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Ihre Erkältung wurde schlimmer. Innerhalb von einer Stunde verbrauchte sie zwei Päckchen Papiertaschentücher, trank eine Kanne Kamillentee, und wenn sie husten musste, hielt sie sich beide Hände vor den Mund. Aber jemand musste das Protokoll führen, und Erika Haberl kannte Einzelheiten und Zusammenhänge, sodass sie sofort wusste, was sie mitzuschreiben hatte oder weglassen konnte, weil es sich um eine Wiederholung bereits verakteter Aussagen handelte.

»Hältst du seine Erklärung für glaubwürdig?«, sagte Thon, in dessen Büro die Besprechung an diesem Samstagabend stattfand. Außer ihm, Sonja, Paul Weber, Freya Epp und mir nahmen vier weitere Kollegen aus der Sonderkommission Nastassja daran teil. Auf dem Tisch standen Teller mit belegten Semmeln, zwei Kaffeekannen und etliche Wasserflaschen, doch keiner von uns hatte Hunger, nicht einmal Durst. Vorübergehend wich sogar die Erschöpfung aus den Gesichtern, und jeder am Tisch vermittelte den Eindruck, als sei er in der Lage, in kurzer Zeit die richtigen Schlüsse zu ziehen und das Mädchen auf schnellstem Weg zu finden.

»Sein Sohn hat sich nicht bei Nikolaus Kolb gemeldet«, sagte ich.

»Hast du mit seiner Frau gesprochen, Sonja?«, fragte Thon.

»Sie kümmert sich um das Möbelhaus und sonst nichts«, sagte sie. »Sie ist genauso alt wie Torsten Kolb, und die beiden haben sich nichts zu sagen. Sie behauptet, Torsten Kolb habe sie gebeten, das Haus zu verlassen, wenn er seinen Vater besucht.«

»Kontakt haben sie also«, sagte Paul Weber, dessen massiger Bauch gegen die Tischkante stieß. Wie immer bei solchen Zusammenkünften hatte er die Ärmel seines rotweiß karierten Hemdes hochgekrempelt, und man sah die grauen Haarbüschel auf seinen Unterarmen. Seine Ohren waren gerötet, und seine buschigen Augenbrauen beschatteten die aufmerksamen Blicke, mit denen er jeden, der gerade sprach, bedachte. Gern hätte ich mit ihm diesen Fall besprochen, ihn nach seiner Meinung und Interpretation gefragt, aber die Vernehmungen und mein Unterwegssein ließen mir keine Zeit dazu. Weber wäre auch der einzige Kollege im Dezernat gewesen, mit dem ich ohne Vorsicht über Martin Heuer hätte sprechen können.

»Sie spielen manchmal zusammen Karten«, sagte Sonja, die, seit wir uns in diesem Raum aufhielten, noch nicht ein Mal zu mir hergesehen hatte. In Kolbs Haus in Planegg hatten wir kaum ein Wort gewechselt, wir befragten das Ehepaar in getrennten Zimmern. Nicht einmal meine Bemerkung über die Schilder an fast jedem Zaun oder Haus konnte ihre Stimmung aufhellen. Entweder waren die Planegger leidenschaftliche Hundeliebhaber oder sie fürchteten sich ununterbrochen vor Vandalen aus den Nachbarorten Krailling oder Gräfelfing, anders konnte ich mir die Warnungen an den Grundstücken nicht erklären: »Hier wache ich« – »Vorsicht, bissiger Hausherr« – »Vorsicht, Hund«. Beim Verlassen der Noackstraße bildete ich mir plötzlich ein, die wirklich gefährlichen Bestien lauerten hinter Hecken ohne ein Schild davor.

»Entschuldigung«, sagte Erika Haberl und nahm die Hände von der Nase und atmete durch den geöffneten Mund.

»Wollen Sie Ihre Berichte heute noch diktieren?«

»Nein«, sagte Sonja.

