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Bekleidung: blaue Jeanshose mit künstlich eingefärbten Flecken und ausgestellten Beinen, grüner Pullover mit silbernen Sternen, rote Jeansjacke mit weißem Kunstpelzkragen und der Aufschrift »Superstar«, blassblaue Turnschuhe mit Klettverschluss Haare: dunkelbraun, mittellang, durchsetzt von geflochtenen Rastazöpfchen Figur: schlank Augenfarbe: braun Größe: 129 Zentimeter Alter: 6 Jahre Geschlecht: weiblich Nationalität: deutsch Sprache / Dialekt: Deutsch Besondere Merkmale: an der linken Schläfe eine 1,5 Zentimeter lange Narbe Weitere Informationen: Nastassja neigt dazu, fremde Leute auf der Straße anzusprechen und sie zu fragen, wohin sie gehen. Sie hat ein offenes freundliches Wesen.

Fragen: Wer hat Nastassja Kolb seit dem Abend des 4. April gesehen? Wer kann Angaben über ihren derzeitigen Aufenthalt machen? Wer hat ungewöhnliche Beobachtungen in der Münchner Josephinenstraße beziehungsweise auf der Prinz-Ludwigshöhe gemacht?

Sachverhalt: Seit Freitagabend, 5. April, wird die 6-jährige Nastassja Kolb aus München vermisst. Das Mädchen verließ ihr Elternhaus in der Josephinenstraße 8 gegen 17.30 Uhr. Möglicherweise wirkte sie zornig und hatte es eilig. Vorausgegangen war ein Streit mit ihrer Mutter. Nach Aussagen ihres 13 Jahre alten Bruders Fabian, der sie vom Fenster aus noch gesehen hat, lief das Mädchen die Josephinenstraße hinunter in Richtung Ludwigshöher Straße.

Zuständige Dienststelle: Kriminalkommissariat 114, Dezernat 11, Bayerstraße Sachbearbeiter: Tabor Süden Wie bei jeder Vermissung, die wir ernst nehmen mussten, begann die Fahndung mit dem Ausfüllen von Formularen, die wir per Fax an verschiedene Dienststellen schickten, während der Kollege Wieland Korn beim Landeskriminalamt die Daten ins INPOL-System eingab, von wo aus diese über Nacht mit der VERMIT/UTOT- Datei des BKA vernetzt wurden, um sie mit Informationen über Vermisste und unbekannte Tote abzugleichen. Parallel dazu erhielten ausgewählte Inspektionen vom LKA Fernschreiben, die wesentliche Details über die verschwundene Person enthielten. Beim Verdacht auf ein Verbrechen schalteten wir die Öffentlichkeit ein, in Fällen von Kindsvermissungen, sofern es sich nicht um Streuner und polizeibekannte Ausreißer handelte, banden wir so früh wie möglich die Medien mit ein, nicht nur, damit sie uns bei der Suche unterstützten, sondern auch aus Gründen des Selbstschutzes: Je offener und direkter wir mit der Presse umgingen, desto ungestörter konnten wir unsere Arbeit verrichten, ohne über jeden Schritt der Fahndung extra Auskunft geben zu müssen.

Darüber hinaus klebten wir Plakate an U- und S-Bahnhaltestellen, in die Nähe von Jugend-, Einkaufs und Vergnügungszentren, verteilten Laufzettel und Postwurfsendungen, durchsuchten vor allem die nähere Umgebung des Kindes, Keller, Speicher, Garage, das Grundstück sowie seine Lieblingsplätze, schickten Streifenbeamte zu Friedhöfen, wo sich weggelaufene Kinder oft versteckten, und überprüften so viele Freundschaften, Bekanntschaften und familiäre Verbindungen wie möglich. Sämtlichen Krankenhäusern und ambulanten Diensten, den Leitstellen der Verkehrsbetriebe und den Taxizentralen übersandten wir Fotos des Kindes und Beschreibungen von Kleidung, Aussehen und Verhaltensmerkmalen.

Manchmal beschäftigten sich von Anfang an rund sechzig Kollegen mit dem Fall, nach Einrichtung einer Besonderen Aufbauorganisation, einer BAO, die schließlich in eine Sonderkommission überging, waren es oft an die hundert Kriminalisten, die rund um die Uhr Befragungen durchführten, Spuren und Hinweise aus der Bevölkerung überprüften, die üblichen Wege des Kindes wieder und wieder abfuhren, Personen im Ausland aufstöberten, die in einer Verbindung zum Kind standen. Zu Hilfe kamen uns außerdem sowohl polizeiinterne als auch externe Psychologen und Rechtsmediziner sowie Spezialisten der Operativen Fallanalyse aus dem Präsidium oder dem BKA.

