auftritts als Zimmerheld, beinahe debil.

Ich sagte: »Außerdem weise ich Sie darauf hin, dass wir im Moment ein Vorgespräch führen. Es ist Teil der offiziellen Zeugenvernehmung, die wir im Dezernat fortsetzen. Überlegen Sie also gut, was Sie mir sagen. Das Beste ist, Sie rufen jetzt Ihren Anwalt an, er soll herkommen, und Sie fahren dann gemeinsam ins Dezernat.«

Seine Lippen zuckten, er streckte den Bauch vor und kratzte sich unter dem Sweatshirt. »Verstanden. So. Erst mal dusch ich. Dann geh ich einen Kaffee trinken, dann werd ich mir überlegen, was ich mach. In dieser Reihenfolge. Und dazu brauch ich definitiv keinen Anwalt.«

»Beantworten Sie mir eine Frage«, sagte ich, »sie ist sehr wichtig für unsere Fahndung nach Ihrer Tochter.«

Er ließ sich Zeit. Dann nickte er und deutete mit dem Kopf auf mich.

»Haben Sie Ihre Tochter gestern Abend getroffen?«, sagte ich.

»Nein«, sagte er.

Er schaute mir sekundenlang ins Gesicht, dann drehte er sich um und öffnete die Tür zum Badezimmer. Den muffigen Geruch schien ein Berg schmutziger Wäsche auszuströmen.

»Ich muss telefonieren«, sagte ich.

»Bei mir nicht«, sagte Kolb. Er schloss die Tür, bevor er sie noch einmal einen Spaltbreit aufzog. »Ich hab kein Telefon und mein Handy geb ich Ihnen nicht.«

»Duschen Sie sich«, sagte ich. »Und ziehen Sie sich an. Wenn es klingelt, öffnen Sie bitte und folgen meinen Kollegen. Wenn Sie nicht öffnen, sind meine Kollegen berechtigt, das Schloss zu knacken. Gefahr im Verzug. Natürlich wären Sie von diesem Moment an kein Zeuge mehr, sondern ein Tatverdächtiger.« Ich hatte die Wohnungstür bereits geöffnet. »Vergessen Sie nicht, Ihren Anwalt anzurufen.«

Vom Auto aus verständigte ich die Einsatzzentrale. Dann wartete ich auf die Kollegen von der Streife.

An Martin dachte ich nicht. Ich dachte an niemanden außer an das verschwundene Mädchen und dessen Eltern, deren Verhalten mir ein Gesicht aufzwang, das ich im Spiegel nicht sehen konnte und das ich deshalb nicht wahrnahm.

Seit etwa zwölf Uhr saß Torsten Kolb im ersten Stock des Dezernats, wohin ihn meine Kollegen gebracht hatten. Er hatte keinen Widerstand geleistet. Auf die Frage, weshalb sein Anwalt ihn nicht begleite, antwortete er, dieser sei verreist, außerdem komme er auch allein zurecht. Er verlangte, mit seiner Frau zu sprechen, und zwar persönlich. Mein Kollege Paul Weber, in dessen Dienstzimmer er saß, erlaubte ihm jedoch nur ein Telefongespräch mit ihr.

Ich hatte es nicht eilig, ihn zu vernehmen. Vielleicht ergaben sich erste Hinweise bei den Ermittlungen der Soko, die ich dabei gebrauchen konnte. Der Hauptgrund, warum ich mich nicht sofort mit ihm beschäftigte, aber war, dass ich darauf hoffte, er würde ausrasten und mir so eine Handhabe bieten, ihn achtundvierzig Stunden festzuhalten. Es war keine bewusste Hoffnung, und ich weigerte mich, darüber nachzudenken, da war nur dieses Grollen in mir, wie das Nahen einer Lawine.

Beginn der Vernehmung: zwölf Uhr fünfzig.

Anwesend: die Zeugin Ilona Karge (einunddreißig Jahre alt, verheiratet mit Ewald Karge, wohnhaft Josephinenstraße acht, München), Hauptkommissar Tabor Süden, Schreibkraft Erika Haberl. Die Zeugin hat ihre Tochter Angela mitgebracht.

»Kommt es vor, dass Nastassjas Vater seine Tochter bei Ihnen abholt, Frau Karge?«

»Ich kann mich nicht erinnern. Wenn, dann schon lang nicht mehr. Nein. Hast du Nastassjas Vater in letzter Zeit gesehen, Schatz?«

Anmerkung: Die sechsjährige Angela sitzt neben ihrer Mutter am Tisch und malt mit Buntstiften in einen Block. Als sie nach Torsten Kolb gefragt wird, schüttelt sie nur den Kopf.