»Nein«, sagte ich. »Wir haben keinen Zweifel daran, dass Nikolaus Kolb und seine Frau mit dem Verschwinden des Mädchens nichts zu tun haben. Wir schreiben das Protokoll morgen Früh.«

»Der Kreis engt sich also auf die Eltern ein«, sagte ein Kollege, dessen Name mir nicht einfiel, da er erst vor kurzem ins Dezernat 11 gewechselt war und bei den Todesermittlern arbeitete.

»Ich hab mit der ersten Frau von Nikolaus Kolb gesprochen, also der Mutter von Torsten«, sagte Freya Epp. Sie war eine ausgezeichnete Ermittlerin, und ihre Berichte lasen sich flüssig und spannend, wenn sie aber frei sprechen musste, noch dazu vor einer Gruppe, neigte sie dazu, sich kurios zu verheddern. »Andrea Kolb… die hat einen Laden, sie verkauft Honig, also…« Sie blätterte in ihrem Block, dessen Seiten sie mit auffallend großen Buchstaben gefüllt hatte. »Auf Märkten… Sie hat auch einen Laden in Schwabing, in der… in der…«

»Ist egal«, sagte Volker Thon.

»Die hat was… also dass ihr Sohn seine eigene Tochter entführt haben soll, das hält sie für abwegig… also darüber wollte sie nicht mal nachdenken, ich such… Sie hat wenig Kontakt zu ihm… In dieser Familie sind die Kontakte überhaupt sehr merkwürdig, oder? Hier hab ichs… Der Sohn… ihr Enkel, der Fabian, der Sohn von Torsten Kolb, der macht angeblich, also sagt Frau Kolb, die Mutter, der…«

Der Kugelschreiber fiel ihr hinunter, sie bückte sich und dabei rutschte ihr die Brille von der Nase und blieb auf dem Tisch liegen. Die Gläser in der roten Fassung waren ziemlich dick.

»Hallo zusammen!«, sagte Freya, als sie die Brille wieder aufsetzte und in die Runde blickte. »Der Fabian… der soll, sagt Frau Kolb, so Spiele machen mit Plastiktüten über dem Kopf, wer am längsten die Luft anhalten kann und so… Hat er wohl schon früher gemacht, als er jünger war, er war mal… irgendwann… Er war mal bei ihr in der Wohnung, ist schon Jahre her, da hat er das auch gemacht, sie ist ausgerastet, hat sie gesagt, sie hat ihm sogar eine Ohrfeige gegeben, da ist er weggelaufen, also, er ist dann auch… Irgendwo stehts…«

»Habt ihr darüber was gehört?«, fragte Thon. Zum ersten Mal sah Sonja mich an.

»Nein«, sagte ich.

»Hat vielleicht nichts zu bedeuten«, sagte der Kollege, dessen Name mir nicht einfiel.

»Wir werden die Mutter und den Vater danach fragen«, sagte Thon.

»Wie geht es der Mutter?«, fragte Weber.

»Sie ist schwach«, sagte Thon. »Ich hab vorhin mit dem Klinikum telefoniert, sie würden uns mit ihr sprechen lassen, kurz, immerhin. Ich bin trotzdem dafür, bis morgen zu warten.«

»Warum?«, fragte ich.

»Holen wir den Ehemann nochmal zum Verhör?«, sagte Sonja. Ich konnte mich nicht erinnern, dass sie je das Wort Verhör benutzt hätte. Es gab Kollegen, die kein Problem damit hatten, die meisten, zu denen auch ich zählte, sprachen von Vernehmungen, weil für uns Verhöre nur im Dritten Reich stattgefunden hatten.

»Er wird die Aussage verweigern«, sagte Thon.

»Wir sollten ihn trotzdem holen«, sagte Sonja.

»Einverstanden?«, fragte Thon.

»Ja«, sagte ich. »Vorher fahre ich ins Krankenhaus zur Mutter.«

»Nimm Sonja mit!«

»Ich würde lieber hier bleiben und meine Berichte schreiben«, sagte sie. »Freya kann ihn begleiten.«

Es entging Thon nicht, dass sie in der dritten Person von mir gesprochen hatte.

