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»Schnelldurchlauf«, sagte Martin Heuer, weil er über nichts anderes sprechen wollte.

Wir standen am Fuß der Steintreppe, die zur Haustür führte, ähnlich wie bei den beiden Häusern rechts und links, die mit dem kleinen Vorgarten und der Treppe an einen englischen Baustil erinnerten. Die meisten übrigen Häuser in der von Laub und Nadelbäumen gesäumten Josephinenstraße wirkten klobig und gedrungen und wenn auch nicht protzig, so doch deutlich erkennbar als Eigentum nicht unvermögender Besitzer, deren gestalterische Individualität wie häufig bei privaten Hausplanern vor allem in der Baumasse und weniger in der Bauform zum Ausdruck kam. Vermutlich fanden sie betonumschlossene Balkone kuschelig und weiß lackierte schmiedeeiserne Gitter vor den Fenstern heimelig. Dennoch war es gewiss angenehm, hier zu wohnen, abseits des Stadtlärms, oberhalb des Flusses, nahe des grünen Münchner Südgürtels.

Jetzt, kurz nach Mitternacht, herrschte Stille auf den Grundstücken und der nach Norden hin abfallenden Straße, Autos parkten entlang der Bürgersteige und glänzten im milden Licht der Straßenlampen. Kein Mensch war unterwegs, hinter den meisten Fenstern war es dunkel. In wenigen Stunden würden Kombis und andere größere Fahrzeuge die Straße blockieren, Kamerateams und Reporter die Nachbarn herausklingeln und meine Kollegen und vielleicht ich selbst von Haus zu Haus ziehen und jeden noch so unbedeutend erscheinenden Hinweis notieren. Wie immer in solchen Fällen würde sich die engste Umgebung des verschwundenen Mädchens in eine Art öffentliche Kantine verwandeln, in der jeder Journalist, jeder Schaulustige, jeder, der nichts Besseres zu tun hatte, glaubte, verkehren zu dürfen und es sich bequem machen zu können, und in der das allgemeine Gelaber wie eine Volksverköstigung von Mund zu Mund ging, reihum, immer wieder von vorn. Und alles, was wir bisher auftischen konnten, waren Ratlosigkeit, Misstrauen, Zweifel und ein Übermaß an Fragen.

»Glaubst du ihr?«, fragte Martin.

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Sie lügt.«

»Hat sie mit dem Verschwinden ihrer Tochter was zu tun?«

»Natürlich.«

»Sie hat sie geschlagen.«

»Das wissen wir nicht.«

Martin steckte sich eine neue Zigarette an und schnippte die Kippe über den Zaun auf die Straße.

»Ist dem Mädchen was zugestoßen?«, fragte Martin.

»Wir wissen es nicht.«

»Warum sagt der Junge nichts?«

»Weil er etwas weiß.«

»Genau«, sagte Martin, rauchte, blickte zum Haus gegenüber, wo in einem der Zimmer ein blaues Fernsehlicht flackerte.

Dann schwiegen wir.

Ich ging zu unserem Dienstwagen, den wir an der Ecke zur Großhesseloher Straße geparkt hatten.

»Ich bin es«, sagte ich ins Autotelefon. Die Beifahrertür hatte ich offen gelassen.

»Kein Erfolg«, sagte Paul Weber am anderen Ende. Gemeinsam mit Sonja Feyerabend, Volker Thon und Oberkommissarin Freya Epp rief er jene Personen an, deren Namen mir Medy Kolb durchgegeben hatte, als Martin und ich auf dem Weg zu ihr waren. »Der Ehemann ist nicht zu erreichen. Aber ich hab mit einem Freund von ihm geredet…« Ich hörte das Rascheln von Papier und Stimmen. »Belut heißt der Mann, Hartmut, reines Glück, dass wir den erwischt haben, der Stammtisch hat heut nämlich nicht stattgefunden, Belut war nur so in der Kneipe. Er behauptet, Torsten Kolb und seine Tochter, das sei ein schwieriges Verhältnis, ich hab ihn gefragt, ob er das erklären kann, er meinte, sie würden sich einfach nicht verstehen, dauernd streiten…«

