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»Rühr mich bloß nicht an, rühr mich bloß nicht an, rühr mich bloß nicht an, rühr mich bloß nicht an…«

Ich rührte ihn nicht an. Von der Wohnungstür bis ins Wohnzimmer, wo er auf dem Boden lag, mit dem Gesicht nach unten, die Arme von sich gestreckt, führte eine Schlangenlinie ungerauchter, filterloser Zigaretten, mindestens fünfzig Stück.

»Das ist die Erde«, hörte ich Martin Heuer sagen, das Gesicht auf den grauen Auslegeteppich gepresst. Zwischen den Sätzen drehte er den Kopf und schnaufte wie ein Sportschwimmer beim Wettbewerb, er hob die Augen, und ich, der neben ihm kniete, sah die eingefallenen grauen Wangen und den Speichel, der aus seinem Mund tropfte. Er hatte seine alte Daunenjacke angezogen und den Reißverschluss bis zum Kinn geschlossen. Trotzdem zitterte er am ganzen Körper. Und da er die Beine aneinander drückte, berührten sich die Absätze seiner Schuhe und verursachten durch das Zucken der Füße ein klackendes Geräusch, das Freya, die bei Martins Anblick erschrocken zum runden Tisch in der Fensternische zurückgewichen war, nur ertrug, indem sie sich immer wieder die Ohren zuhielt. So verstand sie nur wenig von dem, was er stammelte, und das erleichterte mich ein wenig. Denn Martin redete zu niemandem, nicht einmal zu mir oder sich selbst, die Worte rannen aus seinem Mund wie sein Speichel, es war, als würde sich seine Seele erbrechen, als wäre ihm mit jedem Wort, mit jeder Bewegung seines Kopfes das Ringen nach Luft gleichgültiger, als wolle er mit dem Mund einen Tunnel in ein schäbiges fusseliges Leben graben und so lange durchhalten, bis er vollkommen darin verschwunden war, von seinem Atem verachtet, endlich am Ziel, endlich von sich selbst vergessen.

»Das ist die Erde, und du bist nicht mal ein Krümel. Die Frau, die trinkt, die weiß alles, aber wir sind auf der anderen Seite. Wir sind immer auf der anderen Seite. Immer da, wo die anderen nicht sind, wo nur wir sind.

Rühr mich bloß nicht an! Ich sitz bei der Frau, die trinkt, und ich trink mit, ich trink mit, ich sitz und trink. Sitz und trink. Und sterb. Sterb schön. Du bist für die Lebenden, nichts mehr mit Mord, nichts mehr mit Leichen. Du hast das doch gehabt, du warst doch da, da. Du darfst das nicht vergessen. Weil, das zeigt, das beweist was. Das beweist, Sterben, schau, schau hin, geht. Das geht. Du hast doch das gesehen, du hast die Hände in die Hosentaschen gesteckt, aus Gewohnheit. Steht einer zu Füßen einer Leiche. Und denkt wahrscheinlich an die Welt draußen. Denkt und denkt, und die Leiche ist gerettet.

Du hast einen Freund, einen Freund, der hat eine Freundin und ein Leben, der redet nicht viel, du hast den Freund, du hättst den Freund im Notfall. Du kennst den, du hast ihm gesagt, wir machen jetzt Polizei. Prüfung geschafft, Polizei gemacht. Du wärst in der Uniform geblieben, dein Freund wollt das nicht, Recht hat er. Der hat Recht, das kann er, Recht haben. Aber ein Rechthaber, das ist er nicht.

Ich schon. Und die Erde auch. Die Erde ist die größte Rechthaberin, die es gibt. So viele Planeten und ausgerechnet die Erde. Zu viel nachgedacht. Nachgedacht, aber nichts gedacht. Verstehst du endlich? Du denkst nach, aber du denkst deswegen nichts. Du hast bloß Gedenke im Kopf. Dauernd Gedenke und außen herum Leute, die reden. Wie die Frau, die trinkt.

