Kapitel 1

Als der Vampir das Lokal betrat, hatte ich schon jahrelang auf ihn gewartet.

Seit Vampire vor vier Jahren ganz offiziell hatten aus ihren Särgen kriechen dürfen (wie sie selbst es scherzhaft zu beschreiben pflegten), hatte ich immer gehofft, einer von ihnen würde auch nach Bon Temps kommen. Alle anderen Minderheiten waren schließlich in unserer Stadt vertreten, warum sollte dann diese eine, die neueste, fehlen, die der rechtlich anerkannten Untoten? Aber anscheinend war der ländliche Norden Louisianas für Vampire nicht attraktiv genug. New Orleans dagegen hatte sich rasch zu einem richtigen Vampirzentrum gemausert: Anne Rice und all diese Geschichten, Sie wissen schon.

Von Bon Temps bis New Orleans ist es nicht weit, und alle Besucher unserer Kneipe wußten zu erzählen, dort träfe man, wenn man an einer Straßenecke einen Stein aufhob und warf, unter Garantie einen Vampir - auch wenn man das ja lieber sein lassen sollte.

Ich jedoch wartete auf meinen eigenen Vampir.

Sie werden wohl schon bemerkt haben, daß ich nicht oft ausgehe und nicht viel herumkomme. Das liegt nicht daran, daß ich nicht hübsch bin. Ich bin nämlich hübsch: blondes Haar, blaue Augen, 25. Meine Beine sind straff, mein Busen macht einiges her, und ich verfüge über eine Wespentaille. Die Kellnerinnentracht, die Sam uns für den Sommer verordnet hat, kleidet mich ausgezeichnet: schwarze Shorts, ein weißes T-Shirt, schwarze Turnschuhe der Marke Nike.

Aber ich habe eine Behinderung - ich jedenfalls versuche, das so zu sehen.

Bei den Gästen gelte ich lediglich als verrückt.

Egal, wie man die Sache nennt, sie hat zur Folge, daß sich so gut wie nie jemand mit mir verabreden will. Daher spielen die kleinen Freuden des Lebens für mich eine große Rolle.

Noch dazu saß er an einem meiner Tische - der Vampir.

Ich wußte sofort, was er war und es wunderte mich sehr, daß niemand sonst sich umwandte, um ihn anzustarren. Sie hatten es alle nicht mitbekommen! Ich schon - mir war nicht entgangen, daß seine Haut sanft schimmerte, und ich wußte es einfach!

Vor Freude hätte ich tanzen mögen, und ich tat auch wirklich einen kleinen Freudensprung, während ich noch am Tresen stand und zu ihm hinüber sah. Sam Merlotte, mein Chef, blickte von dem Cocktail auf, den er gerade mixte, und warf mir ein kleines Lächeln zu. Ich schnappte mir Tablett und Block und ging hinüber zum Tisch, an dem der Vampir saß, wobei ich hoffte, mein Lippenstift wäre noch nicht verschmiert und mein Pferdeschwanz säße ordentlich. Ich bin ein wenig schüchtern und spürte genau, wie meine Mundwinkel nach oben gezogen wurden, weil ich so angestrengt lächelte.

Der Vampir saß tief in Gedanken versunken da, und so hatte ich Gelegenheit, ihn mir genau anzusehen, eher er mich überhaupt bemerkte. Ich schätzte ihn auf etwa 1,90 m; er hatte dichtes braunes Haar, das er glatt nach hinten gekämmt trug und das ihm bis auf den Hemdkragen fiel. Seine langen Koteletten wirkten altmodisch. Er war blaß. Natürlich war er blaß: Wollte man den alten Geschichten Glauben schenken, dann war er schließlich tot. Die politisch korrekte, von den Vampiren selbst in der Öffentlichkeit vertretene These zu dem Thema lautete, der Mann da vor mir sei einem Virus zum Opfer gefallen. Was zur Folge gehabt habe, daß er ein paar Tage lang für tot gehalten worden sei und nun unter einer Allergie gegen Sonnenlicht, Silber und Knoblauch litte. Mit welchen Details man diese These ergänzte, hing von der Tageszeitung ab, die man abonniert hatte. Dieser Tage waren alle Zeitungen voller Informationen über Vampire.

Wie dem auch sein mochte: Die Lippen meines Vampirs waren wunderschön, scharf geschnitten und geschwungen. Auch seine Augenbrauen waren schön geschwungen, und dort, wo sie sich trafen, entsprang unmittelbar seine Nase, wie bei einem Prinzen auf einem byzantinischen Mosaik. Nun sah er endlich auf, und ich bemerkte, daß seine Augen noch dunkler waren als sein Haar und das Weiß in ihnen einfach unglaublich weiß.

„Was kann ich für Sie tun?“ fragte ich, und vor lauter Glück versagte mir fast die Stimme.

Er hob beide Brauen. „Führen Sie synthetisches Blut in Flaschen?“ erkundigte er sich.

„Leider nicht. Oh, das tut mir so leid! Sam hat welches bestellt, aber es soll erst nächste Woche geliefert werden.“

„In diesem Fall hätte ich gern einen Rotwein“, sagte er, und seine Stimme klang kalt und klar wie ein Fluß, der über glatte Steine rinnt. Ich lachte laut auf. Es war einfach alles zu perfekt!

„Kümmern Sie sich nicht um Sookie, Mister, sie ist verrückt“, erklang aus einer der Nischen, die sich an der Wand entlang erstreckten, eine allzu vertraute Stimme. Sofort war mein Glücksgefühl verflogen - auch wenn ich immer noch das Lächeln spürte, das meine Mundwinkel hochzog. Der Vampir, der mich die ganze Zeit prüfend ansah, konnte dabei zusehen, wie alles Leben aus meinem Gesicht wich.

„Ihr Wein kommt sofort“, sagte ich und stolzierte davon, ohne einen einzigen Blick auf Mack Rattrays selbstzufriedenes Gesicht zu werfen. Mack kam fast jeden Abend, zusammen mit seiner Frau Denise. Das Rattenpärchen - so nannte ich die beiden im Stillen. Seit sie den Wohnwagen auf dem Stellplatz bei Four Tracks Corner gemietet hatten, hatten die beiden ihr Bestes getan, mir das Leben zur Hölle zu machen, und ich hoffte sehr, der Wind möge sie ebenso schnell wieder aus Bon Temps herauswehen, wie er sie hereingeweht hatte.

Als sie zum ersten Mal ins Merlottes gekommen waren, war ich so unhöflich gewesen, ihren Gedanken zu lauschen - ich weiß, das ist ziemlich daneben. Aber ich langweile mich eben manchmal, wie andere Leute auch. Meist gelingt es mir ja, die Gedanken anderer rauszufiltern, wenn sie versuchen, sich in meinen Kopf zu stehlen. Aber ganz selten einmal gebe ich nach und höre zu. Also wußte ich ein paar Dinge über die Rattrays, die vielleicht niemand sonst wußte. Ich wußte, daß sie im Gefängnis gesessen hatten - wenn auch nicht weswegen -, und ich hatte die häßlichen Gedanken gehört, die Mack Rattray über mich in seinem Hirn bewegte. Den Gedanken Denises hatte ich entnehmen können, daß sie vor zwei Jahren ein Baby ausgesetzt hatte, dessen Vater nicht Mack gewesen war.

Zudem gab keiner von beiden je Trinkgeld.

Sam schenkte ein Glas von unserem offenen Roten ein, und während er es auf meinem Tablett zurechtrückte, warf er einen Blick zum Tisch hinüber, an dem der Vampir hockte.

Dann sah Sam mich an, und ich wußte, daß auch er mitbekommen hatte, daß unser neuer Gast zu den Untoten zählte. Sam hat Augen, so blau wie die Paul Newmans. Nicht wie meine, die eher verwaschen graublau sind. Sam ist blond wie ich, aber mit drahtigem, dickem Haar, das schimmert wie rötliches Gold. Sein Gesicht ist von der Sonne immer leicht gerötet, und bekleidet wirkt er eher zierlich. Ich sah ihn aber schon mit nacktem Oberkörper einen Lastwagen abladen und weiß, wie muskulös er ist. Sams Gedanken höre ich mir nie an. Er ist mein Chef. Ich mußte schon mehrere Arbeitsstellen verlassen, weil ich Sachen über die jeweiligen Chefs herausgefunden hatte, die ich gar nicht hatte wissen wollen.

Aber Sam sagte nichts, er reichte mir lediglich das Tablett mit dem Weinglas. Ich prüfte noch einmal, ob es auch wirklich ganz sauber war und glänzte und machte mich dann auf den Weg zum Tisch des Vampirs.

„Ihr Wein, Sir“, sagte ich formvollendet und stellte das Glas vorsichtig direkt vor ihm auf dem Tisch ab. Erneut sah er zu mir auf, und ich nahm die Gelegenheit wahr, in seine wunderschönen Augen zu blicken. „Zum Wohl!“ sagte ich stolz. Hinter mir schrie Mack Rattray: „He, Sookie, wir brauchen noch einen Krug Bier!“ Seufzend wandte ich mich um und schnappte mir den leeren Bierkrug vom Tisch der Ratten. Wie ich feststellen konnte, war Denise an diesem Abend in Hochform. Sie trug ein bauchfreies Oberteil und ultrakurze Hosen; perfekt auf die neueste Mode abgestimmt ergossen sich ihre braunen Locken wie ein Wasserfall auf ihre Schultern. Denise war nicht hübsch, aber sie war so strahlend und selbstsicher, daß es eine Weile dauerte, ehe man das mitbekam.

Wenig später mußte ich zu meinem Kummer feststellen, daß sich die Rattrays zu dem Vampir an den Tisch gesetzt hatten. Beide redeten auf ihn ein. Ob er sich am Gespräch beteiligte, konnte ich nicht sehen. Aber er ging auch nicht.

„Guck dir das an!“ sagte ich angewidert zu Arlene, meiner Kollegin. Arlene ist ein Rotschopf mit Sommersprossen, zehn Jahre älter als ich und war schon viermal verheiratet. Sie hat zwei Kinder, und ich glaube, von Zeit zu Zeit denkt sie, ich sei ihr drittes.

„Neuer Typ?“ fragte sie, klang aber nicht besonders interessiert. Arlene geht im Moment mit Rene Lenier aus, und auch wenn ich nicht verstehe, was sie an ihm findet, scheint sie ziemlich zufrieden mit ihm. Ich glaube, Rene war ihr zweiter Ehemann.

„Er ist ein Vampir!“ sagte ich, denn ich mußte meine Freude einfach mit jemandem teilen.

„Wirklich? Hier? Wer hätte das gedacht“, sagte Arlene und lächelte ein wenig, um mir zu zeigen, daß sie sich für mich freute. „Besonders schlau kann er aber nicht sein, meine Süße, wenn er mit den Ratten zusammen hockt. Andererseits bietet Denise ihm auch reichlich Einblicke.“

Das war mir noch gar nicht aufgefallen, ich bekam es erst jetzt mit, wo Arlene mich darauf hingewiesen hatte. Meine Kollegin ist immer schneller als ich bei der Hand, wenn es darum geht, einzuschätzen, ob es sexuell knistert oder nicht. Das liegt daran, daß sie so viel Erfahrung hat und ich so wenig.

Der Vampir hatte Hunger. Ich hatte schon oft sagen hören, das synthetische Blut, das die Japaner entwickelt hatten, decke zwar den Nährstoffbedarf von Vampiren, sei aber nicht in der Lage, ihren Hunger zu stillen. So kam es von Zeit zu Zeit zu „unglücklichen Zwischenfällen“ (so umschrieben die Vampire in offiziellen Verlautbarungen das blutige Hinschlachten eines Menschen), und da saß Denise Rattray, streichelte sich die Kehle und wandte den Hals von einer Seite zur anderen - was für ein schamlos aufdringliches Weibsbild!

Dann kam mein Bruder Jason in die Bar und trottete herbei, um mich pflichtschuldig in den Arm zu nehmen. Er weiß, daß Frauen Männer mögen, die nett zu ihren Familien und freundlich zu Behinderten sind, also dient es seinem Ruf in doppelter Weise, wenn er mich in den Arm nimmt. Wobei Jason eigentlich gar keine zusätzlichen Pluspunkte sammeln müßte, was Frauen betrifft. Er kommt auch so zurecht. Jason ist attraktiv. Er kann weiß Gott auch ziemlich fies sein, aber die meisten Frauen scheinen gewillt, darüber hinwegzusehen.

„Hallo, Schwesterherz, wie geht's der Oma?“

„Ganz gut, so wie immer eigentlich. Komm doch vorbei und frag sie selbst.“

„Das werde ich auch tun. Wer ist denn so hier heute abend?“

„Guck dich doch um.“ Jason sah sich um, und ich bemerkte allüberall weibliche Hände, die hochflatterten, um Haare, Blusen, Lippen zu überprüfen.