»Spätestens Montag früh wissen wir, wo das Mädchen steckt, und ich wette, die Mutter oder der Vater werden uns zu ihr führen«, sagte der Kollege, dessen Name mir plötzlich einfiel: Horndasch.

»Die Hundertschaft geht morgen die Isar ab«, sagte Thon und kratzte sich mit dem Zeigefinger am Hals. »Und das Präsidium stellt uns einen zweiten Pressesprecher zur Verfügung. Wir können uns also ganz auf unsere Arbeit konzentrieren. Bring die Mutter zum Sprechen, Tabor! Wir dürfen keine Zeit verlieren.«

Aber wir verloren immer Zeit, bei jeder Kindsvermissung, wir hatten zu viele Wirklichkeiten zu durchdringen, zu viele Masken zu entlarven, zu viele Gesichter wieder herzustellen, die von Lügen und Lebenswunden verunstaltet waren, wir mussten die Wörter begreifen, die wir auf Hunderten von Seiten niederschrieben, als enthielten sie die Wahrheit oder eine Erkenntnis und nicht bloß, wie so oft, die Legenden selbst erschaffener Biografien. Und wenn es sich bei den Eltern eines verschwundenen Kindes um Machthaber der Liebe oder um gut geschminkte freundliche, im Alltag erprobte Verbrecher handelte, verloren wie doppelt Zeit. Besessen davon, schnellstmöglich Beweise zu beschaffen, arbeiteten wir uns von der Binnenwelt einer Familie zur Außenwelt vor und übersahen manchmal eine Geste, überhörten die Pause zwischen zwei Sätzen, richteten uns in unserer Erfahrung ein und misstrauten Impulsen, die uns zu gefühlig erschienen. Oft brachten wir auf diese Weise die Fahndung zu einem raschen Abschluss, fanden das Kind oder dessen Leichnam, überführten den Täter oder die Täterin, wandten uns einem neuen Fall zu. Und nach und nach wurden wir so zu wandelnden Archiven, Tragödien lagerten in uns, bizarre Schicksale, ungehörte Gebete, tonnenweise versteinerte Tränen. Wir machten immer weiter, wir fragten nicht lange, wir hatten keine Zeit zu verlieren.

»Kommen Sie!«, sagte die Nachtschwester. »Ich bring Sie zu ihr. Übrigens hat sie Besuch.«

Sie hatten das Bett auf den Flur geschoben, damit ich allein mit ihr sprechen konnte. Als die Schwester, Freya Epp und ich durch die Tür traten, die sich automatisch öffnete, fuhr Fabian von seinem Stuhl hoch, den er neben das Bett gestellt hatte. Die Schwester ging in den Aufenthaltsraum, von wo aus sie uns im Auge hatte.

»Wie geht es Ihnen, Frau Kolb?«, fragte ich.

Sie nickte. Ihr Gesicht sah bleich und ausgezehrt aus, und ihre sonst welligen Haare fielen ihr strähnig übers Gesicht. Sie wischte sie mit einer schwerfälligen Geste beiseite und bemühte sich, ihren Sohn anzulächeln, was ihr schlecht gelang.

»Wir möchten gern allein mit deiner Mutter sprechen«, sagte ich zu Fabian.

Er zuckte mit der Schulter, steckte die Hände tief in die Taschen seiner viel zu großen Jeans und ging den Flur hinunter und durch die breite Glastür, die sich vor ihm öffnete, ins Treppenhaus. Ich deutete Freya an, sie solle sich setzen. Ihren Schreibblock auf den Knien, wandte sie sich Medy Kolb zu.

»Ihr Sohn hat gesagt, Nastassja hätte gestern Abend ihren Vater getroffen«, sagte Freya. »Wussten Sie das?«

Zuerst reagierte sie nicht. Dann sah sie zu mir, ich stand neben dem Bett zu ihren Füßen, sie schloss die Augen.

