Kapitel 3

Das Telefon klingelte. Ich zog mir das Kissen über den Kopf. Oma würde bestimmt drangehen, oder? Aber das lästige Läuten wollte und wollte nicht verstummen, und so mußte ich letztlich davon ausgehen, daß meine Großmutter einkaufen gegangen war oder draußen im Garten arbeitete. Es gelang mir, die Augen soweit zu öffnen, daß ich das Telefon auf meinem Nachttisch erkennen konnte, weshalb ich mich, wenn auch ungern, in mein Schicksal ergab. Mein Kopf schmerzte zum Zerplatzen, und ich empfand das tiefe Bedauern, das oft mit einem schlimmen Kater einhergeht - wobei mein Kater emotional und nicht alkoholbedingt war. In dieser Verfassung befand ich mich also, als ich eine zittrige Hand nach dem Telefonhörer ausstreckte.

„Ja?“ stieß ich mit piepsiger Stimme hervor, räusperte mich und versuchte es noch einmal: „Hallo?“

„Sookie?“

„Am Apparat. Sam?“

„Ja. Hör mal, Schatz, tust du mir einen Gefallen?“

„Was für einen?“ Ich war heute ohnehin zur Arbeit eingeteilt und wollte keinesfalls zusätzlich auch noch Dawns Schicht übernehmen.

„Könntest du bitte bei Dawn vorbeifahren und nachsehen, was mit ihr ist? Sie geht nicht ans Telefon, und hier ist sie noch nicht aufgetaucht. Ich habe gerade eine große Lieferung bekommen und muß den Jungs, die den Lastwagen abladen, zeigen, wo sie mit den Sachen hin sollen.“

„Jetzt? Du willst, daß ich jetzt gleich bei Dawn vorbeifahre?“ Nie war mir mein altes Bett verlockender erschienen.

„Geht das?“ Sam fiel wohl gerade erst auf, daß ich anders reagierte als sonst. Noch nie hatte ich es abgelehnt, Sam einen Gefallen zu tun.

„Na gut“, murmelte ich und fühlte mich beim bloßen Gedanken an den Auftrag zutiefst erschöpft. „Wird schon gehen.“ Mir lag nicht gerade besonders viel an Dawn, und Dawn lag nicht besonders viel an mir. Sie war der festen Überzeugung, ich hätte ihre Gedanken gelesen und Jason eine Sache erzählt, die sie über ihn gedacht hatte, und deswegen hätte mein Bruder die Beziehung mit ihr beendet. Mal ehrlich:

Wenn ich wirklich solches Interesse für Jasons Liebesangelegenheiten aufbrächte, käme ich weder zum Schlafen noch zum Essen!

Ich duschte, um mir dann langsam und ein wenig träge die Arbeitskleidung anzuziehen. All mein Schwung war dahin, und ich fühlte mich wie Mineralwasser in einer Flasche, die man zu oft geschüttelt und dann unverschlossen stehen gelassen hat. Ich aß eine Schale Müsli und putzte mir die Zähne, und nachdem es mir gelungen war, meine Großmutter ausfindig zu machen, sagte ich ihr, wohin ich gehen würde. Oma war im Garten, wo sie eine alte Badewanne, die neben der Hintertür stand, mit Petunien bepflanzte. Sie schien nicht zu verstehen, was ich ihr durch die Tür zurief, aber sie lächelte trotzdem und winkte mir zum Abschied fröhlich zu. Oma schien jede Woche etwas schwerhöriger zu werden, aber darüber durfte man sich wohl nicht groß wundern, denn immerhin war sie bereits achtundsiebzig Jahre alt. Da grenzte es fast an ein Wunder, daß sie immer noch so gesund und stark und blitzgescheit war.

Auf meinem lästigen Botengang dachte ich darüber nach, wie schwer es für meine Großmutter gewesen sein mußte, zwei weitere Kinder aufzuziehen, nachdem sie doch bereits für ihre eigenen hatte sorgen müssen. Als mein Vater, Großmutters Sohn, starb, waren Jason und ich zehn bzw. sieben Jahre alt gewesen. Als ich dreiundzwanzig Jahre alt war, starb Omas Tochter, Tante Linda, an Blasenkrebs. Hadley, Tante Lindas Tochter, war bereits vor dem Tod ihrer Mutter im Dunstkreis der Subkultur untergetaucht, aus der auch die Rattrays stammten, und wir wußten bis zu diesem Tage nicht, ob Hadley überhaupt ahnte, daß ihre Mutter nicht mehr lebte. Das alles hatte meiner Oma viel Kummer bereitet, aber sie war immer stark geblieben, unseretwegen.

Durch die Windschutzscheibe hindurch blickte ich auf die drei kleinen Doppelhäuser auf der einen Seite der Berry Street. Die Berry Street gehörte zu den zwei oder drei heruntergekommenen Straßenzügen, die sich hinter dem ältesten Teil der Innenstadt von Bon Temps hinziehen, und Dawn lebte in einer der Doppelhaushälften hier. Ich erkannte ihren Wagen, ein kleines, kompaktes Fahrzeug in der Auffahrt eines Hauses, das ein wenig besser gepflegt wirkte als die anderen, und parkte direkt dahinter. Dawn hatte einen Hängekorb an ihrer Tür bereits mit Begonien bepflanzt, die dringend hätten gegossen werden müssen. Ich klopfte.

Dann wartete ich ein oder zwei Minuten. Daraufhin klopfte ich noch einmal.

„Brauchst du Hilfe, Sookie?“ Die Stimme, die das gerufen hatte, kam mir bekannt vor, also drehte ich mich um, schirmte meine Augen mit der Hand gegen das grelle Morgenlicht ab und sah nach, wer es war. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand Rene neben seinem Pick-up, den er vor einem der kleinen Holzhäuser geparkt hatte, aus denen diese Nachbarschaft zum größten Teil bestand.

„Ich weiß nicht“, hob ich an, nicht sicher, ob ich Hilfe brauchen würde oder nicht und ob Rene letztlich in der Lage wäre, mir zu helfen. ,Hast du Dawn gesehen? Sie ist heute nicht zur Arbeit erschienen, und gestern hat sie sich auch schon nicht sehen lassen. Sam hat mich gebeten, bei ihr vorbeizufahren und nach dem Rechten zu sehen.“

„Sam? Der sollte seine Drecksarbeit lieber selbst machen“, meinte Rene, was mich perverserweise dazu veranlaßte, meinen Chef zu verteidigen.

„Sam hat heute morgen eine größere Lieferung erhalten, die abgeladen werden mußte“, erklärte ich, wandte mich dann wieder um und klopfte noch einmal an Dawns Tür. „Dawn?“ rief ich dazu. „Komm! Laß mich rein!“ Dann sah ich mir die Veranda an. Seit zwei Tagen flogen die Kiefernpollen und hatten Dawns Veranda mit einem gelben Film überzogen. Die einzigen Fußspuren waren meine. Meine Kopfhaut fing an zu jucken.

Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, daß Rene immer noch unschlüssig an der Tür seines Pick-up stand und nicht recht wußte, ob er nun losfahren sollte oder nicht.