Das plötzliche, unerklärliche Verschwinden eines Kindes, das auch nach mehreren Stunden nicht nach Hause zurückkehrte, bedeutete für uns den Super-GAU, und wir erlebten ihn ungefähr fünfmal im Jahr. Wir hatten also Erfahrung, doch diese Erfahrung erhöhte weder unser Trostvermögen noch erleichterte sie uns das Durchschauen der Lügen, die uns die Angehörigen auftischten, bei jeder Vermissung von neuem, ausnahmslos, ganz gleich, wie schrecklich die Umstände sein mochten. Das Einzige, was mich meine zwölfjährige Erfahrung auf der Vermisstenstelle wirklich gelehrt hatte, war: Hinter den Tränen, dem Schrecken und dem Flehen in einem Zimmer, das eine einzige leere Stelle zu sein schien, gab es eine verschlossene Tür, die zu öffnen die Angehörigen ebenso fürchteten wie den Tod des Verschwundenen oder dessen unerwartete Rückkehr. Denn sie wussten, sie waren Teil seiner Geschichte, und die Fragen, mit denen ich sie konfrontierte, führten zu jener Tür, hinter der sie seit jeher ihre Lügen, ihre Schuld, ihre Feigheit und die Bastarde ihrer Gedanken verbargen. Und sie begriffen, dass in diesem Zimmer zwar ein Mensch fehlte, dieser aber seinen Schatten zurückgelassen hatte, der einen Schlüssel besaß, den einzigen, der in das unheimliche Schloß passte.

Matrimonia Kolb sah ich die Panik vom ersten Augenblick an, sosehr sie auch schluchzte und sich mit Alkohol zu betäuben versuchte.

»Gründe des Verschwindens«, sagte Martin Heuer, der die Unterlagen und Formulare vor sich auf dem Tisch liegen hatte. Ich stand in der Nähe des großen Fensters, dessen grüne Läden geschlossen waren. Es war Freitag, der fünfte April, eine halbe Stunde vor Mitternacht.

»Bitte hören Sie zu!«, sagte Martin. »Die Anzeige muss vollständig sein. Wir wissen jetzt, was Ihre Tochter angehabt hat, aber wir brauchen noch mehr Informationen. Drogen und Alkohol können wir ausschließen.« Demonstrativ strich er die Worte auf dem Blatt durch. Matrimonia, die sich Medy nannte, war unfähig, etwas zu erwidern. Vornübergebeugt saß sie auf der Couch, die Hände vor dem tränennassen Gesicht, zwei zerknüllte Papiertaschentücher in den Fäusten. Sie trug eine schwarze weite Stoffhose und einen dunklen Wollpullover, der unförmig wirkte. Überhaupt schien ihr das Kaschieren ihrer eher fülligen Figur nicht recht zu gelingen, die Kleidung ließ sie übergewichtiger erscheinen, als sie in Wirklichkeit war. Sie hatte ein ovales Gesicht mit schmalen Lippen und einer leicht schiefen Nase, und ihre braunen gewellten Haare, die ihr auf die Schultern fielen, verliehen ihr etwas Mädchenhaftes, ebenso wie ihr Blick, der kindlich und verspielt sein konnte, wenn sie mit ihrem Sohn sprach.

Fabian Kolb hockte im Schneidersitz auf einem ausladenden Korbstuhl mit hoher geschwungener Lehne, seine Hände unter bunten Kissen vergraben, und sagte kein Wort. Ab und zu schaute ich zu ihm hinüber, dann zuckte er zusammen, weil ich ihn erwischt hatte, wie er mich auf die Entfernung beobachtete, mit zur Seite geneigtem Kopf, aus den Augenschlitzen heraus. Er hatte die Angewohnheit, die Lider so tief zu senken, bis seine Pupillen fast nicht mehr zu erkennen waren.

»Frau Kolb«, sagte Martin.

Sie presste die Fäuste gegen die Wangen.

»Abenteuerlust können wir auch ausschließen«, sagte Martin. Er wartete auf eine Antwort. »Oder halten Sie es für möglich, dass Ihre Tochter ausgerissen ist, weil sie ein bestimmtes Ziel hatte?«

»Was denn…« Medy Kolb schniefte, schnäuzte sich, tupfte sich mit dem zerfledderten Taschentuch den Mund ab.

