Kapitel 12
Sam kam gegen elf und brachte mir die Nachricht: „Sie verhaften Jason sobald er zu sich kommt, Sookie. Wie es aussieht, wird das bald sein.“ Sam sagte mir nicht, wie es kam, daß er so genau Bescheid wußte. Ich fragte ihn auch nicht danach.
Ich starrte meinen Chef an, und die Tränen flossen mir in Strömen über beide Wangen. An jedem anderen Tag wäre mir bestimmt bewußt gewesen, wie unscheinbar ich aussah, wenn ich weinte. Dies war jedoch kein normaler Tag, weswegen mir mein Äußeres auch völlig gleichgültig war. In mir war alles verknotet. Ich hatte eine Heidenangst um Jason, war traurig wegen Amy und wütend auf die Polizei, weil sie einen so dummen Fehler machte. Vor allem aber - dieses Gefühl überlagerte alle anderen - fehlte mir Bill.
„Die Polizei geht davon aus, daß Amy Burley sich gewehrt hat“, fuhr Sam fort. „Sie nehmen an, Jason habe sich betrunken, nachdem er sie umgebracht hatte.“
„Danke für die Warnung.“ Meine Stimme klang, als käme sie von weit her. „Nun solltest du aber lieber wieder zur Arbeit gehen.“
Nachdem Sam eingesehen hatte, daß ich allein sein wollte, rief ich die Telefonauskunft an und ließ mir die Nummer des Hotels Blood in the Quarter geben. Dann rief ich dort an, wobei ich mir vage vorkam, als täte ich etwas Verbotenes, ohne daß ich hätte sagen können, was genau an meinem Tun verboten sein sollte.
„Blooood ... in the Quarter!“ meldete sich eine tiefe Stimme mit dramatischem Timbre. „Der Sarg, in dem Sie sich auch in der Fremde ganz wie zu Hause fühlen.“
Liebe Güte. „Guten Morgen“, meldete ich mich. „Meine Name ist Sookie Stackhouse, und ich rufe aus Bon Temps an. Ich habe eine dringende Nachricht für Bill Compton - würden Sie ihm bitte etwas ausrichten? Er ist Gast bei Ihnen.“
„Fangzahn oder Mensch?“
„... Fangzahn.“
„Einen Augenblick bitte.“
Eine Minute später meldete sich die tiefe Stimme erneut. „Um welche Nachricht geht es, Ma'am?“
Da mußte ich erst einmal nachdenken.
„Bitte richten Sie Mr. Compton aus, daß ... daß die Polizei meinen Bruder verhaftet hat und ich es sehr zu schätzen wüßte, wenn er nach Hause zurückkäme, sobald er seine Geschäfte erledigt hat.“
„Ich habe die Nachricht notiert.“ Im Hintergrund hörte ich einen Bleistift über Papier kratzen. „Wie war gleich noch Ihr Name?“
„Stackhouse. Sookie Stackhouse.“
„Gut, Miss, ich werde dafür sorgen, daß Mister Compton Ihre Nachricht erhält.“
„Vielen Dank.“
Erst einmal wußte ich dann nicht, was ich sonst noch tun sollte - bis mir einfiel, es könnte schlau sein, Sid Matt Lancaster zu verständigen. Der gab sich Mühe, sich über Jasons bevorstehende Verhaftung schockiert zu zeigen, versprach, sofort ins Krankenhaus zu eilen, sobald er am Nachmittag mit seinen Terminen bei Gericht fertig war, und sich dann umgehend bei mir zu meiden, um mir Bericht zu erstatten.
Ich fuhr noch einmal ins Krankenhaus, um in Erfahrung zu bringen, ob sie mir erlauben würden, bei Jason am Bett zu sitzen, bis er wieder zu sich kam. Das erlaubten sie mir nicht. Ich fragte mich, ob mein Bruder vielleicht schon längst wieder bei Bewußtsein war und es mir einfach niemand sagte. Von weitem sah ich Andy, der mir auf dem Krankenhausflur entgegenkam. Bei meinem Anblick machte er auf dem Absatz kehrt und verschwand in die entgegengesetzte Richtung.
Verdammter Feigling.
Dann fuhr ich wieder nach Hause, denn ich wußte nicht, was ich sonst hätte tun sollen. Ohnehin war für mich kein Arbeitstag; das allerdings war mir in diesem Moment auch ziemlich egal. Ich war völlig durch den Wind und mußte feststellen, daß ich mit dieser neuen Sache lange nicht so gut umging, wie ich es eigentlich hätte tun sollen. Als meine Großmutter gestorben war, war ich wesentlich gefaßter gewesen.
Großmutters Tod war allerdings auch eine abgeschlossene, endgültige Sache gewesen: Oma war gestorben, wir hatten sie zu Grabe getragen, irgendwann würde ihr Mörder gefaßt werden, und wir würden dann unser Leben fortsetzen. Wenn die Polizei jetzt dachte, Jason hätte nicht nur die anderen Frauen, sondern auch noch meine Oma umgebracht, dann war die Welt ein so schrecklicher und unsicherer Ort, daß ich am liebsten gar nichts mit ihr zu tun gehabt hätte.
Was mir allerdings an diesem langen, langen Nachmittag klar wurde, an dem ich einfach nur dasaß und vor mich hinstarrte, das war die Tatsache, daß ganz allein meine Naivität zu Jasons Verhaftung geführt hatte. Hätte ich doch nur meinen Bruder in Sams Wohnwagen verfrachtet, ihn dort gesäubert, das Video versteckt, bis ich es mir hätte ansehen und herausfinden können, was es zeigte, hätte ich doch nur - und das war die Hauptsache - nur nie den Krankenwagen gerufen! Sam hatte bereits am Morgen auf dem Parkplatz an all diese Dinge gedacht, deswegen hatte er mich auch so zweifelnd angeschaut, als ich ihn bat, den Notruf zu wählen. Nach Arlenes Ankunft war mir dann keine andere Wahl mehr geblieben.
Eigentlich hatte ich damit gerechnet, daß mein Telefon nicht stillstehen würde, sobald sich die Nachricht von Jasons Verhaftung herumgesprochen hatte.
Aber niemand rief mich an.
Die Leute wußten wohl alle nicht, was sie zu mir sagen sollten.
Gegen halb fünf tauchte Sid Matt Lancaster auf.
Ohne sich weiter mit Vorreden aufzuhalten, verkündete er: „Sie haben Jason verhaftet, und zwar wegen vorsätzlichen Mordes.“
Ich schloß einen Moment lang die Augen. Als ich sie wieder öffnete, mußte ich feststellen, daß Sid Matt mich eindringlich musterte, einen durchtriebenen Ausdruck in seinem sonst so sanften Gesicht. Sids Augen waren braun, schlammbraun, könnte man sagen, eine Farbe, die durch den schwarzen Rahmen seiner konservativen Brille noch verstärkt wurde. Mit seinen Hängebacken und der spitzen Nase ähnelte er stets ein wenig einem Bluthund.
„Was sagt er?“ fragte ich.
„Er gibt zu, letzte Nacht mit Amy zusammengewesen zu sein.“
Daraufhin mußte ich seufzen.
„Er sagt, sie hätten miteinander geschlafen, er sei auch vorher schon manchmal mit Amy ins Bett gegangen. Er sagt, er habe Amy eine ganze Weile nicht mehr zu Gesicht bekommen, denn sie sei wütend auf ihn gewesen, seiner anderen Frauengeschichten wegen, sehr wütend sogar, und habe sich bei ihrem letzten Stelldichein vor der vergangenen Nacht ziemlich eifersüchtig gebärdet. Er sagt, es habe ihn sehr gewundert, als Amy sich letzte Nacht in der Good Times Bar so offensiv an ihn heranmachte. Er sagt, Amy habe sich die ganze Nacht lang merkwürdig aufgeführt, so, als habe sie irgend etwas vor, etwas, von dem er, Jason, nichts wußte. Er erinnert sich daran, daß er mit ihr geschlafen hat, er erinnert sich daran, daß sie danach zusammen im Bett gelegen und etwas getrunken haben. Danach erinnert er sich an gar nichts mehr - nur noch daran, im Krankenhaus wieder zu sich gekommen zu sein.“
„Jemand will es aussehen lassen, als sei Jason der Mörder“, verkündete ich entschieden, wobei mir schon klar war, daß ich mich anhörte wie die Heldin in einem zweitklassigen Fernsehfilm.
„Natürlich.“ Sid Matt schaute so überzeugt und gelassen drein, als sei er selbst letzte Nacht in Amys Wohnung dabeigewesen.
Verdammt: Wer sagte mir denn, daß er nicht dort gewesen war?
„Hören Sie zu, Sid Matt“, sagte ich, beugte mich vor und brachte ihn dazu, mir in die Augen zu sehen. „Selbst wenn ich aus irgendwelchen Gründen glauben sollte, daß Jason Amy, Dawn und Maudette umgebracht hat - ich werde nie, nie glauben, daß er die Hand gegen meine Oma erhoben hat!“
„Nun gut.“ Sid Matt war bereit, sich meinen Überlegungen zu stellen, und zwar aufrecht und ohne Hintergedanken, das jedenfalls signalisierte seine Körpersprache. „Sookie, lassen Sie uns einfach mal einen Moment lang annehmen, Jason sei wirklich irgendwie an diesen Morden beteiligt gewesen. Vielleicht hat dann ja - und so sieht es bestimmt auch die Polizei - Ihr Freund Bill Ihre Großmutter umgebracht, weil die alte Dame mit Ihrer Beziehung zu ihm nicht einverstanden war.“
Ich versuchte, so auszusehen, als würde ich mir diesen Schwachsinn durch den Kopf gehen lassen. „Nur hatte meine Oma Bill gern, und es hat sie gefreut, daß wir miteinander ausgingen.“
Einen Moment lang flackerte im Gesicht des Anwalts der nackte Unglaube auf, dann zeigte er wieder sein Pokergesicht. Er selbst würde sich gewiß nicht freuen, wenn seine Tochter mit einem Vampir ausging; er konnte sich wahrhaftig kein verantwortungsbewußtes Elternteil denken, das beim Gedanken an eine solche Beziehung etwas anderes als Abscheu empfand. Zudem konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie er eine Gruppe von Geschworenen davon überzeugen könnte, daß es meine Oma gefreut haben sollte, daß ich eine Beziehung zu einem Typen unterhielt, der mehr als hundert Jahre älter war als ich und dazu noch nicht einmal lebendig.
Das waren Sid Matts Gedanken.
„Haben Sie Bill je persönlich kennengelernt?“ fragte ich ihn.
Daraufhin wirkte er peinlich berührt. „Nein“, mußte er zugeben.
„Miss Sookie, Sie sollten vielleicht wissen, daß ich für diese ganzen Vampirgeschichten nicht viel übrig habe. Ich glaube, wir brechen in dieser Frage momentan ein Stück aus einer Mauer heraus, und meiner Meinung nach sollten wir lieber dafür sorgen, daß diese Mauer stark und unversehrt bleibt: die Mauer zwischen uns und diesen sogenannten Viruserkrankten. Ich glaube, diese Mauer ist von Gott so gewollt, und ich für meinen Teil werde dafür sorgen, daß der Abschnitt der Mauer, für den ich verantwortlich bin, intakt bleibt.“
„Das Problem mit dieser Mauer ist nur, Sid Matt“, erwiderte ich, „daß zum Beispiel ich persönlich so erschaffen wurde, daß ich rittlings obendrauf sitze.“ Mein Leben lang hatte ich sorgsam den Mund gehalten, was meine 'Gabe' betraf. Nun mußte ich feststellen, daß ich sie problemlos jedem unter die Nase halten würde, wenn ich Jason damit helfen konnte.
