Kapitel 8

Nun waren wir also wieder zusammen. Die Angst, die ich ausgestanden hatte, als ich dachte, ich könnte Bill für immer verloren haben, hatte meine Bedenken zumindest vorübergehend ausradiert, und Bill und ich schufen eine Routine für uns beide, die sich allerdings noch etwas unbeständig anfühlte.

Wenn ich Spätschicht hatte, ging ich hinterher zu ihm und verbrachte in der Regel den Rest der Nacht in seinem Haus. Wenn ich tagsüber arbeitete, kam Bill nach Sonnenuntergang zu mir, und wir sahen fern oder gingen ins Kino oder spielten Scrabble. Ich brauchte jede dritte Nacht frei, oder Bill mußte in diesen Nächten das Beißen bleiben lassen, sonst fing ich an, mich schwach und matt zu fühlen, und zudem bestand ja die Gefahr, daß, wenn Bill zu viel von mir trank ... ich schluckte weiterhin Vitamine und Eisentabletten, bis sich Bill über den Geschmack beklagte. Danach schränkte ich den Eisenkonsum etwas ein.

Wenn ich nachts schlief, ließ Bill mich allein und machte irgend etwas anderes. Manchmal las er, manchmal ging er spazieren, manchmal arbeitete er im Schein der Außenbeleuchtung in meinem Garten.

Wenn er je von anderen Menschen trank, so behielt er das für sich und tat es weit von Bon Temps entfernt, so, wie ich es von ihm erbeten hatte.

Ich sage, unsere damalige Routine fühlte sich noch unbeständig an, weil mir schien, als warteten wir auf irgend etwas. Daß das Nest in Monroe niedergebrannt worden war, hatte Bill wütend gemacht, ihm aber auch, so glaube ich zumindest, einen gehörigen Schrecken versetzt. So allmächtig und stark zu sein, wenn man wach ist, und gleichzeitig vollständig hilflos, wenn man schläft, das war gewiß sehr unangenehm.

Wir fragten uns, ob sich die Ressentiments Vampiren gegenüber nun legen würden, wo doch die schlimmsten Unruhestifter in unserer Gegend tot waren.

Bill sagte es nie direkt, aber ich entnahm bestimmten Andeutungen, die sich von Zeit zu Zeit in unsere Gespräche schlichen, daß er sich um meine Sicherheit sorgte und sich weiterhin sorgen würde, solange der Mörder Maudettes, Dawns und meiner Oma noch auf freiem Fuß war.

Sollte die männliche Bevölkerung von Bon Temps und Umgebung gedacht haben, sie könne sich nun, da sie die Vampire in Monroe ausgeräuchert hatte, beruhigt zurücklehnen, dann hatte sie sich getäuscht. Bei allen drei Opfern belegte der Autopsiebericht letztlich, daß sie die vollständige Blutmenge im Körper gehabt hatten, als sie umgebracht wurden. Zudem hatten die Bißspuren am Hals Maudettes und Dawns nicht nur alt ausgesehen, sie erwiesen sich auch wirklich als alt. Die Todesursache war bei allen Frauen Erwürgen. Maudette und Dawn hatten Sex gehabt, ehe sie starben - und danach.

Arlene, Charlsie und ich waren vorsichtig geworden, wir hielten uns nie mehr allein auf dem Parkplatz auf, wir überprüften die Türen unserer Häuser, wenn wir heimkamen, und schauten erst einmal, ob sie so fest verschlossen waren, wie wir sie hinterlassen hatten. Wir versuchten, beim Autofahren auf die Wagen vor uns und hinter uns zu achten. Aber es ist nicht einfach, ständig auf der Hut zu sein; ein solches Verhalten ist ziemlich nervenaufreibend, und ich bin sicher, ich war nicht die einzige, die langsam, aber sicher wieder in die alten, sorglosen Verhaltensweisen verfiel. Vielleicht ließ sich dies bei Arlene und Charlsie eher entschuldigen, denn sie lebten, anders als die ersten beiden Mordopfer, nicht allein. Arlene wohnte mit ihren beiden Kindern (und von Zeit zu Zeit mit Rene Lenier) zusammen, Charlsie mit ihrem Mann Ralph.

