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Vernehmungsbeginn: sieben Uhr fünfzig.

Der Zeuge Belut, Hartmut, hat sich bereit erklärt, zur Vermisstensache Kolb, Nastassja, auszusagen. Mit der Familie Kolb ist er weder verwandt noch verschwägert. Der Zeuge wurde ausdrücklich darüber belehrt, dass gegen ihn kein Verdacht in Zusammenhang mit dem Verschwinden des Mädchens besteht. Eine Belehrung auf das Zeugnisverweigerungsrecht entfällt. Der Zeuge ist vierunddreißig Jahre alt, von Beruf Verkaufsleiter in einem Autohaus, ledig und Vater einer achtjährigen Tochter, die bei ihrer Mutter in Nürnberg lebt.

Die Vernehmung wird geführt von Hauptkommissar Tabor Süden. Eine Schreibkraft (Haberl, Erika) protokolliert das Gespräch in der Vermisstenstelle, Dezernat 11.

»Hab verpennt, tut mir Leid.«

»Das ist ärgerlich.«

»Tut mir Leid, echt.«

Anmerkung: Dem Zeugen wird ein Foto der sechsjährigen Nastassja Kolb vorgelegt.

»Das ist sie, klar. Kann ich noch einen Schluck Wasser haben?«

»Bitte.«

»Danke. Wahnsinn, das verdunstet beim Schlucken. Was ist denn mit ihr? Okay, Torsten wollt sie abholen, das hab ich kapiert…«

»Wann wollte er sie abholen?«

»Zum Schwimmen, glaub ich. Wann? Nach der Arbeit.

Am Freitag ist der bis fünf im Autohaus, danach geht er manchmal zum Squashen. Und dann ist Stammtisch.«

»Den Stammtisch hat er aber gestern abgesagt.«

»Letzte Woche schon«, sagte Belut. »Das passiert schon mal. Das ist ein Stammtisch, kein Zwangstisch. Schreiben Sie so was auch mit? Da muss man echt aufpassen, was man sagt. Oder? Schreiben Sie das alles mit?«

»Sie können das Protokoll hinterher lesen und Sie müssen es unterschreiben.«

»Mach ich, klar. Wie war die Frage?«

»Torsten Kolb hat bereits in der letzten Woche den Stammtisch für den gestrigen Freitag abgesagt.«

»Also… ja, genau. Letzte Woche… Genau. Und?«

»Gestern haben Sie aber trotzdem nochmal mit ihm telefoniert.«

»Freilich. Warum nicht? Ich versteh jetzt nicht… Moment mal. Die Nastassja ist verschwunden… Okay. Und der Torsten…«

»Bitte bleiben Sie bei meinen Fragen, Herr Belut! Sie haben gestern mit ihm telefoniert.«

»Nach Frage klingt das aber nicht, echt. Das ist doch eine Feststellung.«

»Ist sie falsch?«

»Nein«, sagte Belut. »Ist nur… Also, man muss echt aufpassen bei Ihnen…«

»Haben Sie mit ihm gestern telefoniert?«

»Nicht so laut, Mann! Was ist los? Schlechte Nacht gehabt? Entschuldigung. Können Sie das streichen, Frau… Ich wollt Sie nicht anmachen, Herr Kommissar.

Ich bin ja freiwillig hier. Entschuldigung, wenn ich das sagen darf…«

»Sie sollen auf meine Fragen antworten.«

»Langsam. Was ist denn? Schauen Sie mich nicht so an! Das beunruhigt mich…«

»Warum?«

»Was?«

»Sie haben gestern mit Torsten Kolb telefoniert, und er hat Ihnen gesagt, er will seine Tochter treffen und sie ins Schwimmbad mitnehmen.«

»Nein, also… Ich brauch jetzt erst mal noch ein Wasser. Danke. Also… Ja, ich hab mit ihm telefoniert…«

»Wann?«

»Wenn Sie mich dauernd unterbrechen, kann ich mich nicht konzentrieren. Müssen Sie eigentlich da… Das geht mich nichts an, ist okay, aber… Müssen Sie dastehen? Mir wärs lieber, Sie würden sich setzen, also…«