»Nein, der hält sich fern von seiner Familie.«

»Warum?«

»Sie sind getrennt, Medy und er. Mit ihren Eltern hat er sich sowieso nie verstanden. Die mögen ihn nicht. Der ist denen zu ungebildet. Obwohl er ja Filialleiter ist, oder wie das heißt in seiner Branche.«

»Die Eltern von Medy Kolb sind Lehrer.«

»Ja. Nur ein Lehrer kann auf so einen Namen wie Matrimonia kommen. Dass so ein Name überhaupt erlaubt ist!«

»Kennen Sie die Eltern?«

»Ich hab sie mal gesehen, als sie Medy besucht haben. Ist auch schon wieder ein paar Jahre her. Da war die Nastassja noch ganz klein.«

»Die ist immer noch ganz klein.«

»Nicht alle Kinder wachsen so schnell wie du, mein Schatz.«

»Ich schon!«

»Beschreiben Sie bitte das Verhältnis zwischen Nastassja und ihren Eltern.«

»Sie treiben mich in die Enge. Ich kenn die Medy schon recht lang, ich mag sie auch, und die Angela darf auch manchmal bei ihr sein, Medy passt dann auf die beiden Kinder auf, wenn ich beim Sport bin oder mich mal mit einer Freundin in der Stadt treffe. Die Medy ist wirklich nett. Aber sie ist halt mit den beiden Kindern praktisch allein. Sie ist den ganzen Tag Mutter, sie hat keine Zeit mehr für Sport, sie geht nicht mehr ins Kino, sie hängt fest…«

»Sie ist ganz dick geworden!«

»So was sagt man nicht, sie hat ein wenig zugenommen, das passiert schon mal, das ist nicht schlimm.«

»Und sie sperrt die Nastassja ein!«

Anmerkung: HK Süden weist die Zeugin Karge darauf hin, dass sie das Recht habe, sich mit ihrer Tochter abzusprechen und diese gegebenenfalls zu bitten, nichts zu sagen. Angelas Aussagen werden protokolliert, Fragen der Glaubwürdigkeit werden möglicherweise in einer gesondert angesetzten Vernehmung des Kindes geklärt. Die Mutter hat das Recht, zu jeder Bemerkung ihres Kindes Stellung zu nehmen.

»Wo sperrt sie Nastassja ein?«

Anmerkung: Das Mädchen presst die Lippen zusammen und malt weiter Häuser, Berge und krakelige Gestalten.

»Angela meint, dass Medy die Kleine manchmal nicht raus zum Spielen lässt. Stimmts?«

Anmerkung: Angela nickt.

»Warum darf sie nicht spielen?«

»Ich vermute, weil Medy einfach Angst um sie hat. Weil sie so viel mit dem Jungen zu tun hat, wie ich schon gesagt hab, sie ist überfordert.«

»Das haben Sie noch nicht gesagt.«

»Aber gemeint hab ichs. Fabian ist ein verschlossener Typ, hat wenig Freunde, hängt viel zu Hause rum, mehr als seine Altersgenossen. Ich glaub, manchmal war die Medy gern mal allein, ganz allein. Um mal durchzuatmen, um mal keine Stimmen zu hören, kein Geschrei, keine Fragerei, keine Musik. Nur allein. Ganz still. Sie lernen das schätzen, wenn Sie Kinder haben. Haben Sie Kinder?«

»Nein. Ist es richtig, dass Torsten Kolb kein zweites Kind wollte, im Gegensatz zu seiner Frau?«

Anmerkung: Die Zeugin lässt sich viel Zeit mit der Antwort. Sie sieht ihrer Tochter beim Malen zu, sie scheint abzuwägen, was sie sagen soll.