Hör der Frau zu, die trinkt! Hör der Frau zu! Hör der Frau zu! Bitte hör der Frau zu! Die weiß doch alles. Aber wir wissen das nicht. Gedenke. Gedenke. Dann trink was, trink jetzt auch was! Gut so. Getrunken, Flasche leer. Getrunken, Flasche leer. Gut so. Lilo. Du hast doch Lilo in der Nacht. In der Nacht. In der Nacht hat jeder eine Lilo, irgendwo, das ist kein Kunststück. Gehst du hin, wos dunkel ist oder zwielichtig, ist die Lilo da. Das ist kein Kunststück. Ist doch Bluff. Ist doch gar kein echter Körper, ist doch Hautzeug bloß, Hautzeug, das riecht und Öffnungen hat. Haha. Kenn ich doch. Hast du doch beruflich. Das ist aber unfair. Nein. Das ist alles so wahr, dass du stirbst dran. Lilo. Was ist denn?

Rühr mich bloß nicht an! Dein Freund hat eine echte Freundin. Echte Freundin und Kollegin, sehr gut so. Gut so. Dein Freund geht in ein Hotel mit seiner Freundin, am Tag. Nicht in der Nacht. Am Tag. Am Tag. Das ist das. Und du? Lilo. Du gehst zu Lilo und duscht dich bei ihr, in ihrem Zimmer steht eine Dusche. Für die Stinker unter ihren Kunden. So wie du. Alles gleich, alle gleich. Ich will das nicht mehr. Hör auf damit. Ich bin jetzt Polizei seit fünfundzwanzig Jahren, du bist schon selbst ein Schreibtisch. Du bist eine Akte und ein Vermerk, du bist eine Vernehmung. Wenn du wohin gehst, wo Leute sind, und die reden, dann hörst du zu und stellst Fragen, und sie antworten, und du bist die Vernehmung, und sie sind die Verdächtigen. Du kannst sagen: Sie haben das Recht, die Aussage zu verweigern. Tun sie nicht.

Tun die das? Tun die nicht. Aber du hast sie belehrt, das ist wichtig. Kann kein Anwalt kommen und dich hinhängen. Korrekt. Du bist nur noch Vernehmung und Beschattung und Dienstplan. Das bist du. Du kennst die Leute, du gehst wohin, da sitzen Leute, und du hörst, was sie sagen, sie sagen das und das, und das ist kein Zuhören mehr, das ist stumme Vernehmung. Das muss jetzt enden, da ist die Erde, und die ist verkehrt, Platz ist falsch, falscher Platz. Du musst unten sein, unten du, oben Erde. Das ist richtig dann.

Du musst das Mädchen finden. Wieder ein Mädchen. Wir suchen die Kinder, das ist ein System, das ist gut. Wir finden die Kinder. Fast immer. Wichtig ist, die Kinder zu finden, wenn sie tot sind, sind sie wenigstens gefunden worden. Ungefundene Kinder, das ist ein Schmerz, den kann man nicht aushalten. Die liegen wo, ungefunden, und wir sind schon beim nächsten Kind. Du darfst das nicht an dich ranlassen.

Lass das nicht ran an dich! Sprich mit deinem Freund! Oder mit der Freundin von deinem Freund, sprich!

Sprich, sprich! Als würd das klappen, ein Wort sprechen, und das ist dann ein Wundpflaster. Dein Freund macht das nicht so. Der schweigt mit. Im Rhythmus schweigt der mit. Rühr mich bloß nicht an!

Ich will nie wieder angerührt werden. Nie wieder. Und wenn du nicht folgst, erschieß ich dich. Und Lilo schmeiß ich raus. Ich will ihre sexuellen Reflexe nicht mehr haben. Das ist das, was sie kann. Und was man kann, das muss man machen, bei den andern. Damit die dich wiedererkennen, vom letzten Mal, damit die wissen, das ist jetzt der, setz dich! Und dann Vernehmung und dann das Protokoll. Ich geh weg. Ich hab schon alles weggeschmissen, ich geh runter, und aus.