»Ein Zeuge hat sich gemeldet, Frau Kolb«, sagte ich. »Er hat die beiden zusammen gesehen, Nastassja und Ihren Ehemann.«

Ich bemerkte, wie die Schwester hinter der Glasfront uns wachsam beobachtete.

»Wissen Sie von dieser Begegnung, Frau Kolb?«

Sie drehte den Kopf zur Wand, und wir warteten zehn Minuten auf eine Antwort.

Schließlich sagte ich: »Erholen Sie sich! Wenn Sie mit mir sprechen möchten, sagen Sie es der Schwester, die ruft mich an.«

Draußen vor dem überdachten Eingang des Krankenhauses zeigte Fabian auf den Fußweg zur U-Bahn. »Ich fahr zum Harras und von da darf ich mir ein Taxi nehmen.«

»Spar dir das Geld«, sagte ich. »Wir fahren dich nach Hause.«

»Ich fahr lieber mit der U-Bahn.«

»Heute fährst du ausnahmsweise mit uns, du musst auch nicht sprechen.«

Und das tat er dann auch nicht.

Und sein Vater genauso.

Beginn der Vernehmung: Samstag, sechster April, dreiundzwanzig Uhr.

Anmerkung: Der Tatverdächtige Torsten Kolb erklärt sich bereit, Hauptkommissar Süden aus der Unterbringungszelle ins Vernehmungszimmer zu folgen. Außerdem anwesend: HK Volker Thon und die Schreibkraft Haberl.

HK Thon: »Sie haben gestern Abend gegen siebzehn Uhr dreißig Ihre Tochter Nastassja getroffen und im Auto mitgenommen. Sie haben sich mit ihr gestritten. Dabei sind Sie beobachtet worden. Haben Sie also gestern Ihre Tochter von zu Hause abgeholt?«

Anmerkung: Der Tatverdächtige legt die Hände auf den Tisch und senkt den Kopf, ohne ein Wort zu sagen.

HK Thon: »Warum sind Sie hier, wenn Sie die Aussage verweigern?«

Anmerkung: Der Tatverdächtige starrt mit gesenktem Kopf auf den Tisch.

HK Süden: »Als Sie sich von Ihrer Tochter getrennt haben, hat sie noch gelebt.«

Anmerkung: Der Tatverdächtige hebt den Kopf und sieht HK Süden an, offensichtlich überrascht. Dann senkt er den Kopf wieder.

HK Süden: »Haben Sie Ihre Tochter an den Haaren gepackt und geschüttelt? So.«

Anmerkung: Nah vor dem Gesicht des Tatverdächtigen macht HK Süden mit erhobenem Arm und geballter Faust heftige Bewegungen, als würde er einen Haarschopf packen und den Kopf hin und her zerren. Er tut das so lange, bis der Tatverdächtige aufschaut. Seine Miene ist ernst und er scheint über etwas nachzudenken, er zieht die Stirn in Falten. HK Süden beendet die Demonstration. Der Tatverdächtige grinst.

HK Süden: »Sie waren gegen neunzehn Uhr dreißig im Dantebad, das haben Kollegen von mir rekonstruiert. Sie waren bis zwanzig Uhr dreißig im Schwimmbad und sind hinterher in das dazugehörige Lokal gegangen, wo Sie eine Currywurst mit Pommes frites gegessen und drei Biere getrunken haben. Wo waren Sie anschließend?« Anmerkung: Der Tatverdächtige verweigert die Aussage.

HK Süden: »Lieben Sie Ihre Tochter?«

Anmerkung: Der Tatverdächtige verweigert die Aussage. HK Süden: »Lieben Sie Ihre Frau?«

Anmerkung: Der Tatverdächtige verweigert die Aussage. HK Süden: »Lieben Sie Ihren Sohn?«

Anmerkung: Der Tatverdächtige verweigert die Aussage. HK Süden: »Gibt es jemanden, den Sie lieben?« Anmerkung: Der Tatverdächtige verweigert die Aussage.