Sid rückte die Brille auf dem schmalen Nasenrücken zurecht. „Nun!“ verkündete er tapfer. „Ich bin sicher, Gott hat Ihnen das Problem, von dem ich habe reden hören, nicht ohne guten Grund geschenkt. Sie müssen lernen, es einzusetzen, um Seinen Ruhm zu mehren.“
So hatte es noch niemand gesehen. Darüber würde ich ausführlich nachdenken, wenn ich wieder Zeit dazu hatte.
„Ich fürchte, durch meine Schuld sind wir vom Thema abgekommen, und ich weiß, wie kostbar Ihre Zeit ist“, entschuldigte ich mich und versuchte, mich wieder auf das Naheliegende zu konzentrieren. „Ich möchte, daß Jason gegen Kaution aus der Haft entlassen wird. Es weisen doch nur Indizien darauf hin, daß er für Amys Tod verantwortlich ist, richtig?“
„Er hat gestanden, mit dem Opfer unmittelbar vor der Tat zusammengewesen zu sein. Einer der ermittelnden Polizisten hat mir zudem ziemlich eindeutige Hinweise in Bezug auf das Video zukommen lassen, das bei Ihrem Bruder gefunden wurde. Es zeigt Ihren Bruder beim Sex mit dem Opfer. Der Film hat die Zeit und das Datum festgehalten, an dem er aufgenommen wurde; daraus geht hervor, daß dies Stunden, wenn nicht sogar nur Minuten vor der Tat geschah.“
Zur Hölle mit Jasons perversen Schlafzimmervorlieben. „Jason trinkt nie viel. Als ich ihn heute morgen in seinem Pick-up fand, stank er nach Alkohol. Ich glaube, man hat ihn damit übergossen. Das wird sich meiner Meinung nach auch feststellen lassen. Vielleicht hatte ihm Amy ein Betäubungsmittel in den Cocktail getan, den er in ihrem Bett getrunken hat.“
„Warum hätte sie das tun sollen?“
„Weil sie wütend auf Jason war, wie viele andere Frauen auch. Weil sie ihn so sehr begehrte; weil er sich mit fast jeder hier verabreden konnte, wenn er Lust dazu hatte. Wobei 'verabreden' ein Euphemismus ist!“
Sid Matt wirkte ein wenig erstaunt darüber, daß ich diesen Begriff überhaupt kannte.
„Er konnte mit fast jeder ins Bett gehen, die er begehrte. Für die meisten Typen wäre das wohl der Traum ihrer schlaflosen Nächte.“ Plötzlich legte sich bleierne Müdigkeit um mich wie eine Nebelwolke. „Aber nun hockt der traumhafte Jason im Gefängnis.“
„Sie denken, ein anderer Mann hat ihm das angetan? Versucht, ihm die Tat in die Schuhe zu schieben, es so hinzustellen, als sei Jason der Mörder?“
„Genau so sehe ich die Sache!“ Ich beugte mich vor und versuchte, den skeptischen Anwalt mit der ganzen Kraft meiner eigenen Überzeugung ebenfalls zu überzeugen. „Jemand, der ihn beneidete. Jemand, der Jasons Gewohnheiten kannte, der wußte, wo er sich oft aufhielt. Der diese Frauen umbringt, wenn er weiß, daß Jason gerade nicht bei der Arbeit ist. Jemand, der weiß, daß Jason mit diesen Frauen geschlafen hat, der weiß, daß er sein Liebesleben gern auf Video aufzeichnet.“
„Das alles trifft auf eine Menge Leute zu“, stellte Sid Matt ganz pragmatisch fest.
Leider mußte ich ihm Recht geben. „Ja. Selbst, wenn Jason höflich genug war, nicht jedem gleich auf die Nase zu binden, mit wem er alles ins Bett stieg - wen das interessierte, der brauchte nur abzuwarten, mit wem mein Bruder zur Sperrstunde die Kneipe verließ. Der Betreffende mußte nichts weiter tun, als ein wenig die Augen offenzuhalten, vielleicht hatte er die Videos bei einem Besuch in Jasons Wohnung gesehen ...“ Mein Bruder mochte ja unmoralisch sein, aber ich glaubte trotzdem nicht, daß er diese Videos irgendwem vorgeführt hatte. Allerdings mochte es angehen, daß er einem anderen Mann erzählt hatte, wie gern er sie drehte ... „Dann hat unser Mann Amy irgendeinen Tauschhandel vorgeschlagen, weil er wußte, wie sauer sie auf Jason war. Vielleicht hat er ihr erzählt, er wolle Jason einen Streich spielen, einen handfesten Denkzettel verpassen, irgend etwas in der Art.“ „Ihr Bruder ist bis jetzt noch nie verhaftet worden?“ fragte Sid Matt nachdenklich.
„Nein.“ Obwohl er, wollte man ihm selbst Glauben schenken, ein paar Mal haarscharf daran vorbeigeschlittert war.
„Keine Vorstrafen, ein geschätztes Mitglied der Gemeinde mit fester Arbeitsstelle. Es besteht durchaus die Chance, daß ich ihn auf Kaution freibekomme. Aber wenn er sich dann absetzt, verlieren Sie alles, was Sie besitzen.“
Mir war es wirklich und wahrhaftig nicht ein einziges Mal in den Sinn gekommen, daß Jason die Kaution sausen lassen und sich absetzen könnte. Ich wußte auch nicht, wie man überhaupt eine Kaution stellt und was ich in dieser Frage nun unternehmen mußte. Ich wußte lediglich, daß ich wollte, daß Jason das Gefängnis verlassen konnte. Als würde er ... als würde er schuldiger aussehen, wenn er die lange Zeit bis zur Prozeßeröffnung hinter Gittern verbringen mußte.
„Versuchen Sie doch bitte, das herauszufinden, und sagen Sie mir dann, was ich tun muß“, bat ich Sid Matt. „Darf ich ihn in der Zwischenzeit denn besuchen?“
„Ihm wäre es lieber, wenn Sie das nicht tun würden“, antwortete Sid Matt.
Das tat weh. „Warum?“ fragte ich und bemühte mich wirklich sehr, nicht schon wieder tränenüberströmt zusammenzubrechen.
„Er schämt sich“, sagte der Anwalt.
Welch faszinierende Vorstellung: ein Jason, der sich schämte.
„Also“, sagte ich ganz langsam, während ich versuchte, mir darüber klar zu werden, wie ich weiter vorgehen sollte, da mich das unbefriedigende Treffen mit Sid Matt ungeheuer ermüdete. „Sie rufen mich an, sobald ich irgend etwas Konkretes tun kann?“
Sid Matt nickte, wobei seine Hängebacken leicht vibrierten. Ich verunsicherte den Mann, er war aus ganzem Herzen froh, mein Haus verlassen zu können.
Der Anwalt fuhr in seinem Pick-up von dannen, wobei er sich schon im Fahren einen Cowboyhut auf den Kopf stülpte.
Ich wartete, bis es vollständig dunkel geworden war; dann ging ich hinaus, um nach Bubba zu sehen. Er saß mit ausgestreckten Beinen unter einer kalifornischen Eiche, neben sich Blutflaschen: die vollen rechts, die leeren links.
Ich hatte eine Taschenlampe, und Bubba dort in ihrem Schein sitzen zu sehen war ein ziemlicher Schock, auch wenn ich ja gewußt hatte, daß er dort war. Nachdenklich schüttelte ich den Kopf; irgend etwas war in der Tat schiefgelaufen, als man Bubba 'hinübergeholt' hatte, daran konnte nicht der geringste Zweifel bestehen. Ich war heilfroh, die Gedanken des Vampirs nicht lesen zu können, der verrückt glitzernde Ausdruck seiner Augen reichte mir völlig.
„Hey Süße“, sagte er mit einem Südstaatenakzent, so dickflüssig wie Melasse. „Wie geht's denn? Möchtest du mir ein wenig Gesellschaft leisten?“
„Ich wollte nur sichergehen, daß du es auch bequem hast“, sagte ich.
„Ich könnte mir schon ein paar Orte vorstellen, an denen ich es bequemer hätte, aber da du Bills Mädel bist, will ich von denen lieber gar nicht reden.“
„Wunderbar“, erklärte ich bestimmt.
„Irgendwelche Katzen in der Gegend? Dieses Flaschenzeug geht mir allmählich gepflegt auf die Nerven.“
„Keine Katzen. Aber ich bin sicher, daß Bill bald zurückkommt. Dann kannst du wieder heimgehen.“ Ich machte mich auf den Rückweg ins Haus, denn in Bubbas Gegenwart fühlte ich mich nicht wohl genug, um eine Unterhaltung - wenn man hier überhaupt von Unterhaltung reden konnte - endlos fortzusetzen. Ich fragte mich, welchen Gedanken der Vampir bei seinen langen Nachtwachen wohl nachhängen mochte. Ich fragte mich, ob er sich an seine Vergangenheit erinnerte.
„Was ist mit dem Hund?“ rief er mir nach.
„Der ist nach Hause gegangen“, gab ich über die Schulter zurück.
„Zu schade“, sagte Bubba mehr zu sich selbst und so leise, daß ich ihn fast nicht gehört hätte.
Ich machte mich bettfertig. Ich sah fern. Ich aß ein bißchen Eis und kaute obendrein sogar noch auf einem Müsliriegel herum. Nichts von dem, womit ich mich sonst tröstete, schien mich an diesem Abend beruhigen zu wollen. Mein Bruder saß im Gefängnis, mein Liebster weilte in New Orleans, meine Oma war tot, und irgendwer hatte meine Katze ermordet. Ich fühlte mich einsam und allein und tat mir selbst aus ganzer Seele leid.
Manchmal geht es nicht anders, dann muß man sich einfach in Selbstmitleid suhlen.
Bill hatte meinen Anruf nicht erwidert.
Das war Wasser auf die Mühlen meines Jammers. Wahrscheinlich hatte er in New Orleans eine willige Hure gefunden oder irgendeinen Fangbanger wie die, die jede Nacht vor der Tür des Blood in the Quarter herumlungerten, in der Hoffnung auf eine Verabredung mit einem Vampir.
Wäre ich eine Frau, die gern trinkt, dann hätte ich mich betrunken. Wäre ich eine Frau, die leichthin mit jedem ins Bett geht, hätte ich den wunderhübschen JB du Rone angerufen und mit ihm geschlafen. Aber ich bin weder so dramatisch noch so kraß, also aß ich still vor mich hin ein Schälchen Eis nach dem anderen und schaute mir im Fernsehen uralte Filme an. Irgendein irrer Zufall hatte dazu geführt, daß sie an diesem Abend ausgerechnet den Schinken Blue Hawaii zeigten.
So gegen Mitternacht ging ich dann endlich zu Bett.
Ich erwachte von einem Schrei direkt vor meinem Schlafzimmerfenster und setzte mich senkrecht im Bett auf. Ich hörte dumpfe Schläge, ein Wummern und dann endlich eine Stimme, bei der ich sicher war, daß es sich um die Bubbas handelte, die schrie: „Komm zurück, du Wichser!“
Nachdem ich ein paar Minuten lang nichts mehr gehört hatte, zog ich mir den Bademantel über und ging zur Vordertür. Der vom Außenlicht beleuchtete Garten schien leer. Dann konnte ich ganz am linken Rand des Gartens eine Bewegung ausmachen, und als ich den Kopf durch die Tür steckte, sah ich, daß es Bubba war, der zu seinem Versteck zurücktrottete.
„Was war?“ rief ich ihm leise zu.
Bubba wechselte die Richtung und kam auf die Veranda geschlurft.