Dawns Doppelhaus war einstöckig und ziemlich klein; die Tür zur anderen Hälfte befand sich fast direkt neben Dawns eigener Eingangstür. Die kleine Auffahrt des Nachbarhauses war jedoch leer, und in den Fenstern nebenan hingen keine Gardinen. Es sah aus, als hätte Dawn vorübergehend keine Nachbarn. Dawns Hausfrauenstolz hatte sie in ihrer Wohnung Gardinen aufhängen lassen, weiße mit altgoldenen Blumen. Die waren auch zugezogen, aber aus dünnem Stoff gefertigt und ohne Saum, so daß ich durch sie hindurch ins Wohnzimmer schauen konnte. Außerdem hatte Dawn ihre billigen Aluminiumrollos nicht heruntergelassen. Was ich sah, ließ darauf schließen, daß Dawn sich ihre Wohnzimmerausstattung ausnahmslos auf dem Flohmarkt besorgt hatte. Auf dem Tischchen neben einem klobigen Lehnsessel stand eine Kaffeetasse. Eine alte Couch mit einer selbstgehäkelten Sofadecke darauf war gegen die Wand geschoben.

„Ich sehe mal hinten nach“, rief ich Rene zu, der daraufhin die Straße überquerte, als hätte er nur auf mein Signal gewartet, und auf die vordere Veranda trat. Meine Füße streiften staubiges Gras, das die Pollen ganz gelb gefärbt hatten, und ich wußte, ich würde mir gründlich die Schuhe abbürsten und eventuell neue Strümpfe anziehen müssen, ehe ich zur Arbeit gehen konnte. Wenn die Kiefernpollen fliegen, wird einfach alles gelb: Autos, Pflanzen, Dächer, Fenster - über allem liegt dieser dünne goldene Schleier. Teiche und Pfützen zeigen an den Rändern gelbe Ablagerungen.

Dawns Badezimmerfenster befand sich in einer derart diskreten Höhe, daß ich nicht hindurchsehen konnte. Im Schlafzimmer hatte sie die Rollos heruntergelassen, allerdings nicht ganz, so daß ich durch die Zwischenräume zwischen den einzelnen Lamellen spähen konnte. Dawn lag auf dem Bett, auf dem Rücken. Um sie herum wild durcheinander das Bettzeug. Sie hatte die Beine gespreizt. Ihr Gesicht war geschwollen und hatte sich verfärbt, und die Zunge hing ihr aus dem Mund. Auf ihren Lippen krochen Fliegen herum.

Ich konnte hören, wie Rene hinter mich trat.

„Geh und ruf die Polizei an“, befahl ich ihm.

„Was ist? Hast du sie gesehen?“

„Geh und ruf die Polizei an!“

„Schon gut, schon gut!“ Hastig trat Rene den Rückzug an.

Ich hatte nicht gewollt, daß Rene Dawn in diesem Zustand sah - aus irgendeinem Gefühl für weibliche Solidarität heraus. Niemand sollte meine Kollegin ohne ihre Zustimmung so sehen - aber sie war wohl kaum mehr in der Lage, diese Zustimmung zu erteilen.

Ich stand mit dem Rücken zum Fenster und war schrecklich versucht, noch einmal ganz genau durch die Lamellen der Jalousie zu spähen, in der verzweifelten Hoffnung, vielleicht beim ersten Mal einen Fehler gemacht zu haben. Ich starrte auf das Doppelhaus neben dem Dawns, das höchstens zwei Meter entfernt stand, und fragte mich, wie dessen Bewohner es geschafft haben mochten, von Dawns Sterben, das sehr gewaltsam herbeigeführt worden war, nichts gehört zu haben.

Nun kam Rene zurück, einen Ausdruck tiefster Besorgnis auf dem wettergegerbten Gesicht, die hellwachen, braunen Augen verdächtig glänzend.

„Würdest du bitte auch Sam anrufen?“ bat ich, und wortlos machte er auf dem Absatz kehrt und trottete zu seinem eigenen Haus zurück. Er benahm sich wirklich gut. Rene neigte zu Klatsch und Tratsch, aber er war immer bereit, jedem zu helfen, der seine Hilfe brauchte. Ich mußte daran denken, wie er zu uns herausgekommen war, um Jason zu helfen, Großmutters Verandaschaukel aufzuhängen - ein Bild, das mir ganz zufällig durch den Kopf schoß. Die Erinnerung an einen Tag, der so ganz anders gewesen war als dieser hier heute.

Das Doppelhaus nebenan war genauso geschnitten wie das, in dessen einer Hälfte Dawn lebte, und so blickte ich direkt auf dessen eines Schlafzimmerfenster, hinter dem nun ein Gesicht erschien. Dann ging das Fenster auf, und ein zerzauster Kopf schob sich heraus. „Sookie! Was machst du denn hier?“ fragte träge eine tiefe, männliche Stimme. Ich starrte den Frager einen Moment lang an, und dann konnte ich das Gesicht auch schon zuordnen - wobei ich mich bemühte, die wirklich attraktive nackte Brust darunter nicht allzu aufdringlich anzustarren.

„JB?“

„Aber sicher doch.“

Mit JB du Rone war ich zur Schule gegangen, und er war sogar der Partner einiger meiner äußerst raren Stelldicheins gewesen, denn JB war wunderschön, aber so einfach gestrickt, daß es ihm gleichgültig war, ob ich seine Gedanken lesen konnte oder nicht. Selbst unter den gegebenen Umständen ließ JBs Schönheit mich nicht kalt. Wenn man seine Hormone so lange unter Verschluß hat halten müssen wie ich, dann bedarf es nicht viel, um sie ins Rotieren geraten zu lassen. Jedenfalls stieß ich beim Anblick von JBs muskulösen Armen und seinem ebenso muskulösen Oberkörper einen tiefen Seufzer aus.

„Was tust du hier?“ wiederholte er seine Frage.

» Da ist scheinbar was Schlimmes mit Dawn passiert“, antwortete ich, nicht sicher, ob ich es ihm sagen sollte oder nicht. „Sie ist nicht zur Arbeit gekommen, und mein Chef hat mich gebeten, nach ihr zu sehen.“

„Ist sie da drin?“ Mit diesen Worten kletterte JB einfach durchs Fenster. Gott sei Dank trug er Shorts, abgeschnittene Jeans.

„Bitte, sieh dir das nicht an!“ rief ich, hielt abwehrend die Hand hoch und fing dann ohne Vorwarnung an zu weinen. Das schien mir in letzter Zeit oft zu passieren. „Sie sieht schrecklich aus, JB!“

„Ach Süße!“ sagte er, und dann nahm er mich - Gott segne sein unschuldiges, ländliches Herz - fürsorglich in die Arme und streichelte beruhigend über meinen Rücken. War ein trostbedürftiges weibliches Wesen in der Nähe, dann war es JBs erste Pflicht und Schuldigkeit, dieses Wesen zu trösten. Alles andere hatte zu warten.

„Dawn mochte es grob“, erklärte er tröstend, als sei damit alles gesagt.

Andere Menschen hätten mit dieser Erklärung vielleicht etwas anfangen können, aber ich lebte einfach zu weit hinter dem Mond.

„Was mochte sie grob?“ fragte ich und hoffte, in der Seitentasche meiner Shorts möge sich ein Papiertaschentuch finden lassen.

Als keine Antwort kam, sah ich in JBs Gesicht und mußte feststellen, daß mein alter Freund hold errötet war.

„Liebling, sie hatte es gern ... Mensch, Sookie, das ist nichts für dich, solche Sachen solltest du dir nicht anhören müssen.“

Ich stand weit und breit im Ruf der Tugendhaftigkeit - was ich gewöhnlich recht komisch fand. In diesem Moment jedoch kam mir mein Ruf höchst ungelegen.

„Du kannst es mir ruhig sagen, JB, ich habe mit Dawn zusammengearbeitet.“ Daraufhin nickte JB bedächtig. Offenbar fand er an der Logik meiner Worte nichts auszusetzen.