»Ich glaub, das ist richtig.«

»War die Geburt der Tochter der Grund für die Trennung?«

»Das war… Jetzt hätt ich beinah was gesagt.«

»Sagen Sie es.«

»Nein.«

»Nastassjas Geburt war eine Art Dolchstoß für die Ehe.«

»Sie haben mich durchschaut, Herr Kommissar. Ich hätt gesagt, Todesstoß, aber Dolchstoß klingt weniger schlimm.«

»Dann ist Torsten Kolb ausgezogen.«

»Ja. Ich glaub, er hatte schon vorher andere Sachen laufen, das war schon vorher nichts Richtiges mehr zwischen den beiden. Wahrscheinlich hat sich Fabian deshalb so zurückgezogen. Mir ist das manchmal so vorgekommen, schon bevor Nastassja geboren wurde, dass da drei Menschen zusammenleben, die zwar eine Familie, aber trotzdem Fremde sind. Als wären sie nur zufällig verwandt, aus Versehen. Ist das gemein, so was zu sagen?«

»Schon gemein, Mama.«

»Ja, mein Schatz. Und dann, dann kam Nastassja auf die Welt, und dann waren es vier.«

»Vier Fremde.«

»Vier Fremde.«

»Wir sind aber keine Fremden, Mama!«

»Nein, wir nicht.«

»Aber der Fabian passt schon auf die Nastassja auf. Das weiß ich.«

Anmerkung: HK Süden, der bisher gestanden hat, setzt sich an den Tisch, gegenüber der Zeugin und des kleinen Mädchens.

»Wie macht er das, wenn er aufpasst?«

Anmerkung: Das kleine Mädchen traut sich nicht zu antworten.

»Er holt sie bei uns ab. Und er geht mit ihr spazieren. Stimmts?«

Anmerkung: Das Mädchen nickt.

»Und er spielt ihr Musik vor.«

»Woher weißt du das, Angela?«

»Sie hats mir erzählt. Und sie hat mir auch gesagt, er tröstet sie, wenn ihr Vater wieder gemein zu ihr war, ganz gemein.«

»Warum ist ihr Vater gemein zu ihr?«

»Weiß ich nicht. Er hat sie geschlagen.«

»Hat sie dir das erzählt?«

»Ja.«

»Warum hast du mir das nicht gesagt, Schatz?«

»Hab mich nicht getraut.«

Anmerkung: Die Zeugin umarmt ihre Tochter.

»Aber er geht mit ihr auch ins Schwimmbad.«

»Manchmal ist er ganz nett, das hat mir die Nasti erzählt, Mama.«

»Schlägt Medy Kolb ihre Kinder?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen.«

»Sie wollen es mir nicht sagen.«

»Das geht mich nichts an.«

»Es ist möglich, dass Nastassja deswegen weggelaufen ist.«

»Ich glaub nicht, dass Medy ihr was getan hat.«

»Warum, glauben Sie, ist das Mädchen weggelaufen?«

»Das haben Sie mich schon gefragt. Ich weiß es doch nicht. Vielleicht ist sie nicht weggelaufen, sondern entführt worden.«

»Ja. Was heißt das, Nastassjas Vater hat sie geschlagen? Wie hat er sie geschlagen?«

»Das weiß ich nicht. Schatz, hast du die Frage…«

»Er hat ihr wehgetan!«

»Wie hat er ihr wehgetan, Schatz?«

»Er hat sie an den Haaren gezogen und geschüttelt. So.« Anmerkung: Das Mädchen packt die Haare ihrer Mutter und zerrt daran herum.

»Das tut weh! Hör auf! Das tut weh!«

»Ja, das tut weh.«

»Warum hat er das getan?«

»Weil sie zu ihm sagt, dass sie ihn nicht mag, und dann tut er ihr weh. Weil er sich ärgert. Weil er dann böse ist und sauer und so.«

»Das hat Nastassja dir erzählt?«

»Ja.«

»Wann hat sie es dir erzählt?«

»Oft.«

»Wann zum letzten Mal?«

»Weiß ich nicht mehr. Ist noch nicht lang her. Ich hab Durst.«

»Sie wussten davon nichts, Frau Karge?«

»Nicht direkt.«

»Sagen Sie mir bitte die Wahrheit!« Anmerkung: Die Zeugin zögert wieder.