Sag deinem Freund auf Wiedersehen! Wiedersehen, Tabor. Wiedersehen. Und später lad ich ihn zu einem kalten Getränk ein, in ein Gasthaus, im Gasthaus war ich immer aufgehoben, das haben wir gemeinsam gehabt. Mein Freund Tabor und ich. Im Gasthaus sitzen wie in einem Zuhaus, deswegen Gasthaus. Wirtshaus gibts auch, kann auch funktionieren. Hängt von der Seite des Tresens ab. Welche Seite die wichtige ist. Hüben oder drüben. Der Wirt oder der Gast. Das Haus bleibt gleich. Du musst die Frau fragen, die trinkt! Die Frau, die trinkt, die kenn ich. Ich hab sie im Trinken erkannt. Die hat das Mädchen verschleppt, das ist im Trinken, ich hab sie gesehen, die ganze Nacht, Trinker lesen, das ist das, was du kannst. Das kannst du. Trinker lesen und das Trinken auch. Das stimmt.

Das stimmt. Ich hab das ausgehalten, das Zusehen, das kannst du. Du musst nicht mittrinken. Nein. Ich geh jetzt. Die Vernehmung ist jetzt aus.«

Martin drehte sich von mir weg. Die Absätze seiner Schuhe stießen noch immer klackend aneinander. Er vergrub den Kopf unter den Armen, die Daunenjacke raschelte, so stark vibrierte sein Körper.

Auf ein leises Klirren hin wandte ich mich um. Mit zwei leeren Wodkaflaschen in den Händen stand Freya Epp vor der Küchentür, entsetzt und mitleidvoll zugleich, in Erwartung einer Erklärung. Ich stand auf, betrachtete meinen reglos daliegenden Freund, nahm Freya die Flaschen aus der Hand und stellte sie in die Küche, die ähnlich aufgeräumt und unbenutzt aussah wie die in Kolbs Appartement.

»Schläft er?«, fragte Freya leise und mit großen, noch immer von Schrecken geweiteten Augen hinter der Brille mit dem roten Gestell.

Das laute Klingeln des Telefons ersparte mir eine Antwort. Ich nahm den Hörer ab.

»Ich bin es«, sagte Sonja Feyerabend. »Medy Kolb ist kollabiert.«

Der Notarzt brachte die Frau ins Klinikum Großhadern, wo ihr der Magen ausgepumpt wurde und sie mehrere Spritzen bekam. Von Sonja unbemerkt, hatte sie im Badezimmer heimlich weiter getrunken und gleichzeitig Schlaftabletten genommen. Erst als sie keine Luft mehr bekam und zusammensackte, begriff Sonja die Situation. Offenbar war es Medy Kolb gelungen, sie derart zu täuschen, dass Sonja sich weiter mit Fabian beschäftigte, von dem sie hoffte, er würde endlich sagen, wo er die halbe Nacht lang gesteckt hatte. Alles, was er sagte, war:

»Ich habe nach meiner Schwester gesucht.«

Nachdem Freya Epp und ich Martin ins Bett getragen, ihn entkleidet und zugedeckt hatten, warteten wir noch eine Zeit lang. Er schien eingeschlafen zu sein. Aus all den Jahren wusste ich, wie viel er vertrug, und es war, was ich Freya nicht erzählte, auch nicht das erste Mal, dass ich ihn desolat am Boden liegen sah. Bevor er zusammengebrochen war, hatte er diese Spur aus Zigaretten gelegt, und bestimmt würde er, wenn er aufwachte, keine Ahnung haben, was er damit hatte ausdrücken wollen.

»Hat er keine Verwandten?«, sagte Freya. »Jemand muss doch bei ihm bleiben.«

Martin Heuers Eltern lebten in Taging, in dem Dorf, wo wir beide aufgewachsen waren und wo das Grab meiner Mutter war. Er besuchte seine Eltern selten, zweimal im Jahr, und dann nur kurz und pflichtschuldig. Nicht, dass er mit ihnen zerstritten gewesen wäre, sie hatten sich nichts zu sagen, weder er ihnen noch sie ihm. Sein Vater hatte auf einer Bank gearbeitet, ohne jeden Ehrgeiz, eines Tages wenigstens Filialleiter zu werden, seine Mutter hatte ein Studium als Pharmazeutin absolviert und später eine Halbtagsstelle in einer Taginger Apotheke, bevor sie sich ausschließlich Martins Erziehung widmete. Ich konnte mich nicht erinnern, dass er je einen harten Streit mit seinen Eltern gehabt hätte, er war ein nachgiebiger Junge, der am liebsten in Ruhe gelassen werden wollte.