„Weißt du, Liebes, sie mochte Männer, die beißen und schlagen.“ JB sah so aus, als würde er diese Vorlieben nicht teilen. Ich hatte wohl das Gesicht verzogen, denn nun fügte er rasch hinzu: „Ja, ich weiß. Ich verstehe auch nicht, warum das manchen Menschen gefällt.“ Da JB sich ungern eine Gelegenheit entgehen ließ, schloß er mich mit diesen Worten fester in die Arme und streichelte weiter beruhigend meinen Rücken, diesmal ein wenig mehr in der Mitte, um zu prüfen, ob ich einen BH trug oder nicht. Dann glitten seine Hände tiefer, und ich erinnerte mich daran, daß JB feste Pobacken liebte.

Mir lag ein ganzer Haufen Fragen auf der Zunge, aber die blieben alle fest in meinem Mund verschlossen, denn nun trat in Gestalt Kenya Jones' und Kevin Priors die Polizei auf den Plan. Als unser Polizeichef verfügt hatte, Kevin und Kenya sollten Partner sein, war die ganze Stadt davon ausgegangen, daß er damit seinen Sinn für Humor hatte unter Beweis stellen wollen. Kenya war mindestens 1,98 m groß, schwarz wie Zartbitter-Schokolade und hatte eine Figur, die so rasch nicht einmal ein Wirbelsturm umwerfen würde. Kevin brachte es vielleicht gerade mal auf 1,70 m; jeder sichtbare Zentimeter Haut an seinem blassen Körper war mit Sommersprossen übersät, und er hatte die schlanke Figur eines Langstreckenläufers, mit nicht einem Gramm Fett am Leibe. Komischerweise kamen die zwei Ks ziemlich gut miteinander aus auch wenn es zwischen ihnen ein paar Auseinandersetzungen gegeben hatte, an die alle sich noch gut erinnern konnten.

Heute waren beide von Kopf bis Fuß Polizisten.

„Worum geht es, Miss Stackhouse?“ fragte Kenya. „Rene sagte, Dawn Green sei etwas zugestoßen?“ Während sie das fragte, musterte die Polizistin gleichzeitig JB von Kopf bis Fuß, während Kevin mit den Augen den Boden rings um uns alle absuchte. Warum sie das taten, hätte ich beim besten Willen nicht sagen können, aber bestimmt gab es aus Polizeisicht gute Gründe dafür.

„Mein Chef hatte mich geschickt. Ich sollte mich erkundigen, warum Dawn nicht zur Arbeit gekommen ist und auch gestern dort nicht aufgetaucht war“, erklärte ich. „Ich habe an die Tür geklopft, aber Dawn hat nicht aufgemacht, obwohl ihr Wagen vor der Tür steht. Weil ich anfing, mir Sorgen zu machen, bin ich dann ums Haus gegangen und habe in alle Fenster geguckt. Durch das Fenster da sah ich sie dann.“ Mit diesen Worten deutete ich auf das Fenster im Rücken der beiden Beamten, woraufhin die zwei Ks sich umdrehten und selbst durch die Jalousie spähten. Dann sahen sie einander an, nickten, und dieses Nicken schien eine ganze Unterhaltung zu beinhalten. Dann stellte sich Kenya vor das Fenster, und Kevin ging ums Haus herum zur Hintertür.

JB hatte den beiden bei der Arbeit zugesehen und dabei vergessen, meinen Rücken zu streicheln. Sein Mund stand offen und enthüllte perfekte Zähne. Er wollte zu gern auch einmal durch die Jalousie des Schlafzimmers schielen, aber dazu hätte er sich an Kenya vorbeidrücken müssen, und das war unmöglich, denn die Beamtin nahm mehr oder weniger allen vor dem Fenster verfügbaren Raum ein.

Ich mochte meine eigenen Gedanken nicht länger hören. Also entspannte ich mich, schob mein Visier hoch und lauschte denen der anderen. Dazu fischte ich mir jeweils einen Strang aus dem ganzen Durcheinander und konzentrierte mich darauf.

Kenya Jones stand nun mit dem Rücken zum Fenster und starrte durch JB und mich hindurch, ohne uns jedoch wirklich zu sehen. Sie dachte an all die Dinge, die Kevin und sie nun tun mußten, damit die Untersuchung so lehrbuchgerecht eingeleitet werden würde, wie man es bei Streifenpolizisten in Bon Temps überhaupt nur erwarten konnte. Sie dachte an die schlimmen Dinge, die sie über Dawn und deren Vorliebe für brutalen Sex gehört hatte, und fand, irgendwie sei es kein Wunder, daß Dawn ein schlimmes Ende gefunden hatte. Dann dachte sie, daß ihr trotzdem jeder leid tat, dem am Schluß die Fliegen um den Mund krabbelten. Außerdem bereute Kenya bitter, bei der Kaffeepause im Nut Hut einen Krapfen zuviel gegessen zu haben, denn nun würde dieser Krapfen unter Umständen wieder hochkommen wollen, und das würde ein unheimlich schlechtes Bild auf sie als schwarze Polizeibeamtin werfen.

Ich schaltete um auf einen anderen Kanal.

JB dachte daran, daß Dawn bei wüsten Sexspielen nur wenige Meter entfernt von ihm umgebracht worden war, und fand das schrecklich, irgendwie aber auch erregend. Sookie, fand er, war immer noch so umwerfend, und er wünschte, er könnte jetzt auf der Stelle mit ihr vögeln. Sookie war süß und lieb, dachte er. Dann war er bemüht, das Schamgefühl zu unterdrücken, das er empfunden hatte, als Dawn ihn gebeten hatte, sie zu schlagen, und er es nicht gekonnt hatte. Es war ein altes Schamgefühl.

Ich schaltete um.

Kevin kam um die Ecke und dachte daran, daß Kenya und er nun bloß keine Beweise vernichten durften und wie froh er war, daß niemand wußte, daß er auch einmal mit Dawn Green geschlafen hatte. Er war fuchsteufelswild darüber, daß jemand eine Frau umgebracht hatte, die er kannte, und hoffte, es möge kein Schwarzer gewesen sein, weil das die Spannungen zwischen ihm und Kenya nur noch verschärfen würde.

Ich schaltete um.

Rene Lenier wünschte, jemand würde kommen und die Leiche aus dem Haus schaffen. Er hoffte, daß niemand ahnte, daß auch er Dawn gefickt hatte. Ich konnte Renes Gedanken nicht in Gänze entziffern, dazu waren sie zu verworren und zu finster. Bei manchen Menschen bekomme ich einfach keinen klaren Empfang, und Rene war noch dazu sehr erregt.

Nun kam Sam auf mich zugestürzt, verlangsamte aber seinen Schritt, als er sah, daß JB mich umarmt hielt. Sams Gedanken konnte ich nicht lesen. Ich konnte seine Gefühle spüren - eine Mischung aus Besorgnis und Wut -, aber nicht einen einzigen klaren Gedanken entziffern. Das kam so unerwartet und war derart faszinierend, daß ich mich aus JBs Umarmung löste und am liebsten auf Sam zugegangen wäre, ihn bei den Armen zu packen, ihm in die Augen zu schauen und ausgiebig in seinem Kopf herumzustochern. Mir fiel das eine Mal ein, als ich ihn berührt hatte und zurückgeschreckt war. Sam schien meine Anwesenheit in seinem Kopf zu spüren. Er kam weiter auf mich zu, sein Verstand aber zog sich zurück. Er hatte mich selbst eingeladen, doch auszuprobieren, ob ich seine Gedanken würde hören können, aber er hatte nicht gewußt, daß ich sehen würde, daß er anders war als andere Menschen. Das alles nahm ich gerade noch wahr, dann sperrte Sam mich aus.

Etwas Ähnliches hatte ich noch nie erlebt. Es war, als wäre direkt vor meiner Nase eine Eisentür zugeschlagen.

