Kapitel 10

Als ich mich am nächsten Tag fertigmachte, um zur Arbeit zu gehen, mußte ich mir eingestehen, daß ich von Vampiren erst einmal die Nase voll hatte. Das galt auch für Bill.

Es war an der Zeit, mich daran zu erinnern, daß ich ein Mensch war.

Allerdings einer, der sich ziemlich verändert hatte: Auch das mußte ich mir bei dieser Gelegenheit eingestehen, und darin lag ein gewisses Problem.

Weltbewegend waren die Veränderungen an und für sich nicht, die in mir stattgefunden hatten. Meine erste Bekanntschaft mit Bills Blut - in der Nacht, in der die Ratten mich zusammengeschlagen hatten - hatte quasi im Handumdrehen alle meine Wunden geheilt, und ich hatte mich hinterher gesünder und stärker gefühlt als vorher, ohne jedoch gleich zu denken, ich sei nun ein anderer Mensch. Vielleicht - ja, vielleicht war ich mir schöner und begehrenswerter vorgekommen, das schon.

Seit meinem zweiten Schluck Vampirblut kam ich mir ungeheuer stark und mutig vor, weil ich unversehens viel mehr Selbstvertrauen hatte. Ich fühlte mich wohl und sicher in meiner Sexualität und wußte um deren Kräfte. Zudem schien es ganz offensichtlich, daß ich mit meiner Behinderung weitaus selbstbewußter und selbstbestimmter umgehen konnte.

Long Shadows Blut war mir mehr oder weniger rein zufällig in den Mund geflossen. Als ich jedoch am Morgen nach der schrecklichen Nacht in Shreveport in den Spiegel sah, mußte ich feststellen, daß meine Zähne weißer und spitzer geworden waren. Mein Haar wirkte heller und viel lebendiger als vorher, meine Augen glänzten. Ich sah aus wie wandelnde Reklame für tägliche Körperpflege und gesunde Lebensweise: Leute, eßt mehr Obst! Trinkt mehr Milch! Die üble Bißwunde an meinem Arm (der letzte Bissen, wie mir nun klar wurde, den Long Shadow auf dieser Erde zu sich genommen hatte) war noch nicht vollständig verheilt, aber auf dem besten Wege dazu.

Dann kippte meine Handtasche um, als ich sie hochnehmen wollte, und alles Wechselgeld, das ich lose darin aufbewahrte, rollte mir unter das Sofa. Ich hob daraufhin das Sofa mit der einen Hand hoch und sammelte mit der anderen die Münzen wieder ein.

Oha!

Ich richtete mich auf und holte tief Luft. Immerhin tat das Sonnenlicht meinen Augen nicht weh, und ich wollte auch nicht gleich jeden beißen, der mir über den Weg lief. Ich hatte meinen Frühstückstoast mit Appetit und Vergnügen verzehrt und mich nicht statt dessen nach Tomatensaft gesehnt. Ich war also nicht dabei, mich langsam, aber sicher in eine Vampirin zu verwandeln. Vielleicht war ich jetzt so etwas wie ein erweiterter Mensch?

Mein Leben war ohne Beziehung auf jeden Fall leichter gewesen.

Als ich im Merlottes ankam, waren die Vorbereitungen für den Mittagsansturm alle schon getroffen. Nur die Zitronen und Limetten galt es noch aufzuschneiden. Wir servieren diese Früchte nicht nur zu verschiedenen alkoholischen Mixgetränken, sondern auch zum Tee. Ich holte mir ein großes Schneidebrett und ein scharfes Messer. Als ich die Zitronen aus dem großen Kühlschrank nahm, band Lafayette sich gerade seine überdimensionale Schürze um.

„Hast du dir Strähnchen ins Haar machen lassen, Sookie?“ wollte er wissen.

Ich schüttelte den Kopf. Lafayette sah unter der schneeweißen Kochschürze aus wie die reinste Farbsymphonie: Er trug ein knallrotes, enges T-Shirt mit dünnen Trägern zu einer dunkellila Jeans und roten Riemchensandalen. Sein Lidschatten hatte ungefähr die Farbe reifer Erdbeeren.

„Es wirkt auf jeden Fall sehr viel heiler“, bemerkte er skeptisch und zog die sorgfältig gezupften Brauen hoch.

„Ich war viel in der Sonne in letzter Zeit“, erklärte ich. Dawn war nie mit Lafayette ausgekommen. Ob das nun daran lag, daß der Mann schwarz war, oder daran, daß er schwul war, hätte ich nicht sagen können. Vielleicht an beidem. Arlene und Charlsie akzeptierten den Koch, gaben sich aber keine Mühe, freundlich zu ihm zu sein. Ich jedoch hatte Lafayette immer irgendwie richtig gern gehabt, denn er führte ein Leben, das nicht einfach war, mit Anmut und Schwung.

Nun wollte ich meine Aufmerksamkeit dem Schneidebrett widmen. Dort lagen die Zitronen, allesamt säuberlich gevierteilt; die Limetten waren in Scheiben geschnitten. Meine Hand hielt das scharfe Küchenmesser und war ganz naß vom Zitronen- und Limonensaft. Ich hatte die Arbeit erledigt, ohne es überhaupt mitzubekommen. Innerhalb von dreißig Sekunden. Ich schloß die Augen: oh mein Gott.

Als ich die Augen wieder öffnete, glitt Lafayettes Blick gerade von meinem Gesicht zu meinen Händen.

„Sag mir, daß ich das gerade nicht gesehen habe, Lieblingsfreundin“, bat er.

„Hast du auch nicht“, sagte ich, wobei meine Stimme, wie ich zu meiner eigenen Verwunderung feststellen konnte, kühl und gelassen klang. „Entschuldige bitte: Ich muß das hier wegräumen.“ Ich verfrachtete die Früchte in zwei verschiedene Behälter und schob diese in die große Kühltruhe hinter der Bar, in der Sam das Bier aufbewahrte. Als ich die Kühlschranktür schloß, stand plötzlich Sam da, die Arme vor der Brust verschränkt, und sah nicht besonders glücklich aus.

„Alles in Ordnung mit dir?“ fragte er, wobei mich seine hellblauen Augen von oben bis unten musterten. „Hast du irgend etwas mit deinem Haar gemacht?“ wollte er dann leicht verunsichert wissen.

Ich lachte, denn ich hatte gerade bemerkt, daß mein Visier ganz glatt und problemlos an seinen Platz geglitten war, daß das gar nicht unbedingt ein schmerzhafter Prozeß zu sein brauchte! „Ich war viel in der Sonne“, beantwortete ich vergnügt Sams Frage.

„Was ist mit deinem Arm los?“

Ich sah auf meinen rechten Unterarm. Den Biß dort hatte ich mit einem Verband abgedeckt.

„Da hat mich ein Hund gebissen.“

„Der war doch hoffentlich geimpft?“

„Aber ja doch.“

Ich sah zu meinem Chef auf, wobei ich nicht sehr weit aufzusehen brauchte, und es schien mir, als funkle sein drahtiges, lockiges, rotblondes Haar förmlich vor Energie. Ich spürte seine Verunsicherung, seine Lust. Mein Körper reagierte sofort. Ich konzentrierte mich ganz auf Sams schmale Lippen, und der satte Geruch seines Rasierwassers füllte mir Nase und Lungen. Er kam etwas näher. Ich spürte seinen Atem, ich wußte, daß nun sein Penis steif wurde.

