11

Neben Torsten Kolb saß sein Anwalt Dr. Sören Guus, braun gebrannt, die schmalen Hände vor dem Gesicht gefaltet. Kolb trug ein dunkles Sakko und darunter sein olivgrünes Sweatshirt. Martin Heuer, der den beiden gegenübersaß, trug ebenfalls ein Sakko; es war an den Ärmeln abgeschabt, am Rücken fusselig und eine Nummer zu groß. Erika Haberl, die wieder das Protokoll schrieb, hatte ein Nasenspray und drei Päckchen Taschentücher mitgebracht, ihre Erkältung war übers Wochenende stärker geworden, sie sah verquollen und erschöpft aus.

Ich stand vor dem Fenster, seitlich zum Tisch, und hatte meine Lederjacke nicht ausgezogen.

»Mein Mandant möchte eine Erklärung abgeben«, sagte Dr. Guus. »Darüber hinaus bittet er darum, dass Sie sich setzen.«

Im Vernehmungsraum hing ein Geruch nach billigem Rasierwasser, Parfüm, frischer Wäsche und Alkohol. Vielleicht war es der Moment, als ich die Spuren von Schnaps in der Luft wahrnahm, von dem an ich jede Bewegung, jede unbedeutende, gleichgültige Regung dieses Familienvaters mit distanzloser Genauigkeit registrierte, als hätte ich meine Entscheidung schon gefällt, viele Minuten bevor ein paar belanglose dumme Worte mich aus dem Gleis warfen.

Ich sagte: »Ich stehe lieber.«

»Mein Mandant bittet Sie darum, sich zu setzen.«

Ich schwieg.

»Wir warten auf die Erklärung Ihres Mandanten«, sagte Martin.

Ohne Martin oder Guus anzusehen, sagte Kolb: »Seinen Namen hab ich jetzt vergessen, wie heißt der?«

»Hauptkommissar Martin Heuer«, sagte Guus.

»Und wie heißt der nächstes Jahr?«, sagte Kolb mit einer Grimasse, als wäre er der Erfinder dieses Scherzes.

Das Sirren der Neonröhre und das Schniefen von Erika Haberl waren eine Weile die einzigen Geräusche.

»Sie sollten jetzt sprechen«, sagte Guus, an Kolb gewandt. Dieser nickte mehrmals und lehnte sich zurück. Dann schaute er zu mir.

»Obacht jetzt!«, sagte Torsten Kolb. Er zog die Augenbrauen hoch, fuhr sich mit dem Zeigefinger über den Schnurrbart, zupfte mit der linken Hand, deren Nägel abgekaut waren, am Kragen seines Sakkos. »Ich hab meine Nastassja am Freitag gesehen. Okay.«

»Wann genau haben Sie sie gesehen?«, sagte ich.

»Ausreden lassen!«

»Bitte«, sagte der Anwalt. »Herr Kolb möchte wirklich alles sagen, was er weiß. Sie brauchen nicht nachzufragen.«

»Wir fragen so oft nach, wie wir wollen«, sagte Martin.

»Wer spricht denn jetzt mit dir?«, sagte Kolb.

»Hören Sie auf, uns zu duzen«, sagte ich.

»Bitte, Torsten!«, sagte Guus.

»Die wollen doch mir gar nicht zuhören! Die haben ja ihre Meinung schon im Kasten! Das sind Gesinnungspolizisten. Die wollen mich verantwortlich machen, weil sie selber nicht klarkommen. Die sind zu blöd, meine Tochter zu finden, und jetzt soll ich dran glauben.«

»Was soll das für eine Erklärung sein?«, sagte Martin.

»Was redet Ihr Mandant für ein Zeug? Wir unterbrechen die Vernehmung, das ist ja lächerlich.«

»Sie sind lächerlich!«, sagte Kolb laut und beugte sich über den Tisch, nah vor Martins Gesicht. »Schlafen Sie erst mal Ihren Rausch aus, bevor Sie mich hier anmachen! Erklär dem, dass ich mich weiger, mit einem besoffenen Polizisten zu sprechen.« Er trommelte mit den Fingern auf den Tisch und lehnte sich wieder zurück.

»Capice?«

»Haben Sie Alkohol getrunken?«, fragte Guus.

»Nein«, sagte Martin.

Ich sagte: »Es wäre gut, wenn Sie mit Ihrer Aussage fortfahren würden, Herr Kolb.«

»Sie haben mich zwei Nächte eingesperrt«, sagte Kolb.