Instinktiv hatte ich die Hand nach Sam ausgestreckt, ließ sie nun aber wieder sinken, und Sam blickte ganz bewußt Kevin an und nicht mich.

„Was geht hier vor sich?“ fragte er.

„Wir brechen jetzt die Tür auf, Mr. Merlotte, es sei denn, Sie hätten den Hauptschlüssel.“

Warum sollte Sam einen Schlüssel haben?

„Sam ist mein Vermieter“, flüsterte JB mir ins Ohr, und vor Schreck machte ich einen kleinen Luftsprung.

„Dein Vermieter?“ Etwas anderes als diese dämliche Gegenfrage fiel mir nicht ein.

„Ihm gehören alle drei Häuser.“

Inzwischen hatte Sam einen Schlüsselbund aus seiner Hosentasche geholt und ging ihn mit einer geübten Handbewegung durch. Als er den Schlüssel in den Fingern hielt, nach dem er gesucht hatte, nahm er ihn vom Schlüsselring und übergab ihn Kevin.

„Paßt der für die Vordertür und für die Hintertür?“ wollte der Streifenbeamte wissen, und Sam nickte. Mich sah er immer noch nicht an.

Kevin verschwand um das Haus herum außer Sicht. Wir alle verharrten mucksmäuschenstill, bis wir hörten, wie sich der Schlüssel im Schloß der Hintertür drehte. Dann stand Kevin auch schon im Schlafzimmer bei der toten Frau, und durch das Fenster konnten wir sehen, wie er das Gesicht verzog, als der Gestank im Raum über ihm zusammenschlug. Er hielt sich eine Hand vor Mund und Nase, beugte sich über die Gestalt auf dem Bett und legte ihr einen Finger auf den Hals. Dann warf er durch die Fensterscheibe seiner Partnerin einen Blick zu und schüttelte den Kopf. Kenya nickte und eilte hinaus auf die Straße, um aus dem Streifenwagen heraus per Funk ihre Dienststelle zu benachrichtigen.

„Hör mal, Sookie - was hältst du davon, wenn wir beide heute abend essen gehen?“ fragte JB. „Nach dieser schlimmen Sache hier brauchst du einfach eine kleine Aufmunterung, damit du das Ganze verkraften kannst.“

„Vielen Dank, JB“, antwortete ich und war mir die ganze Zeit der Tatsache bewußt, daß Sam uns zuhörte. „Das ist wirklich nett von dir, aber ich habe eher das Gefühl, als würde ich heute Überstunden machen müssen.“

Einen Moment lang wirkte JBs hübsches Gesicht absolut leer. Dann schien ihm eine Erkenntnis zu dämmern. „Sam wird jemand Neues einstellen müssen“, stellte er fest. „Ich habe in Springhill eine Cousine, die nach einem Job sucht. Vielleicht rufe ich die ja mal an. Wir könnten jetzt sogar Tür an Tür wohnen!“

Ich warf JB ein Lächeln zu, war aber nur halb bei der Sache, denn an meiner Seite stand nun der Mann, mit dem ich zwei Jahre lang zusammengearbeitet hatte.

„Es tut mir leid, Sookie“, sagte der leise.

„Was tut dir leid?“ Meine Stimme war ebenso leise. Meinte er das, was zwischen uns geschehen war? Oder besser: was nicht geschehen war?

„Es tut mir leid, daß ich dich hergeschickt habe, um nachzuschauen, was mit Dawn los ist. Ich hätte selbst kommen sollen. Aber ich war mir so sicher, daß sie einfach mal wieder wen Neues aufgegabelt hatte und sich mit ihm im Bett vergnügte. Ich dachte, man müsse sie nur eben mal daran erinnern, daß sie gefälligst auf der Arbeit zu erscheinen hat. Als ich das letzte Mal bei einer solchen Gelegenheit hier war, um sie zu holen, hat sie mich zusammengestaucht. Das wollte ich ungern noch einmal erleben. Ich habe mich benommen wie ein Feigling, als ich dich schickte, und nun hast du sie so finden müssen.“

„Du steckst voller Überraschungen, Sam.“

Er drehte sich nicht um, sah mich nicht an, antwortete nicht. Aber seine Finger schlossen sich um meine. Eine ganze Zeitlang standen wir so Hand in Hand in der Sonne, und um uns herum schwirrten alle möglichen Leute. Sams Handfläche fühlte sich heiß und trocken an, seine Finger kräftig. Mir war, als hätte ich einmal in meinem Leben wirklich und wahrhaftig Kontakt zu einem anderen Menschen aufgenommen. Aber dann lockerte sich Sams Griff, und er ließ mich allein, um sich mit dem Polizisten zu unterhalten, der gerade aus seinem Auto kletterte, und JB wiederum wollte genau wissen, wie Dawn ausgesehen hatte und die Welt verfiel rasch wieder in ihren alten Trott.

Der Kontrast zu dem, was ich kurz in Sams Beisein empfunden hatte, war hart. Ich war total erschöpft und mußte an die vergangene Nacht denken, in mehr Einzelheiten, als mir lieb war. Die Erde schien mir ein grausamer, schrecklicher Ort, all ihre Bewohner verdächtige Subjekte und ich das zarte Lamm, das mit einem Glöckchen am Hals im Tal des Todes umherwandelt. Mit müden Schritten ging ich hinüber zu meinem Auto, riß die Tür auf und ließ mich seitwärts auf den Fahrersitz fallen. Für heute hatte ich genug gestanden; von nun an würde ich, solange es ging, sitzen.

JB folgte mir auf dem Fuße. Er hatte mich gerade erst wiederentdeckt und mochte sich nicht trennen. Oma, so erinnerte ich mich, hatte einst, als ich noch zur Oberschule ging, große Hoffnungen in die Sache mit mir und JB gesetzt und geglaubt, sie würde sich zu etwas Ernsthaftem auswachsen. Aber jede Unterhaltung mit JB, ja selbst das Lesen seiner Gedanken, war ungefähr so interessant, als bekäme man als Erwachsener eine Fibel für Erstklässler vorgesetzt. Ein hohler Kopf auf einem derart beredten Körper - einer von Gottes kleinen Scherzen.

JB ließ sich vor mir auf die Knie nieder, nahm sanft meine Hand, und ich ertappte mich dabei, wie ich wünschte, irgendeine reiche, kluge Dame möge kommen, JB ehelichen, für ihn sorgen und sich an dem, was er zu bieten hatte, erfreuen. Sie würde gut dabei wegkommen.

„Wo arbeitest du denn jetzt?“ fragte ich, nur um mich abzulenken.

„Im Lagerhaus meines Vaters“, erwiderte er.

Ein Job bei seinem Vater, das war immer JBs letzte Zuflucht gewesen. Sein Vater hatte einen Laden für Autoersatzteile, zu dem JB immer dann zurückkehrte, wenn man ihn anderswo wieder mal gefeuert hatte. Das geschah relativ häufig, immer wenn JB irgend etwas wirklich Schafsköpfiges tat oder einfach nicht zur Arbeit erschien oder einen Vorgesetzten tödlich beleidigte.

„Wie geht es der Familie?“

„Ach, prima. Komm, Sookie, laß uns heute irgendwas zusammen machen!“

Führe mich nicht in Versuchung! dachte ich.

Irgendwann einmal würden meine Hormone mich einfach austricksen, und dann würde ich etwas tun, was ich später zu bereuen hätte. Natürlich könnte ich mir einen Schlimmeren aussuchen als JB. Aber noch war ich entschlossen, standzuhalten und auf Besseres zu hoffen. „Ich danke dir sehr, mein Lieber“, erwiderte ich. „Vielleicht machen wir irgendwann einmal was zusammen, aber heute bin ich irgendwie nicht in Stimmung.“

„Hast du dich in den Vampir verliebt?“ fragte JB nun geradeheraus.