In diesem Moment kam Charlsie Tooten durch die Vordertür und ließ sie mit einem Knall hinter sich zufallen. Wir traten beide hastig einen Schritt zurück. Gott sei gedankt für Charlsie, dachte ich erleichtert. Rundlich, nicht sehr intelligent, gutwillig und unendlich fleißig: Charlsie war der Traum eines jeden Arbeitgebers. Sie und ihr Mann Ralph waren bereits auf der Schule ein Paar gewesen. Ralph arbeitete in einer der Fabriken der Gegend, in denen Hühnerfleisch verarbeitet wurde, und die beiden hatte eine Tochter, die in die elfte Klasse der Oberschule ging, und eine weitere, die bereits verheiratet war. Charlsie liebte die Arbeit im Merlottes, denn so kam sie unter Leute. Sie konnte wunderbar mit Betrunkenen umgehen und schaffte es immer, sie aus der Kneipe zu befördern, ehe es zu Streit oder gar Handgreiflichkeiten kommen konnte.

„Hallo, ihr beiden!“ begrüßte Charlsie uns fröhlich. Ihre dunkelbraunen Locken (Loréal, wenn man Lafayette glauben durfte) waren derart straff und rigide zurückgebunden, daß sie ihr in einem fröhlichen Wasserfall vom Scheitel flossen. Charlsies Bluse war blütenweiß und makellos rein, und die Taschen ihrer Shorts klafften auf, da der Inhalt der Hose selbst zu eng gepackt war. Charlsie trug eine schlichte schwarze Stützstrumpfhose, Keds und künstliche Nägel in einer Art Burgunderrot.

„Meine älteste Tochter ist schwanger! Ab heute dürft Ihr Oma zu mir sagen!“ verkündete sie, und es war nicht zu übersehen, wie glücklich sie war. Ich umarmte sie stürmisch, wie es in diesen Fällen üblich ist, und Sam klopfte ihr freundschaftlich auf die Schulter. Wir waren beide ungeheuer froh darüber, daß Charlsie aufgetaucht war.

„Wann kommt denn das Baby?“ wollte ich wissen, und das war genau das Stichwort, auf das meine Kollegin gewartet hatte. Die nächsten fünf Minuten brauchte ich den Mund nicht mehr aufzumachen. Dann gesellte sich Arlene zu uns, deren Make-up nur notdürftig die Knutschflecke an ihrem Hals verdeckte, und Charlsie durfte alles noch einmal von vorne erzählen. Während sie noch munter plapperte, traf mein Blick den Sams. Wir verharrten so einen winzigen Moment lang und wandten dann beide zur gleichen Zeit unseren Blick wieder ab.

Nun trudelten auch langsam die Mittagsgäste ein, was den ganzen Vorfall vergessen machte.

Mittags trank niemand viel; die meisten Gäste beschränkten sich auf ein Glas Bier oder Wein, und ein Großteil trank überhaupt nur Eistee oder Wasser. Mittags kamen Gäste, die gerade in der Nähe gewesen waren, als es Zeit zum Mittagessen wurde, und Stammgäste, die relativ häufig auf die Idee kamen, sie könnten ja mal ins Merlottes gehen, sowie die örtlichen Alkoholiker, für die der Schluck am Mittag unter Umständen bereits der vierte oder fünfte des Tages war.

Ich machte mich daran, Bestellungen aufzunehmen, als mir die Bitte meines Bruders wieder einfiel.

Also hörte ich den ganzen Tag über den Gedanken unserer Gäste zu, und das war ungeheuer anstrengend. Noch nie hatte ich einen ganzen Tag lang gelauscht, noch nie war mein Visier so lange oben geblieben. Es mochte sein, daß das Lauschen jetzt nicht mehr ganz so schmerzhaft war, wie es vorher gewesen war; vielleicht ließ mich das, was ich zu hören bekam, auch in stärkerem Maße einfach kalt. An einem meiner Tische saß Sheriff Dearborn zusammen mit Bürgermeister Sterling Norris, dem alten Freund meiner Oma. Mr. Norris stand auf, um mir die Schulter zu tätscheln, als ich zu den beiden Männern trat, und mir fiel ein, daß ich ihn das letzte Mal bei der Beerdigung meiner Großmutter gesehen hatte.

„Wie geht es dir, Sookie?“ fragte er freundlich besorgt. Er selbst sah nicht gut aus.

„Mir geht es hervorragend, Mr. Norris, und Ihnen?“

„Ich bin ein alter Mann, Sookie“, erwiderte er mit einem verunsicherten kleinen Lächeln und wartete dann noch nicht einmal meine Proteste ab. „Diese Morde machen mich fertig. Wir haben in Bon Temps keinen Mord mehr gehabt, seit Darryl Mayhew Sue Mayhew erschoß, und an der Sache war nun weiß Gott nichts Rätselhaftes.“

„Das war ... wann? Vor sechs Jahren etwa?“ erkundigte ich mich beim Sheriff, weil ich noch etwas bei den beiden stehen bleiben wollte. Mein Anblick stimmte Mr. Norris traurig, weil er sicher war, daß man meinen Bruder bald wegen des Mordes an Maudette Pickens verhaften würde, und das seiner Meinung nach nur heißen konnte, daß Jason wohl auch meine Großmutter umgebracht hatte. Ich senkte den Kopf, damit der Bürgermeister den Ausdruck in meinen Augen nicht mitbekam.

„Ich glaube, ja“, sagte der Sheriff nachdenklich. „Mal sehen: Ich weiß noch genau, daß ich mich gerade in Schale geworfen hatte, weil wir zu einer Tanzvorführung Jean-Annes gehen wollten ... das war dann also ... ja, du hast recht, Sookie: Das war vor sechs Jahren.“ Der Sheriff nickte wohlwollend. „War Jason heute schon hier?“ fragte er dann ganz beiläufig, als sei ihm die Frage gerade erst in den Sinn gekommen.

„Nein“, erwiderte ich. „Ich habe ihn heute noch nicht gesehen.“ Der Sheriff bestellte daraufhin einen Eistee und einen Hamburger und dachte an den Tag, an dem er Jason zusammen mit seiner Jean-Anne erwischt hatte; die beiden hatten heftig auf der Ladefläche von Jasons Pick-up herumgemacht.

Oh mein Gott: Weiter dachte der Sheriff, Jean-Anne könne von Glück sagen, daß sie nicht erwürgt worden war. Dann hatte er einen ganz klaren Gedanken, der mich ins Mark traf. Sheriff Dearborn dachte: 'Diese Mädchen sind doch sowieso das Letzte vom Allerletzten'.

Dearborns Gedanken bekam ich klar und in allen Einzelheiten mit, weil der Sheriff leicht zu durchleuchten war. Ich spürte sogar alle Nuancen seiner Überlegungen: billige Arbeitskräfte, dachte er, keine College-Ausbildung, sie vögeln mit Vampiren ... sie sind der Bodensatz der Gesellschaft.

Verletzt und wütend - diese beiden Worte beschreiben noch nicht einmal annähernd, wie ich mich fühlte, nachdem ich diese Einschätzung mitangehört hatte.

Danach ging ich wie ein Automat von Tisch zu Tisch, servierte Essen und Getränke, sammelte leere Gläser und Essensreste ein, arbeitete also so fleißig und gewissenhaft, wie ich es immer tat, wobei das schreckliche Grinsen mein Gesicht fast schmerzhaft in die Breite zog. Ich redete mit ungefähr zwanzig Leuten, die ich kannte, und die Gedanken der meisten von ihnen waren so unschuldig, wie der Tag lang ist. Die meisten unserer Gäste dachten an ihre Arbeit, an Dinge, die zu Hause zu erledigen waren, oder an kleinere Probleme, die sie demnächst in Angriff nehmen wollten: den Verkäufer von Sears dazu zu bewegen, sich die defekte Geschirrspülmaschine anzusehen zum Beispiel, oder das Haus gründlich zu putzen, weil sich für das Wochenende Besuch angekündigt hatte.

