Kapitel 7

In der nächsten Nacht hatten Bill und ich eine Unterhaltung, die mich sehr mitnahm. Wir lagen in seinem Bett, in seinem riesigen Bett mit dem geschnitzten Kopfteil und der brandneuen, hochmodernen Latexmatratze. Bills Bettwäsche war geblümt wie die Tapete, und ich erinnere mich daran, daß ich mich fragte, ob er sein Eigentum so gern mit Blumen bedruckt sah, weil er richtige Blumen nicht mehr sehen konnte oder zumindest nicht so, wie man sie eigentlich sehen soll, bei Tageslicht nämlich.

Bill lag neben mir auf der Seite und sah auf mich herab. Wir waren im Kino gewesen. Bill interessierte sich leidenschaftlich für Filme, in denen Außerirdische die Hauptrolle spielten; vielleicht fühlte er sich diesen Kreaturen aus anderen Zeiten und Welten verwandt. An diesem Abend hatten wir einen recht blutrünstigen Film gesehen, mit sehr unattraktiven Außerirdischen, die eklig und mordlüstern gewesen waren. Darüber hatte sich Bill, während er mich zum Essen ausführte und auch noch auf dem Nachhauseweg, lang und breit beschwert. Ich war froh gewesen, als er vorschlug, sein neues Bett auszuprobieren.

Ich war die erste, die mit ihm darin lag.

Er sah mich an, wie er es, das begriff ich allmählich, gern tat. Vielleicht hörte er meinem Herzschlag zu, denn er hörte Dinge, die ich nicht hören konnte. Vielleicht sah er auch, wie mein Puls ging, denn er sah auch Dinge, die ich nicht sehen konnte. Unsere Unterhaltung drehte sich mittlerweile nicht mehr um den Film, sondern um die bevorstehenden Gemeinderatswahlen. Bill wollte sich in die Wählerliste eintragen lassen und Briefwahl beantragen. Dann landeten wir bei Kindheitserinnerungen. Mir war inzwischen klar geworden, daß Bill verzweifelt versuchte, sich daran zu erinnern, wie es gewesen war, eine ganz normale Person zu sein.

„Hast du mit deinem Bruder je Doktorspiele gespielt?“ fragte er. „Heute sagt man ja, das sei normal, aber ich werde nie vergessen, wie meine Mutter meinen Bruder Robert windelweich prügelte, als sie ihn mit meiner Schwester Sarah im Gebüsch erwischte.“

„Nein , antwortete ich auf seine Frage, wobei ich mich bemühte, beiläufig zu klingen. Aber ich schaffte es nicht, auch noch entspannt und unbeteiligt auszusehen, zumal sich in meinem Magen ein Angstkloß zusammenballte.

„Sookie, du sagst nicht die Wahrheit.“

„Doch.“ Starr hielt ich meinen Blick auf Bills Kinn gerichtet und hoffte, mir würde einfallen, wie sich das Thema wechseln ließe. Aber Bill ließ nun einmal nicht so leicht locker.

„Mit deinem Bruder also nicht. Mit wem!“

„Darüber will ich nicht reden.“ Meine Hände ballten sich zu Fäusten. Ich spürte, wie ich mich mehr und mehr vor allem verschloß.

Bill jedoch konnte es absolut nicht leiden, wenn man ihm auswich. Er war es gewöhnt, daß ihm die Leute alles erzählten, was er zu wissen begehrte, denn in der Regel konnte er sie bezirzen, und dann bekam er, was er wollte.

„Erzähl's mir, Sookie“, schmeichelte er mit sanfter Stimme, seine Augen tiefe schwarze Seen voller Neugierde. Er fuhr mir mit dem Fingernagel den Bauch entlang, und ich zitterte.

„Ich hatte einen ... bösen Onkel“, sagte ich zögernd, und sofort verzogen sich meine Lippen zum altvertrauten angespannten Lächeln.

Bill zog seine wunderschön geschwungenen dunklen Brauen hoch - der Ausdruck war ihm offenbar unbekannt.

So distanziert ich irgend konnte, gab ich eine Erklärung ab. „Ein böser Onkel ist ein männlicher Verwandter, der seine ... der die Kinder der Familie belästigt.“

Bills Augen fingen an zu funkeln, und er schluckte; ich konnte seinen Adamsapfel auf und ab hüpfen sehen. Ich grinste, wobei meine Hände unaufhörlich an meinem Haar herumstrichen. Ich konnte einfach nicht damit aufhören.