Ich war die einzige, die allein lebte.

Jason kam fast jeden Abend in unser Lokal und achtete peinlich genau darauf, dann auch jedes Mal ein paar Worte mit mir zu wechseln. Ich wußte, er war bemüht, den Bruch zwischen uns wieder zu kitten, und gab mir Mühe, entsprechend zu reagieren. Aber Jason trank auch sehr viel, und in seinem Bett gingen mehr Besucherinnen ein und aus als in der öffentlichen Toilette, und das, obwohl er für Liz Barrett wirklich etwas zu empfinden schien. Wir strengten uns beide an, bei der Abwicklung der Angelegenheiten unserer Großmutter und unseres Großonkels freundschaftlich zusammenzuarbeiten, auch wenn Jason mit den Angelegenheiten unseres Onkels mehr zu tun hatte als ich. Bis auf mein Legat hatte Onkel Bartlett seinen gesamten Besitz Jason hinterlassen.

Eines Abends, als er ein Bier zuviel getrunken hatte, berichtete mir Jason, er sei noch zwei Mal auf die Polizeiwache geladen worden, und die ganze Sache mache ihn langsam völlig kirre. Er war also endlich zu Sid Matt Lancaster gegangen, und Sid Matt hatte ihm geraten, nicht mehr bei der Polizei zu erscheinen, es sei denn, er, Sid Matt, könne ihn begleiten.

„Aber warum laden sie dich denn immer wieder vor?“ fragte ich Jason. „Es muß da irgend etwas geben, was du mir nicht erzählt hast. Andy Bellefleur setzt niemandem sonst so zu wie dir, und ich weiß, daß weder Maudette noch Dawn in Bezug auf die Männer, die mit ihnen nach Hause gehen durften, besonders wählerisch waren.“

Jason machte daraufhin einen schrecklich geknickten Eindruck. So schlimm in Verlegenheit hatte ich meinen wunderschönen älteren Bruder noch nie erlebt.

„Videos“, murmelte er.

Ich beugte mich näher zu ihm heran, um sicher zu gehen, daß ich ihn auch wirklich richtig verstanden hatte. „Videos?“ fragte ich ungläubig.

„Pst!“ zischte er und sah sich hektisch um, wobei er so schuldig wirkte wie die Hölle selbst. „Ja. Wir haben Videos gemacht.“

Ich glaube, nach dieser Ankündigung war ich ebenso verlegen wie er. Brüder und Schwestern müssen wahrlich nicht alles voneinander wissen! „Du hast den Frauen eine Kopie dagelassen?“ fragte ich zögernd nach, denn nun mußte ich wirklich wissen, wie dämlich sich Jason angestellt hatte.

Er sah mich nicht an, und so konnte ich nur von der Seite erkennen, daß in seinen aufgrund des Bierkonsums leicht benebelt dreinblickenden blauen Augen höchst romantisch ein paar Tränen schimmerten.

„Schwachkopf!“ sagte ich. „Ich will dir ja zugestehen, daß du nicht ahnen konntest, in welchem Zusammenhang das jetzt an die Öffentlichkeit gerät - aber hast du dich eigentlich nie gefragt, was passieren könnte, wenn du dich irgendwann mal entschließt, zu heiraten? Was, wenn eine deiner Exflammen eine Kopie von eurem kleinen Tango an deine Braut schickt?“

„Vielen Dank für den Tritt in den Arsch, wo ich eh schon am Boden bin, Schwesterherz.“

Ich holte Luft. „Also gut: Du drehst doch jetzt keine Videos mehr, oder?“

Er nickte entschieden. Ich glaubte ihm nicht.

„Du hast Sid Matt davon erzählt, ja?“

Er nickte schon weniger entschieden.

„Du meinst, es liegt an den Videos, daß Andy so hinter dir her ist?“

„Ja“, meinte Jason verdrießlich.

„Dann ist es doch einfach: Laß dein Sperma testen. Wenn es nicht mit dem übereinstimmt, das in Maudette und Dawn gefunden wurde, dann ist doch klar, daß du sauber bist.“ Mittlerweile war ich ebenso mit allen Wassern gewaschen wie Jason. Wir redeten das erste Mal miteinander über Spermaproben.