„Da ist doch wirklich so ein Arschloch - Verzeihung, die Dame! - ums Haus herumgeschlichen“, erklärte er. Seine braunen Augen glühten, und er sah seinem früheren Ich viel ähnlicher als sonst. „Ich konnte ihn schon hören, ehe er wirklich hier war, und so dachte ich, den erwische ich ganz bestimmt. Aber er nahm eine Abkürzung durch den Wald, um zur Straße zu gelangen. Dort hatte er dann einen Pick-up stehen.“
„Hast du ihn sehen können?“ wollte ich wissen.
„Nicht so gut, daß ich ihn beschreiben könnte.“ Bubba blickte beschämt drein. „Er fuhr, wie gesagt, einen Pick-up. Aber ich könnte Ihnen nicht einmal sagen, welche Farbe der hat. Er war dunkel, mehr weiß ich nicht.“
„Trotzdem hast du mich gerettet“, sagte ich und hoffte sehr, daß man an meiner Stimme hören konnte, wie sehr ich dem Vampir dankbar war. Mich überkamen warme, liebevolle Gefühle für Bill, weil er dafür gesorgt hatte, daß ich beschützt wurde. Selbst Bubba sah besser aus, als er in meinen Augen je ausgesehen hatte. „Herzlichen Dank, Bubba.“
„Keine Ursache, nicht weiter der Rede wert!“ erwiderte er würdevoll. Einen Augenblick lang richtete er sich kerzengerade auf, warf den Kopf zurück, und auf seinem Gesicht lag das schläfrige Lächeln ... er war es wirklich! Schon hatte ich den Mund geöffnet, um ihn bei seinem Namen zu nennen, da fiel mir Bills Warnung ein, und ich schloß den Mund wieder.
* * *
Am nächsten Tag kam Jason gegen Kaution frei.
Es kostete ein Vermögen. Ich unterschrieb alles, was Sid Matt mir vorlegte, obwohl die Bürgschaft für die Kaution zum großen Teil aus Jasons Haus, seinem Pick-up und dem Boot, mit dem er fischen fuhr, bestand. Hätte Jason Vorstrafen gehabt - und sei es nur wegen eines Verstoßes gegen die Straßenverkehrsordnung dann hätten sie ihm wohl gar nicht gestattet, eine Kaution zu stellen.
In der Hitze des Spätvormittags stand ich auf den Stufen zum Gerichtsgebäude. Ich trug mein nüchternes, dunkelblaues Kostüm. Der Schweiß rann mir in Strömen über das Gesicht und sammelte sich zwischen meinen Lippen in dieser ekelhaft klebrigen Art, die immer dazu führt, daß man am liebsten sofort unter die Dusche springen möchte. Jason blieb vor mir stehen. Ich war nicht sicher, ob er mit mir reden würde. Sein Gesicht wirkte um Jahre gealtert. Nun waren die Sorgen gekommen und hatten sich seiner bemächtigt, richtige Sorgen, die nicht so einfach wieder verschwinden oder mit der Zeit weniger werden würden, wie Kummer es tat.
„Ich kann mit dir nicht darüber reden“, sagte er so leise, daß ich ihn fast nicht verstanden hätte. „Du weißt, daß ich nicht der Täter bin. Ein oder zwei Schlägereien auf Kneipenparkplätzen wegen einer Frau - gewalttätiger bin ich nie in meinem Leben geworden.“
Ich berührte seine Schulter, ließ meine Hand aber sofort wieder fallen, als er nicht auf meine Berührung reagierte. „Ich habe keinen Augenblick geglaubt, du könntest es getan habe. Ich werde das auch nie glauben. Es tut mir unendlich leid, daß ich gestern so blöd war und den Notarzt gerufen habe. Wenn mir klar gewesen wäre, daß das Blut nicht von dir stammte, hätte ich dich einfach in Sams Wohnwagen verfrachtet und sauber gemacht. Das Video hätte ich verbrannt. Ich hatte aber solche Angst, das Blut könnte deins sein.“ Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. Es war nun aber wirklich nicht der richtige Augenblick zum Heulen, und so riß ich mich zusammen, spannte all meine Muskeln an und spürte, wie mein Gesicht zur Maske erstarrte. In Jasons Kopf herrschte das reinste Chaos, er war sozusagen ein mentaler Schweinestall. Die ungesunde Mischung, die dort brodelte, bestand aus Schamgefühlen darüber, daß seine sexuellen Vorlieben nun Gegenstand öffentlicher Erörterung werden würden, Schuldgefühlen, weil Amys Tod ihn nicht stärker betrübte, Entsetzen angesichts der Tatsache, daß überhaupt irgendein Mensch auf der Welt denken konnte, er hätte seine Großmutter umgebracht und hätte es dabei eigentlich auf seine Schwester abgesehen gehabt.
„Wir schaffen das schon“, sagte ich hilflos.
„Wir schaffen das schon“, wiederholte Jason, wobei er versuchte, sich einen Anstrich von Stärke zu geben und so zu tun, als würde er seine eigenen Worte auch glauben. Jasons Selbstvertrauen, dieses goldene Selbstvertrauen, das ihn so unwiderstehlich machte - es würde wohl einige, wenn nicht gar sehr viel Zeit vergehen, ehe man es wieder an seiner Haltung, in seinem Gesicht, im Klang seiner Stimme wiederfinden konnte.
Vielleicht aber würde es auch nie wiederkehren.
Wir trennten uns gleich dort vor dem Gerichtsgebäude. Außer dem, was wir bereits gesagt hatten, wußten wir einander nicht mehr zu sagen.
Dann hockte ich mich ins Merlottes, starrte alle Männer an, die hereinkamen und las ihre Gedanken, den ganzen Tag lang. Keiner von ihnen brüstete sich in Gedanken damit, vier Frauen umgebracht und unbeschadet damit durchgekommen zu sein. Zur Mittagessenszeit kamen Rene und Hoyt durch die Tür und gingen rückwärts wieder hinaus, als sie mich am Tresen sitzen sahen. Ich nehme an, es war ihnen zu peinlich.
Schließlich zwang Sam mich zu gehen. Er sagte, ich sei zu unheimlich, ich würde alle Gäste vergraulen, die mir vielleicht nützliche Informationen geben könnten.
Ich schlich durch die Hintertür hinaus in die gleißende Sonne, die allerdings gerade untergehen wollte. Ich dachte an Bubba, an Bill, an all die anderen Kreaturen, die nun aus ihrem tiefen Schlaf erwachten, um auf Erden zu wandeln.
Ich hielt am Grabbit Kwik, um mir rasch einen Liter Milch für meine Frühstücksflocken zu kaufen. Der neue Kassierer war ein pickliger Jüngling mit riesigem Adamsapfel. Er starrte mich neugierig an und wollte offenbar haarklein alles, was es an mir, der Schwester eines Mörders, zu sehen gab, in seinem Gedächtnis speichern. Ich spürte genau, daß er es kaum erwarten konnte, mich wieder gehen zu sehen, damit er zum Telefon rennen und alles brühwarm seiner Freundin berichten konnte. Er hätte zu gern die Bißspuren an meinem Hals gesehen. Er fragte sich, ob es wohl irgendeine Möglichkeit gab, herauszufinden, wie Vampire 'es' trieben.
Das war der Müll, den ich mir tagaus, tagein anhören mußte. Ganz gleich, wie sehr ich mich auf etwas anderes konzentrierte, ganz gleich, wie dicht ich mein Visier geschlossen hielt, wie breit mein Lächeln war, der Müll drang immer wieder bis in meinen Kopf.
Ich kam zu Hause an, als es gerade dunkel zu werden begann. Nachdem ich die Milch in den Kühlschrank gestellt und mein Kostüm ausgezogen hatte, zog ich Shorts sowie ein schwarzes Garth Brooks-T-Shirt an, um dann nachzudenken, wie ich den Abend verbringen sollte. Ich war viel zu angespannt, um ein Buch zu lesen, und ohnehin hätte ich eigentlich in die Leihbücherei fahren und mir neuen Lesestoff besorgen müssen, was unter diesen Umständen jedoch eine fürchterliche Tortur geworden wäre. Im Fernsehen lief an diesem Abend kein einziger guter Film. Kurz dachte ich daran, mir Braveheart noch einmal anzusehen, denn der Anblick Mel Gibsons im Kilt hebt meine Stimmung eigentlich unweigerlich. Aber dann fiel mir ein, wie blutrünstig der Film war, viel zu blutrünstig für die Verfassung, in der ich mich befand. Ich dachte, die Szene, in der dem Mädchen die Kehle durchgeschnitten wird, würde ich bestimmt nicht noch einmal ertragen können, auch wenn ich ja genau wußte, wann ich mir die Augen zuzuhalten hatte.
Ich war gerade ins Badezimmer gegangen, wo ich mir die Schminke aus dem verschwitzten Gesicht waschen wollte, als ich glaubte, draußen etwas jaulen zu hören.
Ich drehte die Wasserhähne ab. Dann stand ich stocksteif und völlig still da, wobei mir war, als spüre ich die Fühler zucken, die ich in alle Richtungen ausgefahren hatte und mit denen ich angestrengt lauschte. Was mochte ... das Wasser, mit dem ich mein Gesicht gewaschen hatte, lief mir über das Gesicht und rann in mein T-Shirt.
Kein Laut. Nicht ein einziger.
Ich schlich zur Vordertür, weil sich diese näher an Bubbas Wachposten im Wald befand.
Ich öffnete die Tür einen Spalt breit. Ich schrie: „Bubba?“
Keine Antwort.
Ich versuchte es noch einmal.
Mir schien, als hielten selbst die Heuschrecken und die Kröten die Luft an. Die Nacht war so still, sie mochte alles und jeden verbergen. Irgend etwas ging dort draußen in der Dunkelheit auf die Jagd.
Angestrengt versuchte ich nachzudenken, aber mein Herz schlug so laut, daß es mich dabei behinderte.
Als erstes sollte ich die Polizei anrufen.
Ich mußte jedoch feststellen, daß ich dazu keine Gelegenheit mehr hatte. Mein Telefon war tot.
Das ließ mir zwei Möglichkeiten: Ich konnte hier im Haus warten, bis der Mörder zu mir kam, oder ich konnte hinaus in den Wald gehen.
Eine harte Entscheidung! Ich ging von einem Zimmer ins nächste, löschte alle Lampen und biß mir die Unterlippe blutig, während ich versuchte, mich mit mir selbst auf ein bestimmtes Vorgehen zu einigen. Das Haus bot mir zumindest etwas Schutz: Es hatte Türschlösser und Wände, Ecken und Winkel. Aber ich wußte genau, daß jeder, der fest dazu entschlossen war, hier einbrechen konnte, und dann würde ich in der Falle sitzen.
Dann also der Wald. Wie sollte ich ungesehen aus dem Haus gelangen? Zunächst löschte ich alle Außenlichter. Die Hintertür lag dichter am Wald als die Vordertür, da fiel die Wahl leicht. Im Wald kannte ich mich aus. Ich hätte eigentlich durchaus in der Lage sein müssen, mich dort bis zum Tagesanbruch zu verstecken. Vielleicht gelang es mir auch, es bis hinüber zu Bills Haus zu schaffen. Sein Telefon funktionierte doch bestimmt noch, und ich besaß den Schlüssel zu seinem Haus.
Ich konnte auch versuchen, bis zu meinem Auto zu kommen und es zu starten. Aber das würde bedeuten, ein paar Sekunden lang an einem Ort zu verharren, noch dazu sichtbar, sozusagen auf dem Präsentierteller.
Nein, der Wald schien für mich wirklich die beste Wahl zu sein.