Wenn er sich über etwas ärgerte, wobei man dann nie genau wusste, worüber, neigte er zu Überreaktionen, aggressivem Verhalten und Sturschädeligkeit. Von unserem ersten Lebensjahr an wohnten wir in derselben Straße, einander schräg gegenüber, zwischen unseren Häusern befand sich ein Schuppen für Schweine, Hühner und landwirtschaftliche Geräte, der zum Bauernhof auf der anderen Seite der Wiese gehörte. Nach der Grundschule besuchten wir das Gymnasium in der Kreisstadt, und kurz vor dem Abitur, in einem Anfall euphorischer Ratlosigkeit, was unsere Zukunft betraf, schlug Martin vor, Polizist zu werden. Er besorgte die Unterlagen, wir füllten sie aus und vergaßen sie. Einen Monat später erhielten wir die Einladung zu einem Vorgespräch.

Martin hätte wie sein Vater Bankangestellter werden und ich studieren und vielleicht Lehrer werden sollen, denn Beamte hatten nach Meinung meiner Mutter ein gesichertes Leben. Nach ihrem Tod endete meine Vorstellung von einem gesicherten Leben für alle Zeit, obwohl ich tatsächlich Beamter wurde.

Martin, so glaube ich heute, hatte nie ein gesichertes Leben erwartet, auch nicht im Staatsdienst, in den er übermütig eintrat, dazu bereit, die Uniform nie wieder auszuziehen. Vielleicht hatte ich einen Fehler begangen, als ich ihn überredete, in den gehobenen Dienst zu wechseln, vielleicht hätte er sich in seiner Uniform, bei seinem Streifendienst besser aufgehoben gefühlt, vielleicht hätte diese Arbeit eine Art Schalterdienst für ihn bedeutet, der ihn zu den immer gleichen Handbewegungen und Erklärungen, Ermahnungen und Verhaltensweisen zwang, über die er von einem bestimmten Zeitpunkt an nicht mehr nachzudenken bräuchte. Er hätte seine Ruhe gehabt, und nur gelegentlich, vielleicht, wäre er für schnelle Momente aus der Haut gefahren und hätte seine Kollegen verblüfft. Getrunken hatte er schon als Jugendlicher, vermutlich nicht mehr als ich, und es hatte ihm nie geschadet, nicht gesundheitlich, nicht im Beruf. Bis vor einigen Monaten. Vor einigen Monaten war er zum ersten Mal nicht zum Dienst erschienen, weil er aus einer Nacht nicht mehr herausgefunden hatte. Und ich erfand eine Lüge für unseren Vorgesetzten. Volker Thon glaubte mir, zumindest tat er so.

Und nun, zu Beginn der Ermittlungen bei dieser unheilvollen Kindsvermissung, lag Martin wieder auf dem Boden, und ich würde wieder lügen müssen, und diesmal hatte ich eine Zeugin.

»Es ist eine Grippe«, sagte ich.

»Was sonst?«, sagte Freya.

»Danke.«

»Er tut mir Leid«, sagte sie. Ich schwieg.

»Er muss zum Arzt gehen«, sagte Freya. »Du musst ihn dazu bringen, dass er sich untersuchen lässt. Er sieht so… elendig aus.«

Nicht einmal in Handschellen und an den Füßen festgekettet würde sich Martin zu einem Arzt schleppen lassen.

»Ja«, sagte ich.

»Sollen wir nicht doch seine Eltern anrufen?«

»Nein«, sagte ich.

»Hoffentlich erfährt die Presse nichts davon.«

Bevor wir die Wohnung verließen, öffneten wir minutenlang sämtliche Fenster.