»Ich stehe lieber.«

»Okay, ist ja Ihr Büro. Oder was das ist. Ziemlich karg hier. Ich muss zugeben, das macht schon irgendwie nervös, wie Sie so dastehen, so mit den verschränkten Armen und den… Entschuldigung. Nein, also… Wir haben telefoniert und er hat gesagt, er trifft seine Tochter. Da hab ich gedacht, er geht mit ihr ins Schwimmbad. Weil er das öfter macht.«

»Er hat nicht gesagt, dass er mit Nastassja ins Schwimmbad gehen will.«

»Hat er nicht.«

»Sind Sie sicher?«

»Glaub schon.«

Anmerkung: Der Zeuge betrachtet längere Zeit stumm das Foto des Mädchens.

»Kennen Sie sie näher?«

»Nein«, sagte Belut. »Ich kenn sie eigentlich gar nicht. Es ist so… Also, ich will niemand was anhängen, Torsten ist ein Freund von mir, wir arbeiten in derselben Branche, wir kennen uns seit sechs oder sieben Jahren, er ist voll in Ordnung. Ja?«

»Ja.«

»Genau. Jedes Mal, wenn ich Sie anschau, hab ich das Gefühl, Sie denken, ich lüg, das ist echt schwierig mit Ihnen, ich mein das nicht persönlich. Ich hab auch nicht gedacht, dass Sie so… also, dass ein Kripomann so ausschaut. Dass Sie mich nicht falsch verstehen, ich find, dass Sie… Mit diesen Lederhosen und den langen Haaren und dem Amulett, das ist… Okay. Entschuldigung, das ist wegen… Der Edi hat gestern wieder seinen Wodkacocktail ausgeschenkt… Okay. Wie war die Frage?«

»Sie kennen Nastassja nicht näher und Sie wollen niemandem etwas anhängen.«

»Genau. Also… Haben Sie’s gemerkt? Wieder keine Frage! Sie stellen gar keine Fragen, immer nur Feststellungen, was Sie da machen. Ich habs gemerkt. Ich hab Sie durchschaut. Also… der Torsten, der lebt praktisch getrennt von seiner Frau, sie sind nicht geschieden, und offiziell wohnt er auch noch bei ihr, in Solln, auf der König-Ludwig-Höhe…«

»Prinz-Ludwigshöhe.«

»Prinz Ludwig?«, sagte Belut. »Gabs auch einen Prinz Ludwig? Welcher war das? Das müssen Sie jetzt aber nicht mitschreiben, Frau… Okay. Er hat ein Zimmer in Laim, kleines Zimmer, da wohnt er meistens in der… in der Dingsstraße, in der Camembertstraße…«

»Camerloher Straße.«

»Genau. Das ist ein Agreement, was die getroffen haben, der Torsten und die Medy. Sie haben die Kinder, sie wollen sich gemeinsam um sie kümmern, das ist eine gute Sache. Nicht so wie bei mir. Bei mir ist meine Freundin damals mit dem Kind weg, und das wars, sie hat gesagt, ich brings nicht. Acht ist die Clara jetzt schon, alle sechs Wochen fahr ich nach Nürnberg und besuch sie, das ist schlimm oft. Das ist, als ob da eine Entfernung wär, obwohl wir uns ganz nah sind, ich nehm sie in den Arm, und da ist ein Abstand, ich spür das, und sie spürt das auch. Das ist schlimm.«

Anmerkung: Der Zeuge betrachtet wieder stumm das Foto von Nastassja.

»Haben Sie die Kolbs zu Hause in der Josephinenstraße besucht?«

»Manchmal. Früher, da war die Nasti noch klein, zwei oder so. Und der Fabian war auch noch okay, ein braver Kerl. Heut ist der ein wandelndes Minenfeld. Meiner Meinung nach. Was Torsten manchmal erzählt. Er ist wahrscheinlich in der Pubertät, und Medy muss sich um die Kleine kümmern, die kommt in diesem Jahr in die Schule, wenn alles gut geht.«