Ende der Vernehmung: Samstag, sechster April, dreiundzwanzig Uhr dreißig.

Das rote Licht des Anrufbeantworters blinkte, aber ich kümmerte mich nicht darum. Im Zimmer mit den gelben Wänden, in dem nichts als ein alter Holzstuhl stand, zog ich mich aus, legte die Sachen über den Stuhl und stellte mich ans Fenster, als erwartete ich von der Welt einen Wink. So verharrte ich eine halbe Stunde oder eine Stunde in der Dunkelheit, überließ meine Gedanken sich selbst, zumindest bildete ich mir das ein, und drückte die Hände flach gegen die Fensterscheibe, bis die Kälte meinen ganzen Körper erfasst hatte. Dann ging ich in den Flur und drückte den Knopf des Anrufbeantworters, und auf dem Display leuchtete eine rote Acht.

Martin hatte achtmal angerufen und Zeug erzählt, von dem ich keinen zusammenhängenden Satz verstand, er nuschelte, lallte, grunzte und gab Töne von sich, die sich anhörten wie von einer kaputten Trompete. Er beschimpfte Matrimonia Kolb, auch mich und Sonja, stieß Flüche aus und legte jedes Mal mitten im Satz auf.

Ich ging in die Küche und holte aus einem Werkzeugkasten einen Hammer und zertrümmerte mit drei Schlägen den Anrufbeantworter. Warum ich das tat, wusste ich nicht, es war eine Kettenreaktion, je länger ich Martin zuhörte, desto höher stieg eine schwarze Wut in mir. Spitze und eckige Teile spritzten vom Gerät, und ich ließ sie auf dem Boden liegen, räumte den Hammer weg und legte mich im anderen Zimmer aufs Bett und schlief bald ein.

Am Sonntagvormittag fuhr ich mit einem Taxi, dessen Fahrer mir erklärte, die Abschaffung der Todesstrafe in Deutschland sei der größte Fehler in der Nachkriegsgeschichte gewesen, zur Prinz-Ludwigshöhe, vorbei an lauernden Reportern und verlassenen Vorgärten, um mich im Wald oberhalb der Knotestraße umzusehen, in einem Gebiet, das die Hundertschaft bereits durchkämmt hatte. Ich hoffte nicht, eine Spur zu finden, ich wollte nur die Gegend sehen, in der Nastassja vielleicht verschwunden war. Außer mir war niemand unterwegs. Zunächst folgte ich einer ehemaligen Eisenbahnstrecke, angefüllt mit Schottersteinen, dann wandte ich mich dem Wald zu, dessen Boden von altem Laub übersät war. Umgestürzte Stämme lagen über den Wegen, und es roch nach Erde und Tannennadeln. Nach einigen Metern stieß ich wieder auf die schienenlose Trasse, die an einem Zaun aus dicken verwitterten Brettern endete, daran hing ein rundes, verrostetes Schild mit einem roten Kreis, das eine Figur mit ausgebreiteten Armen zeigte. Es war nicht schwierig, neben dem Zaun auf die Brücke dahinter zu klettern, auf der einige Bohlen durchgebrochen und noch Reste der alten Gleise zu sehen waren. Darunter verlief die neue Bahnlinie. Die Stelle schien mir ein idealer Spielplatz für Abenteuer suchende Kinder zu sein. In der Nacht wäre es lebensgefährlich, sich hier herumzutreiben. Als ich in den Wald zurückkehrte, kamen mir zwei Männer entgegen, und ich griff in die Innentasche meiner Lederjacke.

»Was machen Sie hier?«, fragte einer der beiden, der ungefähr so schlecht rasiert war wie ich und eine braune Wildlederjacke trug.

Ich hielt ihm meinen blauen Dienstausweis hin.

»Kollege Süden!«, sagte der Mann. »Jetzt erkenn ich Sie! Megele, das ist der Kollege Schell.«

Wir schüttelten uns die Hände. Die beiden waren Mitglieder der Sonderkommission und stammten nicht aus dem Dezernat 11.