»Ich hab doch schon gesagt… Nastassja ist nicht ausgerissen, ihr ist… ihr ist was zugestoßen…«

Jetzt sah sie Martin direkt an. »Sie ist sechs Jahre alt! Erst sechs Jahre! Was unterstellen Sie ihr denn?« Sie drehte den Kopf zu mir. »Sagen Sie doch auch mal was! Bitte!«

»Sie haben sich gestritten«, sagte ich. »Ist sie weggelaufen, weil sie Angst vor Strafe hatte?«

»Nein!«, sagte Medy laut. Dann warf sie ihrem Sohn mit gerunzelter Stirn einen Blick zu, aber Fabian tat, als bemerke er ihn nicht.

»Ihre Tochter ist vorher noch nie weggelaufen?«, sagte Martin.

»Das hab ich Ihnen doch schon gesagt!« Sie hatte aufgehört zu weinen, legte die zusammengeknüllten Taschentücher neben sich und wischte sich mit einer schnellen Bewegung die letzten Tränen ab. »Ich weiß nicht, wo sie ist!« Wieder klang ihre Stimme lauter als zuvor.

»Aber Sie leugnen nicht, dass Sie Streit hatten«, sagte Martin.

»Nein.«

»Dann mach ich ein Kreuz bei ›familiäre Zwistigkeiten‹.«

»Ja«, sagte sie. »Machen Sie das Kreuz da. Stimmt ja auch irgendwie.«

Die Punkte »Vermutlicher Unglücksfall/Opfer einer Straftat« und »Freitodabsicht« hatte Martin nicht erwähnt, obwohl er ein Verbrechen ebenso für möglich hielt wie ich. Einen Selbstmord schlossen wir aus.

Seit mehr als einer Stunde befanden wir uns in der Wohnung, ohne auf einen Hinweis auf den Verbleib des Mädchens gestoßen zu sein. Als Erstes hatten wir den Keller und einen Schuppen hinter dem Haus durchsucht, bei den unmittelbaren Nachbarn geklingelt und danach versucht, mit dem Jungen ins Gespräch zu kommen. Doch er verweigerte sich, alles, was er sagte, wussten wir bereits: Dass er seine Schwester vom Fenster aus die abschüssige Straße hinuntergehen sah, anschließend habe er mit Freunden auf einer nahen Wiese Fußball gespielt, und seine Schwester sei nicht mehr aufgetaucht.

»Wann haben Sie das Haus verlassen?«, hatte ich Medy Kolb gefragt.

»Gegen acht.«

»Sie haben Ihre Tochter nicht eher vermisst?«

»Ich hab gedacht, sie ist bei den Karges.«

»Wer ist das?«

»Das sind Bekannte, sie wohnen ein paar Häuser weiter. Die Angela Karge und Nastassja sind gleich alt, sie stecken die ganze Zeit zusammen, ich hab gedacht, sie ist dort. Die Angela hat ein… so ein Holzpferd, so ein… eines, das innen hohl ist…«

»Ein Trojanisches Pferd.«

»Ja, das ist mir jetzt nicht mehr eingefallen, ich… Ist mir nicht mehr eingefallen!« Wieder hatte sich ihre Stimme gehoben. »Die spielen darin Verstecken, die klettern da rein, das ist ein großes Pferd, wie ein Haus.«

»Haben Sie bei den Karges angerufen?«

»Ja.«

»Wann?«

»Gegen acht. Als das Essen fertig war.«

»Mit wem haben Sie gesprochen?«

»Mit Ilona, Angelas Mutter. Und sie hat mir gesagt, Nastassja war gar nicht da. Obwohl sie mit Angela verabredet gewesen ist.«

»Wieso ist sie dann nicht hingegangen?«

»Bitte?«

»Vorher, früher am Tag.«

»Ich hab… ich habs ihr verboten.«

»Warum?«

»Sie war ungezogen.«

Konkretere Aussagen machte sie vorerst nicht, und wir wollten sie nicht drängen. Sie verließ dann das Haus und fuhr mit dem Auto die umliegenden Straßen ab. Fabian blieb zu Hause, allein, zwei Stunden lang. Was er in dieser Zeit getan hatte, wollte er uns nicht verraten, sein einziger Kommentar lautete: »Hab Englisch gelernt.« Er besuchte die zweite Klasse des Gymnasiums.

