Kapitel 4

Die Hälfte der Gäste im Merlottes glaubte, Bill sei für die Spuren an den Leichen der beiden Frauen mitverantwortlich. Die andere Hälfte war überzeugt, daß sowohl Dawn als auch Maudette auf ihren nächtlichen Streifzügen durch einschlägige Bars von irgendwelchen großstädtischen Vampiren gebissen worden seien und damit letztlich genau das bekommen hätten, was sie verdienten. Warum hatten sie auch unbedingt mit Vampiren herummachen müssen? Manche Gäste waren sich ganz sicher, daß ein Vampir die Frauen erwürgt hatte; für andere stand fest, daß die beiden sich auf dem schiefen Pfad der Promiskuität befunden hatten, der nun einmal unweigerlich ins Verderben führt.

In einem jedoch waren sich alle Besucher unseres Lokals einig: in ihrer Befürchtung, weitere Frauen könnten getötet werden. Ich kann wirklich nicht mehr genau sagen, wie oft mir geraten wurde, vorsichtig zu sein, meinen Freund Bill Compton genau im Auge zu behalten, nachts meine Tür zu verriegeln und niemanden ins Haus zu lassen - als seien all dies Dinge, die ich normalerweise nicht tun würde.

Jason, der mit beiden Frauen ein 'Verhältnis' gehabt hatte, wurde sowohl bemitleidet als auch verdächtigt. Er kam Oma und mich zu Hause besuchen und regte sich eine gute Stunde lang über dieses Thema auf. Wir redeten ihm gut zu, weiter seiner Arbeit nachzugehen, wie jeder unschuldige Mann es tun würde. Ich erlebte meinen gutaussehenden Bruder zum ersten Mal - zumindest zum ersten Mal seit ich denken konnte - wirklich besorgt. Natürlich freute ich mich nicht, ihn mit diesen Problemen belastet zu sehen, richtig leid tat er mir aber auch nicht. Ich weiß, ich weiß: Das war kleingeistig und engstirnig von mir.

Ich bin nicht perfekt.

Mein Nicht-Perfektsein reichte so weit, daß ich ziemlich viel Zeit mit der Frage verbrachte, was Bill wohl gemeint haben mochte, als er sagte, ich solle mich hübsch machen, und das, obwohl gerade zwei Frauen umgebracht worden waren, die ich beide persönlich gekannt hatte. Ich hatte keine Ahnung, wie man sich für den Besuch in einer Nachtbar für Vampire angemessen kleidet! Manche Barbesucher, hatte ich gehört, hüllten sich in ziemlich lächerliche Kostüme, aber das hatte ich nicht vor.

Ich kannte niemanden, den ich zu diesem Thema hätte befragen können.

Ich war weder groß noch knochig genug, um ganz in Stretch zu gehen wie die Vampirdame Diane.

Schließlich fischte ich aus der hintersten Ecke meines Kleiderschranks ein Kleid, das ich bisher wenig getragen hatte, weil sich nur selten Gelegenheit dazu bot. Es war ein Ausgehkleid, speziell entworfen, um der Frau, die es trug, das Interesse ihres Begleiters zu sichern - ganz gleich, wer dieser Begleiter war. Es war ärmellos und am Rücken ziemlich tief und geradlinig ausgeschnitten, aus dünnem, weißem Stoff, bedruckt mit leuchtendroten Blumen auf langen grünen Stengeln und saß sehr eng. Das Kleid sorgte dafür, daß meine sonnengebräunte Haut leuchtete und mein Busen ordentlich zur Geltung kam. Dazu trug ich rote Emaille-Ohrringe und rote Lackschühchen mit verführerisch hohen Absätzen. Ich besaß auch ein kleines rotes Strohhandtäschchen. Zuletzt schminkte ich mich dezent und kämmte mein Haar aus, bis es mir lose auf die Schultern fiel.

Als ich aus meinem Zimmer trat, weiteten sich die Augen meiner Oma erstaunt und ungläubig.

„Du siehst bezaubernd aus“, sagte sie. „Aber meinst du nicht, du frierst in diesem Kleid?“

Ich grinste. „Nein, ich glaube nicht. Draußen ist es ziemlich warm.“

„Möchtest du nicht doch lieber deinen schönen weißen Pullover überziehen?“

„Nein, ich glaube nicht“, erwiderte ich mit einem vergnügten Lachen. Die anderen Vampire hatte ich so weit in mein Unterbewußtsein verbannt, daß es mich froh stimmte, sexy auszusehen. Ich war aufgeregt, denn immerhin sollte ich an diesem Abend ausgeführt werden. Auch wenn ich Bill mehr oder weniger gebeten hatte, mich auszuführen, und der Abend eher der Recherche dienen sollte. Auch das wollte ich gern verdrängen, denn ich sehnte mich danach, mich einfach einmal einen Abend lang zu amüsieren.

Sam rief an, um mir zu sagen, daß er meinen Gehaltsscheck ausgeschrieben hatte. Er fragte mich, ob ich vorbeikommen und den Scheck abholen wollte, wie ich es normalerweise tat, wenn ich nicht ohnehin am nächsten Tag arbeitete.

Also fuhr ich zum Merlottes, und mir war schon ein wenig mulmig zumute bei dem Gedanken, dort derart aufgetakelt aufzutauchen.

Ich öffnete die Tür, trat ein, und bewunderndes Schweigen senkte sich über das gesamte Lokal. Alle waren baß erstaunt über meinen Anblick - ein nettes Kompliment. Sam stand mit dem Rücken zu mir, aber Lafayette hatte gerade den Kopf durch die Durchreiche gesteckt, und JB und Rene lehnten am Tresen. Leider Gottes auch mein Bruder Jason, dessen Augen sich weiteten, als er sich umdrehte, um nachzuschauen, wen oder was Rene da so anstarrte.

„Prima siehst du aus, Mädel!“ kommentierte Lafayette begeistert meinen Auftritt. „Wo hast du denn den Fummel her?“

„Ach, das alte Teil hängt doch schon ewig bei mir im Schrank“, erwiderte ich spöttisch, und Lafayette lachte.

Mittlerweile war auch Sam neugierig geworden und wollte gern wissen, was Lafayette in derart helle Begeisterung versetzte. Er drehte sich um, und auch seine Augen weiteten sich.

„Allmächtiger!“ flüsterte er atemlos. Ich ging zu ihm hinüber, bat um meinen Scheck und fühlte mich sehr befangen dabei.

„Komm doch kurz mit in mein Büro, Sookie“, erwiderte Sam auf meine Bitte, und ich folgte ihm in sein kleines Kabuff neben dem Lager. Dabei kam ich an Rene und JB vorbei. Rene nahm die Gelegenheit wahr und umarmte mich. JB küßte mich auf die Wange.