Also steckte ich den Schlüssel von Bills Haus in eine meiner Hosentaschen, dazu das Taschenmesser meines Opas, das meine Großmutter in der Schublade des Wohnzimmertischs aufbewahrt hatte, weil sie damit Pakete zu öffnen pflegte. In die andere Hosentasche steckte ich eine winzige Taschenlampe. Meine Oma besaß ein uraltes Gewehr, das sich stets im Flurschrank befand und das meinem Vater gehört hatte, als er noch ein Junge gewesen war. Meine Großmutter hatte damit im wesentlichen auf Schlangen geschossen. Nun, auch ich hatte da draußen eine Schlange, die es zu erschießen galt. Das verdammte Gewehr war mir immer schon zuwider gewesen, ebenso die bloße Vorstellung, es wirklich abfeuern zu müssen, aber nun schien es an der Zeit, sich zu bewaffnen.
Das Gewehr war nicht im Schrank.
Ich mochte meinen Sinnen kaum trauen. Ich tastete mich durch den ganzen Flurschrank.
Er war in meinem Haus gewesen!
Aber bei mir war nicht eingebrochen worden.
Jemand, den ich hereingebeten hatte. Wer war hiergewesen? Ich versuchte, sie alle aufzuzählen, während ich zurück zur Hintertür schlich, nicht ohne mir vorher die Turnschuhe neu zugebunden zu haben, um nur ja nicht auf lose Schnürsenkel zu treten. Hastig, mehr oder weniger mit einer Hand, raffte ich mein Haar, damit es mir nicht ins Gesicht hing, zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammen und steckte ihn durch ein einfaches Gummiband. Aber während ich all das tat, dachte ich die ganze Zeit über das gestohlene Gewehr nach.
Wer war alles in meinem Haus gewesen? Bill, Jason, Arlene, Rene, die Kinder, Andy Bellefleur, Sam, Sid Matt; ich war mir ziemlich sicher, daß ich jeden von ihnen einmal eine Minute oder zwei alleingelassen hatte, vielleicht hatte das gereicht, das Gewehr irgendwo draußen zu deponieren, um es sich später holen zu können.
Dann erinnerte ich mich an den Tag, an dem wir meine Großmutter beerdigt hatten. In den Tagen nach Großmutters Tod und auch am Beerdigungstag selbst war ich ständig im Haus aus und ein gegangen, und ich konnte mich einfach nicht mehr daran erinnern, ob ich das Gewehr nach der Trauerfeier und dem anschließenden Kaffee trinken bei mir zu Hause noch einmal gesehen hatte. Allerdings wäre es nicht einfach gewesen, sich mit einem geraubten Gewehr aus einem überfüllten Haus zu schleichen, in dem es den ganzen Tag über geschäftig zuging. Außerdem, dachte ich weiter, hätte ich sein Verschwinden mittlerweile bestimmt bemerkt. Ich war mir sogar ziemlich sicher, daß mir das Fehlen der Waffe auf keinen Fall so lange entgangen wäre.
Aber all diese Überlegungen mußte ich erst einmal beiseite schieben und mich ganz auf mein eigentliches Anliegen konzentrieren: schlauer zu sein als das, was da draußen im Dunkeln auf mich lauerte. Was immer das auch sein mochte.
Ich öffnete die Hintertür, ging in die Hocke und watschelte im Entengang ganz vorsichtig und leise nach draußen, bemüht, mich so klein zu machen wie möglich. Sanft zog ich die Tür hinter mir zu, ohne sie ganz zu schließen. Ich hielt mich von der Treppe fern. Statt dessen streckte ich ein Bein aus und tastete mich mit dem Fuß bis zum Boden vor, während ich gleichzeitig auf der Veranda hocken blieb. Dann verlagerte ich mein Gewicht auf das vordere Bein, zog das andere vorsichtig nach und duckte mich rasch wieder. Fast war es so, als würde ich wieder wie früher als Kind mit Jason im Wald Verstecken spielen.
Ich betete inbrünstig, es möge bloß nicht Jason sein, mit dem ich da im Wald Verstecken spielte.
Zuerst diente mir die alte Badewanne, die meine Großmutter noch mit Blumen bepflanzt hatte, als Deckung, dann kroch ich hinüber zu Omas Auto, denn das, so hatte ich mir gedacht, sollte als zweites mein Ziel sein. Ich sah mir den Himmel an: Wir hatten zunehmenden Mond; es war eine sternklare Nacht. Die Luft war schwer und warm; es war immer noch heiß. Schon nach wenigen Minuten waren meine Arme von einer klebrigen Schweißschicht überzogen.
Der nächste Schritt: vom Auto hinüber zur Mimose.
Diesmal schaffte ich es nicht, völlig lautlos voranzukommen. Ich stolperte über einen Baumstumpf und prallte hart auf dem Boden auf, wobei ich mich auf die Innenseite der Wange beißen mußte, um einen Aufschrei zu unterdrücken. Ein heftiger Schmerz durchzuckte mein rechtes Bein und die Hüfte; ich wußte, die rauhen Kanten des Baumstumpfs hatten meinen Oberschenkel schwer mitgenommen.
Warum nur war ich nie herausgekommen und hatte diesen Stumpf glatt abgesägt? Oma hatte Jason gebeten, das zu tun, aber der hatte einfach nie die Zeit dafür gefunden.
Da hörte - nein: spürte ich eine Bewegung. Ich schlug alle Vorsicht in den Wind, sprang auf und rannte, so schnell ich konnte, auf die Bäume zu. Jemand brach aus dem Unterholz rechts von mir hervor und stürzte auf mich zu. Aber ich wußte genau, wo ich hinlief und konnte mich schon bald mit einem riesigen Satz, der mich selbst sehr erstaunte, an den untersten Ast des Lieblingskletterbaums unserer Kindheit klammern und mich daran hochziehen. Sollte ich es schaffen, den nächsten Morgen noch zu erleben, dann würde mich bestimmt heftiger Muskelkater plagen, aber immerhin war es die Sache wert. Ich auf dem Ast, versuchte, möglichst geräuschlos zu atmen, und hätte doch am liebsten gekeucht und gestöhnt wie ein Hund, der schlecht träumt.
Wie sehr ich mir wünschte, dies möge ein Traum sein. Aber es war keiner; kein Weg führte an der Erkenntnis vorbei, daß ich, Sookie Stackhouse, Kellnerin und Gedankenleserin, hier mitten in stockfinsterer Nacht auf einem Ast im Wald hockte, mit nichts weiter bewaffnet als mit einem Taschenmesser.
Unter mir bewegte sich etwas: Ein Mann schlich durch den Wald. Von seinem Handgelenk baumelte ein Stück Schnur. Jesus hilf! Der Mond war fast voll, aber der Kopf des Mannes blieb hartnäckig im Schatten meines Baumes, und so konnte ich nicht erkennen, wer es war. Er ging unter mir hindurch, ohne mich zu sehen.
Ich wagte erst wieder zu atmen, als er außer Sicht war. So leise ich konnte, kletterte ich vom Baum und machte mich ganz vorsichtig auf den Weg hinüber zur Straße. Wenn ich es bis zur Straße schaffte, würde ich vielleicht ein Auto anhalten können. Dann mußte ich daran denken, wie selten jemand auf dieser Straße entlangfuhr - vielleicht war es besser, den Weg über den Friedhof hinüber zu Bills Haus zu suchen. Ich dachte an den Friedhof bei Nacht, an den Mörder, der überall nach mir Ausschau hielt. Ich zitterte.
Wie unsinnig, sich mehr und immer noch mehr zu ängstigen, wo ich mich doch auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren hatte, schalt ich mich selbst energisch. Bei jedem Schritt achtete ich genau darauf, wohin ich meine Füße setzte; ich bewegte mich langsam, vorsichtig.
Hier im Unterholz zu stürzen würde ziemlichen Lärm machen - dann wäre er in Sekundenschnelle bei mir.
Etwa zehn Meter südöstlich von dem Baum, auf dem ich gehockt hatte, fand ich die tote Katze. Die Kehle des Tiers war eine einzige klaffende Wunde. Im Mondlicht wirkten alle Farben verwaschen, und so konnte ich noch nicht einmal mehr erkennen, welche Farbe ihr Fell gehabt hatte, aber bei den dunklen Flecken rings um die kleine Leiche handelte es sich ganz eindeutig um Blut. Vorsichtig schlich ich noch ein paar Meter weiter und stieß dann auf Bubba. Er war entweder ohnmächtig oder tot - bei einem Vampir läßt sich der Unterschied so einfach nicht feststellen. Zumindest ragte kein Pfahl aus seinem Herzen, und man hatte ihm auch nicht den Kopf abgeschlagen. Also konnte ich durchaus hoffen, daß er lediglich nicht bei Bewußtsein war.
Jemand hatte Bubba eine Katze gebracht, der man vorher ein Betäubungsmittel verabreicht hatte. Jemand, dem bekannt gewesen war, daß Bubba mich bewachte; der von Bubbas Vorliebe für Katzenblut wußte.
Ich hörte ein Knacken hinter mir. Jemand war auf einen Ast getreten. Ich glitt in den Schatten des nächsten Baumes. Ich war wütend, sehr wütend, hatte Angst und fragte mich, ob ich wohl in dieser Nacht würde sterben müssen.
Zwar trug ich mein Gewehr nicht bei mir, dafür verfügte ich jedoch über ein eingebautes Werkzeug. Ich schloß die Augen und schickte meinen Verstand auf die Suche.
Ein Wust aus Dunkelheit, rot, schwarz. Haß.
Unwillkürlich zuckte ich zurück, aber das konnte ich mir nicht erlauben! Ich mußte zuhören, es war mein einziger Schutz. Ich ließ mein Visier vollständig fahren.
Beim Anblick der Bilder, die in meinen Kopf strömten, wurde mir ganz schlecht, sie vermittelten mir nichts als nacktes Entsetzen. Dawn, die jemanden bat, sie zu schlagen, die erkennen mußte, daß dieser jemand ihre Strumpfhose in der Hand hielt, sie zwischen seinen beiden Händen in die Länge zog, sich anschickte, ihr die Strumpfhose um den Hals zu schlingen, fest zuzuziehen. Eine kurze Aufnahme Maudettes, nackt, die jemanden anflehte. Eine Frau, die ich noch nie gesehen hatte, die mir den Rücken zuwandte, einen nackten Rücken voller Striemen, voller blauer Flecke. Dann meine Großmutter – meine Großmutter! - in unserer vertrauten Küche, wie sie voller Zorn um ihr Leben kämpfte.
Ich war gelähmt vom Schock, dem Entsetzen, das mich bei all dem überkam. Wessen Gedanken las ich da? Ich sah Arlenes Kinder auf dem Boden in meinem Wohnzimmer spielen; ich sah mich selbst, aber nicht so, wie ich mich sah, wenn ich morgens in den Spiegel schaute. Jetzt trug ich tiefe Löcher am Hals, ich grinste wissend und lüstern, streichelte einladend über die Innenseite meiner Oberschenkel.
Ich war im Kopf Rene Leniers. Diese Bilder sah Rene, wenn er mich sah.
Rene war wahnsinnig.
Nun wußte ich auch, warum ich seine Gedanken nie deutlich hatte entziffern können; er hielt sie an einem geheimen Ort versteckt, getrennt von seinem bewußten Ich.
In diesem Moment sah er hinter einem der Bäume einen Umriß und fragte sich, ob dies wohl die Silhouette einer Frau sein konnte.
Er konnte mich sehen.
Ich machte mich aus dem Staub und rannte westwärts auf den Friedhof zu. Ich konnte den Dingen, die in seinem Kopf vor sich gingen, nicht mehr zuhören, denn mein eigener Kopf mußte sich nun ausschließlich aufs Laufen konzentrieren, darauf, den Hindernissen auszuweichen, die sich mir in Gestalt von Bäumen, Büschen, abgebrochenen Ästen und einem kleinen Rinnsal, in dem sich Regenwasser gesammelt hatte, in den Weg stellten. Meine Beine stampften über den Boden, meine Arme schwangen vor und zurück, mein Atem klang wie das Pfeifen eines Dudelsacks.