Martin Heuer notierte die Namen der Straßen, in denen Medy Kolb nach ihrer Tochter Ausschau gehalten hatte.

»Haben Sie nicht versucht, Ihren Mann zu verständigen?«, sagte ich.

Mit einem Ausdruck von Überraschung sah sie mich an, als habe sie vergessen, dass ich mich ebenfalls im Raum befand.

»Nein. Wozu denn? Nein. Er wohnt zurzeit nicht hier…« Sie wollte sich zurücklehnen, hielt aber in der Bewegung inne und beugte sich wieder vor, die Hände auf den Knien, mit verkrampften Fingern.

»Ja«, sagte ich. Bereits bei der Begrüßung hatte sie uns erklärt, sie lebe mit ihren Kindern allein. »Trotzdem hätten Sie ihn um Rat fragen können.«

»Um Rat?« Sie versank in einer Abwesenheit, die sogar ihr Sohn bemerkte und ihn die Augen zusammenkneifen ließ. Medy hörte auf, die Finger zu krümmen, und strich sich stattdessen mit einer Hand über die andere, ihre Gesichtszüge wurden weich, und wenn mich der Eindruck nicht täuschte, gelang ihr ein schnelles, unauffälliges, angestrengtes Lächeln. Fabian war von ihrem Verhalten, das er sich offensichtlich nicht erklären konnte, so irritiert, dass er die Beine streckte, auf seine klobige Uhr mit dem Silberarmband schaute und Anstalten machte aufzustehen. Im selben Moment stand seine Mutter auf. Und Fabian lehnte sich zurück, zog die Beine an den Körper und umklammerte die Knie.

»Bitte konzentrieren Sie sich!«, sagte Martin, dessen rechte Hand leicht zitterte, vielleicht vom Schreiben, vielleicht vom Verlangen nach Bier und Zigaretten. Seit Tagen wich die graue Müdigkeit nicht aus seinem Gesicht, seine Tränensäcke wölbten sich unter den Augen, bläuliche Adern durchzogen die rissige Haut seiner geröteten Knollennase, und die wenigen Haare klebten zu einem struppigen Nest geformt auf seinem Kopf. Die graue Filzjacke, die er außer im Winter das ganze Jahr über trug, hing unförmig an seinem dürren Körper wie an einer falschen Garderobe, seine Erscheinung war die eines Mannes, der zwischen Ruinen existierte, begnadigt von der Zeit, die Zukunft an ihm sparte und nach und nach alles Vergangene in Schutt verwandelte, so wie sie seinen Abbruchkörper Nacht für Nacht demolierte. Ein paarmal hatte ich versucht, mit ihm zu sprechen, mit ihm zu schweigen, mit ihm zu trinken und zu sprechen und zu schweigen, und er hatte zugehört, und am Ende hatte der Alkohol uns beide jedes Mal in einen Zustand maßloser Lächerlichkeit versetzt, für den kein Ekel ausreichte. Ich wusste, dass Martin Heuer trotzdem fähig war, an einem Fall zu arbeiten, Protokolle zu führen, die richtigen Fragen zu stellen. Er war zu routiniert, um sich gegenüber Fremden eine Blöße zu geben. Doch in meinen Augen saß er nackt und alt und desorientiert in diesem Zimmer, und wenn er Matrimonia Kolb aufforderte, sich zu konzentrieren, meinte er damit vor allem sich selbst. Denn das Nichtsprechen der Zeugin marterte ihn, lieferte ihn den Umtrieben der gläsernen Kobolde aus, von denen er manchmal am Abgrund einer Dämmerung sprach und die, so kam es ihm vor, überall in seinem Körper Splitter verteilten, ungeschriene Worte, von denen inzwischen Tausende in ihm steckten und die er nicht loswurde. Er brachte sie einfach nicht aus sich heraus, und auf unerklärliche Weise, meinte er, würden die Worte anderer ihn erleichtern, ablenken von seiner elementaren Unfähigkeit, endlich das alles auszusprechen, auszuspucken, was ihn von innen her wund rieb. Vielleicht, dachte ich mitten in der riskanten und komplexen Vernehmung von Matrimonia Kolb, hatte ich deshalb mein Schweigen perfektioniert, um unsere Freundschaft nicht zu verlieren, sein Vertrauen und meine Geduld.

»Mein Mann hat damit nichts zu tun«, sagte Matrimonia Kolb.

»Womit?«, sagte Martin schnell.