Sam wühlte eine ganze Weile in den Papieren auf seinem Schreibtisch herum, bis er dann wohl endlich meinen Scheck gefunden hatte. Übergeben wollte er ihn aber anscheinend noch nicht.

„Hast du irgend etwas Besonderes vor heute abend?“ fragte er statt dessen, und es klang so, als würde er diese Frage stellen, ohne es eigentlich recht zu wollen.

„Ich gehe aus“, antwortete ich, wobei ich versuchte, meine Antwort möglichst beiläufig klingen zu lassen.

„Du siehst phantastisch aus!“ verkündete Sam mit glutvollen, glänzenden Augen, und ich sah, daß er schlucken mußte.

„Vielen Dank. Kann ich nun meinen Scheck haben?“

„Klar.“ Hastig übergab er mir das Stück Papier, und ich verstaute es in meiner Handtasche.

„Also dann: auf Wiedersehen.“

„Auf Wiedersehen.“ Doch statt mich nun gehen zu lassen, trat Sam hinter dem Schreibtisch hervor, stellte sich neben mich und schnupperte an mir. Dazu beugte er sein Gesicht ganz dicht an meinen Hals und holte tief Luft. Dann schloß er kurz seine strahlend hellen, blauen Augen, als wolle er meinen Geruch einordnen, und dann atmete er sanft wieder aus, und sein Atem strich heiß über meine nackte Haut.

Ich verließ Büro und Lokal. Sams Verhalten stimmte mich nachdenklich. Ich war verwundert, aber auch interessiert.

Als ich heimkam, parkte vor unserem Haus ein Auto, das ich nicht kannte. Ein schwarzer Cadillac, schimmernd wie poliertes Glas. Bills Wagen - woher die nur das Geld hatten, sich solche Autos zu kaufen? Kopfschüttelnd stieg ich die Stufen zu unserer Veranda empor und betrat das Haus. Bei meinem Eintreten wandte Bill erwartungsvoll den Kopf zur Tür. Er saß auf dem Sofa und hatte sich mit meiner Oma unterhalten, die ihrerseits auf der Armlehne eines überpolsterten Lehnsessels hockte.

Bei Bills Reaktion auf meinen Anblick war ich ziemlich sicher, daß ich es übertrieben hatte und er sauer auf mich war. Sein Gesicht wurde ganz still, und aus seinen Augen schossen Blitze. Seine Finger verkrampften sich, als knülle er irgend etwas zusammen.

„Geht das so?“ fragte ich nervös und spürte, wie mir das Blut in die Wangen schoß.

„Ja“, befand Bill schließlich, aber da hatte er bereits so lange geschwiegen, daß nun auch meine Großmutter zornig geworden war.

„Jeder, der auch nur einen Funken Verstand im Kopf hat, wird zugeben müssen, daß Sookie das hübscheste Mädchen in der ganzen Gegend ist“, verkündete sie mit einer Stimme, die zwar freundlich, aber auch aus Stahl geschmiedet war.

„Oh ja“, stimmte er ihr in einem merkwürdig ausdruckslosen Ton zu.

Sollte er sich doch zum Teufel scheren! Ich hatte mein Bestes getan! Also richtete ich mich kerzengerade auf und fragte: „Gehen wir?“

„Oh ja“, wiederholte Bill und stand auf. „Wiedersehen, Mrs. Stackhouse. Es war mir ein Vergnügen.“

„Amüsiert euch gut“, erwiderte Oma bereits wieder ein wenig versöhnt. „Fahren Sie vorsichtig und trinken Sie nicht zu viel.“

Er hob eine Braue. „Gewiß nicht, gnädige Frau!“

Oma ließ das unkommentiert im Raum stehen.

Bill hielt mir die Wagentür auf, während ich einstieg, was ein sorgfältig durchdachtes Manöver war, mit dem er sicherstellen wollte, daß so viel von mir wie irgend möglich in meinem Kleid verblieb. Als ich eingestiegen war, schloß er die Beifahrertür und ging hinüber zur Fahrerseite Ich fragte mich erbost, wer ihm das Autofahren beigebracht haben mochte. Höchstwahrscheinlich Henry Ford.

„Es tut mir Leid, wenn ich nicht korrekt gekleidet sein sollte“, sagte ich und starrte stur geradeaus.

Wir befanden uns noch auf der holprigen Auffahrt und waren recht langsam gefahren. Nun kam der Wagen mit einem Ruck zum Stehen.

„Wer hat denn das behauptet?“ fragte Bill, und seine Stimme klang ungeheuer sanft.

„Du hast mich angesehen, als hätte ich irgend etwas falsch gemacht“, fuhr ich ihn an.

„Ich habe mich lediglich gefragt, ob ich es wohl schaffen werde, in diese Nachtbar und auch wieder heraus zu kommen, ohne jemanden umbringen zu müssen, weil er dich haben will, und ich habe ganz stark daran gezweifelt, daß mir das gelingen wird.“

„Nun machst du dich lustig über mich!“ Ich wollte ihn immer noch nicht ansehen.

Da packte er mich im Nacken und zwang mich, mich zu ihm umzudrehen.

„Sehe ich denn so aus, als wollte ich dich verspotten?“ fragte er.

Seine dunklen Augen waren weit geöffnet und blickten mich unverwandt an.

„Nein - irgendwie nicht“, mußte ich zugeben.

„Dann nimm das hin, was ich dir sage!“

Die Fahrt nach Shreveport verlief zum großen Teil schweigend, aber es war kein ungemütliches Schweigen. Fast die ganze Fahrt über ließ Bill Kassetten laufen. Er schien eine Vorliebe für die Musik von Kenny G. zu haben.

* * *

Fangtasia, die Nachtbar für Vampire, befand sich in einer vorstädtischen Einkaufsgegend von Shreveport, in der Nähe eines Discountladens für Markenartikel und eines riesigen Spielzeuggeschäftes. Die Bar lag inmitten von Läden, die um diese Zeit alle bereits geschlossen hatten. Ihr Name prangte in grellen roten Neonbuchstaben über dem Eingang, einer roten Tür inmitten einer grauen Fassade. Wer immer der Besitzer der Bar sein mochte: Offenbar hatte er oder sie beschieden, Grau sei nicht ganz so eindeutig wie Schwarz, stelle aber ebenfalls einen hervorragenden Farbkontrast zu Rot dar. Das Innenleben der Bar war in eben diesen Farbtönen gestaltet.

An der Tür wollte eine Vampirdame meinen Ausweis sehen. Natürlich hatte sie Bill als einen der Ihren erkannt und mit kühlem Nicken begrüßt, aber mich nahm sie besonders gründlich unter die Lupe. Sie war kreidebleich wie alle Vampire kaukasischer Abstammung, trug ein langes schwarzes Kleid mit weiten, flatternden Ärmeln und war fast überirdisch schön. Ich fragte mich allerdings, ob sie den Vampirlook trug, weil diese Mode ihr gefiel oder ob sie das Kleid angezogen hatte, weil die menschlichen Besucher der Bar das von ihr erwarteten.