„Aber hallo, da ist ja DeeAnne. Ist sie allein hier?“

„Sie kam mit einem LKW-Fahrer aus Hammond. Er ist auf dem Klo. Nimm dich in acht.“

Jason grinste mir zu, und ich fragte mich resigniert zum wiederholten Male, warum andere Frauen die Selbstgefälligkeit in seinem Lächeln nicht sahen. Selbst Arlene zog ihr T-Shirt zurecht, wenn Jason die Bar betrat, und die hätte doch eigentlich nach vier Ehemännern ein wenig mehr darüber wissen müssen, wie man Männer einschätzt. Dawn, die andere Kellnerin, mit der ich zusammenarbeitete, warf ihr Haar zurück und richtete sich auf, damit ihr Busen besser zur Geltung kam. Jason winkte ihr freundlich zu. Sie tat, als würde sie das gar nicht interessieren. Sie hat sich mit Jason überworfen, aber sie will trotzdem immer noch, daß er sie zur Kenntnis nimmt.

Dann hatte ich viel zu tun - Samstag abend kommen alle wenigstens für ein paar Stunden ins Merlottes -, also bekam ich eine Weile nicht mit, was mein Vampir tat. Als ich wieder Zeit hatte, nach ihm Ausschau zu halten, unterhielt er sich gerade mit Denise. Mack sah den beiden mit einem derart gierigen Ausdruck im Gesicht zu, daß ich sofort anfing, mir Sorgen zu machen.

Ich trat näher an den Tisch heran, an dem die drei saßen, und starrte Mack an. Dann ließ ich meine Wachsamkeit fahren und hörte ihm zu.

Mack und Denise hatten im Gefängnis gesessen, weil sie einen Vampir ausgeblutet hatten!

Zutiefst erschrocken trug ich trotzdem erst einmal völlig mechanisch einen Krug Bier und ein paar Gläser zu einem Tisch mit vier Personen, an dem es schon ziemlich lebhaft zuging. Man schrieb allgemein Vampirblut die Fähigkeit zu, bestimmte Krankheitssymptome vorübergehend zu lindern und die sexuelle Potenz zu steigern - eine Mischung aus Viagra und Prednison in etwa. Es gab einen riesigen Schwarzmarkt für echtes, unverdünntes Vampirblut, und wo es einen Markt gibt, da finden sich auch Leute, die diesen bedienen. In unserem Fall waren das, wie ich gerade hatte erfahren müssen, die beiden Ratten. Sie hatten früher schon Vampire in die Falle gelockt, zur Ader gelassen und pro Ampulle Vampirblut 200 Dollar kassiert. Vampirblut war seit zwei Jahren die große Modedroge. Auch wenn manche Käufer nach dem Genuß des unverdünnten Blutes wahnsinnig geworden waren, hinderte das den Markt nicht, weiterhin zu wachsen und zu gedeihen.

In der Regel überlebten zur Ader gelassene Vampire nicht lange. Die Täter ließen sie entweder einfach gepfählt am Tatort zurück oder luden sie irgendwo in freier Wildbahn ab. Wenn dann die Sonne aufging, blieben keine Spuren. Manchmal fand sich in der Zeitung ein Hinweis darauf, der Spieß sei umgedreht worden, da es den Vampiren gelungen war freizukommen - dann gab es tote Aderlasser.

Nun war mein Vampir aufgestanden und schickte sich an, mit den Ratten zusammen die Bar zu verlassen. Mack fing meinen Blick auf und zuckte sichtlich zusammen, als er feststellen mußte, wie finster ich ihn anblickte. Dann aber drehte er sich um und tat mich mit einem Achselzucken ab. Wie alle anderen auch.

Da wurde ich richtig wütend.

Was sollte ich tun? Ich hatte die Frage noch nicht geklärt, da waren die drei auch schon zur Tür hinaus. Ob der Vampir mir glauben würde, wenn ich ihm nachliefe und ihm erzählte, was ich gehört hatte. Alle anderen glaubten mir nicht, und wenn sie es per Zufall dann doch einmal taten, haßten und fürchteten sie mich dafür, daß ich Gedanken lesen konnte, die in den Köpfen anderer Menschen verborgen waren. Einmal hatte Arlene mich gebeten, den Gedanken ihres vierten Mannes zu lauschen, als der sie eines Abends abholen kam. Sie war sich ziemlich sicher gewesen, daß er plante, sie und die Kinder zu verlassen. Ich hatte mich geweigert; ich wollte die einzige Freundin behalten, die ich überhaupt besaß, und selbst Arlene war damals nicht in der Lage gewesen, mich direkt um diesen Gefallen zu bitten, denn das hätte bedeutet, sich einzugestehen, daß ich wirklich über diese Gabe - diesen Fluch - verfügte. Die Leute wollten es nicht wahrhaben. Also dachten sie lieber, ich sei verrückt, und manchmal war ich ja auch fast schon verrückt.

Also zögerte ich. Ich war verwirrt, verängstigt und sehr wütend, und dann wußte ich, ich mußte ganz einfach irgend etwas unternehmen. Letztlich bewog mich der Blick, den Mack mir zugeworfen hatte, zum Handeln - dieser Blick, der besagt hatte, mich könne man getrost vergessen.

Ich glitt am Tresen entlang zu Jason hinüber, der gerade damit beschäftigt war, DeeAnne zu bezaubern. Viel zu zaubern brauchte man bei ihr nicht, wenn man den Gerüchten Glauben schenken wollte. Finster dreinblickend hockte der Lastwagenfahrer aus Hammond auf der anderen Seite von DeeAnne auf seinem Barhocker.

„Jason“, sagte ich drängend. Er wandte sich um und warf mir einen warnenden Blick zu. „Jason, hör mal, liegt diese Motorradkette immer noch hinten auf deinem Pick-up?“

„Ohne diese Kette verlasse ich das Haus nicht“, erwiderte mein Bruder lässig und ließ seinen Blick rasch über mein Gesicht streifen, um zu sehen, ob es irgendwelchen Ärger gab. „Willst du handgreiflich werden, Sookie?“

Ich strahlte ihn an, so sehr ans Lächeln gewöhnt, daß es mir überhaupt keine Mühe machte. „Das will ich nicht hoffen“, zwitscherte ich vergnügt.

„Brauchst du Hilfe?“ fragte er, denn immerhin war er ja mein Bruder.

„Nein, danke“, sagte ich und versuchte, überzeugend zu klingen. Ich glitt hinüber zu Arlene. „Hör mal, ich muß ein bißchen früher gehen. Meine Tische sind nicht mehr so dicht besetzt, kannst du für mich einspringen?“ Ich glaube, ich hatte Arlene noch nie zuvor um einen solchen Gefallen gebeten, auch wenn ich umgekehrt oft genug für sie eingesprungen war. Wie Jason bot mir auch Arlene Hilfe an, aber ich lehnte ab. „Es wird auch so gehen“, erklärte ich. „Wenn es geht, komme ich auch noch einmal zurück. Wenn du dich solange um meine Tische kümmerst, putze ich dir deinen Wohnwagen!“

Begeistert schüttelte Arlene die rote Mähne.

Ich wies auf den Angestellteneingang, dann auf mich selbst und deutete mit den Fingern Gehbewegungen an, damit Sam wußte, was ich vorhatte.

Sam nickte. Glücklich wirkte er dabei nicht.

Also ging ich zur Hintertür hinaus und bemühte mich, auf dem Kies der Einfahrt dort möglichst wenig Lärm zu machen. Der Parkplatz für Angestellte befindet sich an der Rückseite des Merlottes, und man gelangt dorthin durch eine Tür, die erst einmal in einen Lagerraum führt. Der Koch hatte dort hinten seinen Wagen geparkt, Arlene, Dawn und ich auch. Im östlichen Teil der Anlage, vor seinem Wohnwagen, hatte Sam seinen Pick-up abgestellt.

Der Parkplatz der Angestellten war mit Kies ausgestreut. Ich verließ ihn und trat auf den weitaus größeren, asphaltierten Kundenparkplatz. Das Merlottes befand sich auf einer Waldlichtung, weswegen der Parkplatz mit Bäumen umstanden war. Bei den Bäumen am Rande des Parkplatzes hörte der Asphalt auf, und es lag wieder Kies auf dem Boden. Sam beleuchtete den Kundenparkplatz gut, und im surrealistischen Glanz der hohen Laternen wirkte alles sehr verfremdet.

Ich erkannte den roten, zerbeulten Sportwagen des Rattenpärchens und wußte so, daß die beiden noch in der Nähe waren.

Dann entdeckte ich endlich auch Jasons Pick-up. Er war pechschwarz, an den Seiten verziert mit riesigen aquamarinblauen und rosa Flammen. Jason fiel nun einmal gern immer und überall auf. Hastig zog ich mich an der hinteren Wagenklappe hoch und taste auf der Ladefläche nach Jasons Motorradkette, einer langen, dicken Kette, die er für den Fall, daß er in eine Schlägerei geraten sollte, immer bei sich führte. Ich wickelte mir einen Teil der Kette um die Hand und trug den Rest so nah am Körper, daß er beim Gehen nicht klirrte und mich womöglich verriet.

Dann dachte ich kurz nach. Der einzige Ort, der halbwegs Zurückgezogenheit bot und an den die Rattrays meinen Vampir folglich gelockt haben könnten, befand sich am hinteren Ende des Parkplatzes, dort, wo bereits Äste der umstehenden Bäume über die geparkten Autos ragten. Also schlich ich so rasch, aber auch so geräuschlos es irgend ging in diese Richtung.

Alle paar Sekunden blieb ich stehen, um zu lauschen. Bald schon konnte ich Stöhnen und leise Stimmen hören. Ich schlängelte mich zwischen den geparkten Autos hindurch und entdeckte die drei genau dort, wo ich sie auch erwartet hatte. Der Vampir lag mit schmerzverzerrtem Gesicht rücklings auf dem Boden, und eine glitzernde Kette floß ihm im Zickzack von den Handgelenken bis zu den Knöcheln. Silber! Neben Denises Füßen lagen bereits zwei kleine Ampullen voll Blut, und vor meinen Augen befestigte sie eine weitere leere Vakuumröhre an der Nadel, die unterhalb der Aderpresse, die über dem Ellbogen des Vampirs schmerzhaft in dessen Arm schnitt, in der Haut steckte.

Die Ratten standen mit dem Rücken zu mir, und der Vampir hatte mich noch nicht gesehen. Ich wickelte die Kette von meiner Hand, bis ein guter Meter dicker Kettenglieder frei schwang, wobei ich mich fragte, wen ich mir als ersten vorknöpfen sollte. Beide Ratten waren recht klein, und beide waren hinterhältig.

Ich erinnerte mich an die verächtliche Art, in der Mack mich als unwichtig abgetan hatte, und daran, daß er mir nicht ein einziges Mal ein Trinkgeld hatte zukommen lassen. Zuerst also Mack!

Bis zu diesem Abend hatte ich nie an einer Schlägerei teilgenommen, und irgendwie freute ich mich richtig darauf.

Mit einem Satz sprang ich hinter einem Pick-up hervor, holte aus, und die Kette traf Mack, der neben seinem Opfer am Boden kniete, mit voller Wucht in den Rücken. Mit einem Aufschrei sprang er auf. Denise blickte nur einmal kurz auf und beschäftigte sich dann weiterhin mit ihrer dritten Vakuumröhre. Macks Hand fuhr hinunter zu seinem Stiefel und kam glitzernd wieder hoch. Ich schluckte. Der Typ hielt ein Messer in der Hand.

„Aber nicht doch!“ sagte ich und grinste ihn an.

„Du durchgeknallte Kuh!“ brüllte er daraufhin und hörte sich ganz so an, als freue er sich darauf, sein Messer auch zum Einsatz zu bringen. Ich war zu beschäftigt, um meine geistigen Schutzmechanismen aufrechterhalten zu können, und bekam eine klare Vorstellung dessen, was Mack mir anzutun gedachte. Das brachte mich zur Raserei. Fest entschlossen, ihm so viel Schmerzen zuzufügen wie irgend möglich, warf ich mich auf ihn. Aber er war auf meinen Angriff vorbereitet gewesen und sprang vor, das Messer in der ausgestreckten Hand, während ich erneut mit der Kette ausholte. Er zielte auf meinen Arm, traf aber knapp daneben. Die Kette dagegen wickelte sich, von ihrem eigenen Schwung beflügelt, mit ungeheurer Geschwindigkeit um seinen mageren Hals wie die Arme einer begeisterten Liebhaberin. Das Triumphgeheul, mit dem Mack das Messer gegen mich gerichtet hatte, wandelte sich in ein Gurgeln. Er ließ das Messer fallen, riß mit beiden Händen verzweifelt an der Kette und sank japsend auf dem rauhen Pflaster in die Knie, wobei sein Kniefall mir mein Ende der Kette aus der Hand riß.

Da ging sie also hin, Jasons geliebte Motorradkette. Rasch bückte ich mich, schnappte mir Macks Messer und hielt es so, als wüßte ich, wie man damit umgeht. Denise hatte nämlich Anstalten gemacht, sich auf mich zu werfen, wobei sie in den Lichtern und Schatten der Sicherheitslampen aussah wie eine hinterwäldlerische Hexe.