»Erklären Sie, was Sie mit einem wandelnden Minenfeld meinen.«

»Er explodiert halt schnell, wenn man eine falsche Bemerkung macht. Einmal ist er… Ich weiß nicht, ob das jetzt hierher gehört, wie gesagt… Ich will niemand was anhängen, schon gar nicht Torsten oder seiner Familie… Okay. Einmal ist er in den Bräu gekommen, der Fabian, am Freitagabend, wollt Geld von seinem Vater, der ist den ganzen Weg von Solln mit der S-Bahn und dann zu Fuß, um seinen Vater anzupumpen. Natürlich hat sich Medy große Sorgen gemacht, Torsten hat sie angerufen und beruhigt. Und dann ist er wieder weg. Ist einfach weg. Bedankt hat er sich noch schnell, aber mehr nicht. Er ist dann denselben Weg wieder zurück. Ich nehm mir noch ein Wasser, okay? So ist der. Ist eine schwierige Situation. Sie haben ihn erst mit sieben in die Schule geschickt, er war noch nicht so weit, heut ist er immerhin auf dem Gymnasium. Meine Clara wird auch aufs Gymnasium gehen, das ist einfach besser, ich glaub schon, dass sie es packt. Glaub ich schon.«

»Wann haben Sie Fabian zum letzten Mal gesehen?«

»Keine Ahnung. Vor einem Jahr. Als er in den Bräu gekommen ist. Genau. Dann nicht mehr. Sicher. Nein. Okay. Was ist los? Ist er jetzt auch versehwunden?«

»Er war verschwunden, jetzt ist er zurück.«

»Und wo war er?«

»Das sagt er nicht. Versuchen Sie, sich zu erinnern, was genau Torsten Kolb gestern Mittag zu Ihnen gesagt hat.«

»Ich hab ihn angerufen«, sagte Belut. »Ich wollt wissen, ob sie einen Thermoschalter vorrätig haben, wir hatten keine mehr. Torsten hat versprochen, einen rüberzuschicken. Okay. Dann hab ich ihn gefragt, ob sich was geändert hat, ob er eventuell doch am Abend Zeit hätte, und da hat er gesagt, er überlegt sich, dass er was mit Nastassja unternehmen könnte. Genau. Das hat er gesagt.«

»Er hat nicht gesagt, er will etwas mit ihr unternehmen, sondern, dass er es sich überlegen will.«

»Was? Genau. Er überlegt.«

»Das waren seine Worte? Er überlegt sich, etwas mit Nastassja zu unternehmen.«

»Genau.«

»Bisher haben Sie ausgesagt, er wollte sie treffen, er war mit ihr verabredet.«

»Weil ich das so verstanden hab. Sitz ich jetzt in der Falle, oder was? Ich hab gesagt, ich häng niemand hin, ich sag hier freiwillig aus, Samstagmorgen um acht, und ich versuch, Ihnen zu helfen. Ich lass mir ungern die Worte im Mund umdrehen, okay?«

»Sie haben sich die Worte selber im Mund umgedreht.«

»Was hab ich? Ich trink jetzt die Flasche aus, tut mir Leid. Ich hab jetzt einen Durst. Sie machen mich echt fertig.«

»Was hat Torsten Kolb noch zu Ihnen gesagt?«

»Dass wir uns nächsten Freitag wieder treffen.«

»Was noch?«

»Sonst nichts. Und dass er den Thermoschalter rüberschickt.«

»Er hat ihn nicht persönlich vorbeigebracht.«

»Was? Persönlich? Von Forstenried nach Laim? Wegen einem Thermoschalter? Wozu haben wir da unsere Knechte? Da wird ein Bote geschickt. Wir haben was Besseres zu tun, Torsten und ich, als Thermoschalter durch die Gegend zu fahren.«

»Nach dem Telefongespräch gestern Mittag haben Sie nichts mehr von Torsten Kolb gehört.«

»Hab ich nicht. Und mehr weiß ich nicht. So wars.«

»Haben Sie eine Vorstellung, wo oder bei wem sich Nastassja aufhalten könnte?«

»Bei wem denn? Keine Ahnung. Bei wem soll die denn sein? Bei ihren Großeltern? Da könnt sie sein. Bei denen in Gräfelfing. Da sollten Sie mal nachfragen.«