»Ohne Beweise. Wenn ich hier rausgeh, dann können Sie sich morgen in der Zeitung lesen. Sie und Ihr besoffener Kollege…«

»Bitte, Torsten!«, sagte der Anwalt.

Ich sagte: »Lassen Sie Ihren Mandanten nur ausreden.«

Ich sah, wie sich Kolbs Bauch hob und senkte, wie er tat, als fühle er sich provoziert, wie er einen Helden aus sich herauspumpte.

»Sie können dann ja eine Stellungnahme abgeben«, sagte er. »Also, wir haben uns um halb sieben getroffen, meine Nastassja und ich, weil, wenn ich sag, ich komm, dann komm ich, das ist wie beim Sex. Ich hab sie abgeholt, sie ist in mein Auto gestiegen, wir sind losgefahren, wir haben uns unterhalten, und dann hatte sie keine Lust mehr, und ich hab sie wieder zurückgefahren. Und mehr gibts nicht zu sagen. Und jetzt muss ich los, weil ich um zehn eine Besprechung hab, und im Gegensatz zu Ihnen bin ich kein Beamter, mir schmeißt keiner mein Geld nach.«

»Wie lange waren Sie mit Ihrer Tochter zusammen im Auto?«, sagte ich.

»Und wieso haben Sie uns die ganze Zeit angelogen?«, sagte Martin, ohne dass ich die Chance gehabt hätte, es zu verhindern.

Kolb kratzte sich am Hals und grinste Erika Haberl an, der die Nase lief, während sie in den Laptop tippte.

»Mein Mandant gibt zu, seine Tochter im Auto mitgenommen zu haben«, sagte Guus. »Er wollte sich nicht selbst belasten, deswegen hat er zunächst geschwiegen. Er wollte auch seine Familie, besonders seine Ehefrau, nicht belasten. Mein Mandant hat seine Tochter gesund zu Hause abgeliefert.«

»Wann war das?«, fragte ich. »Um wie viel Uhr?«

»Kannst du dich erinnern?«, fragte Guus.

»Irgendwann zwischen halb sieben und sieben.« Kolb sprach zur Wand hinter Erika Haberl.

»Sie haben sich mit Ihrer Tochter gestritten«, sagte ich.

»Worum ging es bei dem Streit?«

Kolb wippte mit dem Stuhl, verzog den Mund, hob generös den Kopf und sah mich aus verengten Augen an, wie sein Sohn. »Sie war sauer, weil ihre Mutter sie nicht weggehen lassen wollt, weil sie sie wieder verprügelt hat, das hat mich genervt.«

»Haben Sie Ihre Tochter an den Haaren gepackt und geschüttelt?«, sagte ich.

»Was hab ich?« Mit einer Kopfbewegung forderte er seinen Anwalt auf, etwas zu erwidern.

»Mein Mandant schlägt seine Tochter nicht«, sagte Guus.

Ich sagte: »Die Frage war nicht, ob er sie geschlagen, sondern ob er sie an den Haaren gepackt und geschüttelt hat.«

»Du kannst mich mal am Arsch lecken«, sagte Kolb.

Als ich den ersten Schritt auf den Tisch zu machte, war da wieder der Geruch nach billigem Rasierwasser und Schnaps, ich ließ ihn hinter mir wie einen Schleier. Vollkommen klarsichtig trat ich vor Torsten Kolb, packte ihn mit beiden Händen am Kopf, zog ihn vom Stuhl hoch und schleuderte ihn in die Ecke unter dem Fenster. Wie eine Puppe. Wie eine Akte. Wie ein Ding. Dann drehte ich mich um, und mir fielen wieder die schmalen braun gebrannten Hände des Anwalts auf. Ich dachte an seinen Urlaub an einem weißen Strand, und der Geruch nach Alkohol wurde unerträglich, und ich holte aus und schlug mit der Faust mitten in Martins Gesicht. Martin kippte mit einem lauten Knall zu Boden, und ich beugte mich über ihn, riss ihn an den mageren Schultern in die Höhe und entkam seinem Atem nicht. Im nächsten Moment knallte ich seinen Kopf gegen die Wand, und dann ein zweites Mal, und jedes Mal waren meine Hände daran schuld, und er sackte vor mir auf den Boden, und ich fing an zu schreien. Ich schrie keine Worte, ich goss einen einzigen, unartikulierten bösen Schrei über ihn, und die Luft ging mir nicht aus. Hinter mir tauchte jemand auf, der etwas sagte, was ich nicht verstand, weil mein Schrei mich betäubte, und ich sah das Blut auf Martins Gesicht und seine zuckenden Arme, und ich schrie, und jemand berührte mich an der Schulter, und dann bekam ich keine Luft mehr.