Als sie sah, daß ich Macks Messer in der Hand hielt, blieb sie wie angewurzelt stehen, fluchte, wütete und sagte schreckliche Dinge. Ich wartete, bis ihr nichts mehr einfiel. „Hau ab“, sagte ich dann. „Auf der Stelle.“

Denise starrte haßerfüllte Löcher in meinen Kopf. Dann versuchte sie, die Blutampullen an sich zu reißen, aber ich zischte ihr zu, sie solle sie lieber lassen, wo sie seien. Also zog sie stattdessen wütend Mack hoch, der immer noch halberstickt gurgelnde Geräusche von sich gab, während er an der Kette zerrte. Sie zog ihn mehr oder weniger hinter sich her zum Wagen und schob ihn dort durch die Beifahrertür. Dann fischte sie mit einem Ruck ein Schlüsselbund aus ihrer Hosentasche und ließ sich selbst auf den Fahrersitz fallen.

Als ich den Motor des Wagens aufheulen hörte, wurde mir mit einem Mal klar, daß die Ratten nun eine andere Waffe hatten. Schneller als ich je in meinem Leben gerannt war, eilte ich zu meinem Vampir, stellte mich neben seinen Kopf und keuchte: „Schieben Sie mit Ihren Füßen!“ Ich griff ihm unter die Arme, und zog mit aller Kraft und er begriff, worum es ging, stemmte seine Füße gegen den Boden und schob. Wir hatten die Baumlinie gerade erreicht, als der rote Wagen auch schon auf uns zuschoß. Denise verpaßte uns um einen knappen halben Meter, weil sie das Steuer herumreißen mußte, um nicht mit einer Kiefer zu kollidieren. Erleichtert hörte ich den schweren Motor des Rattenfahrzeugs in der Ferne verhallen.

„Mein Gott!“ stöhnte ich und kniete neben dem Vampir nieder, weil meine Beine mich nicht mehr tragen wollten. Gut eine Minute lang tat ich nichts anderes, als heftig ein- und auszuatmen und mich wieder zu beruhigen. Dann bewegte sich der Vampir ein wenig, weswegen ich einen Blick auf ihn warf, wobei ich zu meinem großen Entsetzen sehen mußte, daß dort, wo das Silber seine Haut berührte, kleine Rauchwölkchen von seinen Handgelenken aufstiegen.

„Oh, Sie Ärmster!“ rief ich aus und war wütend auf mich, weil ich mich nicht sofort um ihn gekümmert hatte. Immer noch schwer atmend machte ich mich daran, die schmalen Silberbänder zu lösen, die alle Teil einer einzigen langen Kette zu sein schienen. „Armes Kind!“ flüsterte ich entsetzt, und mir war gar nicht klar, wie widersinnig diese Worte waren. Ich bin geschickt, und so waren die Handgelenke des Vampirs schnell befreit. Ich versuchte, mir vorzustellen, womit ihn die Rattrays wohl abgelenkt haben mochten, um ihn in die Position zu manövrieren, in der er sich jetzt befand und in der sie ihm hatten die Ketten anlegen können, und spürte, wie ich rot wurde, als ich mir die entsprechende Szene ausmalte.

Während ich mich an dem Silber zu schaffen machte, das um seine Beine gewickelt war, drückte der Vampir schützend die Arme an seine Brust. Seinen Knöcheln ging es besser, denn die Aderlasser hatten sich nicht die Mühe gemacht, seine Hosenbeine hochzuziehen und die Kette auf der nackten Haut zu plazieren.

„Es tut mir so leid, daß ich nicht schneller hier war!“ sagte ich entschuldigend. „Aber es wird Ihnen bald wieder besser gehen, nicht? Soll ich Sie lieber allein lassen?“

„Nein.“

Das zu hören machte mir Freude, bis er hinzufügte: „Die beiden könnten zurückkommen, und ich bin noch nicht in der Lage zu kämpfen.“ Seine kühle Stimme klang ein wenig unsicher, aber ich hätte nicht sagen können, daß er sich atemlos anhörte.

So warf ich ihm einen ungehaltenen Blick zu und traf dann, während er sich erholte, ein paar wohlüberlegte Vorkehrungen. Ich setzte mich so, daß mein Rücken ihm zugewandt war - vielleicht wollte er ja ein wenig allein sein, bis es ihm besser ging. Ich weiß, wie unangenehm es ist, wenn man leidet, und jemand starrt einen dabei neugierig an. Ich hockte mich also mit dem Rücken zu meinem Vampir auf den Asphalt und behielt den Parkplatz im Auge. Verschiedene Wagen fuhren fort, andere kamen hinzu, aber hierher zu uns unter die Bäume kam niemand. Als sich hinter mir die Luft leicht bewegte, wußte ich, daß sich der Vampir aufgesetzt hatte.

Da er nicht gleich etwas sagte, wandte ich den Kopf nach links, um ihn anzusehen. Er saß dichter bei mir, als ich eigentlich gedacht hatte, und seine großen, dunklen Augen blickten direkt in die meinen. Seine Fangzähne hatten sich zurückgezogen, was mich ein wenig enttäuschte.

„Vielen Dank“, sagte er schließlich steif.

Offenbar war er nicht begeistert darüber, daß eine Frau ihn gerettet hatte. Typisch Mann.

Ich dachte, da er sich so undankbar zeigte, könnte ich auch etwas unhöflich sein. Also ließ ich mein Visier fahren und öffnete meine Gedanken für die seinen, um ihm ein wenig zuzuhören.

Ich hörte ... nichts.

„Oh!“ sagte ich ganz erschrocken und achtete nicht wirklich auf meine Worte. „Ich kann Sie nicht hören!“

„Vielen Dank!“ wiederholte der Vampir, übertrieben laut und deutlich.

„Nein, nein ... was Sie sagen, kann ich schon hören, aber ...“, und in meiner Aufregung tat ich etwas, was ich normalerweise nie täte, weil das aufdringlich wäre und zu persönlich, und weil es zeigen würde, daß ich behindert bin. Ich drehte mich so, daß ich ihm direkt gegenübersaß, legte beide Hände seitlich an sein weißes Gesicht und sah ihm eindringlich in die Augen. Dabei konzentrierte ich mich mit aller Kraft. Nichts! Als hätte man die ganze Zeit Radio hören müssen, und zwar Sender, die man nicht selbst hat aussuchen dürfen, und auf einmal hätte sich das Radio auf einen Sender eingestellt, den es gar nicht empfangen konnte.

Es war einfach himmlisch.

Die Augen des Vampirs wurden immer größer und dunkler, aber er hielt völlig still.

„Entschuldigen Sie bitte!“ sagte ich dann mit einem leisen, erschrockenen Aufschrei, riß meine Hände los und starrte wieder auf den Parkplatz. Mir war die Sache so peinlich, daß ich einfach vor mich hinplapperte, irgendwelche Dinge über Mack und Denise; dabei konnte ich die ganze Zeit an nichts anderes denken als daran, wie wunderbar es wäre, einen Gefährten zu haben, dem ich nicht würde zuhören können, es sei denn, er selbst entschied sich, laut mit mir zu reden. Wie schön sein Schweigen war.

„... und so dachte ich mir: Sieh doch lieber mal nach, ob da draußen auch alles in Ordnung ist“, beendete ich meinen Redeschwall und hätte nicht mehr sagen können, was ich dem Vampir alles erzählt hatte.

„Sie kamen also hier heraus, um mich zu retten. Das war sehr tapfer von Ihnen“, sagte der Vampir mit einer Stimme, die so verführerisch klang, daß DeeAnne bei ihrem Klang auf der Stelle die roten Höschen abgeschüttelt hätte.

„Das können Sie aber mal gleich lassen!“ sagte ich barsch und landete mit einem lauten Plumps auf dem Boden der Tatsachen.

Einen winzigen Augenblick lang schien er verwirrt. Dann war sein Gesicht wieder weiß und glatt wie gewohnt.

„Fürchten Sie sich gar nicht? So ganz allein mit einem hungrigen Vampir?“ fragte er mit einem koketten und doch auch irgendwie gefährlichen Unterton.

„Nein.“

„Denken Sie, Sie seien sicher vor mir, weil Sie zu meiner Rettung herbeigeeilt sind? Denken Sie, ich spüre nach all den Jahren noch einen Hauch Sentimentalität in mir? Vampire wenden sich oft gegen Menschen, die ihnen trauen. Sie müssen wissen, daß die moralischen Werte der Menschen von uns nicht geteilt werden.“

„Es gibt auch eine Menge Menschen, die sich gegen die wenden, die ihnen trauen“, merkte ich an. Wenn ich will, kann ich sehr pragmatisch sein. „Eine völlige Närrin bin ich nicht.“ Damit streckte ich ihm den Arm hin und wandte den Kopf ab. Während er sich erholt hatte, hatte ich mir nämlich die Silberkette der Ratten um Hals und Arme geschlungen.

Der Vampir erschauderte sichtlich.

„Aber da ist noch eine schöne, saftige Arterie in Ihrer Leistengegend!“ sagte er dann, als er sich von seinem Schock erholt hatte, und jetzt klang seine Stimme so schlüpfrig wie eine Schlange auf der Rutsche in der Badeanstalt.

„Reden Sie bloß nicht so unflätig daher“, sagte ich. „So etwas höre ich mir gar nicht an.“

Wieder sahen wir einander schweigend an. Ich hatte Angst, ich würde ihn nie wiedersehen; sein erster Besuch im Merlottes ließ sich ja nicht gerade als großer Erfolg bezeichnen. Also versuchte ich, mir jede Einzelheit seiner Erscheinung einzuprägen. Von dieser Begegnung würde ich noch lange zehren müssen - da wollte ich mir alles ganz genau immer wieder vor Augen halten können. Sie war kostbar, diese Begegnung, ein wahrer Schatz. Gern hätte ich noch einmal seine Haut berührt. Ich wußte schon gar nicht mehr, wie sie sich anfühlte. Aber das würde einerseits die Grenzen des Anstands verletzen und andererseits unter Umständen dazu führen, daß er noch einmal seine Verführernummer abzog.

„Möchten Sie das Blut trinken, das die beiden mir abgenommen haben?“ fragte der Vampir nun ganz und gar unerwartet. „Es wäre eine Möglichkeit für mich, Ihnen meine Dankbarkeit zu erweisen.“ Er wies auf die verschlossenen Ampullen, die immer noch auf der schwarzen Asphaltdecke lagen. „Mein Blut soll ja angeblich Ihr Sexualleben und Ihre Gesundheit auf Trab bringen.“

„Ich bin gesund wie ein Pferd“, erklärte ich, was nichts als die reine Wahrheit war. „Mein Sexualleben ist nicht der Rede wert. Mit dem Blut können Sie machen, was Sie wollen.“

„Vielleicht wollen Sie es ja verkaufen?“ schlug er vor, aber ich glaube, das tat er nur, weil er sehen wollte, wie ich darauf reagierte.

„Ich würde es nicht anrühren“, erwiderte ich abgestoßen, denn seine Worte hatten mich verletzt.

„Sie sind anders als andere“, meinte er nachdenklich. „Was sind Sie?“ So wie er mich ansah, schienen ihm eine Reihe Möglichkeiten durch den Kopf zu gehen, und zu meinem großen Vergnügen konnte ich nicht eine einzige davon hören.

„Ich heiße Sookie Stackhouse und bin Kellnerin“, teilte ich ihm mit. „Wie heißen Sie?“ Das würde ich ihn doch noch fragen dürfen, ohne aufdringlich zu wirken.

„Ich heiße Bill“, erwiderte er.

Ehe ich es verhindern konnte, lag ich auch schon laut lachend auf dem Po. „Ein Vampir mit Namen Bill!“ kicherte ich. „Ich dachte, Sie würden Antoine heißen oder Basil oder Langford - aber ausgerechnet Bill?“ So herzlich hatte ich lange nicht mehr gelacht. „Na, bis bald mal, Bill, ich muß wieder an die Arbeit.“ Sofort spürte ich, wie allein beim Gedanken an das Merlottes das altvertraute, verkrampfte Lächeln in mein Gesicht zurückkehrte. Ich legte Bill die Hand auf die Schulter, stützte mich auf ihr ab und stand auf. Seine Schulter war hart wie Stein, und ich gelangte so rasch wieder auf die Beine, daß ich um ein Haar gestolpert wäre. Nach einem raschen Blick auf meine Socken - um sicherzugehen, daß deren Aufschläge exakt auf derselben Höhe saßen - überprüfte ich alle Einzelteile meiner Uniform auf Spuren meines Kampfes mit den Ratten. Dann klopfte ich mir den Dreck vom Po - immerhin hatte ich auf dem dreckigen Asphalt gesessen - und schlenderte über den Parkplatz zurück zum Merlottes, wobei ich Bill über die Schulter zum Abschied zuwinkte.

Es war ein anregender Abend gewesen, und er hatte mir einiges beschert, über das ich würde nachdenken können. Beim Gedanken daran war mir fast so fröhlich zumute, wie ich es meinem Lächeln zufolge auch hätte sein müssen.