„Das sagt Sid Matt auch. Ich traue der Sache aber nicht.“

Mein Bruder traute dem verläßlichsten wissenschaftlichen Beweismittel nicht, das bei Gericht zugelassen war. „Denkst du, Andy fälscht die Ergebnisse?“

„Nein, Andy ist in Ordnung, der tut nur seine Pflicht. Ich weiß bloß nicht - dies ganze DNS-Zeug.“

„Schwachkopf“, sagte ich und ging, um für vier Typen aus Ruston einen neuen Krug Bier zu holen. Es waren College-Studenten auf einer Spritztour durch die Provinz. Was Jason betraf, konnte ich nur hoffen, daß Sid Matt Lancaster über ausreichend Überzeugungskünste verfügte.

Ich sprach noch einmal mit meinem Bruder, ehe er das Lokal verließ. „Kannst du mir helfen?“ bat er mich da und wandte mir ein Gesicht zu, das ich kaum wiedererkannte. Ich stand an seinem Tisch, und seine Verabredung für diesen Abend war aufs Damenklo gegangen.

Noch nie zuvor hatte mich mein Bruder um Hilfe gebeten.

„Wie denn?“

„Kannst du nicht einfach die Gedanken aller Männer lesen, die hier reinkommen, und herausfinden, ob einer von denen es gewesen ist?“

„So einfach, wie du das darstellst, ist die Sache nicht“, erwiderte ich langsam und dachte über seine Bitte nach, während ich noch redete. „Zum einen müßte der Mann an sein Verbrechen denken, während er hier sitzt und trinkt, und zwar genau in dem Moment, in dem ich ihm zuhöre. Dann empfange ich auch nicht immer klare Gedanken. Bei manchen Leuten ist es genau so, als würde ich Radio hören, ich verstehe jede Einzelheit. Bei anderen bekomme ich nur einen Haufen Empfindungen mit, und keine ist klar formuliert, als würde man jemandem zuhören, der im Schlaf redet, verstehst du? Man hört solche Leute reden und bekommt mit, ob sie traurig oder fröhlich sind, aber ihre genauen Worte kann man nicht verstehen. Manchmal schnappe ich auch einen Gedanken auf, kann ihn aber nicht zu seiner Quelle zurückverfolgen, wenn es hier voll ist.“

Jason starrte zu mir hoch. Zum ersten Mal redeten wir so offen über meine Behinderung.

„Wie schaffst du es, nicht verrückt zu werden?“ fragte er mich und schüttelte verwirrt den Kopf.

Ich wollte gerade anfangen, die Sache mit meinem Visier zu erklären, da kehrte Liz Barrett an den Tisch zurück, die Lippen nachgezogen, die Haare frisch toupiert. Ich sah, wie Jason seine Identität als Frauenheld wieder um sich legte wie einen schweren Mantel, und bereute, nicht eingehender mit ihm geredet zu haben, als er noch allein dasaß.

Als wir Angestellten uns an diesem Abend zum Gehen anschickten, fragte Arlene, ob ich am nächsten Tag auf ihre Kinder aufpassen könnte. Wir hatten beide am kommenden Abend frei, und sie wollte mit Rene nach Shreveport fahren, Essen gehen und sich im Kino einen Film ansehen.

„Klar!“ sagte ich. „Die Kinder waren lange nicht mehr bei mir.“

Da erstarrte Arlenes Gesicht zu einer Maske. Sie stand da, halb zu mir gewandt, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloß ihn wieder, überlegte es sich dann aber noch einmal anders und öffnete ihn erneut: „Ist Bill ... ist er dann auch da?“

„Ja, wir haben vor, uns zusammen ein Video anzusehen. Ich wollte mir morgen in der Videothek eines ausleihen. Aber wenn die Kinder kommen, hole ich etwas, was sie auch gern sehen.“ Dann aber wurde mir jäh bewußt, wie sie ihre Frage gemeint hatte. „He! Du willst die Kinder nicht bei mir lassen, wenn Bill kommt?“ Ich spürte, wie meine Augen zu schmalen Schlitzen wurden und meine Stimme sich senkte, wie sie es zu tun pflegt, wenn ich wütend werde.