Ich brach aus dem Wald hervor und befand mich auf dem Friedhof. Der älteste Teil der Anlage lag ein wenig weiter nördlich, dort, wo sich auch Bills Haus befand - da gab es die besten Verstecke. Ich setzte über die Grabsteine, die modernen, die sich eng an den Boden schmiegten und hinter denen man sich nicht verstecken konnte. Ich sprang über das Grab meiner Oma, wo die Erde noch nackt war und es noch keinen Grabstein gab. Omas Mörder war mir dicht auf den Fersen, und ich Närrin drehte mich um, um zu sehen, wo er sein mochte, und da sah ich im hellen Mondlicht ganz klar Renes struppigen Kopf, und gleichzeitig sah ich auch, wie nah er schon war.
Der Friedhof bildete insgesamt eine kleine Senke. Ich rannte den sanften Abhang an der einen Seite der Senke hinab und fing an, auf der anderen Seite wieder hinaufzulaufen. Als ich der Meinung war, zwischen mir und Rene befänden sich inzwischen genügend große Grabsteine und Statuen, hechtete ich mit einem letzten Satz hinter eine mächtige Granitsäule, auf deren Spitze ein Kreuz thronte. Dort blieb ich stehen und preßte meinen Körper gegen den glatten, kühlen, harten Stein. Ich legte mir selbst ganz fest die Hand auf den Mund, denn meine Lungen rangen so heftig nach Luft, daß es fast wie ein Schluchzen klang, und dieses Geräusch mußte ich unterdrücken. Ich zwang mich zu innerer Ruhe, um Renes Gedanken lesen zu können, aber sie waren in einem so kruden Durcheinander, daß es mir unmöglich war, sie zu entziffern. Das einzige, was ich deutlich hören konnte, war die Wut, die er empfand. Dann aber stand mir jäh eine plötzliche Erkenntnis ganz klar vor Augen.
„Deine Schwester!“ rief ich aus. „Ist Cindy noch am Leben, Rene?“
„Du Miststück!“ kreischte mein Gegner, und in der nächsten Sekunde erfuhr ich, daß Renes eigene Schwester die erste Frau gewesen war, die hatte sterben müssen. Renes Schwester, die, die Vampire gemocht hatte, die, die er angeblich immer noch von Zeit zu Zeit besuchte - zumindest war Arlene dieser Meinung. Rene hatte seine Schwester Cindy, die Kellnerin, umgebracht, und als er sie umbrachte, hatte sie die rosa-weiß gestreifte Uniform getragen, in der sie in der Krankenhauscafeteria gearbeitet hatte. Rene hatte Cindy mit ihren Schürzenbändern erdrosselt. Dann hatte er sich an ihrer Leiche vergangen. So tief war sie in seinen Augen gesunken, daß ihr auch Sex mit dem eigenen Bruder nichts mehr ausmachen würde - so dachte Rene darüber, wenn man das denken nennen wollte, was in seinem Kopf vorging. Jeder, der duldete, daß ein Vampir es mit ihm trieb, verdiente seiner Meinung nach den Tod. Cindys Leiche hatte Rene versteckt, weil er sich ihrer geschämt hatte. Die anderen waren alle nicht sein eigen Fleisch und Blut gewesen, die hatte er ruhig am Tatort liegen lassen können.
Ich war in Renes krankes Innenleben gezogen worden wie ein Zweig, der in einen Wasserstrudel gerät, und was ich in seinem Kopf erlebte, schockierte mich so, daß ich dort hinter meiner Säule leicht schwankte. Als ich dann wieder in meinen eigenen Kopf zurückkehrte, war Rene bereits über mir. Er versetzte mir mit aller Kraft einen Faustschlag ins Gesicht, wobei er wohl erwartete, mich niederzustrecken. Der Schlag brach mir das Nasenbein und tat so weh, daß ich fast in Ohnmacht gefallen wäre, aber ich wurde nicht bewußtlos und brach auch nicht zusammen. Ich schlug zurück. Mein Schlag war nicht sehr gut plaziert, denn es mangelte mir an Erfahrung. So traf ich Rene zwar zwischen den Rippen, und er stöhnte laut auf, landete aber bereits in der nächsten Sekunde den Gegenschlag.
Seine Faust brach mir das Schlüsselbein. Aber ich ging nicht zu Boden.
Rene hatte nicht geahnt, wie stark ich war. Sein Gesicht, das ich im Mondlicht ganz deutlich erkennen konnte, wirkte völlig überrascht und schockiert, als ich nun zurückschlug, und ich dankte mit Inbrunst dem Vampirblut, das ich zu mir genommen hatte. Ganz deutlich stand mir meine tapfere Oma vor Augen, als ich mich auf Rene stürzte, ihn bei den Ohren packte und versuchte, seinen Kopf gegen die Granitsäule zu schmettern. Renes Hände flogen hoch und packten meine Unterarme. Er versuchte, mich wegzudrücken, um meinen Griff zu lockern, was ihm letztlich auch gelang. Aber nun war er gewarnt. Ich las in seinen Augen, wie sehr ihn mein Verhalten überraschte und daß er sich von jetzt an besser in Acht nehmen würde. Ich versuchte, ihm mein Knie in den Schritt zu rammen, aber er sah den Tritt kommen und drehte sich ein ganz klein wenig zur Seite, so daß mein Bein ins Leere schoß. Ich hatte das Gleichgewicht noch nicht wiedererlangt, als er mir auch schon einen kräftigen Stoß versetzte und ich mit einem Aufprall, bei dem alle meine Zähne schmerzhaft aufeinander krachten, zu Boden ging.
In Sekundenschnelle hockte Rene rittlings auf mir. Bei unserem Kampf war ihm jedoch sein Strick abhanden gekommen, und während er mit der einen Hand meinen Hals umklammert hielt, tastete er mit der anderen nach der Mordwaffe, für die er sich nun einmal entschieden hatte. Er hockte auf meinem rechten Arm, der war also festgenagelt, aber mein linker war frei, mit dem konnte ich schlagen und kratzen. Rene vermochte diese Schläge nicht abzuwehren, denn er mußte weiterhin nach dem Strick suchen, mit dem er mich erwürgen wollte. Dieser Strick war fester Bestandteil seines Rituals, ohne ihn ging es nicht, und dann traf meine schlagende Linke auf ein vertrautes Objekt.
Rene trug Arbeitskleidung; an seinem Gürtel baumelte immer noch das Messer. Hastig riß ich den Verschluß der Lederscheide auf und zog das Messer hervor. „Verdammt, das hätte ich abnehmen sollen“, dachte mein Gegner, doch da fuhr ihm die scharfe Schneide auch schon mit Wucht ins weiche Fleisch seiner Taille. Ich riß das Messer nach oben. Dann zog ich es wieder heraus.
Rene schrie wie am Spieß.
Stolpernd kam er auf die Beine, beugte den Oberkörper zur Seite und versuchte verzweifelt, mit beiden Händen das Blut zu stoppen, das ihm aus der Wunde schoß.
Hastig rutschte ich rückwärts, stand dann auf und versuchte, schnell ein wenig Distanz zwischen mich und diesen Mann zu bringen, der gewiß ebenso ein Monster war, wie Bill eines darstellte.
„Guter Gott, Weib“, schrie Rene, „was hast du mir da angetan?“
Das war ja nun wirklich ein starkes Stück.
Rene war mittlerweile völlig in Panik; er fürchtete, entdeckt zu werden, fürchtete ein Ende seiner Spielchen, ein Ende seines Rachefeldzugs.
„Mädchen wie du, ihr verdient den Tod!“ zischte er. „Du bist in meinem Kopf, ich fühle das genau, du Mißgeburt, du!“
„Wer ist hier die Mißgeburt?“ zischte ich zurück. „Verrecke, du Schweinehund!“
Ich hatte nicht gewußt, daß ich zu so etwas in der Lage war. Ich stand neben einem Grabstein, das blutige Messer immer noch in der Hand, und lauerte in Angriffsstellung darauf, daß sich mein Gegner erneut auf mich stürzte.
Der drehte sich verzweifelt stolpernd im Kreis, und ich sah ihm mit völlig versteinertem Gesicht dabei zu. Ich verschloß mein Denken vor ihm, wollte nicht hören, daß er spürte, wie sich der Tod von hinten an ihn heranschlich. Als er zu Boden ging, stand ich immer noch bereit, ihm das Messer ein zweites Mal in den Leib zu rammen. Dann, als ich ganz sicher sein konnte, daß er sich nicht mehr bewegte, ging ich zu Bills Haus. Ich ging, ich rannte nicht. In jener Nacht sagte ich mir, das sei so, weil ich gar nicht mehr hätte rennen können, aber jetzt, im Nachhinein, bin ich mir da nicht mehr so sicher. Ich sah die ganze Zeit das Bild meiner Oma vor mir, das Rene mit sich herumtrug. Das Bild meiner Oma, wie sie in ihrem eigenen Haus hatte um ihr Leben kämpfen müssen.
Ich fischte Bills Haustürschlüssel aus meiner Hosentasche, fast ein wenig erstaunt darüber, daß der sich immer noch dort befand.
Es gelang mir irgendwie, den Schlüssel ins Schloß zu stecken und auch zu drehen. Dann stolperte ich in Bills Wohnzimmer und tastete nach dem Telefon. Meine Finger glitten ein wenig hilflos über die Tasten und versuchten herauszufinden, wo sich die neun befand, wo die eins - 911: die Nummer des Notrufs. Ich schaffte es sogar, die entsprechenden Tasten zu drücken, auch fest genug, daß sie mir mit einem leisen Piepen versicherten, daß ich erfolgreich gewesen war. Dann meldete sich ohne jegliche Vorwarnung mein Bewußtsein ab, und ich sank in Ohnmacht.
* * *
Ich wußte, ich war im Krankenhaus, denn ich war umgeben vom sauberen Geruch von Krankenhausbettwäsche.
Als Nächstes stellte ich fest, daß mir jeder einzelne Knochen wehtat und daß sich irgendwer bei mir im Zimmer aufhielt. Ich öffnete die Augen, was mir beträchtliche Mühe bereitete.
Es war Andy Bellefleur. Sein kantiges Gesicht wirkte womöglich noch erschöpfter als beim letzten Mal, als ich ihn gesehen hatte.
„Kannst du mich hören?“ wollte er wissen.
Ich nickte, nur eine winzigkleine Bewegung, bei der aber dennoch ein heftiger Schmerz durch meinen ganzen Kopf zuckte.
„Wir haben ihn“, hob Andy an, und dann wollte er mir noch viel mehr erzählen, aber ich schlief wieder ein.
Als ich erneut erwachte, war es Tag, und ich fühlte mich viel wacher als beim Mal zuvor.
Auch jetzt war jemand bei mir im Zimmer.
„Wer ist da?“ erkundigte ich mich flüsternd, und selbst diese drei Worte taten unendlich weh.
Aus einem Stuhl in der Ecke erhob sich daraufhin Kevin, rollte das Kreuzworträtselheft zusammen, mit dem er sich beschäftigt hatte, und steckte es in die Tasche seiner Uniformjacke.
„Wo ist Kenya?“ flüsterte ich.
Er grinste mich völlig unerwartet an. „Sie war ein paar Stunden lang hier“, erklärte er. „Sie wird bald zurück sein. Ich habe sie nur ein wenig abgelöst, damit sie Mittagessen gehen kann.“
Kevins dünnes Gesicht, ja, sein ganzer magerer Körper drückten nichts als Zustimmung und Bewunderung aus. „Sie sind wirklich eine ziemlich zähe Dame!“ teilte er mir nun mit.