Aber Jason würde sich seiner Kette wegen schrecklich aufregen.

* * *

An diesem Abend fuhr ich gleich nach der Arbeit nach Hause. Ich wohne nur etwa acht Kilometer südlich des Merlottes. Bei meiner Rückkehr war Jason (wie auch DeeAnne) bereits verschwunden gewesen, was meinen Erlebnissen eine weitere positive Note verliehen hatte. Nun, auf der Fahrt zum Haus meiner Großmutter, in dem ich lebe, ging ich die Ereignisse des Abends noch einmal durch. Das Haus meiner Großmutter befindet sich kurz vor dem Friedhof Tall Pines, und der liegt an einer kleinen, zweispurigen Landstraße. Die Anfänge unseres Hauses gehen auf meinen Ur-Ur-Ur-Urgroßvater zurück, und der hatte großen Wert auf seine Privatsphäre gelegt. Will man zu unserem Haus gelangen, so muß man von der Landstraße auf eine lange Einfahrt abbiegen, die durch ein kleines Waldstück führt, und landet dann endlich auf der Lichtung, auf der unser Haus steht.

Das Haus unterliegt nicht dem Denkmalschutz, denn die meisten seiner wirklich alten Bestandteile sind im Laufe der Jahre eingerissen und ersetzt worden; zudem sind wir natürlich an die Stromversorgung angeschlossen, es gibt bei uns fließend Wasser, eine vernünftige Sanitäranlage, Wärmeisolierung, all die guten Dinge, die die moderne Zeit so mit sich bringt. Aber immer noch ziert ein Blechdach unser Haus, dessen Anblick einen an manchen Sonnentagen fast blind werden lassen kann. Das Dach hatte vor ein paar Jahren erneuert werden müssen, und ich hatte dazu normale Dachziegel nehmen wollen, aber das hatte meine Großmutter abgelehnt. Auch wenn ich für das neue Dach gezahlt habe - das Haus ist Omas Haus, und so blieb es natürlich beim Blech.

Historisch wertvoll oder nicht: Als ich ungefähr sieben Jahre alt war, zog ich in dieses Haus, und ich war vorher oft zu Besuch gewesen. Ich liebte das Haus. Es war nichts Besonderes, nur einer dieser großen alten Familienwohnsitze, und eigentlich, nehme ich an, viel zu groß für meine Oma und mich. Über die gesamte Vorderseite zog sich eine geschlossene Veranda, und die Hauswände waren weiß gestrichen, denn meine Oma ist nicht nur in puncto Dächer eine Traditionalistin. Mein Weg führte mich durch das mit allen möglichen leicht ramponierten Möbeln vollgestopfte Wohnzimmer, das haargenau so eingerichtet war, wie es uns paßte, den Flur hinunter zum ersten Schlafzimmer links, dem größten.

Adele Hale Stackhouse, meine Großmutter, saß aufgerichtet in ihrem hohen Bett, die mageren Schultern auf ungefähr eine Million Kissen gestützt. Trotz der warmen Frühlingsnacht trug sie ein langärmliges Baumwollnachthemd. Ihre Nachttischlampe brannte noch, und auf ihrem Schoß ruhte ein aufgeschlagenes Buch.

„Holla!“ sagte ich.

„Hallo, mein Schatz.“

Meine Großmutter ist sehr klein und ungeheuer alt, aber ihr Haar ist immer noch so dicht und so weiß, daß es aussieht, als hätte es einen klitzekleinen Grünstich. Tagsüber rollt sie die Haare irgendwie im Nacken zusammen, aber nachts trägt sie sie offen oder zu Zöpfen geflochten. Ich blickte auf den Rücken ihres Buches.

„Du liest also wieder einmal Danielle Steel?“

„Die Frau kann einfach gut erzählen.“ Bücher von Danielle Steel, die nachmittäglichen Seifenopern (meine Großmutter sagte dazu „meine Geschichten“) und die Treffen der unzähligen Vereine, denen sie angehörte, seit sie erwachsen war, gehörten zu den großen Freuden im Leben meiner Großmutter. Ihre Lieblingsvereine waren die „Nachkommen ruhmreicher Toter“ und der „Gartenbauverein Bon Temps“.

„Rate doch mal, was heute abend passiert ist?“ bat ich nun.

„Du hast dich mit einem Mann verabredet?“

„Nein“, sagte ich und es fiel mir schwer, das Lächeln auf meinem Gesicht nicht erlöschen zu lassen. „Ein Vampir kam ins Lokal!“

„Oh! Hatte er Fangzähne?“

Fangzähne hatte ich im Schein der Parkplatzbeleuchtung schimmern sehen, als die Ratten Bill zur Ader ließen, aber das mußte ich Oma ja nicht unbedingt erzählen. „Klar doch. Allerdings sehr dezente.“

„Ein Vampir, hier mitten in Bon Temps!“ Oma wirkte erfreut. „Hat er irgendwen in der Kneipe gebissen?“

„Oma, wo denkst du denn hin! Er hat einfach nur dagesessen und Rotwein getrunken. Nein: Er hat ein Glas Rotwein bestellt, aber getrunken hat er es nicht. Ich glaube, er brauchte nur ein wenig Gesellschaft.“

„Wo er wohl wohnen mag?“

„Das wird er sicher niemandem erzählen wollen.“

„Nein“, sagte Oma und dachte einen Moment nach. „Wohl kaum. Hat er dir gefallen?“

Das war nun eine wirklich schwierige Frage, und ich brauchte einen Moment, ehe ich sie beantworten konnte. „Ich weiß nicht“, sagte ich dann vorsichtig. „Aber er war auf jeden Fall sehr interessant.“

„Ich würde ihn zu gern kennenlernen!“ Es wunderte mich nicht, diese Worte aus dem Mund meiner Oma zu hören. Die alte Dame hatte fast ebensoviel Freude an neuen Dingen wie ich selbst, und sie gehörte nicht zu den Reaktionären, deren Meinung nach Vampire vom ersten Flügelschlag an verdammt waren. „Aber jetzt will ich lieber schlafen“, fuhr Oma fort. „Ich habe nur gewartet, bis du nach Hause kommst.“

Ich beugte mich vor, um mich mit einem Kuß von ihr zu verabschieden, und sagte: „Gute Nacht.“

Ich ging aus dem Zimmer und zog die Tür hinter mir zu, ohne sie jedoch ganz zu schließen. Dann hörte ich das Klicken, mit dem Oma ihre Nachttischlampe löschte. Tina, meine Katze, kam von irgendwoher, wo sie geschlafen hatte, und rieb sich an meinen Beinen. Ich hob sie hoch und schmuste etwas mit ihr, ehe ich sie für die Nacht nach draußen bugsierte. Dann blickte ich auf die Uhr: Es war fast zwei, und mein Bett rief laut nach mir.

Mein Zimmer liegt dem meiner Oma genau gegenüber auf demselben Flur. Als ich nach dem Tod meiner Eltern bei ihr eingezogen war, hatte Oma die Sachen aus dem Zimmer, das ich im Haus meiner Eltern bewohnt hatte, hierher schaffen lassen, damit ich mich schneller zu Hause fühlte, und hier stehen sie immer noch: das schmale Einzelbett, der Frisiertisch aus weißgestrichenem Holz und die kleine Kommode mit den Schubladen.

Ich schaltete mein Licht an und zog mich aus. Ich besaß mindestens fünf Paar schwarze Shorts und viele, viele weiße T-Shirts, weil die in der Regel so rasch Flecken bekamen. Wieviel Paar weiße Socken zusammengrollt in meiner Sockenschublade ruhten, hätte ich noch nicht einmal sagen können. Jedenfalls mußte ich in dieser Nacht keine Waschmaschine mehr laufen lassen. Zum Duschen war ich zu müde. Ich putzte mir aber immerhin noch die Zähne, wusch mir die Schminke aus dem Gesicht, klatschte mir ein wenig Feuchtigkeitscreme auf die Wangen und löste das Gummiband aus den Haaren.

Dann zog ich mir mein liebstes Micky-Maus-Schlafshirt an, wie ich es immer tue, eins, das mir fast bis zu den Knien reicht, und genoß die Stille in meinem Zimmer. In den frühen Morgenstunden haben fast alle Menschen ihre Gedanken abgeschaltet, niemand denkt, die Vibrationen sind fort, kein Eindringen muß abgewehrt werden. Die Situation war so friedlich, daß mir gerade noch Zeit blieb, mich an die dunklen Augen des Vampirs zu erinnern, ehe ich tief und erschöpft einschlief.

* * *

Am nächsten Tag lag ich zur Mittagszeit in meinem Alu-Klappsessel im Vordergarten und wurde von Sekunde zu Sekunde brauner. Ich trug meinen trägerlosen weißen Lieblingsbikini, und der saß loser als im Sommer zuvor, was mir ungeheure Freude bereitete.

Ich hörte ein Auto die Auffahrt hochkommen, und bald darauf kam Jasons schwarzer Pick-up mit den rosa und aquamarinblauen Flammen darauf nur einen halben Meter vor meinen Füßen zum Stehen.

Mein Bruder Jason kletterte aus dem Führerhaus - habe ich die riesigen Räder des Pick-up bereits erwähnt? - und stakste mit großen Schritten auf mich zu. Er trug, was er bei der Arbeit immer trägt: Jeanshemd und Jeans. Am Gürtel baumelte ein offenes Messer in einem Lederhalfter, wie bei den meisten Männern in unserer Gegend, die im Straßenbau tätig sind. Ich sah allein an Jasons Gang, daß er ziemlich sauer war.

Ich setzte mir erst einmal die Sonnenbrille auf.

„Warum zum Teufel hast du mir nicht erzählt, daß du letzte Nacht die Rattrays zusammengeschlagen hast?“ Mit diesen Worten warf sich mein Bruder in den Aluminiumstuhl, der neben meinem Sessel stand. „Wo ist Oma?“ fügte er dann hinzu, ein wenig spät, wie ich fand.

„Hängt gerade Wäsche auf“, antwortete ich. Wenn es nicht anders ging, bediente sich Oma auch des Wäschetrockners, aber viel lieber hängte sie die nassen Kleidungsstücke draußen auf der Leine in die Sonne. Selbstverständlich war Omas Wäscheleine im hinteren Garten aufgespannt, wie es sich für eine Wäscheleine gehörte. „Zu Mittag brät sie dir ein Steak“, fügte ich hinzu. „Dazu gibt es Süßkartoffeln und die grünen Bohnen, die sie letztes Jahr eingemacht hat.“ Informationen wie diese waren geeignet, Jason von seinem Zorn abzulenken, das wußte ich aus Erfahrung. Ich hoffte, Oma würde noch eine Weile hinter dem Haus zu tun haben, denn ich wollte nicht, daß sie von unserer Unterhaltung etwas mitbekam. „Sprich leise“, bat ich Jason.

„Heute morgen konnte Rene noch nicht einmal warten, bis ich bei der Arbeit war, um mir haarklein alles zu berichten. Er war gestern abend nämlich beim Wohnwagen der Rattrays, weil er ein bißchen Gras kaufen wollte, und er sagt, Denise kam da vorgefahren, als wolle sie wen umbringen. Rene sagt, um ein Haar hätte es ihn erwischt, so sauer war sie. Dann mußte Rene mit anfassen, denn allein hätte Denise Mack nicht in den Wohnwagen schaffen können, und letztlich mußte sie ihn dann nach Monroe ins Krankenhaus bringen.“ Jason starrte mich vorwurfsvoll an.

„Hat Rene dir auch erzählt, daß Mack mit einem Messer auf mich losgegangen ist?“ fragte ich, denn ich war zu der Erkenntnis gelangt, daß sich die ganze Debatte mit einem direkten Gegenangriff am besten beenden ließe. Ich sah Jason an, daß ein Gutteil seiner Empörung aus der Tatsache herrührte, daß er die ganze Geschichte von jemand anderem und nicht von mir erfahren hatte.

„Wenn Denise Rene das erzählt hat, dann hat der es mir gegenüber nicht erwähnt“, meinte Jason langsam und nachdenklich, und ich konnte beobachten, wie sein attraktives Gesicht vor Wut immer dunkler wurde. „Mit einem Messer ist er auf dich losgegangen?“

„Da mußte ich mich doch verteidigen!“ sagte ich, als sei das die selbstverständlichste Sache der Welt. „Dann hat er deine Kette geklaut.“ Was ja irgendwie stimmte, wenn ich auch die Tatsachen etwas verdreht hatte.

„Ich bin ja auch wieder zurückgekommen, um dir alles zu erzählen“, fuhr ich fort. „Aber da warst du schon mit DeeAnne verschwunden, und mir war ja nichts passiert. Da schien es mir nicht der Mühe wert, dir hinterherzulaufen und dich aufzustöbern. Ich wußte, wenn ich dir das mit dem Messer erzähle, fühlst du dich verpflichtet, Mack aufs Dach zu steigen“, fügte ich diplomatisch hinzu, und darin lag mehr Wahrheit als in allem anderen, was ich zuvor gesagt hatte: Jason liebt eine gute Schlägerei von ganzem Herzen.