„Wo hast du das denn her?“

„Dawn erwähnte so etwas.“ JBs Miene bewölkte sich, als ihm wieder einfiel, daß Dawn ja tot war. Dawns genaue Worte bekam ich zu hören, als ich mich kurz bei JB einschaltete: „Dieser neue Vampir interessiert sich für Sookie“, hatte sie gesagt. „Dabei wäre ich wesentlich geeigneter für ihn! Der braucht eine Frau, die es verträgt, wenn man sie grob anpackt. Sookie kreischt doch, wenn er sie nur berührt.“

Es ist ziemlich sinnlos, auf eine Tote wütend zu sein, aber eine kurze Zeitlang gönnte ich mir dieses Gefühl.

Dann kam der Polizist auf uns zu, und JB stand auf und trat beiseite.

Der Beamte hatte aber durchaus noch mitbekommen, daß JB zu meinen Füßen gekauert hatte, und zudem sah ich wahrscheinlich auch ziemlich mitgenommen aus.

„Miss Stackhouse?“ fragte der Polizist in dem ruhigen, klaren Tonfall, den viele Amtspersonen an den Tag legen, wenn sie es mit einer Krise zu tun haben. „Ich bin Andy Bellefleur.“ Bellefleurs hatte es in Bon Temps gegeben, seit es Bon Temps selbst gab, also war der Name mir vertraut, und ich geriet nicht in die Versuchung, darüber zu lachen, daß ein Mann sich als 'hübsche Blume' vorstellte. Im Gegenteil: Während ich prüfend das vor mir stehende Muskelpaket betrachtete, tat mir jeder, der geschmunzelt hatte, als Bellefleur seinen Namen nannte, von Herzen leid. Dieses Mitglied der alteingesessenen Familie war ein Jahr oder zwei vor Jason mit der Schule fertig geworden, und seine Schwester Portia hatte eine Klasse über mir die Schule besucht.

Inzwischen hatte auch der Kriminalbeamte mich richtig einordnen können. „Ihrem Bruder geht es gut?“ fragte er. Immer noch in diesem leisen, ruhigen Tonfall, aber nicht mehr ganz so unbeteiligt.

Anscheinend hatte es zwischen ihm und Jason den einen oder anderen Zusammenstoß gegeben.

„Ich sehe ihn eher selten, aber wenn ich ihn sehe, scheint es ihm gut zu gehen“, antwortete ich.

„Wie geht es Ihrer Großmutter?“

Ich lächelte. „Die verbringt den Vormittag im Garten und pflanzt Blumen.“

„Das ist ja wunderbar!“ sagte er mit einem ernsthaften Kopfschütteln, das gleichzeitig Erstaunen und Bewunderung signalisieren sollte. „Was ist mit Ihnen? Wie ich verstanden habe, arbeiten Sie für Merlotte?“

„Ja.“

„Dawn Green arbeitete ebenfalls dort?“

„Ja.“

„Wann haben Sie Dawn zum letzten Mal gesehen?“

„Vorgestern. Bei der Arbeit.“ Der Tag war noch nicht weit fortgeschritten, aber ich fühlte mich schon unendlich müde. Ohne die Füße vom Boden oder den Arm vom Steuerrad zu nehmen, lehnte ich den Kopf seitwärts gegen die Kopfstütze des Fahrersitzes.

„Haben Sie sich da miteinander unterhalten?“

Ich versuchte, mich zu erinnern. „Ich glaube nicht.“

„Waren Sie mit Miss Green befreundet?“

„Nein.“

„Warum sind Sie dann heute hier vorbeigekommen?“

Ich erklärte es ihm: daß ich bereits am Vortag hatte für Dawn einspringen müssen und daß Sam mich heute vormittag telefonisch gebeten hatte, nach ihr zu sehen.

„Hat Mr. Merlotte auch gesagt, warum er nicht selbst kommen konnte?“

„Ja. Ein Lieferwagen war eingetroffen, und Sam mußte den Jungs erklären, wohin sie die Kisten schaffen sollten.“ Meist übernahm Sam auch einen Großteil des Abladens selbst, um die ganze Sache zu beschleunigen.

„Unterhielt Mr. Merlotte Ihrer Meinung nach eine Beziehung zu Miss Green?“

„Er war ihr Chef.“

„Nein, ich meine außerhalb der Arbeit.“

„Nein.“

„Das klingt, als seien Sie sich Ihrer Sache sehr sicher.“ „Das bin ich auch.“

„Unterhalten Sie denn eine Beziehung zu Sam?“

„Nein.“

„Wie können Sie dann so sicher sein?“

Das war eine gute Frage. Weil ich von Zeit zu Zeit Gedanken gehört hatte, aus denen ich schloß, daß Sam meiner Kollegin nicht zuwider war, daß sie ihn aber nicht wirklich richtig gern hatte. Das konnte ich aber ausgerechnet einem Kriminalbeamten nun wirklich nicht auf die Nase binden - das wäre äußerst unklug gewesen.

„Sam sorgt in seiner Bar für professionelles Verhalten“, erwiderte ich statt dessen. Das klang zwar selbst in meinen eigenen Ohren nicht gerade überzeugend, war aber nichts als die reine Wahrheit.

„Wußten Sie etwas von Dawns Privatleben?“

„Nein.“

„Sie waren also nicht gerade eng miteinander befreundet?“

„Nicht gerade.“ Der Kriminalbeamte senkte den Kopf und betrachtete gedankenverloren seine Schuhe - jedenfalls schien es so. Meine Gedanken gingen ihre eigenen Wege.

„Warum? Warum waren Sie nicht befreundet?“

„Ich nehme an, es mangelte uns an Gemeinsamkeiten.“

„Inwiefern? Können Sie mir ein Beispiel geben?“

Ich seufzte und schürzte in gespielter Verzweiflung die Lippen. Dawn und ich hatten gar keine Gemeinsamkeiten gehabt; wie konnte ich ihm da ein einziges Beispiel geben?

„Also“, sagte ich dann langsam. „Dawn führte ein reges gesellschaftliches Leben und war gern mit Männern zusammen, verbrachte ihre Zeit nicht gern mit Frauen. Sie stammte aus Monroe, hatte in Bon Temps also keine Familie. Sie trank. Ich trinke nicht. Ich lese gern viel, sie las überhaupt nicht. Reicht das?“

Bellefleur warf einen prüfenden Blick auf mein Gesicht und fragte sich wohl, ob er meine Antwort unverschämt finden sollte. Was ihm meine Miene zu erkennen gab, schien ihn allerdings zu beruhigen.

„Außer bei der Arbeit hatten Sie also nichts miteinander zu tun?“

„Das stimmt.“

„Kam es Ihnen nicht merkwürdig vor, daß Sam Merlotte Sie bat, hier vorbeizufahren und nachzusehen, was mit Dawn sein könnte?“

„Nein, ganz und gar nicht“, erwiderte ich ungerührt. Nach dem, was Sam mir von Dawns Wutanfall erzählt hatte, schien die Bitte nicht merkwürdig. „Ich komme auf dem Weg zur Arbeit an Dawns Haus vorbei und ich habe keine Kinder wie Arlene, die andere Kellnerin, die in unserer Schicht arbeitet. Also war es für mich einfacher.“ Das klang logisch. Hätte ich erzählt, daß Dawn Sam angeschrien hatte, als er das letzte Mal gekommen war, um zu fragen, warum sie sich nicht bei der Arbeit hatte blicken lassen, hätte das genau den falschen Eindruck hinterlassen.