„Besonders zäh fühle ich mich aber nicht“, brachte ich mühsam hervor.
„Sie sind ziemlich schwer verletzt“, verkündete er, als wäre mir das etwas Neues.
„Rene.“
„Wir fanden ihn auf dem Friedhof“, beruhigte mich Kevin. „Sie hatten ihn ziemlich schwer erwischt, aber er war immer noch bei Bewußtsein und hat uns erzählt, daß er versucht hat, Sie umzubringen.“
„Gut.“
„Es schien ihm wirklich sehr leid zu tun, daß er sein Werk nicht hatte vollenden können. Ich kann kaum glauben, daß er uns das alles so erzählt hat, aber er hatte wohl große Schmerzen und ziemlich viel Angst, als wir bei ihm ankamen. Er hat uns erzählt, die ganze Sache sei Ihre Schuld, Sie hätten sich einfach nicht hinlegen und sterben wollen wie die anderen. Er sagte, das müsse an Ihren Genen liegen, da Ihre Oma ...“ Hier unterbrach Kevin sich, denn ihm war wohl klar, daß er kurz davor stand, ein Gebiet zu betreten, dessen Erörterung sehr schmerzhaft für mich war.
„Meine Oma hat sich auch gewehrt“, flüsterte ich.
In diesem Moment kam Kenya ins Zimmer, massiv, unbeeindruckt, in der Hand einen Plastikbecher mit heißem, duftendem Kaffee.
„Sie ist wach!“ verkündete Kevin und strahlte seine Partnerin an.
„Gut“, erwiderte Kenya, wobei sie sich nicht so anhörte, als würde sie sich vor Freude gleich überschlagen. „Hat sie gesagt, was passiert ist? Vielleicht sollten wir Andy benachrichtigen.“
„Ja, er sagte, wir sollen ihn rufen. Aber er schläft gerade mal vier Stunden.“
„Wir sollen ihn anrufen, hat er gesagt.“
Kevin zuckte die Achseln und ging zum Telefon neben meinem Bett. Ich glitt in einen Dämmerschlaf, in dem ich aber trotzdem noch hörte, wie Kenya und Kevin miteinander flüsterten, während sie auf Andy warteten. Das heißt, Kevin erzählte von seinen Jagdhunden und Kenya, nahm ich an, hörte ihm zu.
Nun war Andy ins Zimmer gekommen, denn ich konnte seine Gedanken spüren, das Muster seines Verstandes. Schwer ließ er sich neben mein Bett auf einen Stuhl sinken. Als er sich über mich beugte, um mich anzusehen, öffnete ich die Augen, und wir wechselten einen langen Blick.
Zwei Paar Füße in Schuhen, wie sie der Polizeidienst vorschreibt, traten hinaus auf den Flur.
„Er ist immer noch am Leben“, sagte Andy unvermittelt. „Er hört gar nicht auf zu reden.“
Ich bewegte meinen Kopf ein paar Millimeter in der Hoffnung, dies möge als Nicken gelten.
„Er sagt, es geht alles auf seine Schwester zurück, die eine Beziehung mit einem Vampir hatte. Offenbar hatte sie irgendwann nur noch so wenig Blut im Leib, daß Rene befürchtete, sie könnte sich selbst in eine Vampirin verwandeln, wenn er sie nicht daran hinderte. Eines Abends hat er ihr in ihrer Wohnung ein Ultimatum gestellt. Aber sie hat sich ihm nicht gebeugt, hat gesagt, sie wolle sich nicht von ihrem Liebsten trennen. Sie wollte gerade los zur Arbeit und war dabei, sich ihre Schürze umzubinden, als sie anfingen, sich zu streiten. Er riß ihr die Schürze aus der Hand und erwürgte sie damit... tat ihr dann auch noch anderes an.“
Andy sah aus, als sei ihm übel.
„Ich weiß“, flüsterte ich.
„Mir kommt es so vor“, setzte Andy dann erneut an, „als sei er zu der Überzeugung gelangt, alles, selbst so ein schrecklicher Akt, ließe sich rechtfertigen, wenn man wie er der Meinung war, Menschen wie seine Schwester verdienten den Tod. Die Morde hier, scheint es, ähneln auch zwei unaufgeklärten Morden in Shreveport, und wenn Rene weiterhin so drauflos plappert, dann können wir fest damit rechnen, daß er auf diese Morde ebenfalls zu sprechen kommt. Wenn er überlebt, heißt das.“
Wie entsetzlich! Die armen Frauen. Ich spürte, wie sich meine Lippen zusammenpreßten.
„Kannst du mir erzählen, was dir widerfahren ist?“ fragte Andy leise. „Nimm dir Zeit. Es macht nichts, wenn du flüsterst. Dein ganzer Hals ist voller blauer Flecken.“
Darauf hätte er mich nicht hinzuweisen brauchen - ich hatte mir schon so etwas gedacht. Murmelnd lieferte ich meinen Bericht der Ereignisse des vergangenen Abends, wobei ich kein Detail ausließ. Andy hatte ein kleines Tonbandgerät eingeschaltet, nachdem er mich gefragt hatte, ob mir das recht sei. Ich hatte ihm zu verstehen gegeben, daß er es ruhig laufen lassen konnte, und so hatte er es direkt neben meinen Kopf auf das Kissen gelegt, so dicht an meinen Mund, wie es irgend ging. Er wollte auf jeden Fall wirklich die ganze Geschichte mitbekommen.
„Ist Mr. Compton immer noch verreist?“ fragte er dann, als ich geendet hatte.
„New Orleans“, flüsterte ich. Mittlerweile war ich kaum noch in der Lage zu reden.
„Jetzt, wo wir wissen, daß das Gewehr dir gehört, suchen wir in Renes Haus danach. Das ist ein weiteres Indiz gegen ihn.“
Nun trat eine strahlende junge Frau ganz in Weiß ins Zimmer, warf einen Blick auf mein Gesicht und sagte, Andy müsse ein andermal wiederkommen.
Daraufhin nickte Andy mir zu, streichelte ein wenig unbeholfen meine Hand und ging, wobei er der Ärztin über die Schulter einen bewundernden Blick zuwarf. Sie war es wert, bewundert zu werden, aber außerdem trug sie einen Ehering. Andy war also wieder einmal zu spät dran.
Die Ärztin fand ihn zu ernst und dachte, er blicke zu finster drein.
Ich wollte das alles gar nicht hören.
Aber ich hatte nicht genügend Energie, andere aus meinem Kopf herauszuhalten.
„Wie fühlen Sie sich, Miss Stackhouse?“ fragte die junge Frau ein wenig zu laut. Sie war eine schlanke Brünette mit großen braunen Augen und vollen Lippen.
„Scheußlich“, flüsterte ich.
„Das kann ich mir vorstellen“, sagte sie und nickte ein paar Mal, während sie mich untersuchte. Ich bezweifelte, daß sie das wirklich konnte. Ich wäre jede Wette eingegangen, daß sie noch nie auf einem Friedhof von einem mehrfachen Mörder zusammengeschlagen worden war.
„Noch dazu haben Sie gerade Ihre Großmutter verloren?“ fragte sie mitleidig, und ich nickte, wobei ich den Kopf lediglich ein paar Millimeter bewegte.
„Vor etwa sechs Monaten starb mein Mann“, sagte sie. „Ich weiß, was Kummer ist. Es ist sehr schwer, immer tapfer zu sein, nicht wahr?“
Wer hätte das gedacht.
„Er hatte Krebs“, erklärte sie - sie hatte mir die Frage vom Gesicht ablesen können. Ich versuchte, ihr nun auch lediglich mit den Augen mein Beileid auszusprechen, aber das war so gut wie unmöglich.
„Nun ja.“ Die junge Frau richtete sich auf und war wieder ganz die geschäftige Ärztin. „Sie werden auf jeden Fall am Lehen bleiben. Sie haben ein gebrochenes Schlüsselbein, zwei gebrochene Rippen und eine gebrochene Nase.“
Hirte von Judäa! Kein Wunder, daß ich mich so zerschlagen fühlte.
„Ihr Gesicht und der Hals weisen erhebliche Prellungen auf. Wie sehr Ihr Hals in Mitleidenschaft gezogen wurde, haben Sie sicher schon selbst feststellen können.“
Ich versuchte, mir auszumalen, wie ich wohl aussehen mochte. Wie gut, daß ich keinen Spiegel zur Hand hatte.
„Dazu kommen unzählige kleinere Prellungen und Schnittwunden an Armen und Beinen.“ Die Ärztin lächelte. „Mit Ihrem Magen ist alles in bester Ordnung, und das gilt auch für Ihre Füße.“
Haha. Sehr witzig.
„Ich habe Ihnen Schmerzmittel verschrieben, klingeln Sie also bitte nach der Schwester, wenn Sie sich schlecht fühlen.“
Hinter ihrem Rücken streckte ein Besucher den Kopf durch die Tür. Sie drehte sich um, womit sie mir die Sicht verstellte, und sagte: „Hallo?“
„Ist dies Sookie Stackhouses Zimmer?“
„Ja. Ich bin gerade fertig mit der Untersuchung, Sie können also hereinkommen.“ Die Ärztin (laut Namensschild am Kittel hieß sie Sonntag) sah mich fragend an, um meine Erlaubnis einzuholen. Ich brachte mühsam ein kaum hörbares „Sicher“ zustande.
Daraufhin glitt JB du Rone an mein Bett und sah so wunderschön aus wie der stürmische Liebhaber auf dem Schutzumschlag eines Groschenromans. Sein lohfarbenes Haar schimmerte im Neonlicht, seine Augen hatten haargenau dieselbe Farbe wie sein Haar, und die Muskeln, die man dank seines ärmellosen Hemdes bewundern konnte, sahen aus, wie gemeißelt mit einem ... nun, mit einem Meißel eben. JB blickte auf mich herab, während Dr. Sonntag seinen Anblick durstig in sich aufsog.
„Hey Sookie, wie geht's dir denn so?“ fragte er und strich mir sanft mit dem Finger über die Wange. Dann küßte er liebevoll eine der wenigen Stellen auf meiner Stirn, auf der sich kein blauer Fleck befand.
„Danke“, flüsterte ich. „Wird schon wieder. Darf ich dir meine Ärztin vorstellen?“
JB du Rone richtete seine großen Augen auf Dr. Sonntag, die praktisch über ihre eigenen Füße stolperte, als sie nun herbeieilte, um sich förmlich mittels Handschlag mit ihm bekannt zu machen.
„Als ich mich damals hab' impfen lassen, waren die Ärzte noch nicht so hübsch“, sagte JB ernsthaft und ganz und gar ehrlich.
„Sie waren nicht mehr bei einem Arzt, seit Sie Kind waren?“ wollte Dr. Sonntag baß erstaunt wissen.
„Ich werde nie krank.“ Er strahlte. „Ich bin stark wie ein Ochse.“
Und mit ungefähr genauso viel Verstand gesegnet. Aber Dr. Sonntag hatte Köpfchen für zwei.
Ihr fiel kein Grund mehr ein, weswegen sie noch in meinem Zimmer hätte ausharren können, und so ging sie, nicht ohne JB über die Schulter noch einen letzten, sehnsüchtigen Blick zuzuwerfen, als sie bereits in der Tür stand.
JB beugte sich zu mir hinab und fragte besorgt: „Kann ich dir irgendetwas besorgen, Sookie? Ein paar Cracker vielleicht?“
Beim Gedanken an Cracker in meinem Mund schossen mir die Tränen in die Augen. „Nein, danke“, hauchte ich. „Die Ärztin ist verwitwet.“
In einer Unterhaltung mit JB konnte man jederzeit das Thema wechseln, ohne daß er sich fragte, warum man das wohl tat.