Ich sagte: »Hast du ihn auf Missbrauch angesprochen?«

»Nein, ich hab ihn herbestellt, morgen Früh um sieben, ich hab mir gedacht, du machst eh die Nacht durch.«

Paul Weber war neunundfünfzig und der älteste meiner Kollegen, er war kein so enger Freund wie Martin, aber einer, mit dem ich schon viele Schweigen geteilt und der vor mir seine Trauer nicht versteckt hatte, als seine Frau, mit der er siebenundzwanzig Jahre verheiratet war, an Krebs starb. Nach meinem Wechsel in die Vermisstenstelle war er es gewesen, der mich eingearbeitet und mich gelehrt hatte, bei Vernehmungen und Befragungen nie die Geduld zu verlieren. Und bis zu diesem April hatte ich seine Ratschläge gut befolgt.

»Gib mir bitte seine Nummer«, sagte ich.

Ich schrieb sie auf meinen kleinen karierten Spiralblock, den ich immer in der Hemdtasche trug.

»Sonja will dich sprechen«, sagte Weber.

Sofort erhellte ihre Stimme meinen Gedankentunnel.

»Keine Hinweise, bei niemandem«, sagte Sonja Feyerabend, mit der ich seit einiger Zeit in Hautnähe lebte, wenn auch in getrennten Wohnungen. »Ich hab mit den Großeltern gesprochen, mit Ilona Karge, die ich für morgen einbestellt hab, mit einer anderen Mutter, deren Tochter im selben Kindergarten wie Nastassja war, mit einer Ärztin, Dr. Scott, die auch morgen ins Dezernat kommt, mit drei weiteren Müttern, deren Kinder mit Nastassja befreundet oder zumindest bekannt sind, die sagen alle, sie haben keine Erklärung.«

»Und ihre Vermutungen?«

»Moment.« Ich hörte sie trinken und das Klacken eines Löffels in der Tasse. »Der Darjeeling hält mich wach, besser als Kaffee. Wenn Erika noch einmal diese Billigplörre kauft, kriegt sie Ärger mit mir, das Leben ist zu anstrengend für dünnen Kaffee.«

So einen Spruch hatte ich von ihr noch nie gehört, sie neigte nicht zu Sprüchen. Wahrscheinlich war sie stark übermüdet, was nicht nur an der Vermissung der kleinen Nastassja gelegen haben dürfte. Die vergangene Nacht war wie so viele Nächte davor voll verlangender Hände und unerhörter Münder gewesen, und unsere Augen hatten jede halbe Stunde ein traumfernes Schaukonzert angestimmt.

»Eine der Mütter sagte, Nastassja habe sich nicht besonders mit ihrem Vater verstanden.«

Ich sagte: »Das habe ich auch gehört. Hast du Andeutungen auf Missbrauch herausgehört?«

»Nein«, sagte sie.

»Bist du sicher?«

»Nein«, sagte sie.

»Was ist für morgen geplant?«

»Thon hat eine BAO eingerichtet, die im Wesentlichen aus fünf Kollegen besteht, also aus uns, die wir Dienst haben. Verdacht auf Entführung. Die Hundeführer sind informiert, den Hubschrauber haben wir angefordert, er startet um sechs, Volker will die Leute in der Nacht nicht aufschrecken. Wenn das Mädchen nicht auftaucht, stellt er morgen Vormittag eine Sonderkommission zusammen, wir fangen mit zwanzig Kollegen an, dann schauen wir, ob wir die Arbeit schaffen. Was ist deine Vermutung?«

Ich sagte: »Ich rede mir ein, dass das Mädchen nur weggelaufen ist und sich irgendwo versteckt hält. Aber das Verhalten der Mutter und des Jungen ist merkwürdig, sie trinkt, er murrt vor sich hin.«

»Bleibst du über Nacht dort?«

»Vielleicht.«

»Wie gehts Martin?«

»Nicht gut.«

»Sprich mit ihm!«, sagte sie.