Es war, als hätte ich meine Stimme für immer in die Flucht geschlagen, als lägen alle Worte zerschmettert da und darunter begraben mein bester Freund. Um mich herum standen Kollegen, ich sah Paul Weber, Volker Thon und Sonja Feyerabend, und wieder sagte jemand etwas, und ich schaute, und dann begriff ich, dass ich es gewesen war, der gerade gesprochen hatte. Und als ich losging, vorbei an den Gesichtern, an den Körpern, die mir unwirklich und falsch gekleidet vorkamen, fiel mir ein Satz meines Vaters ein, und ich überlegte, ob es dieser Satz war, den ich soeben gesagt hatte, ich wusste es nicht mehr. Aber der Satz ging nicht mehr weg, auf dem Weg durchs Treppenhaus nicht, nicht auf der Straße, vor dem Dezernat nicht, an dem Hunderte von Passanten vorübereilten, und ich bog in die Goethestraße ein und dann in die Einfahrt zum Hof, wo die Dienstwagen standen. Ich hörte den Satz in mir und wollte ihn aussprechen. Im Auto öffnete ich das Seitenfenster, und als ich in der Ausfahrt stehen bleiben musste, weil Fußgänger kamen, beugte ich mich hinaus und sagte: »Gott ist die Finsternis, und die Liebe das Licht, das wir ihm geben, damit er uns sehen kann.« Eine junge Türkin mit Kopftuch lächelte und wartete, bis ich losgefahren war. Diesen Satz hatte mein Vater in dem Brief geschrieben, den er in der Küche liegen gelassen hatte, an jenem Sonntag, als ich sechzehn Jahre alt und er für immer verschwunden war.

Lieben Sie Ihre Tochter?, wollte ich Kolb nicht fragen. Lieben Sie Ihre Frau?, wollte ich Kolb nicht fragen. Lieben Sie Ihren Sohn?, wollte ich Kolb nicht fragen.

Gibt es jemanden, den Sie lieben?, wollte ich Kolb nicht fragen.

Sondern Martin. Sondern Martin. Sondern Martin. Sondern Martin. Obwohl er keine Tochter hatte. Und keinen Sohn. Und keine Frau. Und niemanden sonst.

Mit hundertneunzig Stundenkilometern jagte ich den Wagen über die Autobahn.

Dann ließen mich die Kollegen endlich allein. Ich war geblitzt worden, und weil ich nicht stehen geblieben war, hatten sie die Verfolgung aufgenommen. Ich erzählte ihnen die Geschichte von einem Flüchtenden, den ich verfolgte, und sie hatten keine andere Wahl, als mir zu glauben. Natürlich hätte ich wegen ihnen den Mann nun verloren. Sie entschuldigten sich.

»So was passiert«, sagte ich.

In der »Raststätte Hofoldinger Forst« saßen an diesem Montagvormittag zwei Paare und drei Lastwagenfahrer, ab und zu beobachtete ich draußen Leute, die ihr Auto parkten und auf die Toilette gingen. Ich trank schwarzen Kaffee. Ich versuchte, mich daran zu erinnern, was passiert war. Immer wieder tauchte Martins blutverschmiertes Gesicht aus dem Nebel auf, der in mir waberte, seit ich zum ersten Mal während der Vernehmung das billige Rasierwasser und den Schnaps gerochen hatte.

Was ich in dieser Raststätte wollte, wusste ich nicht. Wieso ich aus dem Dezernat geflüchtet war, wusste ich nicht, und über die Konsequenzen machte ich mir keine Gedanken.

Einmal ging ich hinaus auf den Parkplatz, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Die Luft war kühl und schneeig, und es hätte mir gefallen, wenn auf meinen Lidern Flocken geschmolzen wären wie Tränen eines kosmischen Schneemanns.

»Das Rührei mit Schinken?«, fragte die Frau hinter der Theke.

Ich sagte: »Ja.« Und ich aß das Frühstück wie jemand, der auf einer Reise und ausgehungert war und an den Rändern der Zeit entlangfuhr.