»Hier ist alles ruhig«, sagte Megele.

»Wer soll schon kommen, der Vater sitzt ja«, sagte Schell, der ein silbernes Kreuz als Ohrring trug.

»Nehmen Sie ihn heute dran?«, fragte Megele.

»Nein«, sagte ich. »Er hat noch eine zweite Nacht gut.« Manchmal brachen Tatverdächtige, die sich bei den ersten Vernehmungen renitent oder arrogant gezeigt hatten, schon nach einer Nacht in der Zelle zusammen und waren bereit auszusagen, weil sie das Eingesperrtsein in dem engen Raum nicht ertrugen.

Bevor ich von der Ludwigshöhe nach Laim fuhr, rief ich im Dezernat an.

»Er hat den Mund aufgemacht«, sagte Volker Thon. »Er wollte nicht zurück in die Zelle.«

»Wo ist er jetzt?«

»Wieder drin.«

»Hat sich der Anwalt gemeldet?«

»Ja«, sagte Thon. »Er kommt einen Tag früher aus seinem Urlaub zurück, er hat sich für heute Nachmittag angekündigt.«

»Wir machen die Vernehmung morgen früh um acht«, sagte ich.

»Einverstanden«, sagte Thon. »Ich informier Dr. Vester. Es haben sich neue Zeugen gemeldet, sie wollen das Mädchen gesehen haben, gestern Abend, die Kollegen sind alle draußen, das LKA streut die Fernschreiben über ganz Bayern. Ich bin aber nicht zuversichtlich, so ein kleines Mädchen, das läuft nicht rum…«

»Ja«, sagte ich.

»Was glaubst du?«

»Ich bin so wenig zuversichtlich wie du.«

»Hast du Ärger mit Sonja?«, fragte er.

»Nein«, sagte ich.

Nach dem Gespräch, das ich von einer Telefonzelle aus geführt hatte, fuhr ich mit einem Taxi, dessen Fahrer mir erklärte, in italienischen Fußballstadien gebe es mehr Nazis als in deutschen, in die Westendstraße zu der Audi-Niederlassung, in der Torsten Kolb als Betriebsleiter angestellt war. Ich wollte schauen. Das Autohaus war ein einstöckiger weißer Flachbau an der Ecke zur Ludwigshafener Straße, mit einer Außentreppe und einem Rundgang. Es lag direkt an der Hauptstraße, auf deren Mittelstreifen die Straßenbahn nach Laim fuhr. In einer Umgebung von Busgaragen, Schrebergärten, Bürokomplexen, Baumärkten und grauen Fassaden klirrten vor dem Autohaus hölderlinartig drei Fahnen im Wind. Auf den Parkplätzen standen neue und gebrauchte Fahrzeuge mit Preisschildern hinter der Windschutzscheibe. Kaum jemand ging spazieren. Wie aus dem Nichts tauchten vereinzelt Paare unterschiedlichsten Alters auf und verschwanden in einer Nebenstraße. Natürlich bestand die Möglichkeit, in einem der Schuppen oder einer Baracke auf den Hinterhöfen ein Kind zu verstecken, doch ich glaubte nicht daran.

Ich hatte nur schauen und mir einen Eindruck von der Alltagsumgebung des Tatverdächtigen verschaffen wollen, und jetzt kam ich mir fehl am Platz vor, als hätte ich eine weitere Ausrede benötigt, um nicht in meiner Wohnung bleiben zu müssen, bei den Splittern meines zertrümmerten Anrufbeantworters und den Wänden, die näher kamen, wenn ich zu lange davorstand.

Den Rest des Sonntags verbrachte ich damit, Schweigen zu üben. Es gelang mir. Bei Sonja meldete ich mich nicht und sie sich nicht bei mir.

Am Montagmorgen um Punkt acht Uhr begann die erneute Vernehmung von Torsten Kolb, und ich hatte nicht verhindern können, dass Martin Heuer daran teilnahm. Fünfunddreißig Minuten später war ich auf der Flucht.