„Was zum Teufel hattest du überhaupt da draußen zu schaffen?“ fragte er, aber er wirkte bereits viel entspannter, und ich wußte, daß er mir meine Geschichte abgekauft hatte.

„Wußtest du, daß die Ratten Vampire zur Ader lassen und sie ausbluten - mal abgesehen davon, daß sie mit Drogen handeln?“

Jetzt war Jason fasziniert. „Nein ... und?“

„Nun, einer meiner Kunden letzte Nacht war ein Vampir, und die beiden waren da mitten auf dem Parkplatz von Merlottes dabei, ihn zur Ader zu lassen. Das konnte ich unmöglich zulassen.“

„Ein Vampir hier in Bon Temps?“

„Ja, und selbst wenn man einen Vampir vielleicht nicht gerade zum besten Freund haben will, kann man es doch nicht zulassen, daß solcher Abschaum wie die Ratten ihm alles Blut abzapfen. Das ist schließlich etwas anderes, als jemandem Benzin aus dem Tank zu klauen. Die beiden hätten ihn da draußen unter den Bäumen einfach liegen lassen, und er wäre verreckt.“ Das wußte ich nicht genau - ich war von den Ratten nicht in ihre Pläne eingeweiht worden -, aber ich wäre jede Wette eingegangen, daß sie es genau so geplant hatten. Vielleicht hätten sie ihn abgedeckt, damit er den Tag überlebte, aber ein ausgebluteter Vampir braucht mindestens 20 Jahre, um sich zu erholen. So war es zumindest in einer Talkshow von Oprah Winfrey vor kurzem erklärt worden, und er erholte sich überhaupt auch nur dann, wenn ein anderer Vampir ihn betreute.

„Der Vampir war zur gleichen Zeit wie ich in der Kneipe?“ wollte Jason ein wenig verwundert wissen.

„Aber ja doch. Der dunkelhaarige Typ, der neben den Ratten saß.“

Jason grinste über meine Kurzbezeichnung für die Rattrays. Aber leider hatte er mit der vergangenen Nacht noch nicht abgeschlossen. „Woher wußtest du, daß es ein Vampir war?“ fragte er, aber dann warf er mir einen kurzen Blick zu, und es war klar, daß er sich am liebsten auf die Zunge gebissen hätte.

„Ich wußte es einfach“, sagte ich mit völlig unbeteiligter Miene.

„Natürlich“, erwiderte er, worauf sich eine längere wortlose Unterhaltung zwischen uns beiden anschloß.

„In Homulka lebt kein Vampir“, stellte Jason nun nachdenklich fest. Er drehte sein Gesicht so, daß es möglichst viel Sonne abbekam, und ich wußte, daß wir uns wieder auf sicherem Terrain befanden.

„Das stimmt!“ erwiderte ich. Homulka war die Stadt, die man in Bon Temps aus ganzem Herzen und voller Leidenschaft haßt. Seit Generationen waren wir und die aus Homulka Rivalen, was Football, Basketball und historische Bedeutsamkeit betraf.

„Roedale hat auch keinen“, sagte da plötzlich meine Oma, und Jason und ich fielen vor Schreck fast von den Stühlen. Eins muß man Jason ja lassen: Jedes mal, wenn er unsere Oma trifft, springt er auf und gibt ihr einen dicken Kuß.

„Hast du denn auch genug Essen für mich im Ofen, Oma?“ erkundigte er sich dann liebevoll.

„Für dich und noch zwei mehr“, erwiderte Großmutter und lächelte strahlend zu Jason empor. Sie liebte ihn, auch wenn sie seinen (und meinen!) Fehlern gegenüber mitnichten blind war. „Ich erhielt gerade einen Anruf von Evelyn Mason. Sie hat mir erzählt, daß du dich letzte Nacht mit DeeAnne zusammengetan hast.“

„Mannomann, in diesem Kuhkaff hier kann man auch gar nichts machen, ohne daß man gleich erwischt wird,“ murrte Jason, aber er war nicht wirklich wütend.

„Diese DeeAnne“, sagte Oma warnend, während wir uns alle drei auf den Weg ins Haus machten, „war bereits einmal schwanger soweit ich das weiß, einmal. Sieh also zu, daß sie kein Kind von dir kriegt, denn dann kannst du dein Leben lang zahlen. Andererseits: Vielleicht komme ich so wenigstens zu Urenkeln.“

Oma hatte das Essen bereits aufgetragen, also konnten wir uns setzen und das Tischgebet sprechen, sobald Jason seinen Hut aufgehängt hatte, und dann tauschten Jason und Oma Klatsch und Tratsch aus - sie nannten das einander auf Stand bringen -, wobei niemand in unserer kleinen Stadt und Gemeinde verschont blieb. Mein Bruder war bei der Regierung angestellt und beaufsichtigte die Straßenbautrupps in unserer Gegend. Meiner persönlichen Meinung nach tat er nichts weiter, als den ganzen Tag in einem staatseigenen Pick-up durch die Gegend zu fahren, sich dann von der Stechuhr bestätigen zu lassen, daß der Arbeitstag beendet war, in den eigenen Pick-up umzusteigen und die ganze Nacht hindurch weiter herumzukutschieren. Rene gehörte einem der Straßenbautrupps an, die Jason beaufsichtigte. Die beiden waren auch zusammen zur Schule gegangen und verbrachten einen großen Teil ihrer Freizeit zusammen, wozu sich auch oft noch Hoyt Fortenberry gesellte.

„Sookie, ich mußte den Warmwasserboiler im Haus erneuern“, sagte Jason nun plötzlich. Er lebt im alten Haus meiner Eltern, in dem wir alle gewohnt hatten, bis Mutter und Vater bei einer plötzlichen Überschwemmung ums Leben kamen. Danach hatten wir beide bei unserer Großmutter gelebt, aber Jason war nach zwei Jahren College, und nachdem er den Job bei der Regierung hatte antreten können, zurück in das Haus gezogen, das zumindest auf dem Papier zur Hälfte mir gehörte.

„Soll ich mich an den Kosten beteiligen?“ fragte ich.

„Nein, ich habe genug Geld.“

Wir sind beide in Lohn und Brot, verfügen aber zusätzlich noch über ein kleines Einkommen aus einem Fond, der eingerichtet worden war, nachdem man auf dem Grundstück meiner Eltern eine Ölquelle gefunden hatte. Die Ölquelle hatte nach ein paar Jahren zu sprudeln aufgehört, aber meine Eltern und später dann Oma hatten dafür gesorgt, daß das Geld gut angelegt wurde. Dieses Extrapolster erleichterte Jason und mir das Leben erheblich; so waren wir nicht gezwungen, uns abzustrampeln, um gut über die Runden zu kommen. Ich weiß auch nicht, wie meine Oma uns ohne dieses Geld hätte großziehen können, denn sie war fest entschlossen gewesen, kein Land zu verkaufen, und ihr eigenes Einkommen übersteigt nur knapp die Armutsgrenze. Das ist auch einer der Gründe, warum ich mir keine eigene Wohnung miete. Wenn ich für unseren gemeinsamen Haushalt einkaufe, findet Oma das einleuchtend. Würde ich jedoch einkaufen, die Lebensmittel auf ihrem Küchentisch abladen und in meine eigene Wohnung fahren, würde sie das als Mildtätigkeit auffassen. Mildtätigkeit kann meine Oma auf den Tod nicht ausstehen.

„Was für einen Heißwasserboiler hast du denn besorgt?“ fragte ich, nur um zu zeigen, daß ich mich durchaus für Jasons Leben interessierte.

Das hatte er uns auch unbedingt erklären wollen, denn Jason steht völlig auf Elektrogeräte und schilderte nun nur zu gern, wie er die einzelnen Boilermodelle miteinander verglichen hatte, um sich dann letztlich für einen zu entscheiden. Ich bemühte mich, seinen Worten so viel Aufmerksamkeit zu widmen, wie ich irgend konnte.

Aber dann unterbrach er selbst seinen Redefluß. „Sookie, erinnerst du dich noch an Maudette Pickens?“

„Natürlich!“ erwiderte ich überrascht. „Wir haben im selben Jahr den Schulabschluß gemacht.“

„Maudette ist letzte Nacht in ihrer Wohnung umgebracht worden.“

Mit einem Mal waren Oma und ich hellwach. „Wann?“ fragte Oma, baß erstaunt, daß sie bis jetzt noch nichts davon gehört hatte.

„Sie haben sie heute früh in ihrem Schlafzimmer gefunden. Ihr Boß hatte versucht, sie anzurufen, weil er fragen wollte, warum sie gestern und heute morgen nicht zur Arbeit gekommen war. Als sie nicht ans Telefon ging, ist er hingefahren, hat den Hausverwalter geweckt, und die beiden haben dann die Wohnung aufgeschlossen. Wißt Ihr, daß sie direkt gegenüber von DeeAnne wohnte?“ In Bon Temps gab es nur einen einzigen Wohnkomplex, den man als richtiges Mietshaus bezeichnen konnte, ein aus drei Gebäuden bestehendes, zweistöckiges, U-förmiges Gebilde. Also wußten Oma und ich genau, wovon Jason sprach.

„Da ist sie umgebracht worden?“ fragte ich, und mir war speiübel. Ich erinnerte mich an Maudette. Während unserer gesamten Schulzeit war ihr Aussehen von einem äußerst prägnanten Kinn und einem ausladenden Hinterteil geprägt gewesen; sie hatte hübsches schwarzes Haar gehabt und breite Schultern. Sie war eine von den Schweigsamen, Strebsamen gewesen, hatte still vor sich hingebüffelt, weder besonders klug noch besonders ehrgeizig. Soweit ich mich erinnern konnte, hatte sie im Grabbit Kwik gearbeitet, einer Mischung aus Tankstelle und Laden.

„Ja, sie arbeitete seit mindestens einem Jahr dort“, bestätigte Jason.

„Wie ist es denn passiert?“ Meine Großmuter trug den verkniffenen Gesichtsausdruck, mit dem nette Leute einen bitten, schlechte Nachrichten rasch und unumwunden auszuspucken, um die unerfreuliche Sache hinter sich zu bringen.

„Sie trug einige Vampirbisse an ihrer - nun, an der Innenseite ihrer Oberschenkel“, erklärte mein Bruder und sah dabei peinlich berührt auf seinen Teller. „Aber daran ist sie nicht gestorben. Sie wurde erwürgt. DeeAnne hat mir erzählt, Maudette sei gern in diese Vampirkneipe in Shreveport gegangen, wenn sie ein paar Tage frei hatte. Die Bisse kann sie sich da geholt haben. Es muß also nicht unbedingt Sookies Vampir gewesen sein.“

„Maudette war ein Fangbanger?“ Mir wurde fast schwindelig bei dem Gedanken an die langsame, plumpe Maudette in den exotischen schwarzen Kleidern, in die Fangzahnfans sich so gern zu hüllen pflegten.

„Was ist denn ein Fangbanger?“ erkundigte Oma sich. Als dieses Phänomen in der beliebten Talkshow Sally-Jessy erklärt worden war, hatte meine Großmutter wohl nicht ferngesehen.

„Männer und Frauen, die gern mit Vampiren zusammen sind und denen es Spaß macht, gebissen zu werden. Vampirgroupies. In der Regel, sagt man, werden sie nicht alt. Sie verlangen regelrecht nach diesen Bissen, und irgendwann einmal ist es dann einer zu viel.“

„Aber Maudette starb nicht an einem Biß?“ Großmutter wollte sichergehen, daß sie alles richtig verstanden hatte.

„Nein, man hat sie erwürgt.“ Jason hatte seine Mahlzeit nun fast beendet.

„Tankst du nicht immer im Grabbit?“ fragte ich.

„Aber sicher doch, eine Menge anderer Leute auch.“

„Warst du nicht auch manchmal mit Maudette zusammen?“ fragte nun Oma.

„Nun, wenn man so will, ja“, sagte Jason vorsichtig.

Das verstand ich so, daß er mit Maudette geschlafen hatte, wenn sich nichts Besseres finden ließ.

„Ich hoffe, der Sheriff wird dir keine Fragen stellen wollen!“ sagte Oma kopfschüttelnd. Ihr wäre es lieber gewesen, Jason hätte ihre Frage mit nein beantworten können.

„Wieso das denn?“ Jason war knallrot geworden und sah so aus, als fühlte er sich in die Enge getrieben.

Ich faßte die Sache zusammen: „Jedes Mal, wenn du tankst, triffst du Maudette in ihrem Laden. Du gehst sozusagen mit ihr, und sie wird tot in einer Wohnung gefunden, mit der du ziemlich vertraut bist.“ Viel sprach nicht gegen Jason, aber es war immerhin etwas. In Bon Temps geschah nicht oft ein mysteriöser Mord - ich konnte mir denken, daß der Sheriff bei seinen Ermittlungen keine noch so geringe Spur außer acht lassen würde.