„Das ist dir widerfahren? Wie alt warst du?“

„Es fing an, als ich noch ganz klein war.“ Ich hörte, wie mein Atem schneller ging und mein Herz rascher klopfte - Anzeichen der Panik, die mich immer überkam, wenn ich mich an diesen Teil meiner Geschichte erinnerte. „Ich glaube, ich war fünf“, plapperte ich, und dann wurde ich immer schneller und schneller, „und er hat mich auch nie richtig - äh - penetriert, wie du ja festgestellt hast, aber er hat andere Sachen gemacht.“ Nun zitterten meine Hände, die ich vor mein Gesicht hielt, um mich vor Bills Blicken zu schützen. „Das Schlimmste, Bill, das Schlimmste“, nun konnte ich gar nicht mehr aufhören zu reden, „das Schlimmste war, daß ich wußte, was er tun würde, jedes Mal wenn er zu Besuch kam, wußte ich es, denn ich konnte doch seine Gedanken lesen, und es gab nichts, was ich hätte tun können, um ihn aufzuhalten.“ Ich schlug mir die Hände vor den Mund - ich wollte mich selbst zum Schweigen bringen. Ich durfte nicht darüber reden! Ich rollte mich auf den Bauch, um mich in den Kissen zu verbergen, ich machte meinen Körper ganz steif, ich bewegte mich nicht mehr.

Nach geraumer Zeit spürte ich Bills kühle Hand auf der Schulter. Sie lag einfach da. Sie spendete Trost.

„Das passierte vor dem Tod deiner Eltern“, sagte er dann mit der ihm eigenen ruhigen Stimme. Ich konnte ihn immer noch nicht ansehen. „Ja.“

„Du hast es deiner Mama erzählt? Sie hat nichts unternommen?“

„Nein. Sie dachte, ich hätte eine schmutzige Phantasie. Oder mir sei in der Leihbücherei ein falsches Buch in die Hände gefallen, und ich hätte etwas mitbekommen, was ich ihrer Meinung nach noch nicht hätte erfahren dürfen.“ Wie gut ich mich an das Gesicht meiner Mutter erinnerte, an das Haar, das es einrahmte, zwei Schattierungen dunkler als mein Mittelblond. Daran, wie sich ihr Gesicht vor Ekel verzogen hatte. Meine Mutter hatte, da sie aus einer erzkonservativen Familie stammte, jegliche offene Zurschaustellung von Zuneigung sowie die Erörterung von Themen, die sie als unzüchtig empfand, schlichtweg abgelehnt.

„Ich wundere mich, daß es eigentlich immer aussah, als seien sie und mein Vater glücklich miteinander“, erzählte ich Bill. „Sie waren so verschieden.“ Dann wurde mir bewußt, wie lächerlich die Aussage war, gerade aus meinem Munde. Ich drehte mich auf die Seite. „Als wären wir nicht verschieden!“ sagte ich und versuchte zu lächeln. Bill verzog keine Miene, aber ich konnte sehen, daß ein Muskel an seinem Hals zuckte.

„Hast du mit deinem Vater darüber gesprochen?“

„Ja, kurz bevor er starb. Als ich klein war, war es mir zu peinlich, mit ihm darüber zu reden, und meine Mutter glaubte mir ja nicht. Aber ich konnte es nicht mehr ertragen. Ich wußte genau, ich würde meinen Großonkel jeden Monat mindestens zwei Wochenenden zu Gesicht bekommen, denn so oft kam er uns besuchen.“

„Er lebt noch?“

„Bartlett? Ja. Er war Omas Bruder, und Oma war die Mutter meines Vaters. Bartlett lebt in Shreveport. Nachdem Jason und ich dann bei meiner Oma eingezogen waren, nach dem Tod meiner Eltern, habe ich mich versteckt, als Onkel Bartlett das erste Mal zu Besuch kam. Als meine Oma mich gefunden hatte, fragte sie mich, warum ich mich versteckt hätte, und ich sagte es ihr. Sie hat mir geglaubt.“ Auch jetzt wieder stand mir lebhaft vor Augen, wie ungeheuer erleichtert ich an diesem Tag gewesen war, wie wunderschön die Stimme meiner Großmutter geklungen hatte, als sie mir versprach, ich würde ihren Bruder nie wieder sehen müssen, er würde uns nie, nie wieder besuchen.