„Sookie“, begann sie hilflos, „ich liebe dich. Aber du verstehst das nicht, du bist keine Mutter. Ich kann meine Kinder nicht bei einem Vampir lassen, ich kann das einfach nicht.“

„Es ist egal, daß ich auch da bin und daß ich deine Kinder auch liebe? Es ist egal, daß Bill nie in einer Million Jahren einem Kind etwas zuleide täte?“ Ich warf mir die Handtasche über die Schulter, stapfte mit riesigen Schritten hinaus auf den Parkplatz und ließ Arlene einfach stehen. Sie sah fix und fertig aus, und weiß Gott: Dazu hatte sie auch allen Grund!

Als ich dann vom Parkplatz bog und auf der Straße dahinfuhr, hatte ich mich etwas beruhigt. Aber aufgebracht war ich immer noch. Ich sorgte mich um Jason, war sauer auf Arlene und was Sam anging, so herrschte in meinen Gefühlen ohnehin so etwas wie Dauerfrost, denn mein Chef tat dieser Tage so, als seien wir füreinander lediglich entfernte Bekannte. Mir kam in den Sinn, lieber einfach nach Hause zu fahren, statt wie verabredet zu Bill zu gehen, und ich befand, das sei eine sehr gute Idee.

Ungefähr eine Viertelstunde, nachdem ich eigentlich hätte bei ihm auftauchen müssen, tauchte Bill bei mir auf; daran kann man sehen, welch große Sorgen er sich um meine Sicherheit machte.

„Du bist nicht gekommen, du hast nicht angerufen“, sagte er ruhig, als ich ihm die Tür öffnete.

„Ich bin gereizt“, sagte ich. „Sehr gereizt.“

Er hielt Abstand, was klug von ihm war.

„Entschuldige, daß du dir um mich hast Sorgen machen müssen“, sagte ich nach einer Weile. „Es wird nicht wieder vorkommen.“ Mit diesen Worten strebte ich weg von ihm, auf die Küche zu. Er ging mir nach, oder zumindest nahm ich an, daß er das tat. Bill war so leise, daß man nie wußte, was er tat, es sei denn, man sah ihm dabei zu.

Dann stand ich mitten in der Küche, während Bill am Türrahmen lehnte, und fragte mich, wie ich überhaupt in die Küche gekommen war und was ich da eigentlich wollte, und spürte, wie der Zorn erneut heftig in mir aufstieg. Ich war noch einmal von vorn unheimlich sauer und hätte nur zu gern mit etwas geworfen, etwas kaputtgemacht. Aber ich bin nicht so erzogen, daß ich solchen destruktiven Impulsen nachgeben kann. Also unterdrückte ich sie, preßte die Augen zu und ballte die Hände zu Fäusten.

„Ich gehe ein Loch graben“, verkündete ich und marschierte zur Hintertür hinaus. Ich schloß die Tür zum Geräteschuppen auf, nahm eine Schaufel heraus, die dort lehnte, und stürmte in meinen Hintergarten. Dort gab es eine Stelle, an der nichts wachsen wollte. Warum, weiß ich auch nicht. Ich versenkte die Schaufel im Boden, trat mit dem Fuß nach, lockerte einen Klumpen Erde und warf ihn beiseite. Dann wiederholte ich das Ganze. Langsam wuchs der Erdhaufen, und das Loch wurde immer größer.

„Meine Schultern und Arme sind stark!“ sagte ich und stützte mich auf die Schaufel, um leicht keuchend ein wenig zu verschnaufen.

Bill saß in einem der Gartenstühle und sah mir zu. Er sagte nichts.

Ich fing wieder an zu graben.

Schließlich hatte ich ein wirklich nettes, großes Loch.

„Hast du vor, dort etwas zu begraben?“ wollte Bill wissen, als er sah, daß ich nun fertig war.

„Nein.“ Ich sah in die Grube zu meinen Füßen. „Ich werde einen Baum pflanzen.“

„Was für einen?“

„Eine Virginia-Eiche“, sagte ich spontan.