Über eine Landstraße kehrte ich in meine Wohnung im östlichen Münchner Stadtteil Giesing zurück. In der Tür steckte ein Zettel von Sonja. Ich rief sie an, und sie kam zu mir und blieb ein paar Stunden, und am nächsten Tag, Dienstag, kam sie abends und verbrachte die Nacht mit mir.

Ich erfuhr, dass es Volker Thon gelungen war, Kolbs Anwalt so weit zu bringen, seinen Mandanten zu beruhigen und ihn davon abzuhalten, die Presse zu informieren; schließlich gelte er nach wie vor als Tatverdächtiger, auch wenn er vorübergehend auf freiem Fuß sei. Ein Betriebsleiter, der beschuldigt werde, seine sechsjährige Tochter entführt zu haben, wäre seinen Job innerhalb eines halben Tages los, das schien sogar Torsten Kolb zu begreifen.

»Und er hat zugegeben, seine Tochter tatsächlich an den Haaren gepackt und geschüttelt zu haben«, sagte Sonja in dem Zimmer mit den gelben Wänden, wo wir auf dem Boden saßen und ich Bier und sie Wasser trank.

»Er wollte mit seiner Frau sprechen, aber das haben wir ihm nicht erlaubt. Zum Glück ist der Anwalt auch nicht gerade ein Fan seines Mandanten, er muss ihn vertreten, weil sie sich lange kennen, er ist ein Freund von Kolb senior.«

Dann schwieg Sonja wieder. Zwischen uns lagen vier Meter, sie hockte an der Wand mir gegenüber. Der leere Stuhl stand vor dem Fenster. Es war weder kalt noch warm. Ich war barfuß, das weiße Leinenhemd hing mir aus der Jeans, die am Bauch spannte. Die Hände auf den Boden gestützt, sah ich zu ihr hinüber und wünschte, sie würde näher kommen. Vom Flur fiel Licht herein, sonst war es dunkel im Zimmer. Sie hatte gesagt, der Staatsanwalt räume mir bis morgen Früh Bedenkzeit ein, dann wolle er mit mir sprechen und entscheiden, was weiter zu geschehen habe. Sollte ich mich der Befragung entziehen, würde er eine Dienstaufsichtsbeschwerde einleiten und dem Innenminister vorschlagen, mich vorläufig vom Dienst zu suspendieren, möglicherweise inklusive einer Rückstufung des Gehalts. Nach Meinung des Staatsanwalts sei ich unter den gegebenen Umständen für den Polizeidienst absolut untauglich.

»Niemand sonst im Dezernat ist dieser Auffassung«, hatte Sonja gesagt, als sie am Dienstagabend zu mir kam. Aber sie wartete auf eine Erklärung. Und ich war nicht fähig dazu. Ich begann, ihr Dinge zu erzählen, die sie schon kannte, Geschichten über Martin Heuer, als wir Kinder und später in der Ausbildung waren und Streife fuhren und uns wichtig vorkamen. Ich wollte ihr andere Dinge erzählen, etwas, das vielleicht zu jenem Moment führte, der mich in die Lage gebracht hatte, in der ich mich jetzt befand. Ich wollte ihr von meinem Vater erzählen und dem Brief, den er auf den Küchentisch gelegt hatte, von dem Satz, den ich so viele Jahre lang nicht verstanden hatte und von dem ich mir nicht sicher war, ob ich ihn heute verstand. Von der Küche wollte ich ihr erzählen, von ihrer Einrichtung, ihren Gerüchen, und von der Lederjacke, die mein Vater zurückgelassen und die ich wie selbstverständlich angezogen hatte und die nach seinem Rasierwasser roch, das seither meine Erinnerungen durchtränkte. Ich wollte, dass sie mich begleitete… dass sie dabei war an jenem Sonntag, dem zweiundzwanzigsten Dezember, im Nachhinein dabei war… in der Küche mit dabei war, damit ich… Ich wollte ihr sagen, wieso… Wieso der Geruch im Vernehmungszimmer und in meiner Erinnerung… Ich wollte mich… Und dann erzählte ich von anderen Dingen, von Dingen ohne Not, Dingen, die passiert und sortiert waren wie Briefe oder Fotos, Dingen, vor denen ich in Sicherheit war, Stunde um Stunde, die halbe Nacht, und Sonja hörte mir zu, und ich redete weiter, und sie hörte mir immer noch zu, und ihr Zuhören war wie eine Geborgenheit.