„Ich bin nicht der einzige, auf den das zutrifft! Eine Menge anderer Typen tanken in dem Laden, und die kannten Maudette alle.“

„Ja, aber in welchem Sinne?“ fragte meine Großmutter ganz unverblümt. „Sie war doch keine Prostituierte, oder? Also wird sie erzählt haben, mit wem sie sich traf.“

„Maudette war keine Nutte. Sie hatte nur gern ein wenig Spaß!“ Es war nett von Jason, Maudette zu verteidigen - und im Lichte dessen, was ich über seinen selbstsüchtigen Charakter wußte, kam diese Verteidigung auch ein wenig unerwartet. Fast war ich geneigt, eine bessere Meinung von meinem großen Bruder zu bekommen. „Ich glaube, sie war ein wenig einsam“, fügte er dann noch hinzu.

Mit diesen Worten blickte Jason Oma und mich an und konnte wohl sehen, daß wir beide verwundert und ein wenig gerührt dreinschauten.

„Wo wir gerade von Prostituierten sprechen“, sagte er daraufhin hastig, „in Monroe gibt es eine, die sich auf Vampire spezialisiert hat. Sie hat immer einen Kerl mit einem Pfahl in der Nähe, für den Fall, daß es einen der Vampire überkommt und er zu weit geht, und trinkt synthetisches Blut, um den Blutverlust auszugleichen.“

Jason wollte eindeutig das Thema wechseln, und Oma und ich dachten scharf darüber nach, welche Fragen wir ihm zu dieser neuen Sache stellen konnten, ohne undamenhaft zu wirken.

„Was sie wohl nimmt?“ fragte ich schließlich beherzt, und als Jason die Summe nannte, die ihm zugetragen worden war, schnappten Oma und ich beide vernehmlich nach Luft.

Nun waren wir endgültig vom Mord an Maudette abgekommen, und das Mittagessen endete wie stets: Als der Abwasch anstand, blickte Jason auf seine Uhr und rief entsetzt aus, nun müsse er sich aber sputen.

Die Gedanken meiner Großmutter drehten sich, wie ich bald feststellen konnte, weiterhin um Vampire. Sie kam zu mir ins Zimmer, als ich mich gerade schminkte, um zur Arbeit zu gehen.

„Was denkst du: Wie alt ist der Vampir, den du kennengelernt hast?“ wollte sie wissen.

„Das könnte ich wirklich nicht sagen, Oma.“ Ich war gerade dabei, den Lidstrich zu ziehen, hatte die Augen weit aufgerissen und gab mir alle Mühe, mein Gesicht nicht zu verziehen, um mir nicht aus Versehen den Stift ins Auge zu stechen. So klang meine Stimme etwas verzerrt, als würde ich gerade für einen Auftritt in einem Horrorfilm proben.

„Meinst du, er ... er erinnert sich vielleicht noch an den Krieg?“

An welchen Krieg, das brauchte ich gar nicht zu fragen. Immerhin war Oma eingetragenes Mitglied der Nachkommen ruhmreicher Toter.

„Könnte sein“, sagte ich und drehte mein Gesicht vor dem Spiegel hin und her, um sicherzugehen, daß ich den Lidschatten gleichmäßig aufgetragen hatte.

„Ob er einmal vorbeikommen und einen kleinen Vortrag halten könnte? Wir könnten dafür eine Extraveranstaltung planen.“

„Eine nächtliche Veranstaltung“, rief ich ihr ins Gedächtnis.

„Ja! Das müßte dann wohl so sein.“ In der Regel trafen sich die Nachkommen zur Mittagsstunde in der Leihbücherei, wobei jeder seine eigenen belegten Brote mitbrachte.

Ich dachte über die Sache nach. Den Vampir direkt zu bitten, als Dank für die Errettung vor dem Ausbluten im Verein meiner Oma einen Vortrag zu halten, wäre grob unhöflich gewesen, aber vielleicht würde eine kleine Andeutung reichen, um ihn von selbst darauf zu bringen? Gern tat ich es nicht, aber Oma zuliebe würde ich es versuchen. „Ich frage ihn, wenn er das nächste Mal in die Kneipe kommt“, versprach ich.

„Er könnte auch hierher kommen, ich zeichne seine Erinnerungen dann auf Band auf.“ Ich hörte förmlich, wie Großmutters Verstand auf Hochtouren lief. Was für einen Coup sie da unter Umständen würde landen können! „Das wäre doch so interessant für die anderen Clubmitglieder“, fügte sie lammfromm hinzu.

Mühsam unterdrückte ich ein Kichern. „Ich sage es ihm“, versprach ich noch einmal. „Wir werden ja sehen.“

Als ich ging, war Oma ganz klar damit beschäftigt, ihre Eier bereits zu zählen, noch ehe die Hühner sie gelegt hatten.

* * *

Ich hatte nicht daran gedacht, daß Rene Lenier ja auch Sam die Geschichte mit der Schlägerei auf dem Parkplatz erzählt haben könnte. Aber dieser Rene war ein fleißiges Bienchen gewesen. Als ich am Nachmittag zur Arbeit kam, lag Aufregung in der Luft, ich ging jedoch davon aus, daß das mit Maudettes Ermordung zu tun hatte. Leider mußte ich feststellen, daß meine Annahme in diesem Fall falsch war.

Sobald ich durch die Tür war, nahm Sam mich beiseite und drängte mich in den Lagerraum. Er war stocksauer und machte mich nach Strich und Faden fertig.

Noch nie war Sam wütend auf mich gewesen; so war ich bald den Tränen nah.

„Wenn du denkst, ein Kunde von uns sei hier nicht sicher, dann sagst du mir das und ich kümmere mich darum. Nicht du!“ donnerte er jetzt bereits zum sechsten Mal, und da endlich wurde mir klar, daß Sam sich um mich gesorgt hatte.

Ich hatte nämlich ganz kurz einen entsprechenden Gedanken erhascht, der Sam durch den Kopf geschossen war, aber dann verbot ich mir umgehend und strikt, meinem Arbeitgeber weiterhin „zuzuhören“. Wenn man einem Chef zuhört, führt das zum Desaster.

Mir war überhaupt nicht in den Sinn gekommen, Sam oder jemand anderen um Hilfe zu bitten.

„Und wenn du denkst, es geht gerade jemandem auf unserem Parkplatz an den Kragen, dann rufst du die Polizei und stürzt dich nicht einfach blind ins Getümmel wie die gottverdammte Bürgerwehr!“ fauchte Sam als nächstes. Seine helle, immer leicht rötliche Haut leuchtete röter denn je, und sein dichtes goldenes Haar wirkte zerzaust und ungekämmt.

„Ja doch, schon gut!“ erwiderte ich und gab mir alle Mühe, nicht zu zittrig zu klingen und die Augen so weit aufzureißen, daß die Tränen mir nicht ins Gesicht kullerten. „Schmeißt du mich jetzt raus?“

Die Frage schien ihn noch mehr aufzubringen. „Nein!“ schrie er. „Ich will dich nicht verlieren!“ Mit diesen Worten packte er mich bei den Schultern und schüttelte mich. Danach stand er einfach nur da, mit weit aufgerissenen blauen Augen, aus denen Funken sprühten, und ich spürte die Hitzewelle, die von ihm ausging. Meine Behinderung verschlimmert sich mit direktem Körperkontakt, denn dann kann ich nicht verhindern, daß ich der betreffenden Person zuhöre, im Gegenteil: Zuhören wird zur zwingenden Notwendigkeit. Ich starrte ihn ziemlich lange an. Dann fiel mir wieder ein, wer und wo ich war, und ich sprang entsetzt zurück. Sam ließ die Hände sinken.

Völlig verwirrt machte ich auf dem Absatz kehrt und verließ den Lagerraum.

Ich hatte gerade ein paar höchst beunruhigende Dinge erfahren: Sam begehrte mich, das war das eine, und ich konnte seine Gedanken nicht annähernd so deutlich hören wie die anderer Menschen. Zwar hatte ich einen groben Eindruck von dem erhalten, was er empfand, aber einzelne Gedanken hatte ich nicht gehört. Mehr wie ein Blick auf ein Stimmungsbarometer, wenn Sie verstehen, was ich meine - im Gegensatz zu einem Fax, auf dem man alle Details nachlesen kann.

Was sollte ich nun also mit meinem neuen Wissen anfangen?

Gar nichts!

Sam war für mich nie ein Mann fürs Bett gewesen - zumindest nicht für mein Bett -, und das aus einer Vielzahl von Gründen. Von denen war der grundlegendste der, daß ich überhaupt keinen Menschen auf Bettauglichkeit hin ansah, und das nicht, weil mir die Hormone gefehlt hätten - Gott bewahre, eher das Gegenteil, aber ich halte meine Hormone stets in Schach, denn Sex ist für mich das reinste Desaster. Können Sie sich vorstellen, jeden einzelnen Gedanken Ihres Sexualpartners zu kennen? Genau. So etwa „Mein Gott, was für ein Muttermal ... und ihr Hintern ist wirklich ein bißchen fett. Ich wünschte, sie würde weiter links ... warum merkt sie das denn nicht!“ Ich denke, Sie bekommen eine ungefähre Vorstellung. So etwas kühlt hitzige Gefühle ungeheuer ab, das können Sie mir glauben, und es ist völlig unmöglich, ein mentales Visier zugeklappt zu halten, wenn man mit jemandem schläft.

Dazu kommt, daß ich Sam als Chef mag und meine Arbeit gern tue. Sie sorgt dafür, daß ich aktiv bleibe und aus dem Haus komme und Geld verdiene und nicht zur Einsiedlerin werde, wie meine Oma immer befürchtet. Büroarbeit ist sehr anstrengend für mich, und eine Ausbildung am College war überhaupt nicht in Frage gekommen, denn die dafür notwendige ausdauernde Konzentration hätte mich förmlich ausgelaugt.

Den Ansturm des Begehrens, den ich bei Sam gespürt hatte, wollte ich von daher erst einmal lediglich in meinem Kopf bewegen. Es war ja nun nicht so, als hätte er mir verbal einen Antrag gemacht oder mich im Lagerraum leidenschaftlich zu Boden geworfen. Lediglich gespürt hatte ich seine Gefühle, und so konnte ich sie, wenn mir danach zumute war, auch ignorieren. Ich wußte Sams Feingefühl zu schätzen und fragte mich, ob er mich wohl absichtlich berührt hatte; ob er wußte, was ich war.

Also sorgte ich in dieser Nacht dafür, daß ich nie mit meinem Chef allein war. Ich muß zugeben, daß mich der Vorfall ziemlich aufgewühlt hatte.

* * *

In den beiden darauffolgenden Nächten ging es schon besser. Sam und ich fanden zu unserem gewohnten, vertrauten Umgangston zurück. Ich war erleichtert, ich war enttäuscht, und ich war pausenlos auf den Beinen: Der Mord an Maudette bescherte unserem Lokal hervorragende Umsätze. Alle möglichen Gerüchte schwirrten in Bon Temps umher, und das Nachrichtenteam von Shreveport brachte einen kleinen Beitrag über das grausame Ableben der Maudette Pickens. Ich nahm nicht an Maudettes Beerdigung teil, wohl aber meine Großmutter, die mir erzählte, die Kirche sei proppenvoll gewesen. Arme, plumpe Maudette mit den zerbissenen Oberschenkeln; tot war sie wesentlich interessanter, als sie es lebend je gewesen war.

Mir standen als nächstes zwei freie Tage zu, weshalb ich mir Sorgen machte, ob mir so eine Begegnung mit Bill, dem Vampir, entgehen könnte. Ich mußte ihm doch die Bitte meiner Großmutter übermitteln. Er war nicht wieder im Merlottes aufgetaucht, weswegen ich mich bereits fragte, ob er überhaupt je wieder vorbeischauen würde.

Auch Mack und Denise waren seit jenem Abend nicht wieder im Merlottes gewesen, aber Rene Lenier und Hoyt Fortenberry hatten dafür gesorgt, daß ich erfuhr, welche schrecklichen Dinge mir die beiden anzutun gedachten. Wobei ich nicht sagen kann, inwiefern mich der Gedanke daran wirklich beunruhigte. Die Ratten zählten für mich zum kriminellen Abschaum, der nun einmal die Autobahnen und Wohnwagenparks Amerikas mitbevölkert, und der nie über genug Grips oder Moral verfügt, seßhaft zu werden und einer produktiven Arbeit nachzugehen. Solche Leute waren meiner Meinung nach wertloser als ein Sack Bohnen und leisteten nie auch nur den geringsten positiven Beitrag für die Menschheit. Ich tat also Rene Leniers Warnungen mit einem Achselzucken ab.

Aber er genoß es sichtlich, die Warnung zu übermitteln. Bei Rene handelte es sich, ähnlich wie bei Sam, um einen eher zierlichen Mann. Im Gegensatz zu Sam mit den rosigen Wangen und dem blonden Schopf war Rene jedoch eher dunkelhäutig, mit einer buschigen Mähne dicken, schwarzen Haars, durch das sich bereits die ersten grauen Strähnen zogen. Rene kam oft zu uns in die Kneipe, um ein Bier zu trinken und Arlene Gesellschaft zu leisten, die ihm, wie er gern allen Anwesenden erklärte, von seinen Ex-Frauen die liebste war. Rene hatte drei Ex-Frauen. Im Vergleich zu Rene war Hoyt Fortenberry nichtssagend: weder rosig noch dunkel, weder groß noch klein. Hoyt wirkte stets fröhlich und gab anständige Trinkgelder. Er bewunderte meinen Bruder Jason weit mehr, als der es meiner Meinung nach verdiente.