„Wow“, sagte er beeindruckt. „Sie ist klug und alleinstehend.“
Ich wackelte bedeutungsvoll mit den Brauen.
„Du findest, ich sollte sie fragen, ob sie mit mir ausgehen will?“ JB blickte so nachdenklich drein, wie es ihm überhaupt möglich war. „Das ist vielleicht gar keine schlechte Idee.“ Er lächelte auf mich herab. „Solange du nicht mit mir ausgehen willst. Du warst immer schon die erste Wahl für mich. Du brauchst nur mit dem kleinen Finger zu winken, und schon komme ich gelaufen.“
Was für ein süßer Typ. Ich glaubte ihm seine Hingabe nicht eine Sekunde lang, aber ich glaubte durchaus, daß er wußte, wie man dafür sorgt, daß eine Frau sich gut fühlt. Selbst an einem Tag, an dem sie - wie ich an diesem - genau wußte, daß sie umwerfend scheußlich aussieht. Noch dazu fühlte ich mich scheußlich. Wo waren nur die Schmerztabletten? Ich versuchte, JB ein Lächeln zuzuwerfen.
„Du hast Schmerzen“, sagte er. „Ich schicke dir die Schwester.“
Wunderbar! Der kleine Knopf, mit dem sich die Schwester rufen ließ, war mir so unendlich weit entfernt vorgekommen, so völlig unerreichbar.
JB küßte mich noch einmal und sagte dann, ehe er ging: „Ich werde auch versuchen, diese Ärztin zu finden, Sookie. Ich habe da noch ein paar Fragen, die deine Genesung betreffen, die ich gern mit ihr besprechen würde.“
Nachdem die Schwester dem Tropf an meinem Arm irgend etwas zugesetzt hatte, lag ich einfach nur da und freute mich darauf, daß die Schmerzen bald nachlassen würden. Da ging erneut die Tür auf.
Jason kam herein. Lange stand er schweigend am Fußende meines Bettes und starrte hinunter auf mein Gesicht. Schließlich sagte er mit schwerer Stimme: „Ich konnte kurz mit der Ärztin sprechen, ehe sie mit JB in der Cafeteria verschwunden ist. Sie hat aufgezählt, was alles mit dir nicht stimmt.“ Er trat vom Bett weg, drehte eine Runde durch das Zimmer und kam wieder zurück. „Du siehst scheußlich aus.“
„Danke!“ flüsterte ich.
„Ach ja, dein Hals, das hatte ich vergessen.“
Er fing an, mich zu streicheln, überlegte es sich dann aber anders.
„Hör mal, Schwesterchen, ich weiß, ich müßte dir danken, aber irgendwie zieht es mich völlig runter, daß du meine Stelle eingenommen hast, als es Zeit wurde zu kämpfen.“
Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich ihn getreten.
Seine Stelle eingenommen! Also wirklich!
„Ich schulde dir was, Schwesterherz, ich schulde dir riesig was. Ich war so dämlich, ich dachte, Rene sei mein Freund.“
Betrogen. Jason fühlte sich betrogen.
Dann kam Arlene, und die Dinge wurden noch besser.
Arlene sah schrecklich aus. Ihr rotes Haar war ein einziger, wirrer Filz, sie war ungeschminkt, und ihre Kleider hatte sie irgendwie zusammengestoppelt. Ich hatte Arlene noch nie mit unfrisiertem Haar, ohne strahlendes, schrilles Make-up gesehen.
Sie sah auf mich herunter - Mann, würde ich mich freuen, wenn ich wieder stehen konnte! -, und eine Sekunde lang schien ihr Gesicht hart wie Granit. Dann aber ließ sie meinen Anblick wirklich an sich heran, und ihre Gesichtszüge zerfielen in tausend Einzelteile.
„Ich war so wütend auf dich, ich habe das alles nicht geglaubt, aber jetzt, wo ich dich sehe ... was er getan hat... oh Sookie, kannst du mir je verzeihen?“
Mein Gott, ich wollte, daß sie wieder verschwand! Ich versuchte, Jason wortlos zu vermitteln, wie mir zumute war, und oh Wunder: Dieses eine, einzige Mal drang ich zu ihm durch. Er legte den Arm um Arlenes Schulter und führte sie hinaus. Arlene schluchzte. „Ich habe es doch nicht gewußt!“ sagte sie und war kaum zu verstehen. „Ich habe es doch nicht gewußt.“
„Zum Teufel, ich doch auch nicht“, sagte Jason.
Nachdem ich versucht hatte, ein kleines Schälchen wirklich köstliche grüne Götterspeise zu mir zu nehmen, hielt ich ein Mittagsschläfchen.
Mein großes Abenteuer am Nachmittag bestand darin, mehr oder weniger ohne fremde Hilfe aufs Klo und zurückzugehen. Danach saß ich etwa zehn Minuten lang in einem Stuhl, und dann war ich bereit, wieder ins Bett zu gehen. Ich sah in den kleinen Spiegel, der sich im Rahmen meines Klapptischs verbarg - und sofort tat es mir mehr als leid.
Ich hatte ein wenig Fieber, nicht viel, aber doch so viel, daß ich mich zittrig und dünnhäutig fühlte. Mein Gesicht war grau und blau, meine Nase auf die doppelte Größe angeschwollen. Mein rechtes Auge war fast zugeschwollen. Ich erschauderte bei meinem eigenen Anblick, und selbst das tat weh. Meine Beine - ach, zum Teufel: Die mochte ich mir noch nicht einmal ansehen. Ganz vorsichtig ließ ich mich in die Kissen sinken und wünschte, der Tag wäre bereits vorbei. Wahrscheinlich würde es mir in ungefähr vier Tagen wieder prima gehen. Arbeit! Wann konnte ich wieder zur Arbeit gehen?
Ein leises Klopfen an der Tür lenkte mich ab. Noch so ein verdammter Besucher! Diesmal war es jemand, den ich nicht kannte. Eine ältere Dame mit blauem Haar und einer Brille mit rotem Gestell schob einen Rollwagen ins Zimmer. Sie trug den gelben Kittel, den die 'Sonnenscheindamen' genannten freiwilligen Helferinnen des Krankenhauses bei der Arbeit tragen mußten.
Der Rollwagen lag voller Blumen für die Patienten in diesem Stockwerk.
„Ich bringe Ihnen einen Ladung guter Wünsche!“ zwitscherte die sonnige Dame fröhlich.
Ich lächelte, aber dies Lächeln war wohl ziemlich abschreckend, denn die Fröhlichkeit meiner Besucherin nahm bei seinem Anblick deutlich ab.
„Die hier sind für Sie“, fuhr sie dann geschäftig fort und hob einen mit einer roten Schleife verzierten Blumentopf vom Wagen. „Hier ist auch eine Karte. Lassen Sie mich sehen - die hier sind auch für Sie ...“ Diesmal handelte es sich um einen Strauß: rosa Rosen, rosa Nelken und weißes Schleierkraut. Auch von diesem zupfte die Dame die Karte ab. Dann ließ sie ihren Blick abschließend noch einmal über den Rollwagen gleiten, um entzückt auszurufen: „Sie haben aber auch wirklich Glück! Hier sind noch mehr Blumen für Sie!“
Im Mittelpunkt der dritten Gabe stand eine bizarre rote Blume, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, umgeben von anderen, mir eher vertrauten Blüten. Diesen Strauß betrachtete ich ein wenig mißtrauisch. Die Sonnenscheindame überreichte mir pflichtbewußt die Karte, die sie aus der Plastikklammer am Strauß genommen hatte.
Nachdem sich der freiwillige Sonnenschein aus meinem Zimmer gelächelt hatte, öffnete ich die drei winzigen Umschläge, wobei ich trocken feststellen mußte, daß sich meine Beweglichkeit offenbar in dem Maße besserte, wie meine Laune sich hob.
Die Topfpflanze war von Sam und 'all deinen Kollegen im Merlottes'. Abgefaßt hatte sie Sam. Gerührt strich ich über die glänzenden Blätter und fragte mich, wo ich den Topf hinstellen sollte, wenn ich wieder zu Hause war. Die Schnittblumen waren von Sid Matt Lancaster und Elva Deene Lancaster - pfui. Das Arrangement mit der merkwürdigen roten Blüte im Mittelpunkt (ich fand inzwischen, die Blume sähe fast schon obszön aus, wie das Geschlechtsteil einer Dame) war eindeutig das interessanteste der drei. Ich öffnete neugierig die dazugehörige Karte. Sie enthielt nur eine Unterschrift: „Eric.“
Das hatte mir gerade noch gefehlt. Woher zum Teufel wußte er, daß ich im Krankenhaus lag? Warum hatte ich von Bill noch nichts gehört?
Nach etwas köstlicher roter Götterspeise zum Abendbrot konzentrierte ich mich ein paar Stunden lang auf das Fernsehen, denn zu lesen hatte ich nichts dabei, und ich wußte auch nicht, ob meine Augen überhaupt imstande gewesen wären zu lesen. Meine Prellungen und blauen Flecken wirkten stündlich charmanter, und ich fühlte mich hundemüde, auch wenn ich den ganzen Tag nicht weiter gegangen war als einmal zur Toilette und zweimal ein wenig im Zimmer umher. Ich schaltete den Fernseher aus und drehte mich auf die Seite. Bald schlief ich ein, woraufhin der Schmerz aus meinem Körper in meine Träume sickerte. Ich hatte Alpträume. In diesen Alpträumen rannte ich; ich rannte über den Friedhof, wobei ich um mein Leben bangte; ich fiel über Grabsteine in offene Gräber; ich traf alle, die ich gekannt hatte und die auf diesem Friedhof begraben lagen: meinen Vater, meine Mutter, meine Oma, Maudette, Dawn Green und sogar einen Freund aus Kindertagen, der bei einem Jagdunfall ums Leben gekommen war. Ich suchte verzweifelt nach einem bestimmten Grabstein, denn wenn ich den fand, würde ich in Sicherheit sein. Wenn ich den fand, würden alle wieder in ihren Gräbern verschwinden und mich in Ruhe lassen. Ich rannte von einem Grabstein zum anderen, legte meine Hand auf jeden einzelnen, hoffte inständig, dieser eine möge der richtige sein, winselte vor Angst.
„Süße, du bist in Sicherheit!“ ertönte da eine vertraute, kühle Stimme.
„Bill“, murmelte ich. Ich wandte mich zu einem Grabstein, den ich bisher noch nicht berührt hatte. Ich legte meine Finger darauf, und sie ertasteten Buchstaben: 'William Erasmus Compton'. Mir war, als hätte mir jemand einen Eimer Eiswasser über den Kopf gegossen. Ich holte tief Luft, um zu schreien, aber meine Kehle gehorchte mir nicht und reagierte nur mit heftigen Schmerzen. Nun hatte ich zu viel Luft in der Lunge. Es kam mir vor, als würde ich ersticken. Ich hustete und keuchte, wobei mir so gut wie jede einzelne Körperstelle wehtat, die ich gebrochen hatte, so daß ich wach wurde. Eine Hand schob sich unter meine Wange, kühle Finger, die sich auf meiner heißen Haut wunderbar anfühlten. Ich gab mir alle Mühe, nicht zu wimmern, konnte aber nicht verhindern, daß sich hinten in meiner Kehle ein leiser Laut bildete und sich den Weg zwischen meinen Lippen hindurchbahnte.
„Dreh dich zum Licht, Liebling“, bat Bill, wobei seine Stimme leicht und ganz und gar nicht unmäßig besorgt klang.
Die Schwester hatte das Licht im Badezimmer brennen lassen, aber ich hatte mich so gedreht, daß ich es im Rücken hatte. Nun rollte ich mich gehorsam auf den Rücken und sah hinauf zu meinem Vampir.