„Wo kriegt man die denn?“

„Aus dem Gartencenter. Ich gehe nächste Woche da vorbei.“

„Die wachsen langsam.“

„Das kann dir doch wohl egal sein“, fuhr ich ihn an. Ich stellte die Schaufel zurück in den Schuppen und lehnte mich dann, plötzlich sehr erschöpft, dagegen.

Bill machte Anstalten, mich hochzuheben.

„Ich bin eine erwachsene Frau“, zischte ich. „Ich kann auf meinen eigenen Beinen in mein eigenes Haus gehen!“

„Habe ich dir irgend etwas getan?“ fragte Bill. Seine Stimme klang nicht besonders liebevoll, und das brachte mich wieder zur Vernunft. Ich hatte mich lange genug gehen lassen.

„Ich muß mich bei dir entschuldigen“, sagte ich, „schon zum zweiten Mal.“

„Warum warst du so wütend?“

Die Sache mit Arlene konnte ich ihm nicht sagen.

„Was machst du, wenn du wütend wirst, Bill?“

„Ich reiße einen Baum aus“, sagte er. „Manchmal tue ich auch jemandem weh.“

Ein Loch zu graben schien da gar nicht mal so schlecht. Es war sogar irgendwie konstruktiv. Aber ich stand immer noch total unter Strom - nur war das jetzt eher ein leises Brummen, kein Kreischen in den höchsten Tönen. Ruhelos blickte ich mich um, auf der Suche nach irgend etwas, an dem ich mich auslassen könnte.

Bill schien die Symptome bestens analysieren zu können. „Liebe!“ schlug er vor. „Mach Liebe mit mir.“

„Ich bin nicht in der richtigen Stimmung für Sex.“ „Darf ich versuchen, dich zu überreden?“

Wie es sich herausstellte, gelang ihm das bestens.

Zumindest war danach mein Wutüberschuß verrauscht, aber es blieben Rückstände von Traurigkeit, gegen die der Sex nichts hatte ausrichten können. Arlene hatte mich verletzt. Während Bill mir Zöpfe flocht - eine Beschäftigung, die er offenbar als beruhigend empfand -, starrte ich vor mich hin.

Von Zeit zu Zeit kam ich mir vor, als sei ich Bills Puppe.

„Heute abend war Jason im Lokal“, erzählte ich.

„Was wollte er?“

Manchmal war Bill mir einfach zu schlau, was seine Einschätzungen von Leuten betraf.

„Er appellierte an meine Kräfte - das Gedankenlesen. Er wollte, daß ich die Köpfe von allen Männern durchleuchte, die ins Lokal kommen, bis ich herausgefunden habe, wer der Mörder ist.“

„Im Prinzip gar keine schlechte Idee - wenn man davon absieht, daß sie ziemlich viele Mängel aufweist.“

„Findest du?“

„Säße der Mörder im Gefängnis, dann würde man sowohl deinen Bruder als auch mich mit wesentlich weniger Mißtrauen betrachten, und dein Leben wäre weitaus sicherer.“

„Das stimmt, aber ich weiß wirklich nicht, wie ich es anstellen soll, und es wäre auch ziemlich schwer, schmerzhaft und anstrengend, durch all das Zeug zu waten, das die Menschen in ihren Köpfen haben, nur um ein ganz klein wenig Information zu erhaschen, den Hauch von einem Gedanken.“

„Nicht schmerzhafter oder härter, als unter Mordverdacht zu stehen. Du bist einfach viel zu sehr daran gewöhnt, deine Gabe unter Verschluß zu halten.“

„Findest du?“ Ich wollte mich umdrehen, um Bill ins Gesicht zu sehen, aber er hieß mich still sitzen, damit er die Zöpfe fertigflechten konnte. Ich hatte es nie als selbstsüchtig betrachtet, mich aus den Köpfen anderer Leute fernzuhalten, aber in diesem Fall konnte man das wohl so nennen. Ich würde allerdings die Privatsphäre ziemlich vieler Menschen verletzen müssen. „Eine Detektivin“, murmelte ich, ein Versuch, die Sache in ein besseres Licht zu rücken.