»Das will er nicht.«

»Was ist los mit ihm?«

Jemand schlug mit der flachen Hand aufs Autodach. Ich hatte ihn nicht näher kommen sehen.

»Die Geliebte?«, fragte Martin.

»Ja«, sagte ich.

»Lass uns wieder reingehen.«

»Bis später«, sagte ich zu Sonja. »Ich will noch jemanden anrufen«, sagte ich zu Martin und tippte eine neue Nummer. »Einen Freund des Vaters.«

»Dann geh ich rein.«

Er entfernte sich, geduckt, ein dürrer Schatten in der Dunkelheit.

»Tabor Süden, Kriminalpolizei«, sagte ich in den Hörer. Eine verschlafene Stimme gab ein Krächzen von sich.

»Sind Sie Hartmut Belut?«

»Was ist? Wer sind Sie?«, sagte die erledigte Stimme.

»Tabor Süden, Kriminalpolizei.«

»Polizei? Okay.« Nach einer Pause hustete der Mann, röchelte, trank offenbar einen Schluck. »Ich bin erst morgen Früh bestellt. Was ist denn?«

»Entschuldigen Sie, dass ich Sie aufgeweckt habe. Sie haben meinem Kollegen gesagt, Torsten Kolb und seine Tochter würden sich oft streiten. Worum geht es bei diesen Streitereien?«

Eine Zeit lang hörte ich nur einen rasselnden Atem.

»Die verstehen sich nicht«, sagte Belut und hustete wieder.

»Ja«, sagte ich. »Warum verstehen sie sich nicht?«

»Keine Ahnung. Weil der Torsten… Passen Sie auf, ich sag morgen Früh aus, ich versprechs, ich bin pünktlich da. Ich will jetzt nichts Falsches sagen, ich hab ein Bier getrunken…«

»Sie waren im ›Bürgerbräu‹«, sagte ich. »Warum ist der Stammtisch heute ausgefallen?«

»Der Peter ist krank, und der Torsten hat abgesagt.«

»Warum hat er abgesagt?«

»Warum? Weil er hat was vorgehabt.«

»Was hat er vorgehabt?«

»Was?« Belut trank wieder und keuchte. »Ich glaub, er wollt was mit seiner Tochter unternehmen, ja, er wollt mit der irgendwas machen.«

»Was wollte er mit ihr unternehmen?«

»Weiß ich doch nicht. Hab ich vergessen.«

»Hat er öfter mit seiner Tochter was unternommen?«, sagte ich.

»Nein. Weiß ich nicht. Nein. Und wenn, dann haben sie sich eh bloß gestritten.«

»Wann wollte er sich mit ihr treffen?«

»Ich bin doch nicht dem Torsten seine Sekretärin.«

Ich sagte: »Wir sehen uns um sieben im Dezernat, Herr Belut.«

»Halb acht wär mir lieber«, sagte er.

»Einverstanden.«

»Echt?«

»Halb acht in der Bayerstraße.«

»Was ist mit dem Mädchen? Ist die entführt worden oder was?«

»Wir wissen noch gar nichts«, sagte ich. »Deswegen habe ich Sie aufgeweckt.«

»Und? Wissen Sie jetzt mehr?«

»Ja«, sagte ich.

»Dann hat sichs ja gelohnt.«

In der Wohnung fragte ich Medy Kolb: »Wussten Sie, dass sich Ihr Mann heute mit Nastassja treffen wollte?«

»Nein!«, sagte sie. »Wann denn?«

Während unserer Abwesenheit hatte sie mindestens drei Gläser Wein getrunken. Danach schaffte sie es nicht mehr, zusammenhängende Sätze zu formulieren. Ich forderte sie auf, ins Bett zu gehen und ein paar Stunden zu schlafen, während Martin und ich uns auf die Couch und den Boden legen würden. Aber sie zögerte.