Arlene war erleichtert, weil sie ihre Regel bekommen hatte.

Charlsies Überlegungen waren allesamt rosarot und galten der eigenen Unsterblichkeit: ihrem Enkelkind. Sie betete ganz ehrlich und aus tiefstem Herzen, ihrer Tochter möge eine unkomplizierte Schwangerschaft und eine gefahrlose Geburt beschert sein.

Lafayette dachte, daß es immer unheimlicher würde, mit mir zusammenzuarbeiten.

Wachtmeister Kevin Pryor fragte sich, was seine Partnerin Kenya wohl mit ihrem freien Tag anfangen mochte. Er selbst half seiner Mutter dabei, den Geräteschuppen auszuräumen, und fand das eine ganz gräßliche Beschäftigung.

Ich bekam sowohl laut ausgesprochen als auch unausgesprochen zahlreiche Kommentare zu meinem Haar, meiner Haut und dem Verband an meinem Arm zu hören. Eine ganze Reihe Männer und eine Frau fanden mich so, wie ich jetzt aussah, begehrenswerter als vorher. Ein paar Männer, die an der Expedition gegen die Vampire in Monroe teilgenommen hatten, bereuten ihre impulsive Tat inzwischen, weil sie dachten, nun hätten sie bestimmt keine Chance mehr bei mir, weil ich Vampire mochte. Ich nahm mir vor, mir zu merken, wer das war. Ich wollte auf keinen Fall vergessen, daß bei dem Angriff ja ebensogut auch mein Bill hätte ums Leben kommen können - der Rest der Vampirgemeinde stand bei mir allerdings an dem Tag nicht besonders hoch im Kurs.

Andy aß zusammen mit seiner Schwester Portia zu Mittag. Das taten die beiden mindestens einmal die Woche. Portia war die weibliche Version Andys: mittelgroß, stabil gebaut, mit entschlossenem Mund und energischem Kinn. Bei der großen Familienähnlichkeit kam Andy deutlich besser weg als Portia. Ich hatte gehört, sie sei eine tüchtige Anwältin, und wäre sie keine Frau gewesen, dann hätte ich sie unter Umständen sogar Jason vorgeschlagen, als der dachte, er brauche einen Anwalt. Wobei es mir eher um Portias Wohlergehen gegangen war als um Jasons.

Die junge Anwältin fühlte sich tief im Innern ungeheuer niedergeschlagen. Da hatte sie nun eine hervorragende Ausbildung genossen und verdiente gutes Geld, aber niemand wollte mit ihr ausgehen. Das beschäftigte sie sehr.

Andy ging es gegen den Strich, daß ich immer noch mit diesem Bill Compton herumzog; gleichzeitig fand er es spannend, wie viel hübscher ich inzwischen geworden war, und fragte sich, was Vampire wohl im Bett so draufhatten. Dann tat es ihm leid, daß er Jason würde verhaften müssen, wobei er fand, gegen Jason läge auch nicht viel mehr vor als gegen andere Männer, nur wirkte Jason so sehr viel verängstigter als die anderen, und das konnte doch nur heißen, daß er etwas zu verbergen hatte. Dann waren da noch die Videos, die Jason beim Sex mit Maudette und Dawn zeigten, wobei es sich noch dazu nicht um normalen Allerweltssex handelte.

Während ich Andys Gedanken las und verarbeitete, starrte ich ihn ziemlich unverwandt an, und das verunsicherte den Mann. Andy wußte ja schließlich, wozu ich in der Lage war. „Holst du mir nun mein Bier, Sookie?“ fragte er dann endlich, wobei er mit seiner riesigen Hand in der Luft herumwedelte, um meine Aufmerksamkeit zu erregen.

„Klar, Andy“, sagte ich ein wenig geistesabwesend und holte eine Flasche Bier aus der Kühltruhe. „Noch Tee, Portia?“

„Nein danke“, erwiderte Portia höflich und tupfte sich die Lippen mit einer Papierserviette ab. Portia mußte an ihre Schulzeit denken und daran, wie sie damals für eine einzige Verabredung mit dem anbetungswürdigen Jason Stackhouse problemlos ihre Seele verkauft hätte. Sie fragte sich, was wohl aus Jason geworden sein mochte, ob es in dessen Kopf einen einzigen Gedanken gäbe, der sie, Portia, interessieren könnte. Oder war sein herrlicher Leib es wert, jegliche Hoffnung auf intellektuelle Übereinstimmung dafür in den Wind zu schlagen? Die Videos hatte Portia nicht gesehen; sie wußte noch nicht einmal, daß sie existierten. Andy verhielt sich also wie ein anständiger Polizist.

Ich versuchte, mir Portia zusammen mit Jason vorzustellen, und da konnte ich nicht anders - ich mußte lächeln. Das wäre bestimmt für beide ein völlig neuartiges Erlebnis gewesen! .Nicht zum ersten Mal wünschte ich, ich könnte bei anderen Leuten im Kopf Ideen auch säen und nicht nur ernten.

Am Ende meiner Schicht wußte ich - gar nichts. Nichts Neues jedenfalls - außer vielleicht, daß es in den Videos, die mein Bruder so dummerweise gedreht hatte, auch um leichte Bondage gegangen war. Keine schlimmen Fesselszenen, aber dennoch mußte Andy an die Würgemale am Hals der Opfer denken: Sie rührten von Schnüren her.

Alles in allem war es also ein ziemlich sinnloses Unterfangen gewesen, meinen Kopf zu öffnen, um dadurch meinem Bruder zu helfen. Die Informationen, die ich erhalten hatte, machten mich eigentlich nur besorgter, als ich ohnehin schon war, und es waren keine neuen Erkenntnisse zutage getreten, die ihm unter Umständen hätten nützen können.

Am Abend würden natürlich andere Gäste in unserem Lokal sein. Einfach so zum Vergnügen war ich noch nie im Merlottes gewesen - ob ich am Abend wiederkommen sollte? Was Bill wohl vorhatte? Wollte ich den denn überhaupt sehen?

Ich fühlte mich sehr allein und einsam. Es gab niemanden, mit dem ich über Bill hätte reden können, niemanden, den es nicht zumindest leicht schockiert hätte, daß ich überhaupt mit einem Vampir zusammen war. Wie konnte ich denn zu Arlene gehen und ihr erzählen, wie traurig und bedrückt ich war, weil Bills Vampirkumpel allesamt grauenerregend und völlig skrupellos waren? Daß ich in der vergangenen Nacht von einem von ihnen gebissen worden war? Daß dieser Vampir dann in meinen Mund geblutet hatte, weil er gepfählt worden war, während er noch auf mir lag? Mit dieser Art von Problemen hatte Arlene nie umzugehen gelernt, damit konnte ich ihr nicht kommen.

Mir fiel aber auch sonst niemand ein, der mit so etwas umgehen konnte.

Ich konnte mich nicht erinnern, je davon gehört zu haben, daß jemand mit einem Vampir zusammen war, ohne Vampirgroupie zu sein. Vampirgroupies war es egal, mit welchem Vampir sie schliefen, Hauptsache, es war einer. Fangbanger gingen mit jedem Blutsauger mit - das half mir auch nicht weiter.

Als ich mich anschickte, nach Hause zu gehen, schaffte es mein verbessertes, verändertes Aussehen nicht mehr, mich zuversichtlich und selbstbewußt zu stimmen. Statt dessen kam ich mir vor wie eine Mißgeburt.