Ich war froh, daß Rene und Hoyt in der Nacht, in der der Vampir zurückkam, nicht in der Kneipe waren.

Er saß wieder am selben Tisch.

Nun, wo ich ihn leibhaftig vor mir hatte, fühlte ich mich plötzlich ein wenig schüchtern. Ich stellte fest, daß ich vergessen hatte, wie seine Haut sanft, kaum wahrnehmbar, schimmerte. Dafür hatte mich mein Gedächtnis belogen und leicht übertrieben, was seine Größe und den scharf geschnittenen Schwung seines Mundes betraf.

„Was kann ich für Sie tun?“ fragte ich den Vampir.

Er sah zu mir auf. Auch wie unendlich tief seine Augen waren, hatte ich vergessen. Er lächelte nicht und zuckte mit keiner Wimper, er saß einfach völlig unbeweglich da, und erneut entspannte ich mich in seinem Schweigen. Ich ließ mein Visier sausen und spürte, wie meine Gesichtsmuskeln sich entkrampften. So angenehm muß eine Massage sein, dachte ich mir.

„Was sind Sie?“ fragte er mich nun. Das wollte er jetzt bereits zum zweiten Mal wissen.

„Kellnerin“, antwortete ich, womit ich seine Frage auch diesmal wieder absichtlich falsch verstand. Gleich darauf spürte ich mein Lächeln, das wieder einrastete, und mein kleiner Moment Frieden mit der Welt war vorüber.

„Rotwein“, bestellte er, und wenn er enttäuscht war, hörte ich es ihm nicht an.

„Klar“, sagte ich. „Das synthetische Blut kommt bestimmt morgen mit der nächsten Lieferung. Könnte ich nach der Arbeit kurz mit Ihnen sprechen? Ich würde Sie gern um einen Gefallen bitten.“

„Natürlich. Ich stehe in Ihrer Schuld.“ Es war dem Vampir deutlich anzuhören, daß ihm das ganz und gar nicht paßte.

„Es geht nicht um einen Gefallen für mich“, sagte ich, nun auch ein wenig verärgert. „Es geht um einen Gefallen für meine Oma. Um halb zwei habe ich Feierabend. Wenn Sie dann noch auf sind - und ich nehme doch an, Sie sind dann noch auf? - würde es Ihnen viel ausmachen, mich beim Angestellteneingang abzuholen? Er ist an der Rückseite des Hauses.“ Mit einem Nicken wies ich auf die entsprechende Tür, und mein Pferdeschwanz hüpfte in meinem Nacken hin und her. Bills Augen folgten der Bewegung meines Haars.

„Es wäre mir ein Vergnügen.“

Ich wußte nicht, ob er mit dieser Bemerkung die Höflichkeitsformen wahrte, die meiner Oma zufolge in längst vergangenen Zeiten gang und gäbe gewesen waren, oder ob er sich einfach nur auf die gute alte Weise über mich lustig machen wollte.

Ich widerstand der Versuchung, ihm die Zunge herauszustrecken oder eine Kußhand zuzuwerfen. Statt dessen machte ich auf dem Absatz kehrt und eilte mit energischen Schritten zurück zum Tresen. Ich brachte ihm seinen Wein, kassierte, und er gab mir 20 Prozent Trinkgeld. Als ich bald darauf einmal zu seinem Tisch hinübersah, mußte ich feststellen, daß er bereits wieder verschwunden war. Ich fragte mich, ob er Wort halten und mich wirklich abholen würde.

Später führte eins zum anderen, und so kam es, daß Arlene und Dawn früher gehen konnten als ich. Besonders lange hielt mich die Tatsache auf, daß sich auf allen meinen Tischen so gut wie keine Papierservietten mehr in den dafür vorgesehenen Behältnissen befanden. Als ich endlich soweit war, meine Handtasche aus dem verschließbaren Schrank in Sams Büro holen zu können, in dem ich sie während der Arbeit aufbewahrte, rief ich vom Büro aus meinem Chef einen Abschiedsgruß zu. Ich konnte ihn in der Männertoilette rumoren hören; wahrscheinlich versuchte er, den lecken Schwimmerkasten dort zu reparieren. Dann ging ich kurz in den Waschraum der Damen, um nachzusehen, ob mit meiner Frisur und meinem Make-up noch alles stimmte.

Schließlich trat ich vor die Tür, wo mir sofort auffiel, daß Sam die Lampen auf dem Kundenparkplatz bereits ausgeschaltet hatte und nur die Sicherheitsleuchte auf dem Mast vor seinem Wohnwagen noch Licht auf den Angestelltenparkplatz warf. Arlene und Dawn spöttelten oft darüber, daß Sam vor seinem Wohnwagen einen Garten angelegt und Buchsbaum gepflanzt hatte. Besonders gern foppten sie ihn damit, wie schön gerade er seine Hecke schnitt.

Meiner Meinung nach war der Garten sehr hübsch.

Sams Pick-up stand wie immer vor seinem Wohnwagen, und so war mein Auto das einzige Fahrzeug auf dem Parkplatz.

Ich reckte mich auf die Zehenspitzen, um mich umzusehen. Weit und breit kein Bill. Es erstaunte mich, wie enttäuscht ich darüber war. Eigentlich hatte ich gedacht, er sei höflich genug, aufzutauchen, selbst wenn sein Herz (falls er denn eines haben sollte) nicht wirklich an der Verabredung hing.

Dann hoffte ich mit einem halben Lächeln auf den Lippen noch, er würde sich vielleicht aus einem der umstehenden Bäume fallen lassen und, in ein rotgefüttertes schwarzes Cape gehüllt, direkt vor meinen Füßen landen, aber nichts dergleichen geschah. So trottete ich hinüber zu meinem Auto.

Ich hatte eine Überraschung erhofft, aber gewiß nicht die, die mir dann zuteil wurde.

Mack Rattray sprang hinter meinem Auto hervor und stand mit einem einzigen Satz so nah vor mir, daß er mir einen Kinnhaken verpassen konnte. Er hatte all seine Kraft in diesen Schlag gelegt und sich nicht zurückgehalten; so kippte ich wie ein Sack Zement hintenüber auf den Kies. Im Fallen hatte ich geschrien, aber dann schlug ich so hart auf, daß mir die Luft wegblieb. Noch dazu war mir die Haut an einigen Stellen aufgeplatzt. So lag ich da, still, atemlos und hilflos. Als nächstes sah ich, wie Denise mit ihrem schweren Stiefel zum Tritt ausholte, und dieser Anblick war mir gerade noch rechtzeitig eine Warnung. Ich rollte mich zusammen, und sofort prasselten die vereinten, gezielten Fußtritte beider Rattrays auf mich nieder.

Der Schmerz setzte umgehend ein, ungeheuer intensiv und gnadenlos. Ich versuchte instinktiv, mein Gesicht in den Armen zu bergen und zu schützen, weshalb die Tritte auf meinen Unterarmen, den Beinen und meinem Rücken landeten.

Während der ersten Tritte war ich mir, glaube ich, noch sicher, daß die beiden irgendwann aufhören und mit ein paar wüsten Warnungen und Verwünschungen wieder verschwinden würden. Aber ich erinnere mich noch genau an den Moment, in dem mir klar wurde, daß die beiden vorhatten, mich zu töten.

Daliegen und ertragen, daß man mich zusammenschlug, das konnte ich. Aber ich würde nicht einfach nur so daliegen und mich umbringen lassen.

Deshalb packte ich, als nun wieder ein Bein auf mich lostrat, zu und klammerte mich mit all meiner Kraft daran fest. Auch versuchte ich zuzubeißen, um zumindest einem der beiden meinen Stempel aufzudrücken. Ich hätte noch nicht einmal sagen können, wessen Bein ich da erwischt hatte.

Plötzlich hörte ich ein Knurren. Oh Gott, dachte ich, sie haben einen Hund dabei! Das Knurren klang bösartig und feindlich. Bei diesem Geräusch hätten sich mir sicher, falls ich noch irgendwelche Emotionen übrig gehabt hätte, alle Nackenhaare zu Berge gestellt.

Noch einen Tritt, der direkt meine Wirbelsäule traf, mußte ich einstecken, dann hörte es plötzlich auf.

Dieser letzte Tritt aber hatte mir irgend etwas Schreckliches angetan. Ich konnte meinen eigenen Atem hören, der röchelnd und stoßweise ging, und dann war da ein ganz eigenartiges, blubberndes Geräusch, das aus meinen eigenen Lungen zu kommen schien.

„Was zum Teufel ist denn das?“ fragte da Mack Rattray, und er klang zu Tode erschrocken.

Ich hörte wieder das Knurren, näher, direkt hinter mir. Aus einer anderen Richtung hörte ich eine Art Fauchen. Dann fing Denise zu heulen an. Mack fluchte. Denise riß mir ihr Bein aus den Händen, die mit einem Mal sehr schwach zu sein schienen und mir nicht mehr gehorchen wollten. Mein rechter Arm war gebrochen, das sah ich noch, obwohl mir langsam alles vor Augen verschwamm. Mein Gesicht fühlte sich feucht an, und ich scheute mich ängstlich, überhaupt mit der Bestandsaufnahme meiner Verletzungen fortzufahren.

Jetzt schrie erst Mack, und dann schrie auch Denise, und um mich herum schien allerhand los zu sein, aber ich konnte mich nicht bewegen. Alles, was ich sehen konnte, waren mein gebrochener Arm, meine zerschmetterten Knie und die Dunkelheit unter meinem Auto.

Irgendwann später war alles still. Hinter mir winselte der Hund. Eine kalte Nase stieß an mein Ohr, und eine warme Zunge leckte daran. Ich versuchte, die Hand zu heben und den Hund zu streicheln, der zweifelsohne mein Leben gerettet hatte, aber ich war dazu nicht in der Lage. Ich hörte mich aufseufzen, und der Seufzer schien von unendlich weit her zu kommen.

Da stellte ich mich den Tatsachen und sagte: „Ich sterbe.“ Denn daß es so war, schien mir von Sekunde zu Sekunde wahrscheinlicher, realer. Die Frösche und Zikaden, die sich zuvor die Nachtstunden nach besten Kräften zunutze gemacht hatten, waren verstummt, als all der Lärm und die Hektik auf dem Parkplatz losgegangen war - insofern war mein leises Stimmchen gut zu hören und drang in die Stille der dunklen Nacht. Merkwürdigerweise hörte ich kurz darauf zwei Stimmen.

Dann kamen zwei in blutverschmierte Jeans gehüllte Knie in Sicht, und der Vampir Bill beugte sich über mich, so daß ich ihm ins Gesicht sehen konnte. Sein Mund war blutverschmiert, und die ausgefahrenen Fangzähne glitzerten weiß über der Unterlippe. Ich versuchte, ihm zuzulächeln, aber meine Gesichtsmuskeln funktionierten nicht richtig.

„Ich werde Sie jetzt hochheben“, sagte Bill und klang bei diesen Worten ganz ruhig.

„Wenn Sie das tun, sterbe ich“, flüsterte ich.

Bill musterte mich prüfend von oben bis unten. „Nicht gleich“, meinte er dann, als er seine Einschätzung vorgenommen hatte. Danach ging es mir merkwürdigerweise sofort besser, denn, so dachte ich mir, er kannte sich mit Verletzungen bestimmt aus. Sicher hatte er im Laufe seines langen Lebens einige zu Gesicht bekommen.

„Das wird jetzt wehtun“, warnte er mich.

Aber ich konnte mir kaum etwas vorstellen, was in dieser Situation nicht weh getan hätte.

Ehe ich noch Zeit hatte, mich vor neuen Schmerzen zu fürchten, hatte er schon beide Arme unter mich geschoben. Ich schrie, mein Schrei jedoch war so schwach, daß er kaum zu hören war.

„Schnell!“ drängte eine Stimme.

„Wir gehen nach hinten in den Wald, wo niemand uns sehen kann“, sagte Bill, während er meinen Körper vorsichtig an sich drückte, als wöge er gar nichts.

Wollte er mich etwa da hinten außer Sichtweite einfach verscharren? Nachdem er mich gerade vor den Ratten gerettet hatte? Aber irgendwie war mir das fast schon egal.

Als er mich dann in der Dunkelheit des Waldes auf einen Teppich aus Kiefernnadeln bettete, fühlte ich mich nur unwesentlich erleichtert. Ich sah in der Ferne das eine Licht auf dem Parkplatz schimmern. Ich spürte, wie mir Blut aus dem Haaransatz sickerte und spürte auch den Schmerz in meinem gebrochenen Arm und den all der anderen Verletzungen, aber das, was mir am meisten Angst machte war das, was ich nicht spürte.

Ich konnte meine Beine nicht spüren.