»Ich hab schon mal versucht, mit ihr darüber zu sprechen. Sie hat das nicht hören wollen. Und es geht mich auch nichts an. Ich habs gern, wenn Nastassja bei uns ist, ich mag das Mädchen, und ich mag auch den Fabian. Ich lass mir auch nicht reinreden, wie ich mein Kind zu erziehen hab.«

»Würden Sie sagen, dass Nastassja ein trauriges Kind ist?«

»Bitte? Wieso traurig? Sie ist ein Kind. Sie ist mal so, mal so. Kinder wechseln schnell in ihren Stimmungen, Sie kennen das nicht, weil Sie keine Kinder haben. Sie ist ein ganz normales Kind, verglichen mit anderen, die ich im Kindergarten schon erlebt hab. Und ich möcht nicht, dass Sie dauernd Medy unterstellen, sie wär eine schlechte Mutter, das ist sie nämlich nicht. Und sie schlägt auch ihre Kinder nicht, schon gar nicht ihre Kleine.«

»Ich find schon, dass Nastassja traurig ist, Mama. Sie hat auch schon geweint bei mir im Zimmer, ganz schlimm sogar.«

Vernehmungsende: dreizehn Uhr fünfundvierzig.

Währenddessen hatte Torsten Kolb versucht, das Dezernat zu verlassen, und da er nicht weiter als bis zur verschlossenen Glastür, die zum Treppenhaus führte, kam, hämmerte er wie ein wütendes Kind mit den Fäusten an die Scheibe und trat mit den Schuhen dagegen. Meine Kollegen Braga und Gerke, die nach der zweiten Sitzung der Sonderkommission gerade die Vermisstenstelle verließen, packten ihn und legten ihm Handschellen an, worüber er sich derart lautstark beschwerte, dass mein Vorgesetzter mir eine Nachricht auf dem Schreibtisch hinterließ, ich möge mich nach der Vernehmung von Frau Karge sofort bei ihm melden. Er bat mich, Kolb zu beruhigen und ihn endlich zu vernehmen.

»Und wo ist Martin?«, fragte Volker Thon.

Ich wusste es nicht. Er war nicht aufgetaucht, er hatte nicht angerufen.

»Jemand muss zu ihm fahren und nachsehen«, sagte ich.

»Er kommt sowieso nicht in die Soko.«

»Brauchst du ihn nicht?«

»Natürlich brauch ich ihn!« Thon kratzte sich mit dem Zeigefinger am Hals. Alle drei Minuten erhielt er einen Anruf von Kollegen, die in der Stadt auf Recherche unterwegs waren. Und in einer halben Stunde fand die erste Pressekonferenz im Haus statt, was seine Angespanntheit noch verstärkte. In Thons Augen trieben die meisten Journalisten ein hinterhältiges Spiel und waren nur auf Sensationen und fehlerhaftes Verhalten seiner Mitarbeiter aus.

»Möchten Sie etwas essen?«, fragte ich Torsten Kolb, der neben dem Gummibaum in Webers Büro saß, die Hände auf dem Tisch, mit Handschellen gefesselt.

»Wollen Sie mich verarschen?«, sagte er.

Ich sagte: »Wenn Sie versprechen, sich ruhig zu verhalten, nehme ich Ihnen die Handschellen ab.«

»Los!«

Ich sperrte die Handschellen auf und legte sie auf den Schreibtisch. Weber war nicht im Zimmer.

»Möchten Sie etwas essen?«, sagte ich.

»Ich will hier raus.«

»Noch ein Gespräch, dann sind Sie an der Reihe«, sagte ich und verließ das Büro. Er rief mir etwas hinterher, das ich sofort vergaß.

Im zweiten Stock wartete Erika Haberl an ihrem Laptop auf mich. Dr. Mira Scott hatte auf demselben Stuhl Platz genommen wie Ilona Karge. Ich belehrte sie über ihre Rechte und nahm ihre Personalien auf.

Beginn der Vernehmung: vierzehn Uhr.

»Wurde Nastassja von ihrem Vater sexuell missbraucht?«

»Wie kommen Sie denn darauf?«

»Ja oder nein?«

»Nein. Auf so eine Frage war ich nicht gefasst. Wieso fragen Sie mich so was?«

»Finden Sie die Frage abwegig?«

»In diesem Fall schon.«

»Torsten Kolb hat seine Tochter geschlagen.«

»Davon weiß ich nichts.«

»Sie sind Kinderärztin und Psychotherapeutin, die Kinder der Familie Kolb sind bei Ihnen in Behandlung.«

»Ja.«

»Sie haben keine Hinweise auf Misshandlungen durch den Vater oder die Mutter?«

»Sexuelle Misshandlungen?«

»Ja.«

»Nein. Ich weiß aber, dass der Mutter manchmal die Hand ausrutscht. Sie hat auch schon mal den Kleiderbügel benutzt.«