Ich bosselte ein wenig im Haus herum, hielt einen kurzen Mittagsschlaf, goß Omas Blumen. Als es dunkel wurde, aß ich etwas, das ich mir vorher in die Mikrowelle geschoben hatte. Bis zur letzten Sekunde wußte ich nicht, ob ich denn nun ausgehen sollte oder nicht. Dann zog ich kurz entschlossen ein rotes Hemd und eine weiße Hose an, behängte mich ein bißchen mit Schmuck und fuhr zurück zum Merlottes.

Es war schon sehr merkwürdig, das Lokal als Gast zu betreten. Sam hatte seinen Platz hinter der Bar eingenommen, und seine Brauen schossen hoch, als er mich durch die Tür treten sah. Drei Kellnerinnen, die ich zumindest vom Sehen kannte, arbeiteten in dieser Schicht, und wie ich durch die Servierluke feststellen konnte, briet ein anderer Koch die Hamburger.

Jason hockte am Tresen. Der Barhocker neben ihm war leer - welch ein Wunder! -, und so kletterte ich darauf.

Er wandte sich mir zu, sein Gesicht ganz so, wie er es einer neuen Frau zeigen wollte: ein entspannter, locker lächelnder Mund, große, glänzende Augen. Bei meinem Anblick erfuhr seine Miene eine bemerkenswerte Veränderung. „Was zum Teufel machst du denn hier, Sookie?“ wollte er wissen, wobei sein Ton leicht verärgert klang.

„Wie ich deinen Gedanken entnehme, bist du nicht erfreut, mich zu sehen“, erwiderte ich. Dann blieb Sam vor mir stehen, und ich bat, ohne ihn anzusehen, um einen Bourbon mit Cola. „Ich habe getan, worum du mich gebeten hast“, flüsterte ich nun meinem Bruder zu. „Bis jetzt habe ich nichts herausgefunden. Deswegen bin ich heute abend hier, um es noch bei anderen Leuten zu versuchen.“

„Danke, Sookie“, meinte Jason nach einer langen Pause. „Ich glaube, mir war nicht ganz klar, worum ich dich da eigentlich gebeten hatte. Hast du irgendwas mit deinem Haar angestellt?“

Als Sam dann das Glas zu mir herüberschob, bezahlte mir Jason sogar den Whiskey-Cola.

Viel schienen wir einander nicht zu sagen zu haben, aber in diesem Fall war das auch ganz in Ordnung so, denn ich versuchte, den anderen Gästen zuzuhören. Es waren ein paar Fremde in der Kneipe, und die knöpfte ich mir als erste vor, um zu sehen, ob sie vielleicht als Verdächtige gelten konnten. Bald mußte ich mir eingestehen, daß dem nicht so war, auch wenn mir das etwas gegen den Strich ging. Der eine dachte fast ausschließlich daran, wie sehr ihm seine Frau fehlte, und in seinen Gedanken schwang ganz klar die Botschaft mit, daß er dieser Frau treu war. Ein anderer dachte an das Merlottes, in dem er an diesem Abend zum ersten Mal war und daran, daß ihm die Drinks hier schmeckten. Wieder ein anderer war vollauf damit beschäftigt, gerade zu sitzen und hoffte inständig, er würde es schaffen, sein Auto zurück zum Motel zu fahren.

Ich trank noch einen Whiskey-Cola.

Jason und ich hatten uns gerade ein wenig darüber ausgetauscht, was wohl an Anwaltskosten zusammenkommen mochte, wenn die Erbschaftsangelegenheiten meiner Oma geregelt waren. Dann sah Jason zu Tür und sagte: „Oho!“

„Was ist?“ fragte ich, mochte mich aber nicht umdrehen und nachsehen, was ihm aufgefallen war.

„Schwesterherz, der Liebste naht - und nicht allein.“

Zuerst befürchtete ich, Bill hätte einen seiner Vampirkumpel mitgebracht, was sehr unklug von ihm gewesen wäre und alle schrecklich aufgeregt hätte. Aber dann drehte ich mich um und verstand, warum Jason so wütend geklungen hatte. Bill war mit einer jungen Frau zusammen, einem Menschen. Er hielt das Mädel am Arm, und sie schmiß sich an ihn heran, als würde sie das professionell betreiben, während Bill die ganze Zeit seinen Blick über die Menge im Lokal gleiten ließ. Ich gelangte zu der Überzeugung, daß er genau mitbekommen wollte, wie ich reagierte.

Als ich dann vom Barhocker kletterte, gelangte ich zu einer weiteren Überzeugung.

Ich war betrunken. Ich trinke nur sehr selten Alkohol, und nach zwei Whiskey-Cola innerhalb kürzester Zeit war ich richtig betrunken. Nun, vielleicht nicht so, daß ich mich nicht mehr auf den Beinen hätte halten können, aber doch ziemlich beschwipst.

Als Bill mich nun sah und unsere Blicke sich kreuzten, erkannte ich, daß er nicht wirklich erwartet hatte, mich hier zu treffen. Zwar konnte ich seine Gedanken nicht lesen wie die Erics in jenem einen, schrecklichen Moment, aber ich konnte seine Körpersprache deuten.

„Hallo Vampir-Bill!“ rief Jasons Kumpel Hoyt. Bill nickte ihm höflich zu, steuerte jedoch das Mädchen - dunkel, zierlich - in meine Richtung.

Ich wußte wirklich nicht, was ich tun sollte.

„Schwesterherz, was wird hier gespielt?“ fragte Jason, der offenbar langsam in Rage geriet. „Das Mädel da ist eine Fangbangerin aus Monroe. Ich hab' sie gekannt, als sie noch auf Menschen stand.“

Ich wußte immer noch nicht, was ich tun sollte. Mein Schmerz drohte, mich zu überwältigen, aber mein Stolz bestand stur darauf, den Schmerz zu überspielen. Dann mußte ich natürlich diesem ganzen Eintopf aus Emotionen auch noch eine Prise Schuldgefühle hinzufügen: Ich war bei Einbruch der Dunkelheit nicht dort gewesen, wo Bill mich erwartet hatte, und hatte ihm auch keine Nachricht hinterlassen. Andererseits - in diesem Fall dürfte es sich um das vierte oder fünfte andererseits gehandelt haben hatte ich in der Nacht zuvor bei der Show in Shreveport, zu der ich zitiert worden war, ziemlich viele schreckliche und schockierende Dinge erleben müssen. Nach Shreveport war ich letztlich ja überhaupt nur gegangen, weil meine Bindung an Bill mich dazu gezwungen hatte!

In mir lagen also die Gefühle im Widerstreit, und das führte dazu, daß ich überhaupt nichts tat. Einerseits wollte ich mich auf die Frau an Bills Seite stürzen und sie windelweich prügeln - andererseits war ich so erzogen, daß Schlägereien in öffentlichen Lokalen für mich nicht in Frage kamen. (Bill wollte ich auch windelweich schlagen, aber da hätte ich genauso gut und mit dem gleichen Ergebnis mit dem Kopf gegen die Wand rennen können.) Dann wäre ich noch gern einfach in Tränen ausgebrochen, denn man hatte meine Gefühle unschön verletzt - aber Heulen war ein Zeichen von Schwäche. Sowieso war es am sichersten, gar keine Gefühle zu zeigen, denn Jason war drauf und dran, sich auf Bill zu stürzen, und die kleinste Ermutigung meinerseits hätte ihn wie eine Kanonenkugel losgehen lassen.