„Mich hat schon jahrelang niemand mehr nach meinem Ausweis gefragt“, sagte ich und kramte in meiner Handtasche nach meinem Führerschein. Wir standen in einem kleinen Vorraum, der von der Bar selbst durch eine Tür abgetrennt war.

„Ich bin einfach nicht mehr in der Lage, das Alter von Menschen richtig einzuschätzen. Wir müssen unglaublich streng darauf achten, daß wir niemanden hereinlassen, der nicht volljährig ist. Volljährig in allen Lebensbereichen!“ erklärte die Dame und strahlte uns mit einem Lächeln an, das wohl von Herzen kommend wirken sollte. Dann musterte sie Bill mit einem interessierten Seitenblick einmal von oben bis unten, ein Verhalten, das ich beleidigend fand. Beleidigend mir gegenüber zumindest.

„Sie habe ich ja schon seit ein paar Monaten nicht mehr gesehen“, sagte sie dann, und ihre Stimme war so kalt und süß, wie auch Bills Stimme klingen konnte.

„Ich lebe recht bürgerlich“, erklärte Bill, und die Dame nickte verständnisvoll.

* * *

„Was hast du zu ihr gesagt?“ flüsterte ich Bill zu, als wir dann den kurzen Flur entlang und durch rote Doppeltüren hindurch in die eigentliche Bar traten.

„Daß ich versuche, unter Menschen zu leben.“

Gern hätte ich noch mehr zu diesem Thema gehört, aber nun bot sich mir mein erster umfassender Blick auf das Innere von Fangtasia.

Der gesamte Raum war ausschließlich in den Farben Schwarz, Rot und Grau dekoriert, und an den Wänden hingen gerahmte Fotografien jedes einzelnen Vampirs, der je auf einer Filmleinwand seine Fangzähne gezeigt hatte. Bela Lugosi hing dort neben George Hamilton und Gary Oldman, berühmte Leinwandvampire neben eher obskuren. Die Beleuchtung war gedämpft; natürlich, darin lag nichts Außergewöhnliches. Außergewöhnlich waren die Besucher und die Warntafeln, die überall hingen.

Es war voll an diesem Abend. Die menschliche Klientel bestand einerseits aus Vampir-Groupies (die man Fangbanger nannte), andererseits aus Touristen. Die Groupies hatten sich allesamt in Schale geworfen. Viele der Männer trugen das traditionelle Cape zum Schwalbenschwanz, die Frauen hatten sich fast ausnahmslos Mühe gegeben, so auszusehen wie Morticia Adams. Dazu kamen Kopien der Sachen, die Brad Pitt und Tom Cruise in lnterview mit einem Vampir getragen hatten, und ein paar eher modern wirkende Verkleidungen, die meiner Meinung nach vom Film Begierde beeinflußt waren. Manch ein Fangbanger hatte sich künstliche Fangzähne aufgesteckt, andere hatten sich Blutstropfen in die Mundwinkel und Bißspuren auf die Hälse gemalt. Alle wirkten ungewöhnlich - und gleichzeitig ungewöhnlich jämmerlich.

Die Touristen sahen aus, wie Touristen nun mal aussehen, vielleicht ein wenig abenteuerlustiger als anderswo. Sie trugen fast alle Schwarz, wie die Fangbanger, um sich der allgemeinen Stimmung in der Bar anzupassen. Vielleicht gab es ja inzwischen Reiseveranstalter, die ihren Reisegruppen einen Besuch in einer Vampirbar anboten. „Für Ihren aufregenden Besuch in einem echten Nachtclub für Vampire packen Sie bitte schwarze Kleidung ein. Wenn Sie sich hier an die Regeln halten, geschieht Ihnen nichts, und Sie können diese exotische Subkultur hautnah miterleben.“

Wie Juwelen in einem Kästchen voller Kiesel saßen zwischen all diesen Menschen mit ihren unterschiedlichen Interessen die Vampire, etwa fünfzehn von ihnen. Auch sie schienen in der Regel dunkle Kleidung zu bevorzugen.

Da stand ich nun mitten im Raum und sah mich um, interessiert, belustigt und auch ein wenig abgestoßen, als Bill mir zuflüsterte: „Wie eine weiße Kerze mitten in einer düsteren Kohlengrube!“

Ich lachte, und wir schlängelten uns zwischen den überall verstreuten Tischen hindurch zum Tresen. Dort prangte für alle sichtbar ein Kasten mit frisch und warm in Flaschen abgefülltem Blut - das erste Mal, daß ich so etwas auf dem Tresen eines Lokals sah. Natürlich bat Bill den Barmann um eine dieser Flaschen. Ich schnappte leicht nach Luft und bestellte mir dann tapfer einen Gin Tonic. Der Barmann warf mir ein breites Lächeln zu und signalisierte mit leicht ausgefahrenen Fangzähnen, welches Vergnügen es ihm bereitete, mich zu bedienen. Ich versuchte, zurückzulächeln und gleichzeitig bescheiden zu wirken. Der Vampir hinter dem Tresen war Indianer, mit langem, pechschwarzem Haar. Er wirkte muskulös und biegsam, mit einer scharfgeschnittenen Nase und einem Mund, der aus einem einzigen Strich zu bestehen schien.

„Wie geht's, Bill?“ fragte er meinen Begleiter. „Dich habe ich lange nicht gesehen. Ist das dein Abendbrot?“ Mit diesen Worten stellte er unsere Getränke vor uns auf den Tresen und wies mit einem Kopfnicken auf mich.

„Das ist eine Freundin von mir, Sookie. Sie würde gern ein paar Fragen stellen.“

„Fragen Sie, fragen Sie, soviel Sie möchten, schöne Frau!“ entgegnete der Barmann und lächelte erneut. Mir gefiel er allerdings besser, wenn er die Lippen zu einer geraden Linie geschlossen hielt.

„Haben Sie eine der beiden Frauen hier schon einmal gesehen?“ fragte ich und zog Zeitungsbilder Dawns und Maudettes aus meiner Handtasche. „Oder diesen Mann?“ Damit zog ich ein Foto meines Bruders aus der Tasche, und mich durchzuckte dabei eine üble Vorahnung.

„Die Frauen ja, den Mann nicht, aber er sieht ganz köstlich aus!“ sagte der Tresenwirt und lächelte mich schon wieder an. „Ist das vielleicht Ihr Bruder?“ „Ja.“

„Wunderbare Aussichten!“ flüsterte der Indianer.