„Sookie“, sagte Bill, und irgend etwas in seiner Stimme veranlaßte mich, die Ohren zu spitzen. „Eric hat gesagt, ich soll dich mal wieder nach Shreveport bringen.“

Ich brauchte eine Sekunde, ehe mir wieder einfiel, wer Eric war. „Der große Wikinger-Vampir?“

„Der uralte Vampir“, sagte Bill, und das schien ihm wichtig zu sein.

„Heißt das, er hat dir befohlen, mich zu ihm zu bringen?“ Die Sache gefiel mir nicht. Ich hatte auf der Bettkante gesessen, Bill hinter mir. Nun wandte ich mich um, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Diesmal hinderte er mich nicht daran. Prüfend musterte ich meinen Freund und entdeckte in seinem Gesicht etwas, was ich noch nie zuvor dort gesehen hatte. „Du mußt das machen!“ sagte ich entsetzt. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, daß irgendwer Bill Befehle erteilte. „Aber Schatz, ich möchte Eric gar nicht wiedersehen.“

Ich konnte klar erkennen, daß das keine Rolle spielte.

„Wer ist er, der Pate der Vampire?“ fragte ich nun wütend und ungläubig. „Hat er dir ein Angebot gemacht, das du nicht ablehnen konntest?“

„Er ist älter als ich. Genauer gesagt: Er ist stärker.“

„Niemand ist stärker als du“, sagte ich im Brustton der Überzeugung.

„Ich wollte, du hättest recht.“

„Dann ist er also der Chef der örtlichen Sektion eurer Vampirmafia?“

„Ja. So etwas in der Art.“

Bill schwieg sich immer aus, wenn es um die Strukturen ging, in denen Vampire ihre eigenen Angelegenheiten regelten. Bis jetzt hatte ich dagegen auch nichts einzuwenden gehabt.

„Was will er? Was wird geschehen, wenn ich nicht gehe?“

Die erste Frage überging Bill. „Er schickt jemanden - mehrere -, um dich zu holen.“

„Andere Vampire.“

„Ja.“ Bills Augen waren undurchsichtig und schimmerten in ihrer Andersartigkeit satt und braun.

Ich versuchte, das gründlich zu durchdenken. Ich war es nicht gewöhnt, herumkommandiert zu werden. Ich war es nicht gewöhnt, keine Wahl zu haben. Mein Dickkopf brauchte ein paar Minuten, um die Situation in Gänze richtig einschätzen zu können.

„Du würdest dich dann verpflichtet fühlen, gegen diese Vampire anzutreten?“

„Natürlich. Du gehörst mir.“

Da war es schon wieder, dieses ,du gehörst mir'. Anscheinend war es Bill ernst damit. Ich fühlte mich ungeheuer nach Jammern und Klagen, wußte aber, daß das nichts nützen würde.

„Dann werde ich da wohl hingehen müssen, nehme ich an“, und versuchte, nicht allzu bitter zu klingen. „Aber es ist die reinste Erpressung.“

„Sookie, Vampire sind nicht wie Menschen. Eric bedient sich einfach der besten Mittel, um sein Ziel zu erreichen, und sein Ziel ist es, dich nach Shreveport zu bringen. Das brauchte er mir nicht erst lang und breit zu erklären, ich habe ihn auch so verstanden.“

„Nun, ich verstehe es jetzt auch, aber es ist mir zuwider. Ich habe die Wahl zwischen Pest und Cholera! Was will er überhaupt von mir?“ Dann schoß mir die naheliegendste Antwort auf diese Frage durch den Kopf und ich starrte Bill mit schreckgeweiteten Augen an. „Nein! Das mache ich nicht!“

„Eric wird nicht mit dir schlafen oder von dir trinken, ohne mich vorher zu vernichten.“ Bills matt schimmerndes Gesicht hatte jegliche Vertrautheit verloren und kam mir unendlich fremd vor.