„Vor zwei Tagen: Was haben Sie da nach der Arbeit gemacht, Sookie?“

„Vor zwei Tagen habe ich gar nicht gearbeitet. Es war mein freier Tag.“

„Was waren Ihre Pläne für diesen Tag?“

„Ich habe in der Sonne gelegen und meiner Großmutter beim Saubermachen geholfen, und wir hatten Besuch.“

„Wer kam zu Besuch?“

„Das war Bill Compton.“

„Der Vampir.“

„In der Tat.“

„Wie lange blieb Compton bei Ihnen?“

„Ich weiß nicht - bis Mitternacht vielleicht, oder bis ein Uhr?“

„Wie wirkte er auf Sie?“

„Er wirkte völlig normal.“

„Irgendwie nervös? Angespannt?“

„Nein.“

„Miss Stackhouse, wir werden uns auf der Wache noch unterhalten müssen. Sie sehen selbst, daß wir hier vor Ort noch eine Weile zu tun haben.“

„Das ist dann wohl in Ordnung, nehme ich an.“

„Könnten Sie in etwa zwei Stunden auf dem Revier vorbeikommen?“

Ich sah auf die Uhr. „Wenn Sam mich nicht bei der Arbeit braucht.“

„Die Ermittlungen hier sind wirklich wichtiger als die Arbeit in einer Bar, Miss Stackhouse.“

Ich gebe zu: Da war ich sauer. Nicht, weil Bellefleur dachte, polizeiliche Ermittlungen in einem Mordfall seien wichtiger, als pünktlich zur Arbeit zu kommen - in diesem Punkt war ich seiner Meinung. Sauer war ich wegen seiner unausgesprochenen Vorurteile gegenüber meinem speziellen Arbeitsgebiet.

„Sie mögen ja von der Arbeit, der ich nachgehe, nicht viel halten. Aber ich bin eine gute Kellnerin, und meine Arbeit gefällt mir. Ich verdiene ebenso viel Respekt wie deine Schwester, die Anwältin, Andy, und das solltest du dir gefälligst hinter die Ohren schreiben. Ich bin nicht dumm, und ich bin auch keine Schlampe.“

Langsam und äußerst unhübsch lief der Kriminalbeamte rot an. „Entschuldigung“, meinte er dann steif. Immer noch versuchte er, unsere alten Verbindungen zu leugnen, die Tatsache, daß wir dieselbe Schule besucht hatten, daß wir die Familie des jeweils anderen kannten. Er wünschte sich gerade, in einer anderen Stadt als Kriminalbeamter zu arbeiten, wo er die Leute so behandeln könnte, wie es ein Polizist seiner Meinung nach zu tun hatte.

„Nein, da liegst du nämlich genau falsch, und wenn du diese Haltung erst einmal überwunden hast, wirst du gerade hier in Bon Temps ein besserer Kriminalbeamter sein können als anderswo“, verkündete ich, woraufhin Bellefleur seine grauen Augen erschrocken ganz weit aufriß. Ihn so erschüttert zu sehen bereitete mir ein kindisches Vergnügen, auch wenn ich genau wußte, ich würde früher oder später dafür bezahlen müssen. So war es nämlich immer, wenn ich Leuten einen kurzen Einblick in meine Behinderung gestattete.

Die meisten Menschen konnten gar nicht schnell genug von mir wegkommen, wenn ich ihnen eine kleine Kostprobe meiner telepathischen Fähigkeiten geliefert hatte. Nicht so Andy: der schien fasziniert. „Dann ist es also wahr!“ hauchte er atemlos, als seien wir allein miteinander und befänden uns nicht mitten auf der Auffahrt einer heruntergekommenen Doppelhaushälfte im ländlichen Louisiana.

„Nein, vergiß die Sache“, sagte ich rasch. „Manchmal kann ich den Leuten die Gedanken einfach am Gesicht ablesen.“

Da knöpfte er mir ganz absichtlich in Gedanken die Bluse auf, aber ich war gewarnt, hatte meine übliche geistige Barrikade wieder aufgebaut und reagierte mit einem strahlenden Lächeln. Ich sah allerdings, daß ich ihm damit nichts vormachen konnte.

„Wenn du so weit bist und mit mir reden willst, dann kommst du ins Merlottes. Wir können im Lager miteinander reden oder in Sams Büro“, sagte ich streng. Dann zog ich die Beine ins Auto.

Die Kneipe summte förmlich wie ein Bienenstock, als ich dort ankam. Sam hatte Terry Bellefleur - Andys Vetter zweiten Grades, wenn ich das richtig im Kopf hatte - gebeten, den Tresen zu übernehmen, während er  selbst sich in Dawns Haus mit der Polizei unterhalten mußte. Terrys Vietnamkrieg war fürchterlich gewesen, und nun existierte der Mann gerade mal so eben von irgendeiner Behindertenrente, die die Regierung ihm zahlte. Terry war verwundet worden; er war in Kriegsgefangenschaft geraten und hatte zwei Jahre in einem Lager ausharren müssen. Seine Gedanken waren in der Regel so furchterregend, daß ich mir besondere Mühe gab, ihnen nicht zuzuhören, wenn ich mich in Terrys Nähe aufhielt. Terrys Leben war hart, und ihm fiel normales Benehmen noch schwerer als mir. Gott sei Dank trank er nicht.

Ich begrüßte ihn mit einem kleinen Kuß auf die Wange, ehe ich ging, um mir die Hände zu schrubben und mein Tablett abzuholen. Durch das Fenster zur kleinen Küche konnte ich Lafayette Reynolds, den Koch, beobachten, wie er Hamburger wendete und ein Sieb mit Pommes Frites im heißen Öl versenkte. Im Merlottes kann man Hamburger, Pommes und ein paar belegte Brote bekommen, mehr nicht. Sam will kein Restaurant führen, sondern eine Bar, in der man auch eine Kleinigkeit essen kann.

„Was verschafft mir denn diese Ehre?“ fragte Terry und hob erstaunt die Brauen. Terrys Haar war rot, aber wenn er vergessen hatte, sich zu rasieren, sah man, daß seine Bartstoppeln bereits ergraut waren. Terry verbrachte einen Gutteil seiner Zeit an der frischen Luft, aber seine Haut wurde nie wirklich braun. Die Sonne ließ sie rauh und rot werden, und dann sah man die Narben auf seiner linken Wange noch deutlicher. Terry schien das nichts auszumachen. Einmal, als sie ein wenig betrunken gewesen war, hatte Arlene die Nacht mit Terry verbracht, und von daher wußte ich, daß der Mann viele Narben hatte, die weitaus schlimmer waren als die auf seiner Wange.

„Das war einfach dafür, daß du hier bist“, antwortete ich.

„Also stimmt das mit Dawn?“ fragte er.

Lafayette stellte zwei Teller in die Durchreiche und zwinkerte mir mit seinen dichten falschen Wimpern zu. Lafayette trägt viel Make-up. Ich war derart an seinen Anblick gewöhnt, daß mir das schon gar nicht mehr auffiel, aber nun ließ mich der Anblick seines Lidschattens an den Jungen Jerry denken. Den hatte ich mit den drei Vampiren abziehen lassen, ohne zu protestieren. Nicht das moralisch korrekte Vorgehen, eher ein realistisches. Ich hätte sie nicht daran hindern können, ihn mitzunehmen. Ich hätte die Polizei nie so rechtzeitig alarmieren können, daß sie die Gruppe noch hätte einholen können. Er mußte ohnehin sterben, aber vorher hatte er so viele Vampire und Menschen mit in den Tod nehmen wollen wie irgend möglich, und er hatte bereits einmal gemordet. Streng teilte ich meinem Gewissen mit, ich sei nicht bereit, noch eine Unterhaltung zum Thema Jerry mit ihm zu führen.