Zum Glück war ich geübt darin, mir nichts anmerken zu lassen. „Können Sie sich noch erinnern, mit wem die Frauen zusammen waren?“

„Daran kann ich mich nie erinnern“, erwiderte der Vampir, und seine Miene wirkte mit einem Mal sehr verschlossen. „So etwas bekommt man hier nicht mit. Das gilt im übrigen auch für Sie!“

„Vielen Dank“, erwiderte ich höflich. Da hatte ich wohl gegen eine der hiesigen Regeln verstoßen. Anscheinend war es gefährlich zu fragen wer mit wem die Bar verlassen hatte. „Ich danke Ihnen, daß Sie sich die Zeit genommen haben, mit mir zu reden.“

Der Barmann warf mir einen nachdenklichen Blick zu. „Die da“, sagte er dann und klopfte mit dem Finger auf das Bild Dawns, „die wollte sterben.“

„Woher wissen Sie das?“

„Alle, die herkommen, sehnen sich nach dem Tod; manche mehr, manche weniger“, sagte er, als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt, und ich spürte, daß es für ihn daran nichts zu rütteln gab. „Das sind wir nun mal. Der Tod.“

Mir wurde kalt. Bill hatte seine Hand auf meinen Arm gelegt und zog mich zu einer Nische, die gerade frei geworden war. Auf dem Weg dorthin kamen wir an ein paar Warnhinweisen vorbei, die in regelmäßigen Abständen an den Wänden hingen und die Worte des Indianers noch zu unterstreichen schienen. „In unseren Räumen ist Beißen untersagt.“ „Unnötiges Herumlungern auf dem Parkplatz ist verboten.“„Erledigen Sie Privatangelegenheiten bitte woanders.“ „Wir freuen uns über Ihren Besuch. Betreten auf eigene Gefahr.“

Geschickt klemmte Bill einen Fingernagel unter den Deckel seiner Flasche, öffnete sie mit einer raschen Bewegung und trank einen Schluck Blut. Ich versuchte, ihm nicht dabei zuzusehen, was aber mißlang. Natürlich entging Bill das nicht, weshalb er auch meine Reaktion auf seinen Blutkonsum mitbekam. Er schüttelte den Kopf.

„Das ist die Realität, Sookie“, sagte er. „Ich brauche es, um weiter zu existieren.“

Rote Flecken zierten seine Zähne.

„Aber natürlich“, sagte ich und versuchte, den beiläufigen Tonfall des Barmanns zu treffen. Dann holte ich tief Luft. „Glaubst du, auch ich sehne mich nach dem Tod? Weil ich mit dir hergekommen bin?“

„Ich glaube eher, du willst etwas über den Tod anderer Menschen herausfinden“, erwiderte Bill, doch ich konnte nicht sicher sein, daß er das auch wirklich so meinte.

Mir schien, als hätte Bill noch gar nicht mitbekommen, in welch prekärer persönlicher Lage er sich gerade befand. Ich nippte an meinem Gin und spürte, wie sich die Wärme des Alkohols in mir ausbreitete.

Dann näherte sich ein weiblicher Fangbanger unserer Nische. Ich saß halb verdeckt hinter Bill, aber sicher hatte die Frau uns zusammen die Bar betreten sehen. Sie trug eine Menge Locken auf dem Kopf, war recht knochig und trug eine Brille, die sie auf dem Weg zu uns herüber abnahm und in ihre Handtasche stopfte. Als die Frau unseren Tisch erreichte, beugte sie sich so weit vor, daß ihr Mund gerade mal vier Zentimeter von Bills entfernt war.

„Hallo, du großer, gefährlicher Mann“, gurrte sie in einem Ton, der wohl verführerisch klingen sollte, und klopfte dazu mit einem blutroten Fingernagel gegen Bills Blutflasche. „Bei mir kriegst du das Echte!“ Damit Bill sie auf keinen Fall mißverstehen konnte, streichelte sie lasziv ihren Hals.

Ich mußte tief Luft holen, um meine Wut zu bändigen. Gut, ich hatte Bill gebeten, mit mir hierher zu kommen, es war nicht umgekehrt gewesen. Er konnte tun, was er wollte, also stand mir kein Kommentar zu. Vor meinem geistigen Auge jedoch glitt das sommersprossige, blasse Gesicht dieser Schlampe vorbei, geziert von der Spuren meiner fünf Finger! Ich saß mucksmäuschenstill, um Bill keinen Hinweis darauf zu geben, was ich gerade am liebsten getan hätte.

„Ich bin in Begleitung“, erklärte Bill sanft.

„Die Begleitung trägt aber keine Bißspuren am Hals“, erwiderte die Frau und nahm damit endlich meine Anwesenheit zur Kenntnis, wenn auch nur mit einem verächtlichen Seitenblick. Ebensogut hätte sie mich öffentlich einen Feigling schimpfen können und dabei mit den Armen flattern, als sei sie ein aufgescheuchtes Huhn. Ob mir vor Wut wohl schon Schaum vor dem Mund stand?

„Ich bin in Begleitung“, wiederholte Bill, und seine Stimme klang schon nicht mehr ganz so sanft.

„Du weißt nicht, was dir entgeht“, erwiderte die Frau, und ihre großen, blassen Augen blitzten beleidigt.

„Doch, das weiß ich genau“, sagte Bill.

Da zuckte sie zurück, als hätte ich sie wirklich ins Gesicht geschlagen und nicht nur davon geträumt, und stürzte zurück an ihren eigenen Tisch.

Sie war nur die erste. Nach ihr kamen noch drei, was mich sehr nervte. All diese Menschen, Männer wie Frauen, wollten unbedingt mit einem Vampir intim werden und hatten keine Probleme damit, das ganz offen zu zeigen.

Ruhig und gefaßt wurde Bill mit all dem fertig.

„Du sagst ja gar nichts“, bemerkte er dann, als gerade ein etwa vierzig Jahre alter Mann unsere Nische verlassen hatte. Ihm hatten wirklich und wahrhaftig Tränen in den Augen gestanden, als Bill ihn zurückgewiesen hatte.

„Was sollte ich denn auch sagen?“ fragte ich unter Aufbietung all meiner Beherrschung.

„Du hättest sie auch wegschicken können. Soll ich dich ein wenig allein lassen? Hast du jemanden gesehen, der dir gefällt? Ich habe schon mitbekommen, daß Langer Schatten, der Typ hinter dem Tresen, zu gern ein wenig mit dir zusammen sein würde.“

„Rede nur nicht so blöd daher! Ich will nicht allein sein.“ Ich hätte mich bei keinem der anderen Vampire in der Bar sicher gefühlt, hätte immer befürchtet, sie wären wie Liam oder Diane. Bill hielt seine dunklen Augen auf mich gerichtet, als erwarte er, daß ich noch mehr sagte. „Ich muß die anderen hier allerdings noch befragen, ob einer von ihnen hier in der Bar früher einmal Maudette oder Dawn begegnet ist.“

„Soll ich dich begleiten?“

„Ja, bitte!“ antwortete ich und ärgerte mich, denn die Bitte klang ängstlicher, als ich beabsichtig hatte. Eigentlich hatte ich ihn beiläufig um einen kleinen Gefallen bitten wollen.