„Das weiß er ja auch“, sagte ich langsam. „Es muß also einen anderen Grund geben, warum er mich in Shreveport sehen will.“

„Ja“, stimmte Bill mir zu. „Aber ich kann nicht sagen, welcher Grund das sein könnte.“

„Wenn die Einladung weder mit meinen körperlichen Reizen noch mit der ungewöhnlichen Qualität meines Blutes zu tun hat, dann wird sich Erics Interesse wohl auf meine ... meine Macke beziehen.“

„Deine Gabe.“

„ Ach ja“, sagte ich, und meine Stimme troff förmlich vor Sarkasmus. „Meine Gabe.“ Die ganze Wut, die ich mir doch eigentlich schon vom Halse geschafft hatte, kam wieder zurück und hockte mir auf dem Nacken wie ein 400 Pfund schwerer Gorilla. Noch dazu hatte ich Heidenangst. Ich fragte mich, wie Bill zumute war. Ich hatte sogar Angst davor, ihn das zu fragen!

„Wann?“ fragte ich statt dessen.

„Morgen abend.“

„Das sind dann wohl die Nachteile einer nicht-traditionellen Beziehung, nehme ich an.“ Über Bills Schulter hinweg starrte ich auf das Muster der Tapete, die meine Großmutter vor etwa zehn Jahren ausgesucht hatte. Sollte ich die ganze Sache jetzt heil überstehen, versprach ich mir, würde ich das Zimmer neu tapezieren lassen.

„Ich liebe dich.“ Bills Stimme war nur ein Flüstern.

Ihn traf schließlich keine Schuld. „Ich dich auch“, erwiderte ich. Ich mußte mich zusammenreißen, um ihn nicht anzuflehen: Bitte, der böse Vampir soll mir nicht wehtun, bitte, laß nicht zu, daß der Vampir mich vergewaltigt! Wenn ich schon das Gefühl hatte, irgendwo zwischen Pest und Cholera zu manövrieren, dann galt das in noch stärkerem Maße für Bill. Das Ausmaß an Selbstbeherrschung, das er momentan aufbringen mußte, konnte ich mir noch nicht einmal im Ansatz vorstellen. Es sei denn, er mußte sich gar nicht beherrschen, sondern war einfach ruhig und besonnen. War ein Vampir in der Lage, einen solchen Schmerz, ein solches Gefühl absoluter Machtlosigkeit zu ertragen, ohne innerlich irgendwie aufgewühlt zu sein?

Prüfend musterte ich Bills Gesicht, die vertrauten klaren Linien, die matt schimmernde Haut, die dunklen Bögen der Brauen und die stolz geschwungene Nase. Ich sah, daß seine Fänge nur leicht ausgefahren waren; wenn er wütend oder sexuell erregt war, dann waren sie ganz ausgefahren.

„Heute nacht, Sookie“, sagte er und seine Hände baten mich, mich neben ihn zu legen, „heute nacht solltest du von mir trinken.“

„Was?“

„Heute nacht solltest du, glaube ich, von mir trinken.“

Ich verzog das Gesicht. „Igitt. Ich bin nicht verletzt, und brauchst du nicht all deine Kraft für morgen nacht?“

„Wie geht es dir, seit du von mir getrunken hast? Seit ich mein Blut in dich fließen ließ?“

Ich dachte über seine Frage nach. „Gut geht es mir“, mußte ich dann zugeben.

„Warst du seitdem ein einziges Mal krank?“

„Nein, aber ich bin auch sonst nur sehr selten krank.“

„Verspürst du mehr Energie?“

„Wenn du sie dir nicht gerade zurückholst!“ konterte ich leicht säuerlich, konnte aber nicht verhindern, daß sich meine Lippen zu einem leisen Lächeln verzogen.

„Bist du seitdem stärker geworden?“

„Ich - ja! Ich glaube, ich bin wirklich stärker geworden.“ In der Woche zuvor hatte ich einen Sessel gekauft und ihn allein ins Haus tragen können - das war etwas Neues, Außergewöhnliches.

„Ist es für dich einfacher geworden, deine Gabe im Griff zu behalten?“

„Ja, deutlich, das ist mir auch schon aufgefallen.“ Ich hatte es der Tatsache zugeschrieben, daß ich so entspannt war.