„Arlene, die Hamburger sind fertig!“ rief Terry, womit er mich mit einem Ruck wieder ins Hier und Jetzt holte. Arlene kam, nahm sich die beiden Teller und warf mir einen Blick zu, der besagte, daß sie mich gründlich löchern würde, sobald sich die Gelegenheit böte. Außer Arlene arbeitete noch Charlsie Tooten. Sie sprang immer ein, wenn eine der regulären Kellnerinnen krank wurde oder nicht auftauchte. Ich hoffte, Charlsie würde Dawns Job übernehmen. Ich hatte sie immer schon gemocht.

„Ja, Dawn ist tot“, teilte ich Terry mit, den es nicht zu stören schien, daß ich mir mit der Antwort auf seine Frage so viel Zeit gelassen hatte.

„Wie ist es passiert?“

„Das weiß ich nicht, aber es war kein friedlicher Tod.“ Ich hatte Blut auf dem Bettlaken gesehen, nicht viel, aber ein bißchen.

„Maudette“, sagte Terry, und ich verstand sofort, was er meinte.

„Vielleicht“, erwiderte ich. Es war ja durchaus möglich, daß die Person, die Dawn um die Ecke gebracht hatte, auch Maudette auf dem Gewissen hatte.

Natürlich kam jeder Einwohner von Renard Parish an diesem Tag zu uns, wenn nicht zum Mittagessen, dann zumindest nachmittags auf einen Kaffee oder ein Bier. Wer sich die Arbeit nicht so legen konnte, daß es ihm möglich war, bereits tagsüber auf einen Sprung zu uns zu kommen, wartete auf den Feierabend und schaute auf dem Nachhauseweg herein. Zwei Morde an jungen Frauen in unserer Stadt, und das innerhalb eines einzigen Monats? Natürlich wollten die Leute darüber reden!

Gegen zwei kam Sam zurück. Sein Körper glühte wie ein Backofen, und der Schweiß lief ihm in Strömen über das Gesicht, denn am Tatort hatte er stundenlang in der prallen Sonne ausharren müssen. Er teilte mir mit, Andy Bellefleur werde bald auftauchen, um sich weiter mit mir zu unterhalten.

„Ich weiß eigentlich gar nicht, was der von mir will“, sagte ich etwas ungehalten. „Ich hatte nie viel mit Dawn zu tun. Wie ist sie ums Leben gekommen? Haben sie dir das erzählt?“

„Irgendwer hat sie erst verprügelt und dann erwürgt“, berichtete Sam. „Aber Bißspuren trug sie auch, wie Maudette.“

„Es gibt viele Vampire, Sam“, sagte ich als Antwort auf das, was er nicht laut ausgesprochen hatte.

„Sookie!“ Sams Stimme klang so ernst und ruhig, daß ich daran denken mußte, wie es gewesen war, als er vor Dawns Haus meine Hand gehalten hatte. Dann aber erinnerte ich mich daran, wie er mich aus seinen Gedanken ausgeschlossen hatte, weil er wußte, daß ich dort spazieren ging, weil er wußte, wie er mich aussperren konnte. „Schatz, Bill mag für einen Vampir ja ein netter Kerl sein, aber er ist einfach nicht menschlich.“

„Schatz, du auch nicht“, sagte ich sehr leise, aber auch sehr scharf. Damit wandte ich Sam den Rücken zu, denn ich wollte nicht wirklich offen zugeben, warum ich so wütend auf ihn war, und irgendwie wollte ich doch, daß er es wußte.

Danach schuftete ich wie eine Wahnsinnige. Dawn mochte zwar viele Fehler gehabt haben, aber sie war eine gute, methodisch arbeitende Kellnerin gewesen, und Charlsie war dem Tempo einfach nicht gewachsen. Sie war willig und würde sich dem Tempo der Bar bestimmt bald anpassen, aber an diesem Tag zumindest mußten Arlene und ich einen Großteil der Arbeit allein bewältigen.

Nachdem die Leute herausgefunden hatten, daß ich die Leiche gefunden hatte, verdiente ich wohl eine Tonne an Trinkgeldern. Irgendwie überstand ich die Sache, ohne eine Miene zu verziehen und Kunden vor den Kopf zu stoßen. Schließlich wollten die Leute doch wissen, was der Rest der Stadt auch in Erfahrung bringen wollte.

Auf dem Nachhauseweg gestattete ich mir, mich ein wenig zu entspannen. Ich war fertig. Das letzte, womit ich gerechnet hatte, als ich in die kleine Auffahrt zu unserem Haus einbog, war der Anblick Bill Comptons. Er wartete an eine Kiefer gelehnt auf mich. Zuerst fuhr ich ein kleines Stück an ihm vorbei und hatte schon vor, ihn gar nicht zu beachten, aber dann hielt ich doch.

Er öffnete mir die Wagentür, und ohne ihn direkt anzusehen, stieg ich aus. Bill schien sich in der Nacht ganz zu Hause zu fühlen. Das würde mir nie möglich sein. Zu viele Kindheitstabus umgaben die Nacht und alle Dinge, die sich im Finsteren herumtrieben.

Auch Bill war, wenn ich es recht betrachtete, ein Ding, das sich im Finsteren herumtrieb. Kein Wunder also, daß ihm die Nacht so behaglich war.

„Willst du den ganzen Abend deine Füße anstarren oder redest du mit mir?“ fragte er mit einer Stimme, die kaum mehr als ein Flüstern war.

„Es ist etwas passiert, und es ist besser, du erfährst davon.“

„Sag es mir.“ Er versuchte, irgend etwas mit mir anzustellen; ich spürte seine Kräfte sozusagen über mir schweben, aber ich scheuchte sie beiseite. Daraufhin seufzte er.

„Ich kann nicht mehr stehen“, erklärte ich matt. „Komm, wir setzen uns auf den Waldboden oder sonstwo hin. Meine Füße sind so müde.“

Als Antwort hob er mich auf und setzte mich auf die Kühlerhaube. Dann baute er sich vor mir auf, die Arme vor der Brust verschränkt, und es war klar, daß er wartete.

„Sag's mir schon.“

„Dawn ist umgebracht worden. Genau wie Maudette Pickens.“

„Dawn?“

Da ging es mir plötzlich besser. „Die andere Kellnerin.“

„Die Rothaarige? Die so oft verheiratet war?“

Nun fühlte ich mich schon sehr viel besser. „Nein, die Dunkelhaarige, die immer so wie zufällig mit ihrer Hüfte an deinen Stuhl gestoßen ist, damit du sie zur Kenntnis nimmst.“

„Ach die. Die kam mich besuchen.“

„Dawn? Wann denn das?“

„Nachdem du neulich weg warst. In der Nacht, in der die anderen Vampire da waren. Sie hatte großes Glück, daß sie die nicht noch angetroffen hat. Sie war so felsenfest davon überzeugt, daß sie mit allem fertig wird.“

Ich sah zu ihm auf. „Warum sagst du, sie hatte großes Glück? Hättest du sie denn nicht beschützt?“

In der Finsternis wirkten Bills Augen fast schwarz. „Nein, ich glaube nicht“, erwiderte er dann.

„Du bist ...“

„Ich bin ein Vampir. Ich denke nicht wie du. Ich kümmere mich nicht automatisch um Leute.“

„Du hast mich beschützt.“ „Bei dir ist es etwas anderes.“

„Ja? Ich hin Kellnerin wie Dawn. Ich stamme aus einer einfachen Familie wie Maudette. Was ist an mir so anders?“

Ich war plötzlich wütend. Ich wußte schon, was nun kommen würde.