„Der Vampir da drüben sieht gut aus. Er hat dich bereits zwei Mal ausführlich gemustert“, stellte Bill fest, und ich fragte mich, ob er sich wohl nach diesem Spruch auch am liebsten die Zunge abgebissen hätte.

„Jetzt machst du dich aber lustig über mich!“ erwiderte ich leicht verunsichert nach einer kleinen Pause.

Der Vampir, auf den Bill gezeigt hatte, sah in der Tat unglaublich gut aus, blond, blauäugig, groß, mit breiten Schultern. Er trug Stiefel, Jeans, eine Weste und sonst nichts. Er glich den schmachtenden Liebhabern, die die Schutzumschläge von Liebesromanen zieren, und jagte mir Todesängste ein.

„Er heißt Eric“, sagte Bill.

„Wie alt ist er?“

„Sehr alt. Hier in dieser Bar ist er der Älteste.“

„Ist er bösartig?“

„Sookie, wir alle sind bösartig. Wir sind alle sehr stark und sehr zerstörerisch.“

„Du nicht“, sagte ich und sah, wie sich seine Miene verschloß. „Du willst doch bürgerlich leben. Also tust du nichts Gesellschaftsfeindliches.“

„Immer, wenn ich gerade denke, du bist viel zu naiv, um allein unterwegs zu sein, landest du eine so treffende Bemerkung!“ entgegnete Bill mit einem leisen Lachen. „Also gut, auf geht's, reden wir mit Eric.“

Eric, der wirklich ein oder zwei Mal in meine Richtung geschaut hatte, saß neben einer Vampirin, die ebenso schön war wie er. Die beiden hatten bereits etliche Menschen abgeschmettert, die Annäherungsversuche unternommen hatten. Ein liebeshungriger junger Sterblicher war sogar so weit gegangen, vor der Frau auf dem Boden zu kriechen und ihre Stiefel zu küssen. Sie hingegen hatte nur voller Verachtung auf ihn hinabgeblickt und seiner Schulter einen Fußtritt verpaßt. Dabei hatte man ihr angesehen, wie sehr viel lieber sie ihn direkt ins Gesicht getreten hätte. Einige Touristen waren beim Anblick dieser Szene zusammengezuckt, und ein Pärchen war sogar aufgestanden und hatte das Lokal verlassen, aber die Fangbanger schienen die Sache ziemlich normal zu finden.

Als wir uns dem Tisch der beiden näherten, blickte Eric knurrend auf, wurde dann aber freundlicher, als er sah, wer ihn da heimsuchte.

„Bill“, sagte er und nickte. Offenbar gaben Vampire einander nicht die Hand.

Bill war nicht direkt an den Tisch herangetreten, sondern hatte sich in vorsichtiger Entfernung aufgebaut, und ich hatte seinem Beispiel folgen müssen, da er meinen Oberarm fest umklammert hielt. Offenbar galt es in diesen Kreisen als höflich, erst einmal Abstand zu wahren.

„Willst du uns deine Freundin nicht vorstellen?“ fragte der weibliche Vampir. Eric hatte mit leichtem Akzent gesprochen, die Frau jedoch sprach reines Amerikanisch, und ihr rundes, niedliches Gesicht hätte jeder Bauerntochter aus dem Mittleren Westen zur Ehre gereicht. Dann lächelte sie und zeigte Fangzähne, was das Bild irgendwie kaputtmachte.

„Hallo. Ich bin Sookie Stackhouse“, sagte ich höflich.

„Die ist ja süß!“ stellte Eric fest, und ich hoffte, er bezog sich dabei auf meinen Charakter.

„Nicht besonders,“ gab ich zurück.

Überrascht starrte Eric mich einen Moment lang an. Dann lachte er, und auch die Frau lachte.

„Sookie, das hier ist Pam, und ich bin Eric“, sagte der blonde Vampir. Bill und Pam warfen einander das unter Vampiren übliche Kopfnicken zu.

Es entstand eine Pause. Ich wollte etwas sagen, aber Bill drückte warnend meinen Oberarm.

„Meine Freundin Sookie würde euch gern ein paar Fragen stellen“, sagte Bill.

Die beiden Vampire vor uns warfen einander gelangweilte Blicke zu.

Pam sagte: „Wie lang sind eure Fänge? In was für einem Sarg schlaft ihr? Solche Fragen?“ Ihre Stimme troff vor Verachtung, und es ließ sich unschwer feststellen, daß sie solche Touristenfragen gräßlich fand.

„Nein, Madam“, entgegnete ich und hoffte, Bill würde mir kein Loch in den Arm kneifen. Ich kam mir sehr ruhig und umsichtig vor.

Pam jedoch starrte mich baß erstaunt an.

Warum zum Teufel nur fanden sie mein Verhalten so aufsehenerregend? Allmählich wurde mir die ganze Sache zu dumm. Ehe Bill mir noch weitere schmerzhafte Winke erteilen konnte, öffnete ich meine Handtasche und nahm die Fotos heraus. „Ich hätte gern gewußt, ob Sie eine der beiden Frauen irgendwann einmal hier gesehen haben.“ In Gegenwart dieser Frau würde ich Jasons Bild nicht herumreichen! Das wäre ja, als würde man einer Katze ein Schälchen Sahne vor die Nase setzen.

Die beiden sahen sich die Bilder an, während Bill mit ausdrucksloser Miene neben mir stand. Dann sah Eric auf. „Mit dieser hier war ich manchmal zusammen“, sagte er und tippte auf Dawns Foto. „Sie stand auf S/M.“

Pam hatte erstaunt die Brauen hochgezogen, und ich sah, daß sie sich darüber wunderte, daß Eric mir geantwortet hatte. Offenbar fühlte sie sich verpflichtet, seinem Beispiel zu folgen. „Ich habe beide hier gesehen. Ich war nie mit einer davon zusammen. Die da“, und damit legte sie den Finger auf Maudettes Bild, „war eine ziemliche Jammergestalt.“

„Herzlichen Dank! Nun brauche ich Ihre Zeit nicht länger in Anspruch zu nehmen“, sagte ich und hätte mich zum Gehen gewandt, wenn Bill nicht weiterhin meinen Arm festgehalten hätte.

„Bill, liegt dir viel an deiner kleinen Freundin?“ fragte Eric.

Ich brauchte eine Weile, ehe ich die Frage richtig verstanden hatte. Eric hatte sich erkundigt, ob er mich ausborgen könnte!

„Sie gehört mir“, sagte Bill, aber er brüllte nicht, wie damals bei den schrecklichen Vampiren aus Monroe. Seine Stimme klang allerdings ziemlich fest und überzeugend.

Daraufhin neigte Eric das goldene Haupt und musterte mich noch einmal ausführlich von oben bis unten. Wenigstens begann er mit meinem Gesicht.