»Auch bei Nastassja?«

»Ich würd es nicht ausschließen. Allerdings hat das Mädchen keine schweren Verletzungen davongetragen, die hätt ich bemerkt.«

»Haben Sie mit Frau Kolb darüber gesprochen?«

»Sie hat zugegeben, dass sie manchmal etwas streng ist. Ich hab auch mit den Kindern allein gesprochen, sowohl mit Fabian als auch mit der kleinen Nastassja. Und keiner von beiden hat etwas Negatives über die Mutter gesagt. Sie haben die Schläge eingeräumt, nahmen ihre Mutter aber geradezu in Schutz. Sie sagten, ihre Mutter meine es bestimmt nicht böse.«

»Würden Sie sagen, Fabian ist eine Art Beschützer für seine kleine Schwester?«

»Ja, er liebt sie, er nimmt sie bei der Hand, führt sie über die Straße, streichelt ihr Gesicht, die beiden haben ein enges Verhältnis. Ungewöhnlich, wenn man bedenkt, dass der Junge dreizehn ist und sie erst sechs.«

»Was sagen die beiden über ihren Vater?«

»Wenig. Fabian redet ungern über ihn, und Nastassja reagiert kaum, wenn man sie auf ihren Vater anspricht. Sie geht mit ihm manchmal zum Schwimmen, er holt sie ab und bringt sie auch pünktlich zurück. Aber sonst? Die Eltern sind praktisch getrennt.«

»Leidet die Mutter unter der Trennung?«

»Sie leidet eher unter dem unausgegorenen Zustand. Ich bin sicher, sie hätte ihr Leben besser im Griff, wenn sie geschieden wären. Aber da ist nichts zu machen. Ich hab mal versucht, mit ihr darüber zu sprechen. Ausweglos. Sie will sich nicht scheiden lassen, sie sagt, die Kinder brauchen ihren Vater. Ich hab ihr erklärt, den hätten sie auch nach einer Scheidung, auf die eine oder andere Art, auf jeden Fall würden sie ihn nicht weniger sehen als jetzt. Keine Chance. Lieber lässt sie sich mies behandeln und macht alles alleine, die Erziehung, die Schule, alles.«

»Meine Kollegen nehmen Kontakt mit allen Verwandten der Familie auf, mit den Freunden, Großeltern, Mitschülern, Nachbarn, mit allen möglichen Bezugspersonen. Bisher ohne Erfolg. Wo könnte sich Nastassja versteckt halten, vorausgesetzt, sie wurde nicht entführt?«

»Ich hab darüber nachgedacht. Und da fiel mir auf, wie wenig ich eigentlich von ihr weiß. Ich kenne ihren Körper, ich habe ihre Krankheiten behandelt, ich rede mit ihr, sie ist ein waches, intelligentes Kind. Ich weiß, in welchen Kindergarten sie geht, oder gegangen ist, sie ist ja nicht mehr dort. Aber sonst? Nein, ich weiß nicht, wo sie sein könnte. Wie geht es der Mutter?«

»Nicht gut, sie trinkt und nimmt Tabletten. Wann haben Sie Torsten Kolb zum letzten Mal gesehen?«

»Das ist lang her. Ich war mal auf Hausbesuch, als Nastassja Windpocken hatte. Vor einem Jahr ungefähr. Da war er da. Ich hab ein paar Worte mit ihm gewechselt. Er zeigte wenig Interesse an seiner kranken Tochter.«

»Würden Sie Nastassja als trauriges Kind bezeichnen?«

»Wie kommen Sie denn darauf? Traurig? Nein. So hat sie noch nie auf mich gewirkt. Was meinen Sie genau mit traurig?«

»Könnte es sein, dass sie sich Ihnen gegenüber verstellt?«

Anmerkung: Die Zeugin zögert mit der Antwort.

»Nein. Sie verstellt sich nicht. Nein.« Vernehmungsende: vierzehn Uhr vierzig.

Als ich Torsten Kolb in das kleine Zimmer im zweiten Stock bringen wollte, rief Oberkommissarin Freya Epp an.

»Ich hör drinnen Musik, aber er macht nicht auf«, sagte sie.

Ich sagte: »Ich komme sofort hin.«

Ohne eine weitere Erklärung bat ich Paul Weber, noch eine Weile auf Kolb aufzupassen, und rannte die Treppe hinunter zum Hof, wo unsere Dienstwagen standen. Den Zweitschlüssel zu Martin Heuers Wohnung trug ich immer bei mir.