»Gehen… nicht nach Hause?«, fragte sie.

»Nein«, sagte ich.

»Nicht verheiratet?«

»Nein«, sagte ich. »Frau Kolb, möchten Sie uns noch etwas sagen?«

Sie hatte angefangen, Haare um ihren Zeigefinger zu wickeln, und sie drehte den Finger wie ein nervöses Kind.

»Entführt worden«, sagte sie.

Weil wir nichts erwiderten – weder Martin, der mit ihr am Tisch saß, noch ich, der ich in der Nähe des Fensters stand –, zog sie die Stirn in Falten und verengte die Augen, genau wie ihr Sohn.

»Entführt worden«, wiederholte sie. »Das glauben Sie…

Wo denn… sonst? Jemand hat sie gekidnappt.«

Bis zu diesem Moment hatte sie das Wort »Entführung« nicht einmal in einer Andeutung erwähnt. Was vielleicht nichts bedeutete. Vielleicht bedeutete es aber mehr, als wir befürchtet hatten.

»Von wem entführt?«, sagte Martin.

Sie zog den Finger aus ihrem Haar, ballte eine Faust und begann erneut mit dem Wickeln. Ich hatte den Eindruck, sie bemerkte es nicht einmal.

Aus Fabians Zimmer war keine Musik mehr zu hören. In der Wohnung war es still.

Wo hielt sich Torsten Kolb auf? Hatte er seine Tochter getroffen? War sie jetzt bei ihm? Wo?

»Schläft Ihr Sohn schon?«, sagte ich.

»Das hoff ich«, sagte Medy Kolb.

»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich nachsehe?«

Sie schüttelte den Kopf und zog mit einem heftigen Ruck den Finger aus den Haaren, als habe sie plötzlich ihre Spielerei bemerkt und schäme sich dafür.

Auf mein leises Klopfen folgte keine Reaktion. »Hörst du mich, Fabian?«, sagte ich, den Mund nah an der Tür.

Ich drückte die Klinke. Im Zimmer brannte Licht. Die Bettdecke war zurückgeschlagen. Überall, auf dem Boden, auf dem Sofa, auf dem Bett, lagen Hosen, T-Shirts, Socken, Bücher. Der Schreibtisch aus hellem Holz war übersät mit Schulheften, Comics, Stiften und Malblocks. Die Türen des Kleiderschranks, der aus dem gleichen Holz wie der Schreibtisch war, standen offen.

Ich ging ins Zimmer und achtete darauf, auf kein Kleidungsstück zu treten. Das Fenster war angelehnt, ich öffnete es und sah hinaus. Das Zimmer lag zum Garten hin, das Fenster befand sich etwa einen Meter über der Erde.

Schon als ich den Kopf durch die halb geöffnete Tür gestreckt hatte, wusste ich, was geschehen war.

»Fabian ist weggelaufen«, sagte ich zu Medy Kolb. Sie drückte wieder die Fäuste gegen die Wangen.

»Haben Sie mich verstanden, Frau Kolb?«, sagte ich. »Ihre beiden Kinder sind jetzt verschwunden.«

»Er kommt doch wieder«, sagte sie, kaum hörbar.

»Ist er schon öfter weggelaufen?«, sagte ich.

»Oft schon«, sagte sie. »Schon so oft. Und immer wiedergekommen.«

»Sie wussten, dass er weg ist«, sagte ich. »Sie haben ihn gehört, als mein Kollege und ich draußen waren.«

»Nein«, sagte sie. »Nein. Nein.« Es war eine armselige Lüge.

Im letzten Moment gelang es mir, meine Stimme zu bändigen, und anstatt zu schreien ging ich, ohne auf Medy Kolbs irritierten Blick zu reagieren, an ihr vorbei in Fabians Zimmer und schwieg am offenen Fenster ungezügelt in die Nacht.