Bill schien sich zu entspannen. Er verbeugte sich vor Eric - eine Geste, die irgendwie auch Pam mit einschloß -, trat zwei Schritte zurück und gestattet mir dann endlich, dem Paar den Rücken zuzukehren.

„Mein Gott, was sollte das denn alles!“ fragte ich wütend im Flüsterton. Meinen Oberarm würde die nächsten paar Tage ein großer blauer Fleck zieren.

„Sie sind hunderte von Jahren älter als ich!“ erklärte Bill und klang dabei ungeheuer vampirisch.

„Ist das die Hackordnung bei euch? Das Alter?“

„Hackordnung“, meinte Bill nachdenklich. „Kein schlechter Ausdruck.“ Fast hätte er gelacht. Ich sah es daran, daß seine Lippen zuckten.

„Wenn du Lust gehabt hättest, wäre mir nichts anderes übrig geblieben, als dich mit Eric gehen zu lassen“, erläuterte er, nachdem wir uns wieder gesetzt und jeweils einen Schluck getrunken hatten.

„Nein!“ erwiderte ich scharf.

„Warum hast du nichts zu den Fangbangern gesagt, die an unseren Tisch kamen und versuchten, mich von dir wegzulocken?“

Bill und ich operierten einfach nicht auf derselben Wellenlänge. Vielleicht lag Vampiren nichts an gesellschaftlichen Feinheiten. Ich würde etwas erklären müssen, was eigentlich keiner Erklärung bedurfte.

So stieß ich einen sehr undamenhaften Laut der Verzweiflung aus.

„Also!“ sagte ich dann. „Hör mal gut zu! Ich mußte dich bitten, mich bei mir zu Hause zu besuchen. Ich mußte dich bitten, mit mir hierher zu gehen. Du hast mich kein einziges Mal gebeten, mit dir auszugehen. Herumlungern in meiner Auffahrt zählt da nicht, und die Bitte, mal bei dir reinzuschauen und eine Liste mit Telefonnummern von Handwerkern dazulassen, zählt auch nicht. Immer war ich es, die dich eingeladen hat. Wenn du mit jemandem anders gehen möchtest, kann ich nichts dazu sagen. Wenn diese Mädchen bereit sind, dich ihr Blut saugen zu lassen - und dieser eine Typ ja wohl auch -, dann habe ich nicht das Gefühl, ich dürfte dir im Wege stehen!“

„Eric sieht viel besser aus als ich“, erwiderte Bill. „Er ist mächtiger, und soweit ich gehört habe, ist er ein unvergeßlich guter Liebhaber. Er ist so alt, daß er nur von Zeit zu Zeit einen kleinen Schluck braucht, um bei Kräften zu bleiben. Er tötet so gut wie gar nicht mehr und ist nach Vampirmaßstäben ein ziemlich korrekter Typ. Du könntest nach wie vor mit ihm gehen. Er sieht dich immer noch an. Er würde versuchen dich zu bezirzen, wenn du nicht mit mir zusammen wärst.“

„Ich will nicht mit Eric gehen“, sagte ich dickköpfig.

„Ich möchte auch nicht mit einem dieser Fangbanger losziehen“, erwiderte Bill.

Einen Moment lang saßen wir schweigend nebeneinander - es können auch zwei gewesen sein.

„Also ist alles in Ordnung mit uns beiden?“ fragte ich, und mir war selbst nicht recht klar, wie das gemeint war.

„Ja.“

Wir saßen noch ein wenig einfach so da und überdachten das.

„Noch etwas zu trinken?“ erkundigte sich Bill dann.

„Ja, gern. Es sei denn, du mußt nach Hause?“

„Nein, das geht schon in Ordnung.“

Bill ging zum Tresen. Erics Freundin Pam war verschwunden, und Eric schien meine Wimpern zu zählen. Ich versuchte, meinen Blick auf meine Hände gerichtet zu halten, um Zurückhaltung zu signalisieren. Nun spürte ich Energieströme, die irgendwie über mich hinweg schwappten, und hatte das stark unangenehme Gefühl, Eric versuche mich aus der Ferne zu beeinflussen. Ich riskierte einen raschen Seitenblick, und wirklich: Da saß er und schaute mich erwartungsvoll an Was er sich wohl erhoffte? Daß ich mein Kleid auszog? Daß ich bellte wie ein Hund? Bill in die Eier trat? Scheiße.

Da kehrte Bill mit unseren Getränken zurück.

„Gleich weiß er, daß ich nicht normal bin“, sagte ich mürrisch. Bill schien keine weitere Erklärung zu brauchen.

„Er verstößt gegen die Regeln. Selbst wenn er nur versucht, dich zu bezirzen: Ich habe ihm schließlich gesagt, daß du mir gehörst“, sagte er ziemlich ungehalten. Wenn Bill wütend war, wurde seine Stimme nicht hitziger, wie bei mir, sondern kälter und immer kälter.

„Das scheinst du ja inzwischen aller Welt kundzutun!“ murmelte ich finster. Aber mehr als reden tust du nicht, fügte ich in Gedanken hinzu.

„Das ist bei Vampiren so Brauch“, erklärte mir Bill zum zweiten Mal. „Wenn ich verkünde, daß du mir gehörst, dann kann niemand sonst versuchen, sich an dir zu nähren.“ „Sich an mir zu nähren - was für eine wunderschöne Umschreibung“, entgegnete ich scharf, woraufhin Bill etwa zwei Sekunden lang wirklich und wahrhaftig eine Miene stiller Verzweiflung zur Schau trug.

„Ich beschütze dich!“ sagte er, und seine Stimme klang nicht mehr so neutral, wie sie es sonst zu tun pflegte.

„Ist dir eigentlich schon mal in den Sinn gekommen, daß ich ... “

Dann bremste ich mich. Ich schloß die Augen und zählte bis zehn.

Als ich es wagte, Bill anzusehen, hielt der seine Augen unverwandt auf mein Gesicht gerichtet. Ich konnte förmlich hören, wie in seinem Kopf die Zahnräder ineinander griffen.

„Du - brauchst gar keinen Beschützer?“ fragte er sanft. „Laß mich raten: Du beschützt mich?“

Ich sagte gar nichts. Ich kann das.

Aber er nahm meinen Hinterkopf und drehte meinen Kopf zu sich herum, als sei ich eine Marionette. (Auch das wurde mittlerweile schon zur Gewohnheit und gefiel mir gar nicht!) Er sah mir so unverwandt in die Augen, daß ich das Gefühl bekam, mir würden Tunnel ins Hirn gebohrt.

Ich schürzte die Lippen und blies ihm ins Gesicht. „Puh!“ sagte ich, wobei mir äußerst unbehaglich zumute war. Um mich abzulenken, sah ich zu den Leuten hinüber, die am Tresen saßen, ließ meine Schutzmauer fallen und hörte ihnen zu.