»Mit meiner Tochter.«

Sie stand da, überlegte, wandte sich noch einmal um, nahm die Papierknäuel von der Couch und behielt sie in der Hand.

»Was werden Sie jetzt unternehmen?«, fragte sie.

Martin legte den Stift auf seinen Block und fuhr sich über die Stirn. »Alle Inspektionen der Umgebung sind informiert«, sagte er. »Die Kollegen fahren die ganze Nacht die Gegend ab. Wenn Ihre Tochter morgen Früh nicht zurück ist, weiten wir die Fahndung aus.«

Sie nickte, auf eine undurchschaubare Art wie zuvor.

Möglicherweise war sie vollkommen verstört und versuchte, ihre Gefühle zu verbergen, was allerdings wenig zu ihrem anfänglichen Heulkrampf passte. Ihre Stimmungen schwankten stark. Zudem hatte ich das Verhältnis zwischen ihr und ihrem Sohn noch nicht durchschaut, einerseits schienen sie sich, aus welchen Gründen auch immer, gegenseitig zu schützen, andererseits belauerten sie sich, als fürchteten sie unangenehme, nicht abgesprochene Bemerkungen oder Verhaltensweisen.

Wenn wir nicht aufpassten, neigten wir dazu, uns im Anfangsstadium solcher Ermittlungen in Verdächtigungen, Unterstellungen und Vorurteile hineinzusteigern, weil wir aus Erfahrung misstrauisch waren und rasch genervt von vermeintlich taktischen Spielen der Zeugen und weil unsere berufsbedingte Forschheit und Selbstsicherheit einen Automatismus nach sich zogen, der eine gewisse Blindheit nicht ausschloss. Das Problem war, dass dieser Automatismus in den meisten Fällen direkt zum Ziel und zur Aufklärung führte, und zwar innerhalb kurzer Zeit. Und wenn es etwas gab, das wir uns unter keinen noch so verschwurbelten Umständen leisten konnten, dann war es Trödeln.

»Wir machen jetzt eine Pause«, sagte Martin und erhob sich so ruckartig von seinem Stuhl, dass Matrimonia Kolb mit dem Kopf zuckte. »Wir gehen raus und Sie denken nach, was Sie uns noch zu sagen haben. Außerdem möcht ich, dass Sie nochmal versuchen, Ihren Mann zu erreichen. Er muss herkommen.«

»Ich möchte das nicht.«

»Rufen Sie ihn an, sagen Sie ihm, er soll sich beeilen!«

»Wir haben zurzeit keinen Kontakt, ich will das nicht!«, sagte sie mit lauter Stimme.

»Wir lassen ihn sonst mit einer Streife holen«, sagte Martin, schon an der Tür, die grüne Zigarettenpackung in der Hand.

Vor dem Korbstuhl blieb ich stehen. »Du hast keine Vorstellung, wo sich deine Schwester aufhalten könnte?«

Fabian zog die Beine noch enger an den Körper. »Hab ich doch hundertmal gesagt: Nein. Glauben Sie mir nicht?«

»Ich weiß nicht«, sagte ich.

»Ist aber wahr«, sagte er.

»Was hast du in den zwei Stunden gemacht, in denen du allein in der Wohnung warst?«

»Hab ich doch hundertmal gesagt: Ich hab Englisch gelernt, Vokabeln. Sie können mich ja abfragen, wenn Sie wollen.«

»Und niemand hat in dieser Zeit angerufen?«

»Nein«, sagte er trotzig.

»Und du hast auch niemanden angerufen?«

»Nein.«

»Warst du im Zimmer deiner Schwester?«

»Was?« Er sah mich an und dann weg, starrte seine blauen Socken an.

»Warst du im Zimmer deiner Schwester, Fabian?«

»War ich nicht.«

»Ich glaube schon«, sagte ich. Er erwiderte nichts.

»So was macht er nicht«, sagte seine Mutter.

»Rufen Sie jetzt Ihren Mann nochmal an, Frau Kolb«, sagte ich.

»Der Typ hat hier nichts verloren!«, stieß Fabian hervor, sprang vom Stuhl und schlurfte mit zorniger Miene aus dem Zimmer. Ich hörte eine Tür schlagen und bald darauf dumpf klingende Rockmusik.

Matrimonia Kolb hatte wieder Tränen in den Augen. Sie wartete darauf, dass ich etwas sagte. Aber ich drehte mich um und ging vor die Haustür zu Martin.