„Wenn du heute von mir trinkst, stehen dir morgen mehr Ressourcen zur Verfügung.“

„Dafür bist du dann geschwächt.“

„Wenn du nicht allzuviel trinkst, kann ich mich tagsüber erholen, während ich schlafe. Vielleicht muß ich mir zusätzlich morgen abend, ehe wir losfahren, jemanden suchen, bei dem ich trinken kann.“

Meine Miene zeigte wohl deutlich, wie sehr mich diese Ankündigung traf. Es ist eine Sache, etwas zu ahnen, und eine ganz andere, es wirklich zu wissen.

„Sookie, ich tue das für uns beide. Kein Sex mit anderen, das verspreche ich dir.“

„Du findest wirklich, daß alle diese Maßnahmen notwendig sind?“

„Vielleicht sind sie notwendig - hilfreich sind sie auf jeden Fall, und wir können so viel Hilfe gebrauchen, wie wir überhaupt nur kriegen können.“

„Also gut. Wie wollen wir es angehen?“ Ich hatte nur sehr verschwommene Erinnerungen an die Nacht, in der ich zusammengeschlagen worden war, eine Tatsache, über die ich sehr froh war.

Bill sah mich fragend von der Seite an - und auch ein wenig belustigt. Diesen Eindruck hatte ich zumindest. „Erregt dich die Vorstellung gar nicht?“

„Daß ich dein Blut trinken soll? Entschuldige bitte, aber so etwas macht mich wirklich nicht an.“

Er schüttelte den Kopf. Anscheinend fiel es ihm schwer, meine Haltung nachzuvollziehen. „Immer wieder vergesse ich, wie es ist, anders zu sein!“ sagte er dann. „Was hättest du gern: Hals, Handgelenk, Lende?“

„Auf keinen Fall Lende“, sagte ich hastig. „Ich weiß nicht. Igitt! Egal.“

„Kehle“, sagte er daraufhin. „Leg dich auf mich, Sookie.“ „Dann ist es wie Sex!“

„Aber so geht es am einfachsten.“

Also setzte ich mich rittlings auf ihn und ließ mich auf seine Brust sinken. Das fühlte sich sehr merkwürdig an, denn diese Haltung nahmen wir ein, wenn wir uns liebten, sonst nie.

„Beiß zu, Sookie“, flüsterte Bill.

„Ich kann nicht!“ protestierte ich.

„Beiß, oder ich muß ein Messer holen.“

„Meine Zähne sind nicht so scharf wie deine.“

„Sie sind scharf genug.“

„Ich werde dir wehtun.“

Bill lachte. Ich spürte, wie sich seine Brust unter mir bewegte.

„Verdammt!“ Ich holte tief Luft, wappnete mich und biß in seinen Hals. Ich biß ordentlich zu, denn welchen Sinn hatte es schon, die Sache noch hinauszuzögern? Schon hatte ich den metallenen Blutgeschmack auf der Zunge, und Bill stöhnte. Seine Hände glitten meinen Rücken hinunter und noch tiefer; seine Finger fanden mich ...

Ich hielt vor Schreck die Luft an.

„Trink“, befahl er rauh, und ich saugte kräftig. Bill stöhnte lauter, tiefer, und preßte sich an mich. Da durchfuhr mich eine freudige, verrückte kleine Welle, und ich hängte mich wie eine Klette an ihn, damit er in mich eindringen konnte. Seine Hände umklammerten meine Hüfte; er bewegte sich in mir, und ich trank. Ich trank und sah Visionen, Bilder, alle vor einem dunklen Hintergrund, sah weiße Dinge aus der Erde auftauchen und auf die Jagd gehen, spürte die Erregung eines schnellen Laufs durch die Wälder, die Erregung, wenn die Beute dicht vor einem läuft und keucht, Erregung, die aus der Angst der Beute wächst, aus der Verfolgung, wenn die Beine rennen und laufen, wenn man das Blut in den Venen der Beute pulsieren hört...

Bill stieß tief in der Kehle einen klagenden Laut aus und ergoß sich in mir. Ich hob den Kopf von seinem Hals, und eine dunkle Welle des Entzückens trug mich hinaus auf die offene See.

Eine ziemlich exotische Sache für eine telepathische Kellnerin aus dem nördlichen Louisiana.