„Langweilig“, teilte ich Bill dann mit. „Diese Menschen sind langweilig.“

„Sind sie das wirklich, Sookie? Was denken sie?“ Es war erleichternd, wieder seine Stimme zu hören, auch wenn sie etwas merkwürdig klang.

„Sie denken an Sex. Sex, Sex, Sex.“ Das stimmte. Jeder einzelne der Menschen am Tresen hatte Sex im Sinn. Selbst die Touristen, auch wenn die nicht daran dachten, wie es wohl wäre, selbst mit einem Vampir ins Bett zu gehen. Sie stellten sich vor, wie es wohl sein mochte, wenn ein Fangbanger mit einem Vampir im Bett lag.

„Woran denkst du denn, Sookie?“

„Jedenfalls nicht an Sex“, erwiderte ich prompt, und das entsprach den Tatsachen. Ich hatte gerade eine höchst unangenehme Überraschung erlebt.

„Das soll ich glauben?“

„Ich dachte gerade darüber nach, wie wohl unsere Chancen stehen, uns hier rauszuschleichen, ehe es Ärger gibt.“

„Wieso denkst du über so etwas nach?“

„Weil einer der Touristen ein getarnter Zivilbulle ist, der gerade auf der Toilette war und dort mitbekommen hat, wie ein Vampir am Nacken eines Fangbangers herumsaugt, und weil er bereits über sein kleines Funkgerät die Polizeiwache verständigt hat.“

„Nichts wie weg hier“, sagte Bill ruhig, und schon hatten wir die Nische geräumt und eilten in Richtung Ausgang. Pam war verschwunden, aber als wir an Erics Tisch vorbeikamen, gab Bill dem anderen Vampir eine Art Zeichen. Ebenso unauffällig wie zuvor wir beide glitt Eric von seinem Stuhl, richtete sich zu majestätischer Größe auf und schritt zur Tür. Da seine Beine viel länger waren als unsere, kam er vor uns dort an, griff sich den Arm der Türsteherin und zog diese mit sich hinaus auf die Straße.

Bill und ich wollten schon folgen, da fiel mir Langer Schatten ein, der Barmann. Er hatte meine Fragen so nett beantwortet. Also drehte ich mich noch einmal zu ihm um und deutete mit dem Finger auf den Ausgang, womit ich ihm unmißverständlich zu verstehen gab, daß er verschwinden sollte. Daraufhin wirkte er so alarmiert, wie ein Vampir überhaupt nur wirken kann, und als Bill mich nun gewaltsam durch die Doppeltür schob, sah ich gerade noch, wie Langer Schatten sein Handtuch auf den Tresen warf.

Draußen wartete Eric neben seinem Wagen - natürlich eine Corvette.

„Hier läuft gleich eine Razzia“, sagte Bill.

„Woher weißt du das?“

Darauf wußte Bill nichts zu sagen.

„Das weiß er von mir“, erklärte ich und holte ihn so aus der Zwickmühle.

Selbst im Dämmerlicht des Parkplatzes leuchteten Erics blaue Augen strahlend hell. Ich würde wohl eine Erklärung abgeben müssen.

„Ich habe die Gedanken eines Polizisten gelesen“, murmelte ich und warf ihm dabei von unten her einen Blick zu, um zu sehen, wie er meine Worte aufnahm. Er starrte mich genauso an, wie mich die Vampire aus Monroe angestarrt hatten. Nachdenklich. Hungrig.

„Interessant“, sagte er. „Ich hatte mal einen Spiritisten. Das war unglaublich.“

„Fand der Spiritist das auch?“ fragte ich spitz und klang erzürnter, als ich eigentlich vorgehabt hatte.

Ich konnte hören, wie Bill neben mir nach Luft schnappte.

Eric lachte. „Eine Weile schon“, antwortete er vielsagend.

Nun hörten wir, wie aus der ferne Sirenen immer näher kamen, und ohne weitere Worte glitten Eric und die Türsteherin in Erics Wagen, um in der Nacht zu verschwinden, wobei die Corvette irgendwie leiser klang als andere Autos. Bill und ich kletterten hastig in den Cadillac, schnallten uns an und konnten gerade noch durch eine der beiden Einfahrten den Parkplatz der Bar verlassen, während durch die zweite die Polizei einfuhr. Sie hatten den Vampirtransporter dabei, einen speziell angefertigten Gefangenentransporter, dessen Fenster mit silbernen Gitterstäben gesichert waren. Er wurde von zwei Polizisten der fangzahntragenden Minderheit gefahren, die, kaum hatte der Wagen gehalten, aus der Fahrerkabine sprangen und derart rasch die Bar stürmten, daß es für mein menschliches Auge so aussah, als seien zwei Schatten über den Parkplatz gehuscht.

Wir waren erst ein paar Straßenzüge weiter gefahren, als Bill den Wagen plötzlich auf den Parkplatz einer weiteren dunklen Einkaufmeile steuerte.

„Was...?“ hob ich an, kam aber nicht weiter. Bill hatte meinen Gurt gelöst, den Sitz zurückgeklappt und nach mir gegriffen, ehe ich meinen Satz beenden konnte. Anfangs hatte ich Angst, er könne wütend auf mich sein, und wehrte mich, aber ich hätte ebenso gut auf einen Baum einschlagen können. Dann aber hatte sein Mund den meinen gefunden, und ich verstand, wie Bill zumute war.

Mein Gott, wie gut er küßte! Es mochte ja Ebenen geben, auf denen wir beide nicht so gut miteinander kommunizierten, aber diese gehörte gewiß nicht dazu. Ungefähr fünf Minuten lang ging es uns hervorragend. Ich spürte wunderbare Gefühle durch meinen Körper strömen, genau die richtigen Gefühle. Ich fühlte mich rundum wohl, auch wenn es ein wenig peinlich schien, so auf dem Vordersitz eines Autos. Ich fühlte mich wohl, weil Bill so stark und rücksichtsvoll war. Dann zwickte ich ihn sanft mit den Zähnen, und er gab ein Geräusch von sich, das sich anhörte wie ein Knurren.

„Sookie!“ flüsterte er mit rauher Stimme.

Ich rückte ungefähr einen halben Zentimeter von ihm ab.

„Wenn du das noch einmal machst, dann lege ich dich aufs Kreuz, ob du es nun willst oder nicht“, sagte er, und ich hörte, daß er es auch so meinte.

„Aber du willst nicht“, stotterte ich nach einer Weile und gab mir alle Mühe, das nicht wie eine Frage klingen zu lassen.

„Oh, und wie ich will!“ Er nahm meine Hand und zeigte es mir.

Da tauchte plötzlich ein helles, rotierendes Licht neben uns auf.