Mir waren das einfach zu viele Konflikte auf einmal - und das, wo ich noch dazu viel zu viel Alkohol intus hatte.

Ich ließ mir all diese Optionen durch den Kopf gehen und durchdachte sie, so gut es ging. Währenddessen kam Bill, die junge Frau im Schlepptau, zwischen den Tischreihen hindurch immer näher. Ich mußte feststellen, daß es im Lokal ungeheuer still geworden war. Statt andere zu beobachten, wurde ich nun selbst beobachtet.

Da fühlte ich, wie mir die Tränen in die Augen schossen, sich meine Hände zu Fäusten ballten, und dachte: „Wunderbar! Da hast du dir ja von allen Möglichkeiten die beiden schlechtesten gewählt.“

„Sookie“, grüßte Bill. „Das hier hat Eric mir auf die Türschwelle gelegt.“

Ich verstand wirklich nicht, was er damit meinte.

„Ja und?“ fragte ich wütend, wobei ich dem Mädchen in die Augen sah; sie waren groß, schwarz und glitzerten erregt. Ich hielt die eigenen Augen weit aufgerissen, denn wenn ich blinzelte, würden mir sofort die Tränen über die Wangen kullern.

„Als Belohnung“, erklärte Bill, und ich konnte seiner Stimme nicht anhören, wie er sich bei der ganzen Sache fühlte.

„Er wollte dir einen ausgeben?“ fragte ich und mochte kaum glauben, wie giftig meine Stimme klang.

Jason legte mir die Hand auf die Schulter. „Ruhig Blut, Mädchen“, sagte er, wobei seine Stimme genauso leise und fies klang wie meine. „Er ist es nicht wert.“

Noch wußte ich nicht, was Bill nicht wert war, aber ich stand kurz davor, es herauszufinden. Nach all den Jahren, in denen ich mein Leben immer so vollständig im Griff hatte haben müssen, war es ein fast erregendes Gefühl, nicht zu wissen, was ich als nächstes tun würde.

Bill beobachtete mich aufmerksam und angespannt. Er wirkte im grellen Neonlicht des Tresens unglaublich weiß. Er hatte nicht von der Frau getrunken, und seine Fangzähne waren eingefahren.

„Komm, wir müssen reden“, sagte er.

„Mit ihr?“ Das klang fast wie ein Knurren.

„Nein“, erwiderte Bill. „Mit mir mußt du reden. Sie muß ich zurückschicken.“

Bill klang ruhig und distanziert, was mich beeindruckte. Also folgte ich meinem Freund nach draußen, wobei ich den Kopf hoch erhoben hielt und niemandem direkt in die Augen sah. Bill hielt nach wie vor den Arm der Kleinen umklammert, und sie trippelte praktisch auf Zehenspitzen neben ihm her, um mit ihm mithalten zu können. Erst als ich mich - kurz bevor wir auf den Parkplatz traten - umdrehte und Jason direkt hinter mir sah, bekam ich mit, daß mein Bruder uns gefolgt war. Auch hier draußen herrschte ein reges Kommen und Gehen, aber es war doch ein wenig besser als drinnen im überfüllten Lokal.

„Hi!“ meldete sich nun das Mädchen in munterem Plauderton. „Ich bin Desiree. Ich glaube, wir kennen uns, Jason.“

„Was tust du hier, Desiree?“ fragte Jason, wobei seine Stimme ganz ruhig und gelassen klang. Man hätte fast meinen können, Jason selbst sei ebenso ruhig und gelassen.

„Eric hat mich hier rübergeschickt nach Bon Temps, als Belohnung für Bill“, erklärte Desiree geziert und warf Bill von der Seite her einen koketten Blick zu. „Der scheint allerdings nicht begeistert. Das kann ich gar nicht verstehen! Ich bin doch mehr oder weniger ein ganz besonderer Jahrgang!“

„Eric?“ fragte Jason. Die Frage war an mich gerichtet.

„Ein Vampir aus Shreveport. Ihm gehört dort ein Nachtclub, und er ist einer der Obermuftis.“

„Er hat sie einfach bei mir auf der Türschwelle abgeladen“, ergänzte Bill. „Ich hatte ihn nicht darum gebeten.“

„Was wirst du denn nun tun?“

„Ich schicke sie zurück“, wiederholte Bill. „Sookie, wir müssen miteinander reden.“

Ich holte tief Luft. Ich spürte, wie meine Fäuste sich lockerten.

„Desiree braucht jemanden, der sie nach Monroe fährt?“ fragte Jason.

Bill war überrascht. „Ja. Würden Sie mir den Gefallen tun? Ich muß mit Ihrer Schwester reden.“

„Klar“, sagte Jason ganz fröhlich und zuvorkommend, was mich sofort mißtrauisch stimmte.

„Ich kann einfach nicht glauben, daß du mich zurückweist!“ nörgelte Desiree und blickte schmollend zu Bill empor. „Mich hat noch nie jemand zurückgewiesen.“

„Ich bin Eric natürlich sehr dankbar und glaube gern, daß Sie - wie sagten Sie doch gleich? - ein besonderer Jahrgang sind“, erwiderte Bill höflich. „Ich habe jedoch meinen eigenen Weinkeller.“

Klein-Desiree sah ihn ein paar Sekunden lang verständnislos an, ehe in ihren braunen Augen ganz langsam die Erkenntnis aufflackerte. „Ist das da Ihre Frau?“ fragte sie und deutete mit einer Kopfbewegung auf mich. „Ja.“

Jason scharrte nervös mit den Füßen, als Bill das so unumwunden kundtat.

Desiree betrachtete mich prüfend und abschätzend von oben bis unten. „Sie hat komische Augen“, erklärte sie dann.

„Sie ist meine Schwester“, sagte Jason.

„Oh. Das tut mir leid. Du bist viel ... normaler.“ Nun musterte die junge Frau meinen Bruder von Kopf bis Fuß, und was sie sah, schien sie weit mehr zu erfreuen als mein Anblick. „Hey, wie heißt du denn mit Nachnamen?“

Jason nahm ihre Hand, um sie zum Pick-up zu führen. „Stackhouse“, beantwortete er im Forteilen ihre Frage, wobei er sie von der Seite her mit seinem Charme bombardierte. „Ich fahre dich nach Hause, und du erzählst mir ein wenig darüber, was du so machst. Was hältst du davon?“

Ich wandte mich wieder an Bill, wobei ich mich immer noch fragte, was Jason wohl zu seinem großzügigen Angebot veranlaßt haben mochte. Ich begegnete Bills Blick, und mir war, als würde ich gegen eine Ziegelmauer prallen.

„Du willst also mit mir reden“, sagte ich mit belegter Stimme.

„Nicht hier. Komm mit zu mir.“

Ich scharrte mit dem Fuß im Kies. „Nicht zu dir nach Hause!“

„Dann zu dir.“

„Nein.“

Er hob seine schön geschwungenen Brauen. „Wohin dann?“

Das war eine gute Frage.

„Zum Teich meiner Eltern.“ Da Jason ja gerade Fräulein Dunkel und Winzig nach Hause fuhr, würden wir dort allein sein.

„Ich fahre hinter dir her“, sagte Bill kurz angebunden, woraufhin wir uns trennten, um zu unseren Autos zu gehen.