Er besuchte uns wirklich nie wieder. Oma trennte sich von ihrem eigenen Bruder, um mich zu schützen. Er hatte es nämlich auch bei Linda versucht, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war, bei Omas Tochter. Diesen Vorfall hatte meine Großmutter in den hintersten Winkel ihres Gedächtnisses verbannt, wo sie ihn als Mißverständnis abgelegt hatte. Nachdem das mit Linda passiert war, so hatte sie mir später erzählt, mochte sie ihren Bruder nie wieder mit dem Kind allein lassen, aber gleichzeitig hatte sie sich nicht wirklich eingestehen können, daß er die Geschlechtsteile ihres kleinen Mädchens angefaßt hatte.

„Also ist dein Onkel ein Stackhouse?“

„Aber nein! Oma war eine Stackhouse, weil sie einen Stackhouse geheiratet hatte. Vorher war sie eine Hale.“ Ein wenig wunderte es mich schon, daß ich Bill das alles so haarklein erklären mußte. Wenn auch Vampir, so war er doch Südstaatler, hätte also durchaus in der Lage sein müssen, eine simple Familienkonstruktion nachzuvollziehen.

Bill sah aus, als sei er in Gedanken meilenweit von mir entfernt. Ich hatte ihm wohl mit meiner finsteren, häßlichen kleinen Geschichte den Spaß verdorben. Mir hatte sie das Blut zu Eis gefrieren lassen, soviel war auf jeden Fall klar.

„Ich glaube, ich gehe“, sagte ich, glitt aus dem Bett und bückte mich, um meine Kleider aufzusammeln. So schnell, daß ich es gar nicht hatte sehen können, war auch Bill aus dem Bett gesprungen und nahm mir die Kleider wieder aus der Hand.

„Verlaß mich jetzt nicht“, bat er. „Bleib.“

„Ich hab' heute nah am Wasser gebaut.“ Zwei Tränen rannen mir über die Wangen, und ich lächelte Bill krampfhaft an.

Der wischte mir mit den Fingern sanft die Tränen aus dem Gesicht und folgte mit der Zunge deren Spuren.

„Bleib bis zum Morgengrauen bei mir“, sagte er.

„Aber da mußt du doch schon längst in deinem Schlupfloch sein“.

„Wo muß ich sein?“

Da wo du den Tag verbringst - wo immer das sein mag. Ich will gar nicht wissen, wo es ist!“ fügte ich hinzu und hob rasch beide Hände, um dies eindeutig klarzustellen. „Aber mußt du da nicht sein, ehe es auch nur ein klitzekleines bißchen hell wird?“

„ Ach so“, sagte er. „Keine Sorge, das kriege ich schon mit. Ich spüre es kommen.“

„Verschlafen könntest du also nicht?“

„Nein.“

„Dann ist gut. Wirst du mich schlafen lassen?“

„Natürlich werde ich das“, sagte er mit einer höflichen Verbeugung, die aber ein wenig daneben wirkte, weil Bill ja nackt war. „Bald.“

Dann, als ich wieder im Bett lag und meine Arme nach ihm ausstreckte, fügte er hinzu: „Irgendwann einmal auf jeden Fall.“

* * *

Es kam genau so, wie Bill gesagt hatte: Als ich am nächsten Morgen erwachte, lag ich allein in seinem Bett. Ich blieb liegen und dachte nach. Auch vorher schon war mir in Bezug auf mein Verhältnis mit diesem Vampir der eine oder andere störende Hintergedanke durch den Kopf geschossen, aber nun schienen sich alle Mängel, die so eine Beziehung mit sich bringt, verschworen zu haben. Sie hüpften aus ihren Schlupflöchern und belegten mein Denken mit Beschlag.

Ich würde Bill nie bei Tage sehen. Ich würde ihm nie das Frühstück richten, mich nie mit ihm zum Mittagessen verabreden können. (Er ertrug es, mich essen zu sehen, aber besonders scharf fand er den Anblick nicht, und ich mußte mir hinterher jedesmal gründlich die Zähne putzen - wobei das ja eine sinnvolle Sache ist.)

Ich würde nie ein Kind von Bill haben, was ja ganz nett war, wenn man an die Verhütungsfrage dachte, aber ...

Ich würde Bill nie im Büro anrufen und ihn bitten, auf dem Heimweg rasch einen Liter Milch zu kaufen. Er würde nie dem Rotary Club beitreten, nie während der Berufsfindungswoche in der Oberschule einen Vortrag halten, nie die Baseballmannschaft der Grundschule trainieren.

Er würde nie mit mir zur Kirche gehen.