»Die Großeltern wohnen in Planegg, und Nastassja ist nicht bei ihnen.«

»Schon abgecheckt, verstehe. Okay. Wann ist sie denn von zu Hause weg?«

»Gegen halb sechs.«

»Gegen halb sechs. Da ist es noch hell. Hat die niemand gesehen? Okay, Sie haben da eine Schweigepflicht. Geht mich auch nichts an. Und der Fabian? Wann ist der weg?«

»Nachts.«

»Nachts. Verstehe. Nachts. Okay. Und jetzt ist er wieder da.«

»Ja.«

»Ja. Okay. Und wo er war, sagt er nicht. Eventuell hat er seine Schwester gesucht.«

»Vielleicht.«

»Was ist jetzt? Kann ich gehen? Ist was? Sie schauen mich wieder an, als würd ich Ihnen irgendwelche Geschichten erzählen. Stimmt aber alles, was ich sag. So wars. Mehr war nicht. Ich weiß echt nicht, wo das Mädchen sein könnte. Hoffentlich ist sie nicht entführt worden. Von so einem Schwein. Scheiße. Das brauchen Sie jetzt nicht mitzuschreiben, Frau… Ich würd so einen umlegen, echt. Wenn ich so einen erwischen würd, wenn so einer meine Tochter missbraucht hätt, der wär fällig, ich würd das selber erledigen, okay. Okay, Sie sind ein Polizist, Sie sehen das anders, aber ich nicht. Ich würd den fertig machen…«

Anmerkung: Das Handy des Zeugen klingelt, er nimmt das Gespräch an.

»Kolb. Ah…«

Anmerkung: Der Zeuge hört dem Anrufer zu, ohne zunächst selbst etwas zu sagen. Er sieht Hauptkommissar Süden dabei an.

»Wo bist du jetzt? Ah… Du, wart mal… Ich bin bei der Polizei, jetzt, ja. Nein, wegen dem Gespräch gestern… Okay…«

Anmerkung: HK Süden nimmt dem Zeugen das Handy aus der Hand.

»Hier ist Tabor Süden, Kriminalpolizei, Vermisstenstelle. Sind Sie Torsten Kolb?«

Anmerkung: Offensichtlich hat der Anrufer die Verbindung in dem Moment unterbrochen, als HK Süden mit ihm sprechen wollte. Dieser gibt dem Zeugen das Handy zurück.

»Wo hält Torsten Kolb sich auf?«

»In seiner Wohnung.«

»Bei seiner Frau?«

»In Laim, in seiner eigenen Wohnung. Okay, ich sag Ihnen, was er wollte, er wollte, dass wir uns treffen, er hat irgendwelche Probleme, welche, hat er mir nicht gesagt. Okay?«

Anmerkung: Vom Telefon im Vernehmungsraum aus verständigt Hauptkommissar Süden die Einsatzzentrale, damit diese eine Streife zum Appartement von Torsten Kolb in die Camerloher Straße zur Überwachung schickt.

»Sie fahren nach Hause und bleiben bitte dort!«

»Okay. Wiedersehen…«

»Sie müssen das Protokoll noch lesen und unterschreiben, nachdem es ausgedruckt ist.«

»Das passt schon so.«

»Sie lesen und unterschreiben es.«

»Ist ja gut, Chef!« Vernehmungsende: neun Uhr fünf.

Am frühen Morgen hatte ich Sonja Feyerabend gebeten, Martin und mich bei Medy Kolb und ihrem Sohn, der sich nach seiner Rückkehr ins Bett gelegt und eisern geschwiegen hatte, abzulösen. Seitdem wartete ich darauf, dass Martin im Dezernat auftauchte. Er wollte sich zu Hause nur umziehen. Ich rief bei ihm an und sprach auf den Anrufbeantworter, doch er meldete sich nicht. Und weil Volker Thon bereits damit begonnen hatte, die Sonderkommission zu organisieren und sämtliche Kollegen, die er dafür auswählte, an der ersten Besprechung teilnehmen mussten, fuhr ich allein in die Camerloher Straße. Erika Haberl hatte ich gebeten, die Zeugen Ilona Karge und Dr. Mira Scott erst für Mittag ins Dezernat zu bestellen, und ihr erklärt, sie brauche Martin nicht Bescheid zu sagen, falls er irgendwann eintrudeln sollte.