Das Grundstück, auf dem ich meine ersten Lebensjahre verbracht hatte, lag im Westen von Bon Temps. Ich bog in die vertraute Kieseinfahrt ein und parkte beim Haus, einem bescheidenen Holzhaus im Landhausstil, das Jason ziemlich gut in Schuß hielt. Bill kletterte im selben Moment wie ich aus seinem Wagen, und ich forderte ihn mit einer Handbewegung auf, mir zu folgen. Wir gingen ums Haus herum, eine kleine Böschung hinab und folgten dann einem Pfad, der mit großen Steinen bepflastert war. Schon bald, nach etwa einer Minute, standen wir an dem kleinen Teich, den mein Vater im Garten hinter dem Haus angelegt, bepflanzt und mit Fischen bevölkert hatte, in der Hoffnung, dort noch jahrelang mit seinem Sohn zusammen angeln zu können.

Neben dem Teich gab es eine Art Holzveranda, von der aus man auf das Wasser schauen konnte, und dort lag auf einem der Klappstühle aus Metall eine zusammengefaltete Wolldecke. Bill nahm die Decke, schüttelte sie aus und breitete sie auf dem Gras vor der Veranda aus. Widerstrebend nahm ich Platz, denn die Decke kam mir aus demselben Grund nicht sicher vor, aus dem heraus auch ein Treffen in Bills Haus oder in meinem nicht in Frage gekommen war: Wenn ich Bill zu nahe kam, dann konnte ich nur noch an eins denken, nämlich daran, ihm möglichst schnell noch näher zu kommen.

Ich zog die Knie an die Brust, schlang beide Arme darum und starrte auf das Wasser hinaus. Auf der anderen Seite des Teichs hing eine kleine Außenleuchte, deren Licht sich in der ruhigen Wasseroberfläche spiegelte. Bill lag neben mir auf dem Rücken. Ich spürte seinen Blick auf meinem Gesicht. Er hatte seine Finger ineinander verschlungen, und seine Hände ruhten auf seinem Brustkorb. Er war sorgsam darum bemüht, mir nur nicht mit den Händen zu nahe zu kommen.

„Letzte Nacht hat dir Angst gemacht“, begann er in neutralem Ton unser Gespräch.

„Dir nicht? Nicht wenigstens ein kleines bißchen?“ fragte ich ruhiger, als ich eigentlich für möglich gehalten hätte.

„Ich hatte Angst um dich. Gut: ein wenig wohl auch um mich.“

Ich hätte mich am liebsten auf den Bauch gelegt, befürchtete aber, Bill dadurch zu nahe zu kommen. Ich sah seine Haut im Mondlicht glänzen und sehnte mich sehr danach, ihn zu berühren.

„Mir macht Angst, daß Eric unser Leben kontrollieren kann, solange wir ein Paar sind.“

„Möchtest du lieber kein Paar mehr mit mir sein?“

Der Schmerz in mir war so groß, daß ich mir die Hand auf die Brust legen und fest zupressen mußte.

„Sookie?“ Bill kniete neben mir und hatte den Arm um mich gelegt.

Ich konnte nicht antworten. Dazu fehlte mir der Atem.

„Liebst du mich?“ fragte Bill.

Ich nickte.

„Warum redest du dann davon, mich zu verlassen?“

Nun bahnte sich der Schmerz in Form von Tränen durch meine Augen hindurch einen Weg nach draußen.

„Ich habe zu viel Angst vor den anderen Vampiren, davor, wie sie sind. Worum wird er mich als nächstes bitten? Er wird doch auf jeden Fall versuchen, mich zu irgend etwas zu zwingen. Er wird sagen, daß er dich sonst vernichtet. Oder er droht, Jason etwas anzutun, und das kann er ja auch.“

Bills Stimme klang so leise wie der Laut einer Grille im Grase, noch vor einem Monat hätte ich ihn nicht hören können. „Nicht weinen“, bat er. „Sookie, ich muß dir ein paar Sachen sagen, die du nicht gern hören wirst.“

Zu dem Zeitpunkt wäre die einzige Nachricht, die Bill mir hätte überbringen und die mich hätte freuen können, die von Erics Vernichtung gewesen.

„Eric ist jetzt ziemlich von dir fasziniert. Er weiß, daß du geistige Kräfte besitzt, die den meisten Menschen nicht zur Verfügung stehen oder die sie ignorieren, wenn sie wissen, daß sie sie haben. Er geht davon aus, daß dein Blut sehr reichhaltig und sehr süß ist.“ Bei diesen Worten wurde Bills Stimme ganz rauh, und ich zitterte. „Du bist schön. Jetzt bist sogar noch schöner. Eric ahnt nicht, daß du dreimal unser Blut getrunken hast.“

„Du weißt, daß Long Shadow in meinen Mund geblutet hat?“

„Ja. Ich habe es gesehen.“

„Dreimal: Ist da irgend etwas Magisches dran?“

Er lachte sein tiefes, rumpelndes, rostiges Lachen. „Nein. Aber je mehr Vampirblut du trinkst, desto begehrenswerter wirst du für unsereins und eigentlich auch für jeden anderen, was du bestimmt schon mitbekommen hast - und Desiree hält sich für einen guten Jahrgang! Ich frage mich, welcher Vampir ihr das erzählt hat!“

„Einer, der ihr an die Wäsche wollte“, sagte ich trocken, und Bill lachte erneut. Ich liebte es, ihn lachen zu hören.

„Wenn du mir sagst, wie schön ich aussehe und so, willst du mir damit zu verstehen geben, daß Eric mich - nun ja - daß er mich begehrt?“

„Was hindert ihn daran, mich einfach so zu nehmen? Du sagst, er sei stärker als du.“

„Mehr als alles andere hindern ihn Sitte und Anstand.“

Ich konnte mir ein Kichern gerade noch so verkneifen.

„Das kannst du ruhig ernst nehmen, Sookie. Wir Vampire halten uns an die Sitten. Wir müssen schließlich Jahrhunderte lang zusammen existieren.“

„Gibt es außer Sitte und Anstand noch etwas, was Eric bedenken müßte?“

„Ich mag nicht so stark sein wie Eric, aber ein funkelnagelneuer Vampir bin ich auch nicht mehr. Eric könnte im Kampf mit mir schwer verletzt werden, und wenn er Pech hat, könnte ich ihn sogar besiegen.“

„Gibt es sonst noch etwas?“

„Vielleicht dich selbst“, sagte Bill vorsichtig.

„Wie das denn?“

„Wenn du anderweitig für ihn wertvoll sein kannst, läßt er dich vielleicht in Ruhe, solange er weiß, daß du das wirklich und aus ganzem Herzen so willst.“

„Aber ich möchte ihm nicht anderweitig von Nutzen ein. Ich möchte ihn nie wiedersehen!“

„Du hast Eric versprochen, ihm auch weiterhin zu helfen“, rief Bill mir ins Gedächtnis.

„Unter der Bedingung, daß er den Dieb der Polizei übergibt!“ erwiderte ich ungehalten. „Aber was hat Eric statt dessen getan? Er hat ihn gepfählt!“

„Womit er dir das Leben rettete.“

„Ich hatte immerhin auch seinen Dieb gefunden!“

„Sookie, du weißt wirklich nicht viel über die Welt.“ Ich starrte ihn überrascht an. „Das kann gut sein.“

„Es geht kaum einmal etwas so ... ganz glatt.“ Bill starrte in die Finsternis. „Manchmal glaube ich ja fast schon, selbst ich wüßte nicht viel, nicht mehr jedenfalls.“ Eine weitere melancholische Pause. „Ich mußte bisher nur einmal mit ansehen, wie ein Vampir einen anderen pfählte. Langsam, aber sicher bewegt Eric sich außerhalb der Grenzen unserer Welt.“

„Dann werden ihn ja wohl kaum Sitte und Anstand, die du vorhin noch so lobend erwähnt hast, von irgend etwas abhalten.“

„Pam kann ihn vielleicht dazu bewegen, sich weiter an die alten Wege zu halten.“

„Was bedeutet sie ihm?“

„Eric hat Pam erschaffen. Das heißt: Er hat sie vor Jahrhunderten als Vampirin erschaffen. Von Zeit zu Zeit kehrt sie zu ihm zurück und hilft ihm bei den Unternehmungen, die er gerade vorhat. Eric war immer schon ein Schlitzohr, und je älter er wird, desto starrsinniger wird er.“ Eric starrsinnig zu nennen schien mir die größte Untertreibung des Jahrhunderts.