„Die Polizei!“ rief ich leise und sah schreckensbleich der Gestalt zu, die aus dem Streifenwagen stieg und auf das Seitenfenster der Fahrerseite zuging. „Er darf nicht merken, daß du Vampir bist!“ fügte ich hastig hinzu, denn ich befürchtete, die Polizeikontrolle könne in Zusammenhang mit der Razzia im Fangtasia stehen. Bei der Polizei sah man es zwar gern, wenn Vampire Uniform anlegten und sich den Polizeikräften anschlossen, aber es gab doch immer noch viele Vorurteile in Bezug auf den ganz gewöhnlichen Vampir auf der Straße - besonders, wenn er als Teil eines gemischten Paares daherkam.

Die Hand des Polizisten pochte gegen das Wagenfenster.

Bill warf den Motor an und drückte auf den Knopf, mit dem das Fenster herabgelassen wurde. Aber er schwieg, und ich konnte von der Seite her feststellen, daß sich seine Fangzähne noch nicht wieder ganz zurückgezogen hatten. Öffnete er den Mund, würde sich die Tatsache, daß er Vampir war, nicht verbergen lassen.

„Guten Abend“, sagte ich.

„Guten Abend“, erwiderte der Mann einigermaßen höflich. Dann beugte er sich vor, um einen Blick ins Wageninnere zu werfen. „Sie wissen, daß alle Läden hier geschlossen sind?“

„Ja, Sir.“

„Ich will nicht behaupten, daß ich nicht genau wüßte, daß Sie beide hier ein wenig herumgeknutscht haben, und dagegen habe ich nichts. Aber Sie sollten lieber nach Hause fahren, wenn Sie weiterknutschen wollen.“

„Das werden wir auch tun“, erklärte ich eifrig nickend, und sogar Bill schaffte es, den Kopf zu senken, wenn die Bewegung auch ein wenig steif ausfiel.

„Ein paar Straßen weiter machen wir gerade eine Razzia in einer Nachtbar“, erzählte der Polizist beiläufig. Ich konnte nur einen Teil seines Gesichts sehen, aber er wirkte recht kräftig und war mittleren Alters. „Sie kommen nicht zufällig von dort?“

„Nein“, sagte ich.

„Eine Vampirbar“, ergänzte der Beamte.

„Nein. Wir nicht.“

„Wenn Sie nichts dagegen haben, Fräulein, würde ich mir gern ihren Hals ansehen. Ich habe eine Taschenlampe.“

„Nur zu. Ich habe nichts dagegen.“

Dann suchte der Mann doch weiß Gott mit der Taschenlampe erst meinen Hals und dann den Bills ab.

„Okay, ich wollte nur ganz sichergehen. Fahren Sie jetzt bitte weiter.“

„Machen wir.“

Bills Nicken fiel noch kürzer aus als beim ersten Mal. Der Streifenbeamte sah noch zu, wie ich auf meinen eigenen Sitz zurückglitt und den Sicherheitsgurt anlegte und wie Bill in den Rückwärtsgang schaltete und vom Parkplatz bog.

Bill war stocksauer und hüllte sich den ganzen Nachhauseweg lang in, wie ich annahm, beleidigtes Schweigen, während ich geneigt war, die Sache von der komischen Seite her zu sehen.

Daß Bill sich meinen persönlichen Reizen gegenüber - wenn man denn von solchen sprechen konnte - als nicht ganz unempfänglich erwiesen hatte, stimmte mich fröhlich. Ich hoffte, er würde mich eines Tages wieder küssen, vielleicht länger und heftiger - und vielleicht konnten wir sogar einen Schritt weiter gehen. Ich versuchte, mir nicht allzu große Hoffnungen zu machen. Es gab da nämlich ein oder zwei Dinge in meinem Leben, von denen Bill nichts wußte, von denen niemand etwas wußte, und so bemühte ich mich, meine Erwartungen auf ein bescheidenes Niveau zu reduzieren.

Als er sicher vor Omas Haustür angekommen war, ging Bill um den Wagen herum und öffnete mir die Tür. Ich zog die Brauen hoch - aber ich bin kein Mensch, der andere daran hindert, höflich zu sein. Sicher wußte Bill, daß ich über zwei gesunde Arme und auch über genug Grips verfügte, um den Mechanismus zu verstehen, mit dem man eine Wagentür öffnet. Ich stieg aus dem Wagen, und Bill wich einen Schritt zurück.

Das verletzte mich. Offenbar wollte er mich nicht noch einmal küssen, offenbar tat ihm das, was vorher geschehen war, leid. Wahrscheinlich sehnte er sich nach Pam. Vielleicht sogar nach Langer Schatten. Wenn man bereits ein paar Jahrzehnte lang hat Sex praktizieren können, läßt einem das eine Menge Raum für Experimente - allmählich fing ich an, so was zu kapieren. Aber wäre es denn schlimm, seiner Liste eine Frau mit telepathischen Fähigkeiten hinzuzufügen?

Ich zog die Schultern hoch und schlang meine Arme schützend um meine Brust.

„Frierst du?“ wollte Bill da sofort wissen und legte den Arm um mich. Aber das hätte genauso gut ein Mantel sein können: Er gab sich Mühe, körperlich so weit von mir entfernt zu bleiben, wie die Länge seines Armes irgend zuließ.

„Es tut mir leid, daß ich dir auf die Nerven gegangen bin. Ich werde dich nie mehr um etwas bitten“, sagte ich so ruhig ich konnte. Da fiel mir ein, daß Bill mit Oma noch keinen Termin für seinen Vortrag bei den Nachkommen abgemacht hatte. Das mußten die beiden dann eben unter sich regeln.

Bill stand eine Weile schweigend da, bis er dann endlich sagte: „Wie ... unglaublich ... naiv ... du bist.“ Diesmal fehlte der Zusatz über die erstaunlich richtigen Erkenntnisse.

„Ja?“ fragte ich. „Bin ich das wirklich?“

„Oder vielleicht bist du eine von Gottes Närrinnen“, sagte er dann, und das hörte sich schon lange nicht mehr so angenehm an, sondern eher, als rede er vom Glöckner von Notre Dame oder einer ähnlichen Gestalt.

„Ich nehme an“, sagte ich säuerlich, „das wirst du dann wohl herausfinden müssen.“

„Besser, ich bin derjenige, der es herausfindet“, meinte er daraufhin geheimnisvoll, und ich verstand ihn überhaupt nicht. Er brachte mich zur Tür, und ich hoffte doch sehr auf einen weiteren Kuß, aber er berührte lediglich sittsam meine Stirn mit den Lippen. „Gute Nacht“, flüsterte er.

Einen Moment lang lehnte ich meine Wange gegen seine. „Vielen Dank, daß du mich mitgenommen hast“, sagte ich und trat dann rasch zurück, ehe er auf die Idee kommen konnte, ich würde ihn um mehr bitten. „Ich rufe nicht wieder an.“ Ehe ich es mir anders überlegen konnte, hastete ich in das dunkle Haus und schlug Bill die Tür vor der Nase zu.