Der zischte.
„Ich bringe ihn um!“ sagte er mit einer schlichten Gewißheit, die mich ins Mark traf.
Im Zimmer herrschte eine Spannung, die gereicht hätte, eine ganze Armee nervöser Menschen auf die Suche nach ihren Beruhigungspillen zu schicken.
„Hallo Bill,“ krächzte ich. „Ich freue mich auch, dich zu sehen. Wo hast du denn gesteckt? Vielen Dank, daß du meinen Anruf erwidert hast.“
Das verschlug ihm die Sprache. Er blinzelte. Ich spürte deutlich, wie er sich anstrengte, wieder ruhig zu werden.
„Ich habe nicht angerufen“, sagte er, „weil ich dir persönlich mitteilen wollte, was geschehen ist.“ Ich konnte seine Miene nicht recht deuten - wenn ich einen Tip hätte abgeben sollen, dann hätte ich gesagt, er sähe aus, als sei er stolz auf sich.
Erst einmal aber erzählte er nicht weiter, sondern betrachtete prüfend alles, was von mir zu sehen war.
„Die hier tut nicht weh“, erklärte ich zuvorkommend, wenn auch krächzend, und streckte ihm meine eine Hand hin. Er küßte sie sanft und beschäftigte sich eine Weile liebevoll mit ihr, in einer Weise, die ein leichtes Prickeln durch meinen Körper schickte. Glauben Sie mir: Ein leichtes Prickeln war mehr, als ich unter diesen Umständen je für möglich gehalten hätte.
„Erzähl mir, was man dir angetan hat!“ verlangte er.
„Dann beug dich zu mir, damit ich flüstern kann. Sprechen tut nämlich weh.“
Er zog einen Stuhl heran, ließ die Seitenwand des Bettes herab und legte sein Kinn so auf die verschränkten Arme, daß sein Gesicht nur noch etwa zehn Zentimeter von dem meinen entfernt war.
„Dein Nasenbein ist gebrochen“, stellte er fest.
Ich verdrehte die Augen. „Wie schön, daß du das bemerkt hast“, flüsterte ich. „Ich werde gleich morgen meine Ärztin darauf aufmerksam machen.“
Bill kniff die Augen zusammen. „Hör auf, um den heißen Brei herumzureden.“
„Also gut: Die Nase ist gebrochen, dazu zwei Rippen und das Schlüsselbein.“
Aber Bill wollte mich ganz sehen und zog die Decke weg. Das war mir zutiefst unangenehm. Natürlich trug ich eins dieser schrecklichen Krankenhausnachthemden, was ja in der Regel schon ausreicht, einem die Stimmung zu verderben, aber noch dazu hatte ich nicht richtig baden können, mein Gesicht leuchtete in den unmöglichsten Farbschattierungen, und mein Haar war lange nicht gebürstet worden.
„Ich möchte dich mit nach Hause nehmen“, verkündete Bill, nachdem er seine Hände überall auf meinem Körper hatte herumspazieren und jeden einzelnen Schnitt, jede Prellung hatte untersuchen lassen. Mein Arzt, der Vampir.
Mit einer Geste bat ich ihn, sich wieder tief zu mir herunterzubeugen. „Nein!“ hauchte ich dann und deutete auf den Tropf. Bill beäugte die Vorrichtung daraufhin mit einigem Mißtrauen, wußte aber natürlich, worum es sich dabei handelte.
„Den kann ich dir herausnehmen“, sagte er.
Vehement schüttelte ich den Kopf.
„Du möchtest nicht, daß ich mich um dich kümmere?“
Verzweifelt stieß ich Luft aus, was höllisch schmerzte. So kamen wir nicht weiter.
Ich deutete mit der rechten Hand Schreibbewegungen an, woraufhin Bill die Schubladen des Nachttischs durchsuchte, bis er einen Notizblock fand. Merkwürdigerweise hatte er einen Kugelschreiber dabei. „Sie entlassen mich morgen aus dem Krankenhaus, wenn das Fieber nicht höher wird“, schrieb ich.
„Wer fährt dich nach Hause?“ fragte er. Mein Vampir stand jetzt wieder neben dem Bett und blickte streng und mißbilligend auf mich herab wie ein Lehrer, dessen bester Schüler leider notorisch zu spät zum Unterricht erscheint.
„Ich werde die Schwester bitten, Jason anzurufen oder Charlsie Tooten“, schrieb ich. Hätten die Dinge anders gelegen, wäre mir als erstes Arlenes Name in den Sinn gekommen.
„Ich werde dasein, sobald es dunkel wird“, versprach er.
Ich blickte in Bills blasses Gesicht. Im Dämmerlicht des Krankenhauszimmers schien das klare Weiß in seinen Augen fast zu leuchten.
„Ich kann dich heilen“, erbot er sich. „Ich würde dir gern ein wenig Blut geben.“
Ich erinnerte mich daran, wie mein Haar heller geworden war, daran, daß ich momentan mindestens doppelt so stark war wie je zuvor in meinem Leben. Ich schüttelte den Kopf.
„Warum nicht?“ wollte er wissen, als sei ich lediglich durstig gewesen, und er hätte mir einen Schluck Wasser angeboten und könne nun gar nicht verstehen, warum ich den ablehnte. Ich fragte mich, ob ich wohl seine Gefühle verletzt hatte.
Ich nahm Bills Hand und führte sie an den Mund. Dann küßte ich ganz sanft seine Handfläche und legte die Hand an diejenige meiner beiden Wangen, die nicht ganz so schmerzte.
„Die Leute haben mitbekommen, daß ich mich verändere“, schrieb ich nach einer Weile. „Ich selbst habe mitbekommen, wie ich mich verändere.“
Einen Moment lang senkte Bill den Kopf. Dann sah er mich traurig an.
„Du weißt, was passiert ist?“ schrieb ich.
„Einen Teil der Ereignisse hat Bubba mir schildern können“, erwiderte er, wobei sich sein Gesicht beim Gedanken an diesen strohdummen Vampir bedrohlich verfinsterte. „Den Rest weiß ich von Sam, und dann habe ich mir auf der Polizeiwache den genauen Polizeibericht durchgelesen.“
„Das hat Andy dir erlaubt?“ kritzelte ich ungläubig.
„Niemand hat gewußt, daß ich da war“, erwiderte Bill sorglos.
Ich versuchte, mir das vorzustellen, aber der bloße Gedanke jagte mit Schauder den Rücken hinunter.
Ich warf ihm einen mißbilligenden Blick zu.
„Erzähl mir, was in New Orleans geschehen ist“, kritzelte ich dann rasch, denn ich war kurz davor, wieder einzuschlafen.
„Dazu mußt du ein wenig über unsere Strukturen erfahren“, antwortete Bill zögernd.
„Oha, geheime Vampirangelegenheiten?“ krächzte ich.
Nun war er an der Reihe, mir einen mißbilligenden Blick zuzuwerfen.
„Wir sind bis zu einem gewissen Grad organisiert“, erklärte er. „Ich war auf der Suche nach etwas, was uns vor Eric schützen könnte.“ Ohne es zu wollen glitt mein Blick hinüber zu dem roten Blumenbukett.
„Ich wußte, daß es für Eric viel schwieriger sein würde, sich in mein Privatleben zu mischen, wenn ich ebenso wie er Funktionär wäre.“
Ich blickte ihn aufmunternd an - zumindest versuchte ich, ihn aufmunternd anzublicken.
„Also ging ich zu unserem Regionaltreffen und bewarb mich dort um ein Amt, auch wenn ich mich vorher nie am politischen Leben beteiligt hatte. Durch konzentrierte Lobbyarbeit gelang es mir wirklich, gewählt zu werden.“
Das war ja irre: Bill als Gewerkschaftsfunktionär? Was wohl mit konzentrierter Lobbyarbeit gemeint war? Sollte das heißen, Bill hatte alle Gegenkandidaten umbringen müssen? Oder hatte er allen Wahlberechtigten eine Flasche Blut, Blutgruppe A positiv, spendiert?
„In welches Amt wurdest du gewählt?“ schrieb ich langsam und versuchte, mir Bill auf einer politischen Veranstaltung vorzustellen. Gleichzeitig versuchte ich, mir den Anschein zu geben, als sei ich stolz auf ihn. Das schien nämlich die Reaktion zu sein, die Bill von mir erwartete.
„Ich bin jetzt der Ermittler für den fünften Bereich“, sagte er. „Was das heißt, das erkläre ich dir, wenn du wieder daheim bist. Ich möchte dich jetzt nicht allzu sehr ermüden.“
Ich nickte und strahlte ihn an, wobei ich aus ganzem Herzen hoffte, er möge nicht auf die Idee kommen zu fragen, wer mir die Blumen geschickt hatte. Ob ich mich schriftlich bei Eric bedanken mußte? Warum schweifte mein Kopf eigentlich ständig ab und beschäftigte sich mit völlig nebensächlichen Fragen? Das lag wohl an den Schmerzmitteln.
Ich winkte Bill näher heran. Er kam zu mir, und sein Kopf lag auf dem Bett neben meinem. „Bring Rene nicht um“, flüsterte ich.
Daraufhin sah er kalt aus, kälter, am kältesten.
„Vielleicht habe ich das schon selbst erledigt“, fügte ich hinzu. „Er liegt auf der Intensivstation. Aber selbst wenn er am Leben bleibt: Es hat schon genügend Morde gegeben. Bitte laß zu, daß sich das Gesetz mit Rene befaßt. Ich will keine weiteren Hexenjagden auf dich erleben. Ich will Frieden für uns.“ Das Reden fiel mir immer schwerer. Ich nahm Bills Hand in meine beiden Hände und hielt sie an die Wange, die die wenigsten blauen Flecke aufwies. Wie sehr er mir gefehlt hatte - dieses Gefühl wurde ganz plötzlich zu einem festen Klumpen mitten in meiner Brust, und ich streckte die Arme aus. Bill ließ sich vorsichtig auf der Bettkante nieder, schob mir ganz, ganz sanft die Arme unter den Oberkörper und hob mich hoch, immer nur wenige Millimeter auf einmal, damit mir genügend Zeit bliebe, mich zu melden, wenn etwas weh tat.
„Ich werde ihn nicht umbringen“, flüsterte Bill mir ins Ohr.
„Liebling“, hauchte ich und wußte, daß sein scharfes Gehör selbst diese winzigen Laute auffangen konnte. „Du hast mir gefehlt!“ Ich hörte seinen kurzen Seufzer, seine Arme legten sich ein wenig fester um mich, und seine Hände fingen an, mir sanft über den Rücken zu streichen. „Ich wüßte gern, wie schnell du heilen kannst!“ sagte er. „Ohne meine Hilfe.“
„Ich werde versuchen, mich zu beeilen“, flüsterte ich. „Ich wette, die Ärztin kommt auch so aus dem Staunen nicht heraus.“
Ein Collie trottete den Flur entlang, blickte in die offene Tür, sagte: „Wuff“ und trottete weiter. Verwundert wandte sich Bill um. Ach ja, es war Vollmond diese Nacht - durch das Fenster sah ich den Mond jetzt auch. Noch etwas anderes sah ich: Am pechschwarzen Himmel tauchte ein weißes Gesicht auf und schwebte nun zwischen dem Mond und mir. Ein höchst attraktives Gesicht, umrahmt von langem goldenem Haar. Eric der Vampir grinste auf mich herab und verschwand dann langsam wieder aus meinem Blickfeld. Er flog.
„Bald ist alles wieder normal“, sagte Bill und legte mich behutsam nieder, um hinüberzugehen und das Licht im Badezimmer auszuschalten. Seine Haut leuchtete schimmernd in der Dunkelheit.
„Aber klar“, flüsterte ich. „Ja. Ganz normal.“