„Haben wir nun also lange genug um den heißen Brei herumgeredet?“ wollte ich wissen.

Darüber schien Bill nachdenken zu müssen. „Ja“, sagte er dann, und in seinem Ton schwang Bedauern mit. „Du möchtest außer mit mir mit Vampiren nichts zu tun haben, und ich habe dir gerade erklärt, daß wir in dieser Frage keine Wahl haben.“

„Was hat es mit dieser Desiree auf sich?“

„Eric hat dafür gesorgt, daß sie jemand auf meiner Türschwelle ablegt. Dabei hat er wohl gehofft, ich würde mich über das hübsche Geschenk freuen. Außerdem hätte es meine Hingabe an dich in Frage gestellt, wenn ich von ihr getrunken hätte. Gut möglich, daß er noch dazu irgendwie Desirees Blut vergiftet hat, so daß mich ihr Blut, hätte ich es zu mir genommen, geschwächt hätte. Desiree hätte sich durchaus zu meiner Achillesferse entwickeln können.“ Er zuckte die Achseln. „Du hast wirklich gedacht, ich hätte mich mit ihr verabredet und würde mit ihr ausgehen?“

„Ja.“ Ich spürte, wie sich meine Miene verfinsterte, als ich daran dachte, wie Bill mit diesem Mädchen in unser Lokal gekommen war.

„Du warst nicht daheim. Ich mußte schließlich losziehen und dich suchen.“ Bills Ton klang nicht anklagend, besonders zufrieden allerdings auch nicht.

„Ich habe versucht, Jason zu helfen. Außerdem war ich noch ärgerlich wegen gestern nacht.“

„Ist denn zwischen uns jetzt alles wieder in Ordnung?“

„Nein, aber es ist soweit in Ordnung, wie es das zwischen uns überhaupt sein kann“, sagte ich. „Ich nehme an, solche Sachen laufen nie glatt, ganz egal, wen man liebt. Aber auf Hindernisse so drastischer Art war ich nicht eingestellt. Es gibt wohl für dich keine Möglichkeit, irgendwann einmal einen höheren Rang zu bekleiden als Eric, nicht? Wo er doch soviel älter ist als du und Alter das entscheidende Kriterium ist?“

„Nein“, stimmte Bill mir zu, „einen höheren Rang kann ich nie bekleiden ...“ Dann wirkte er plötzlich sehr nachdenklich. „Obwohl: Es gibt da durchaus etwas, was ich in dieser Sache unternehmen könnte. Ungern zwar - eigentlich widerspricht das meinem Wesen -, aber zumindest wären wir dann sicherer.“

Ich ließ ihn in Ruhe nachdenken.

„Ja!“ Nach langem Grübeln war Bill anscheinend zu einem befriedigenden Schluß gekommen. Er bot mir allerdings nicht an zu erklären, worum es eigentlich ging, und ich fragte ihn auch nicht.

„Ich liebe dich“, sagte er dann, als sei das auf jeden Fall unter dem Strich das Endergebnis, ganz gleich, für welche Vorgehensweise er sich entschied. Sein Gesicht hing über mir im Halbdunkel, leuchtend und wunderschön.

„Ich dich auch“, entgegnete ich und stemmte beide Hände gegen seine Brust, damit er mich nicht in Versuchung führen konnte. „Aber im Augenblick steht zu viel gegen uns. Wenn wir uns Eric vom Hals schaffen könnten, wäre das bereits eine große Hilfe. Dann ist da natürlich noch eine andere Sache: Wir müssen dafür sorgen, daß die Ermittlungen bezüglich der Morde zu einem Ende kommen. Damit hätten wir eine weitere große Sorge vom Halse. Der Mörder ist für den Tod deiner Freunde und für den Dawns und Maudettes verantwortlich.“ Ich machte eine Pause und holte Luft. „Genau wie für den Tod meiner Großmutter.“ Dann mußte ich blinzeln, um meine Tränen zurückzuhalten. Ich hatte mich langsam daran gewöhnt, daß Oma nicht mehr da war, wenn ich nach Hause kam, und ich gewöhnte mich auch langsam an die Tatsache, daß ich nicht mehr mit ihr reden, ihr nicht erzählen konnte, wie mein Tag gewesen war. Aber von Zeit zu Zeit verspürte ich noch einen Schmerz, der so tief ging, daß er mir den Atem raubte.

„Warum denkst du, daß derselbe Mörder auch dafür verantwortlich ist, daß die Vampire in Monroe verbrannt wurden?“

„Ich glaube, es war der Mörder, der den Männern an jenem Abend in der Kneipe diese Idee in den Kopf gesetzt hat, diese Bürgerwehrsache. Ich glaube, es war der Mörder, der von einer Gruppe zur anderen gegangen ist und die Jungs angestachelt hat. Ich wohne hier schon mein Leben lang und habe noch nie erlebt, daß die Leute sich so aufgeführt haben. Es muß einen Grund dafür geben, daß sie es diesmal getan haben.“

„Er hat sie aufgehetzt? Er hat den Brand geschürt?“ „Ja.“

„Dein Lauschen hat nichts zutage gefördert?“

„Nein“, mußte ich mit finsterer Miene eingestehen. „Aber das heißt nicht, daß es morgen genauso ereignislos verlaufen muß.“

„Du bist Optimistin, Sookie.“

„Ja, das bin ich. Ich muß Optimistin sein.“ Ich tätschelte Bills Wange und dachte daran, wie gerechtfertigt mein Optimismus gewesen war, denn schließlich war ja mein Vampir in mein Leben getreten.

„Dann lauschst du also weiter und hoffst, daß das irgendwann einmal Früchte tragen wird“, sagte Bill. „Ich widme mich zunächst einer anderen Sache. Ich sehe dich morgen, ja? Bei dir daheim? Ich werde vielleicht ... nein, laß mich dir das dann erklären.“

„Gut.“ Ich war sehr neugierig, aber offenbar war Bill ja nicht bereit, mir jetzt schon mehr zu sagen.

Auf dem Heimweg folgte ich bis zu meiner eigenen Auffahrt den Rücklichtern von Bills Wagen und dachte darüber nach, wie froh ich sein konnte, daß seine Anwesenheit mich schützt und wie viel mehr ich mich sonst in den letzten Wochen gefürchtet hätte. Dann lenkte ich mein Auto vorsichtig den Kiesweg hinauf, wobei ich wünschte, Bill hätte nicht nach Hause fahren müssen, um von dort aus ein paar dringende Telefonate zu erledigen. In den wenigen Nächten, die wir in letzter Zeit getrennt voneinander verbracht hatten, hatte ich zwar nicht gerade ununterbrochen vor Angst geschlottert, aber ich war sehr schreckhaft und angespannt gewesen. War ich allein im Haus, dann verbrachte ich viel Zeit damit, immer wieder nachzuprüfen, ob alle Fenster und Türen verschlossen waren. Ich war es nicht gewohnt, so zu leben. Beim Gedanken an die Nacht, die vor mir lag, wurde mir das Herz ganz schwer.