Mein Unterleib fühlte sich voll an, schwer. In meinem Kopf - in dem, was von meinem Kopf noch funktionierte - hatte sich der Gedanke „innere Blutungen“ festgesetzt.

„Sie werden sterben, wenn Sie nicht genau das tun, was ich Ihnen sage“, verkündete Bill.

„Tut mir leid, will kein Vampir sein“, murmelte ich, und meine Stimme klang unendlich dünn und schwach.

„Nein, das werden Sie auch nicht“, sagte er deutlich sanfter. „Aber Ihre Wunden werden sehr rasch heilen. Ich kann Sie heilen. Aber Sie müssen dazu bereit sein.“

„Dann fahren Sie Ihre Künste auf“, flüsterte ich. „Ich bin bereit.“ Denn schon fühlte ich das Grau nach mir greifen.

Als nächstes hörte der Teil meines Kopfes, der noch die Signale der Welt auffing, wie Bill aufstöhnte, als sei er verletzt worden. Dann wurde etwas gegen meinen Mund gedrückt.

„Trinken Sie“, sagte der Vampir.

Ich versuchte, die Zunge vorzustrecken, und es gelang mir auch. Bill blutete und preßte um die Wunde an seinem Handgelenk die Haut zusammen, um das Blut schneller in meinen Mund fließen zu lassen. Ich mußte würgen. Aber ich wollte leben. So zwang ich mich zum Schlucken und schluckte noch einmal.

Plötzlich schmeckte das Blut wunderbar, salzig, der Stoff, aus dem Leben gemacht ist. Mein ungebrochener Arm hob sich, meine Hand preßte das Handgelenk des Vampirs an meinen Mund. Mit jedem Schluck ging es mir besser. Nach etwa einer Minute sank ich in einen leichten Schlummer.

Als ich erwachte, befand ich mich immer noch im Wald, lag immer noch auf dem Kiefernteppich. Jemand lag neben mir; der Vampir. Ich sah sein Schimmern und spürte, wie seine Zunge mir über den Kopf fuhr. Er leckte meine Kopfwunde, was ich ihm wohl kaum verdenken konnte.

„Schmecke ich anders als andere Menschen?“ fragte ich.

„Ja“, antwortete er mit belegter Stimme. „Was sind Sie?“

Er hatte zum dritten Mal gefragt. Aller guten Dinge sind drei, sagte meine Oma immer.

„He, ich bin nicht tot“, rief ich da plötzlich aus. Mir war wieder eingefallen, wie fest ich damit gerechnet hatte, mich endgültig abmelden zu müssen. Dann schlenkerte ich mit meinem Arm, mit dem, der gebrochen gewesen war. Er fühlte sich immer noch schwach an, schwang aber nicht mehr hilflos hin und her. Auch meine Beine waren wieder zum Leben erwacht, und ich konnte mit den Zehen wackeln. Zur Probe atmete ich einmal tief ein und wieder aus und freute mich über den sanften Schmerz, den mir das zufügte. Ich versuchte, mich aufzusetzen, und auch das war nicht unmöglich, wenngleich es sich als etwas schwierig erwies. Ich fühlte mich wie damals als Kind am ersten fieberfreien Tag nach meiner Lungenentzündung: schwach, aber voller Freude. Ich wußte, daß ich etwas Schlimmes überlebt hatte.

Ehe ich mich noch ganz aufgerichtet hatte, schob der Vampir die Arme unter mich und drückte mich an seine Brust. Ich fühlte mich sehr wohl dort auf seinem Schoß, den Kopf an seiner Brust vergraben.

„Ich bin Telepathin“, sagte ich. „Ich kann die Gedanken anderer Menschen hören.“

„Selbst meine?“ Es hörte sich an, als sei er lediglich neugierig.

„Nein. Deswegen mag ich Sie ja auch so“, sagte ich und schwebte auf einer rosa Wolke aus reinem Wohlgefühl. In diesem Moment wollte ich mich nicht damit befassen, meine Gefühle zu verbergen.

Ich spürte, wie Bills Brust sich hob und senkte: Der Vampir lachte. Das Lachen hörte sich etwas verrostet an.

„Sie kann ich nämlich ganz und gar nicht hören“, plapperte ich weiter vor mich hin, und meine Stimme klang verträumt. „Sie wissen ja nicht, wie friedlich sich das anfühlt. Ein Leben lang ständig Blablabla und dann gar nichts.“

„Wie schaffen Sie es denn, mit Männern auszugehen? Mit Männern Ihres Alters, meine ich, die doch sicher an nichts anderes denken als daran, wie sie Sie am schnellsten ins Bett bekommen?“

„Nun, gar nicht. Ich schaffe es gar nicht, und ich glaube auch, daß alle Männer, ganz gleich welchen Alters, eine Frau immer nur ins Bett zerren wollen. Ich gehe nicht aus. Alle halten mich für verrückt, weil ich ihnen die Wahrheit nicht sagen kann, und die Wahrheit ist die, daß mich all diese Gedanken, der Inhalt all dieser Köpfe wahnsinnig macht. Als ich gerade angefangen hatte, in der Kneipe zu arbeiten, bin ich durchaus ein paar Mal ausgegangen. Mit Männern, die noch nichts über mich gehört hatten. Es war immer dasselbe. Man kann sich einfach nicht darauf konzentrieren, sich mit einem Mann zusammen wohl zu fühlen oder sogar romantische Gefühle für ihn zu entwickeln, wenn man gleichzeitig hört, wie er sich fragt, ob man sich wohl die Haare färbt und daß er eigentlich meinen Hintern nicht hübsch findet und spekuliert, wie mein Busen wohl aussehen mag.“

Dann wurde ich etwas wachsamer, denn mir war aufgegangen, wie viele von meinen innersten Gefühlen ich dieser Kreatur gerade offenbarte.

„Entschuldigen Sie!“ sagte ich. „Ich hatte nicht vor, Sie mit meinen Problemen zu belasten. Vielen Dank, daß Sie mich vor den Ratten gerettet haben.“

„Es war meine Schuld, daß sie überhaupt eine Chance hatten, Sie zu erwischen“, erwiderte Bill, und ich hörte an seiner Stimme, wie wütend er war. „Wenn ich genügend Höflichkeit besessen hätte, pünktlich zu sein, wäre die ganze Sache nicht passiert. Also schuldete ich Ihnen mein Blut. Ich schuldete Ihnen Heilung.“

„Sind die beiden tot?“ fragte ich mit leicht schwankender Stimme, was mir sehr peinlich war. „Oh ja.“

Ich mußte schlucken. Nicht, weil ich wirklich Bedauern darüber empfand, daß die Welt nun ohne die Ratten auskommen durfte. Nein, aber ich mußte den Tatsachen ins Gesicht sehen und durfte mich nicht um die Erkenntnis drücken, daß ich auf dem Schoß eines Mörders hockte. Dabei war ich sehr zufrieden damit, dort zu sitzen. Es machte mich glücklich, seine Arme um mich zu spüren.

„Das sollte mir wohl Kopfzerbrechen bereiten, tut es aber nicht“, erklärte ich, ehe mir noch recht klar war, was ich sagen wollte. Erneut spürte ich das eingerostete Lachen.

„Sookie, warum wollten Sie heute nacht mit mir reden?“

Diese Frage kam überraschend, und ich mußte mich sehr konzentrieren, um antworten zu können. Auch wenn ich wie durch ein Wunder körperlich fast wieder voll hergestellt war: Geistig fühlte ich mich noch immer ein wenig verwirrt.

„Meine Großmutter hätte gern gewußt, wie alt Sie sind“, erwiderte ich zögernd, denn ich konnte nicht wissen, ob diese Frage, wenn man sie einem Vampir stellte, nicht einfach viel zu persönlich war. Der fragliche Vampir streichelte meinen Rücken, als wolle er ein kleines Kätzchen beruhigen.

„Ich wurde 1870 zum Vampir; ich zählte dreißig Menschenjahre.“ Ich sah auf; Bills Gesicht mit der schimmernden Haut wirkte vollkommen ausdruckslos, die Augen waren schwarze Brunnen in der Dunkelheit des Waldes.

„Haben Sie im Krieg gekämpft?“ „Ja.“

„Ich bekomme so das Gefühl, daß Sie gleich böse werden. Es würde aber meine Oma und ihren Verein wirklich sehr glücklich machen, wenn Sie ihnen ein wenig vom Krieg erzählen könnten, davon, wie er wirklich war.“

„Verein?“

„Sie gehört zu den Nachkommen ruhmreicher Toter.“

„Ruhmreicher Toter“. Der Stimme des Vampirs ließ sich nicht entnehmen, was dieser gerade dachte, aber ich meinte ganz sicher zu spüren, daß er nicht gerade erfreut war.

„Von den Maden und den infizierten Wunden und dem Hunger brauchen Sie ja nichts zu erzählen“, sagte ich hastig. „Die Leute im Verein haben ihre eigene Vorstellung vom Krieg und auch wenn es keine dummen Leute sind - sie haben andere Kriege miterlebt - würden sie doch gern mehr darüber erfahren, wie die Menschen damals gelebt haben, und über die Uniformen und die Truppenbewegungen.“

„Saubere Sachen.“

Ich holte tief Luft. „Genau.“

„Würde es Sie glücklich machen, wenn ich dieser Bitte nachkäme?“

„Was macht das für einen Unterschied? Es würde meine Oma glücklich machen, und wo Sie schon einmal in Bon Temps sind und offenbar ja auch hier in der Gegend bleiben wollen, wäre es für Sie ein guter Schachzug in puncto Öffentlichkeitsarbeit.“

„Würde es Sie glücklich machen?“

Bill war offensichtlich nicht der Typ, bei dem man sich herausreden konnte. „Ja, doch, würde es.“

„Dann werde ich es machen.“

„Meine Oma läßt Sie bitten, vor dem Treffen zu essen.“

Wieder erklang das rostige Lachen, diesmal tiefer.

„Jetzt freue ich mich richtig darauf, Ihre Großmutter kennenzulernen. Darf ich Sie einmal abends besuchen?“

„Äh. Sicher. Morgen arbeite ich, dann habe ich zwei Tage frei. Donnerstag wäre gut.“ Ich hob den Arm und sah auf die Uhr. Sie ging noch, aber das Uhrglas war mit getrocknetem Blut verklebt. „Igitt!“ sagte ich, spuckte auf meinen Zeigefinger und reinigte es. Dann drückte ich auf den Knopf, der das Zifferblatt aufleuchten läßt und stieß erschrocken einen Schrei aus, als ich sah, wie spät es bereits war.

„Mein Gott, ich muß nach Hause! Ich hoffe nur, meine Oma hat sich schon schlafen gelegt!“

„Sie wird sich Sorgen machen, weil Sie immer so spät in der Nacht allein unterwegs sind“, meinte Bill, und das klang so als mißbillige er, daß ich allein in der Nacht unterwegs war. Dachte er an Maudette? Einen Moment lang spürte ich eine tiefe Verunsicherung, und ich fragte mich, ob Bill Maudette gekannt hatte, ob sie ihn zu sich nach Hause eingeladen hatte. Aber ich verwarf die Überlegung rasch wieder, weil ich auf die mir eigene dickköpfige Art beschlossen hatte, mir um Maudette und ihren schrecklichen, merkwürdigen Tod und ihr Leben davor keine Gedanken zu machen. Ich wollte nicht, daß die Schrecken dieses Lebens, dieses Sterbens, einen Schatten auf mein kleines Fitzelchen Glück warfen.

„Meine Arbeit bedingt das nun einmal“, sagte ich knapp. „Da kann man nichts machen, und ich arbeite auch nicht ausschließlich nachts. Aber so oft ich kann, tue ich es.“

„Warum?“ Der Vampir versetzte mir einen kleinen Schubs, um mir aufzuhelfen und erhob sich dann mühelos selbst.

„Bessere Trinkgelder. Mehr zu tun. Keine Zeit zum Nachdenken.“

„Aber die Nächte sind auch gefährlicher“, meinte Bill kritisch.

Er mußte es ja wissen. „Sie hören sich schon an wie meine Großmutter! schalt ich ihn sanft. Mittlerweile waren wir fast auf dem Parkplatz angekommen.

„Ich bin älter als ihre Großmutter“, erinnerte er mich. Damit war die Unterhaltung mit einem Schlag beendet.

Als ich aus dem Wald heraustrat, blieb ich baß erstaunt stehen und blickte um mich. Der Parkplatz lag so ruhig und unberührt da, als hätte sich hier nie etwas ereignet, als sei nicht ich selbst auf eben diesem Streifen Asphalt vor einer knappen Stunde fast zu Tode geprügelt worden, als hätten die Ratten hier kein blutiges Ende gefunden.

Weder in der Kneipe noch in Sams Wohnwagen brannte Licht.

Der Kies war feucht, aber es war kein Blut zu erkennen.

Meine Handtasche thronte auf der Kühlerhaube meines Wagens.

„Was ist mit dem Hund?“ fragte ich.

Ich drehte mich zu meinem Retter um.

Er war nicht mehr da.