Bill tippte gegen meine Stirn. „Anders“, sagte er. „Du bist nicht wie wir. Aber du bist auch nicht wie sie.“

Ich spürte Zorn in mir aufsteigen, der fast schon ein heiliger war. Ich holte aus und versetzte Bill einen Schlag. Was natürlich völlig bescheuert war: Es war, als würde man einem gepanzerten Geldtransporter einen Faustschlag versetzen. In Sekundenschnelle hatte er mich vom Auto geholt und hielt mich so an sich gepreßt, daß ich die Arme nicht bewegen konnte.

„Nein!“ kreischte ich und wehrte mich heftig, aber die Energie hätte ich mir ebenso gut sparen können. Nach einer Weile gab ich auf und ließ mich gegen seine Brust sinken.

„Warum meintest du, ich sollte das mit Dawn wissen?“ Diese Frage klang so vernünftig, daß man hätte annehmen können, die Auseinandersetzung zwischen uns hätte gar nicht stattgefunden.

„Nun, du Fürst der Finsternis“, sagte ich wütend, „Maudette hatte ein paar alte Bißspuren an ihren Oberschenkeln, und die Polizei hat Sam erzählt, das träfe auch auf Dawn zu.“

Wenn man Schweigen charakterisieren kann, dann war Bills Schweigen nach dieser Auskunft nachdenklich. Während er grübelte oder was immer Vampire sonst tun mögen, lockerte sich seine Umarmung, und er streichelte mir gedankenverloren über den Rücken, als sei ich ein Welpe, der geweint hatte und getröstet werden mußte.

„Du hast angedeutet, beide Frauen seien nicht an diesen Bissen gestorben.“

„Nein. Sie wurden erwürgt.“

„Es war kein Vampir.“ Sein Ton ließ keinen Zweifel zu.

„Warum nicht?“

„Wenn ein Vampir sich an diesen Frauen genährt haben sollte, wären sie ausgeblutet worden, nicht erwürgt. Man hätte sie nicht einfach so verschwendet.“

Immer, wenn ich anfing, mich in Bills Gegenwart wohlzufühlen, gab er so etwas Kaltes, Vampirisches von sich, und dann mußte ich wieder ganz von vorne anfangen.

„Dann“, sagte ich müde, „haben wir hier entweder einen cleveren Vampir, der über große Selbstbeherrschung verfügt, oder wir haben es mit jemandem zu tun, der entschlossen ist, Frauen umzubringen, die mit Vampiren zusammen waren.“ „Hm.“

Mir war beim Gedanken an keine der beiden Möglichkeiten recht wohl zumute.

„Denkst du, ich könnte so etwas nicht tun?“ fragte Bill.

Die Frage traf mich unerwartet. Ich wand mich ein wenig aus seiner engen Umklammerung, um zu ihm aufsehen zu können.

„Du hast dir viel Mühe gegeben, mir zu beweisen, wie herzlos du bist“, erinnerte ich ihn. „Was willst du wirklich? Was soll ich glauben?“

Es war so wunderbar, das nicht herausfinden zu können, daß ich fast hätte lächeln müssen.

„Ich hätte die beiden Frauen töten können, aber das würde ich hier und jetzt nicht tun“, sagte Bill. Im Mondlicht hatte sein Gesicht keine Farbe bis auf die finsteren Teiche seiner Augen und die dunklen Bögen seiner Brauen. „Ich will hierbleiben können. Ich will ein Zuhause.“

Ein Vampir, der sich nach einem Zuhause sehnte.

Bill las mir den Gedanken vom Gesicht ab. „Hab' bloß kein Mitleid mit mir. Das wäre ein Fehler.“ Er forderte mich heraus, ihm in die Augen zu sehen.

„Bill, du kannst mich nicht bezirzen oder was du auch sonst immer tun möchtest. Du kannst mich nicht so betören, daß ich mein T-Shirt ausziehe und mich von dir beißen lasse. Du kannst mir nicht einreden, du wärst gar nicht hier gewesen; du kannst keine von den Nummern abziehen, die du sonst immer abziehst. Mit mir mußt du Klartext reden oder Gewalt anwenden.“

„Nein“, sagte er, und sein Mund lag fast auf meinem. „Ich will keine Gewalt anwenden.“

Ich kämpfte gegen den Drang, ihn zu küssen. Aber zumindest war es mein ureigener Drang, nichts künstlich Hervorgerufenes.

„Also, wenn du es nicht warst“, sagte ich und gab mir Mühe, auf Kurs zu bleiben, „dann kannten Maudette und Dawn noch einen anderen Vampir. Maudette besuchte manchmal die Vampirbar in Shreveport. Vielleicht ging Dawn da auch hin. Gehst du mit mir zusammen dort hin?“

„Warum?“ fragte Bill und klang lediglich neugierig.

Wenn jemand sich zumindest des Nachts so absolut sicher, so jenseits aller Gefahren fühlen kann, dann fällt es einem schwer, diesem jemand zu erklären, wie es ist, wenn man meint in Gefahr zu schweben. „Ich bin nicht sicher, daß Andy Bellefleur sich die Mühe macht hinzufahren“, flunkerte ich.

„Dann leben also noch Bellefleurs hier“, sagte Bill, und es lag ein anderer Unterton in seiner Stimme. Seine Arme schlossen sich so dicht um mich, daß es fast schon wehtat.

„Ja“, sagte ich. „Viele. Andy ist bei der Polizei. Seine Schwester Portia ist Anwältin. Sein Vetter Terry ist Vietnamveteran und hilft bei uns aus, wenn Sam Vertretung braucht, und dann gibt es noch eine Reihe anderer.“

„Bellefleur ...“

Ich wurde zermalmt.

„BILL!“ sagte ich mit vor Angst quietschender Stimme.

Sofort lockerte er seine Umarmung. „Entschuldige bitte“, bat er mich ganz formell.

„Ich muß ins Bett“, teilte ich ihm mit. „Ich bin wirklich todmüde, Bill.“

Mit einem leichten Aufprall setzte er mich auf dem Kies der Auffahrt ab und sah auf mich herunter.

„Zu diesen anderen Vampiren hast du gesagt, ich gehörte dir“, sagte ich. „Ja.“

„Was genau sollte das heißen?“

„Das sollte heißen, daß ich sie umbringe, wenn sie versuchen, sich von dir zu nähren“, erklärte Bill. „Es sollte heißen, daß du mein Mensch bist.“

„Ich muß sagen, ich bin froh, daß du den anderen das gesagt hast, aber ich weiß nicht genau, was es bedeutet, dein Mensch zu sein“, erwiderte ich vorsichtig. „Ich kann mich auch nicht daran erinnern, um Erlaubnis gefragt worden zu sein.“

„Was immer es auch heißt, es ist auf jeden Fall besser als eine Party mit Liam, Diane und Malcolm.“

Eine direkte Antwort wollte er mir also nicht geben. „Gehst du mit mir in diese Bar?“

„Wann ist denn dein nächster freier Abend?“ „Übermorgen.“

„Also dann. Bei Sonnenuntergang. Ich fahre.“

„Du hast einen Wagen?“

„Wie sollte ich mich denn deiner Meinung nach sonst fortbewegen?“ Unter Umständen war gerade ein Lächeln über Bills schimmerndes Gesicht gehuscht. Dann wandte er sich um und verschmolz mit dem Wald. Über die Schulter rief er noch: „Sookie? Mach dich hübsch, damit ich stolz auf dich sein kann.“

Ich blieb mit weit offenem Mund stehen.

Mich hübsch machen, damit er stolz auf mich sein konnte? So weit kam's noch!