Ehe ich aus dem Auto stieg, ließ ich den Blick wachsam durch meinen Garten schweifen, wobei ich froh darüber war, daß ich daran gedacht hatte, die Außenbeleuchtung einzuschalten, ehe ich zum Merlottes fuhr. Normalerweise kommt Tina angelaufen, wenn ich nach längerer Abwesenheit zurückkehre, denn sie will dann ganz schnell ins Haus, um ein wenig Katzenfutter zu knabbern, aber in dieser Nacht war sie wohl irgendwo in den Wäldern auf Jagd.

Noch im Auto suchte ich mir den Haustürschlüssel aus dem Schlüsselbund heraus, der an meinem Schlüsselring hing. Dann hastete ich mit großen Schritten zur Vordertür, steckte den Schlüssel ins Schloß, drehte ihn um, sprang ins Haus, knallte die Tür hinter mir zu und verriegelte sie gleich wieder, alles in absoluter Rekordzeit. So kann man nicht leben, dachte ich und schüttelte verzweifelt den Kopf. Ich hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, da schlug etwas mit einem dumpfen Aufprall gegen meine Vordertür, und ich konnte einfach nicht anders, ich kreischte laut auf.

Ich rannte zum schnurlosen Telefon beim Sofa und tippte mit zitternden Fingern Bills Nummer ein, während ich gleichzeitig im Zimmer hin- und herlief und sämtliche Jalousien herunterließ. Was, wenn sein Telefon besetzt war? Er hatte doch gesagt, er wolle nach Hause, um zu telefonieren!

Aber ich erwischte Bill, als dieser gerade zur Tür hereinkam. „Ja?“ meldete er sich. Bill klang immer ein wenig mißtrauisch, wenn er ans Telefon ging.

„Bill“, keuchte ich völlig verängstigt. „Hier draußen ist irgendwas!“

Kommentarlos knallte er den Hörer auf die Gabel. Ein Vampir in Aktion.

Innerhalb von zwei Minuten war er da. Ich spähte durch eine der Jalousien, deren Lamellen ich ein klein wenig auseinander geschoben hatte, vorsichtig in den Garten hinaus, und da sah ich ihn: schneller und leiser, als ein Mensch es je könnte, trat er aus dem kleinen Wald und eilte über mein Grundstück. Die Erleichterung, die ich bei seinem Anblick empfand, war überwältigend. Eine Sekunde lang schämte ich mich dafür, ihn gerufen zu haben - ich hätte allein mit dieser Situation fertig werden müssen! Aber dann dachte ich: wieso? Wenn du in deiner Bekanntschaft ein schier unbesiegbares Wesen hast, das noch dazu sagt, es verehrt dich, ein Wesen, das schier unverwundbar ist, dann rufst du es doch, wenn du Hilfe brauchst!

Bill suchte den Garten und das Wäldchen ab. Er bewegte sich dabei völlig lautlos und ungeheuer anmutig. Schließlich kam er die Treppe heraufgeschwebt. Er beugte sich über etwas, das auf der vorderen Veranda lag. Der Winkel war zu spitz, ich konnte nicht sehen, was es war. Als er sich dann aufrichtete, hielt er etwas in Händen, und seine Miene war ... absolut undurchdringlich.

Das war ganz und gar kein gutes Zeichen.

Widerstrebend ging ich, um die Vordertür zu öffnen. Ich drückte auch die Fliegentür auf.

Bill hielt die Leiche meiner Katze in Händen.

„Tina?“ sagte ich und hörte, wie meine Stimme zitterte, aber das war mir völlig egal. „Ist sie tot?“

Bill nickte, eine einzige, winzige Bewegung mit dem Kopf.

„Was - wie?“

„Erwürgt, glaube ich.“

Ich spürte, wie mein Gesicht in tausend Stücke zerfiel. Bill mußte dastehen und die Leiche halten, und ich weinte mir die Seele aus dem Leib.

„Ich habe diese Virginia-Eiche noch nicht besorgt“, sagte ich dann, als ich mich ein wenig beruhigt hatte. Meine Stimme klang immer noch nicht besonders sicher. „Wir können sie in diesem Loch begraben.“ So gingen wir also in den Garten hinter dem Haus, wobei der arme Bill Tina trug und versuchte, so zu tun, als mache ihm das gar nichts aus, und ich versuchte, nicht gleich wieder zusammenzubrechen. Bill kniete nieder und legte das kleine, schwarze Fellbündel in die Grube. Ich holte die Schaufel und machte mich daran, das Loch zu füllen, aber beim Anblick der ersten Schaufel Erde, die Tinas Fell traf, löste ich mich wieder in Tränen auf. Da nahm mir Bill schweigend die Schaufel aus der Hand, und ich drehte dem Loch den Rücken zu, während er die schreckliche Arbeit beendete.

„Komm ins Haus“, sagte er, als alles erledigt war. Seine Stimme klang ganz lieb und sanft.

Wir gingen also zurück, wobei wir wieder um das ganze Haus herumgehen mußten, weil ich ja die Hintertür noch nicht aufgeschlossen hatte und wir nur durch die Vordertür gehen konnten.

Bill streichelte und tröstete mich; dabei wußte ich doch genau, daß er selbst sich nicht viel aus Tina gemacht hatte. „Gott segne dich, Bill“, flüsterte ich und hatte plötzlich schreckliche Angst, auch er könnte mir noch genommen werden, weswegen ich panisch beide Arme um ihn schlang. Erst als meine Tränen versiegt waren und nur noch ein Schluckauf übrigblieb, sah ich auf und hoffte sehr, ihn durch meinen Gefühlsausbruch nicht überfordert zu haben.

Bill war ungeheuer wütend. Er starrte auf die Wand über meinem Kopf, seine Augen glühten, und er schien mir das furchterregendste Wesen, das ich in meinem ganzen Leben je zu Gesicht bekommen hatte.

„Hast du draußen im Garten irgend etwas gefunden?“ fragte ich.

„Nein. Wohl Spuren seiner Anwesenheit: ein paar Fußabdrücke, einen Geruch, der immer noch über allem lag. Nichts, was sich vor Gericht als Beweismittel verwenden ließe“, fügte er rasch hinzu, als könne er meine Gedanken lesen.

„Würde es dir etwas ausmachen, hier zu bleiben, bis ... du dich vor der Sonne verstecken mußt?“

„Natürlich nicht.“ Er starrte mich an, was mir klarmachte, daß er ohnehin vorgehabt hatte zu bleiben, ganz egal, ob ich das gewollt hätte oder nicht.

„Wenn du immer noch telefonieren willst, dann tu das doch einfach von hier aus. Ich habe nichts dagegen.“ Damit meinte ich, daß ich nichts dagegen hatte, wenn diese Gespräche auf meiner Telefonrechnung auftauchten.

Ich wusch mir das Gesicht und nahm eine Schmerztablette, ehe ich mir das Nachthemd anzog. Ich war trauriger als je zuvor seit Großmutters Tod, aber ich trauerte anders als nach ihrer Ermordung. Natürlich fällt der Tod eines Haustiers in eine andere Kategorie als der eines Familienmitglieds, und das sagte ich mir selbst an diesem Abend sehr streng. Aber irgendwie schien diese Erkenntnis meinen schrecklichen Kummer nicht lindern zu können. Ich ging alles durch, was meiner Meinung nach meine Empfindungen hätte relativieren müssen, aber ich kam keiner vernünftigen Erwägung näher, denn ich blieb immer wieder an dem Wissen hängen, daß ich Tina vier Jahre lang gefüttert, gebürstet und liebgehabt hatte und daß sie mir fehlen würde.