Während ich hier hellwach im Bett lag - und den Vögeln lauschte, die ihren Morgengesang angestimmt hatten, den Lastwagen, die lautstark die Straße entlang rumpelten, während überall in Bon Temps Menschen aufstanden und ihre Kaffeemaschinen einschalteten, ihre Zeitungen von der Veranda holten und anfingen, ihren Tag zu planen - während all dies geschah, lag das Wesen, das ich liebte, irgendwo in einem Erdloch und war nach allem menschlichen Dafürhalten vorübergehend tot.

Als ich an diesem Punkt angelangt war, ging es mir so schlecht, daß ich krampfhaft an etwas Aufmunterndes denken mußte, während ich mich im Badezimmer ein wenig wusch und mich dann anzog.

Bill schien sich wirklich und ehrlich etwas aus mir zu machen. Es war irgendwie nett - wenn auch etwas beunruhigend -, nicht genau zu wissen, wie viel.

Der Sex mit Bill war absolut phantastisch. Ich hätte mir nie träumen lassen, daß es so wunderbar sein würde.

Niemand würde es wagen, mir etwas anzutun, solange ich Bills Freundin war. Jede einzelne Hand, die mir ansonsten schon mal einen unwillkommenen kleinen Klaps verpaßt hatte, lag jetzt brav im Schoße ihres Besitzers und rührte sich nicht. Wenn, wer auch immer meine Großmutter ermordet hatte, dies getan hatte, weil er von ihr überrascht worden war, als er auf mich wartete, dann würde dieser jemand nicht noch einmal die Gelegenheit erhalten, einen Mordanschlag auf mich zu versuchen.

Bei Bill konnte ich mich voll und ganz entspannen, ein Luxus, der so kostbar war, daß ich seinen Wert gar nicht hätte benennen können. Meine eigenen Gedanken durften hierhin und dorthin schweifen, ganz wie sie es wollten, und die seinen würde ich nur zu hören bekommen, wenn er sie mir anvertraute.

Bei allem, was mir in der Beziehung mit Bill fehlte: Das zumindest hatte ich.

Ich befand mich immer noch in dieser sehr nachdenklichen Stimmung, als ich Bills Treppenstufen hinab zu meinem Wagen ging.

Ich war erstaunt, dort unten am Fuß der Treppe Jasons Pick-up stehen zu sehen.

Mein Bruder hatte sich für ein Treffen mit mir keinen günstigen Moment gewählt. Vorsichtig trat ich an sein Wagenfenster.

„Es ist also wahr“, begrüßte er mich. Dann reichte er mir einen verschlossenen Styroporbecher Kaffee aus dem Grabbit Kwick. „Steig ein“, bat er. „Setz dich zu mir.“

Erfreut über den Kaffee, aber insgesamt ziemlich auf der Hut kletterte ich zu ihm in die Fahrerkabine. Dann ließ ich mein Visier herunter. Das glitt nur langsam an Ort und Stelle und schmerzte, als zwänge man sich mühsam in einen Hüfthalter, der von Anfang an zu eng gewesen war.

„Wenn man sich ansieht, wie ich die letzten Jahre gelebt habe, kann ich dazu wohl nichts sagen“, bemerkte Jason, als ich nun neben ihm saß. „Soweit ich weiß, ist er dein erster Liebhaber, nicht?“

Ich nickte.

„Behandelt er dich gut?“

Ich nickte noch einmal.

„Ich muß dir etwas sagen.“

„Okay?“

„Onkel Bartlett ist letzte Nacht ermordet worden.“

Ich starrte meinen Bruder an, und zwischen uns stieg der Dampf aus dem Kaffeebecher hoch, dessen Deckel ich gerade abgenommen hatte. „Er ist tot“, sagte ich und versuchte, das wirklich richtig zu verstehen. Ich hatte so lange und so hart daran gearbeitet, nie an Bartlett zu denken. Dann hatte ich ein einziges Mal an ihn gedacht, und schon war er am nächsten Tag tot. „Ja.“

„Mann!“ Ich sah aus dem Fenster auf das rosige Licht am Horizont. Mich überkam ein ungeheures Gefühl von - Freiheit. Der einzige, der sich außer mir noch daran erinnerte, der einzige, dem es Spaß gemacht hatte, der bis zum Schluß darauf bestanden hatte, ich hätte die kranken Dinge, die er so befriedigend fand, selbst initiiert und auch fortsetzen wollen ... war tot. Ich holte tief Luft.

„Ich hoffe, er schmort in der Hölle“, sagte ich. „Ich hoffe, jedes Mal, wenn er daran denkt, was er mir angetan hat, sticht ihm ein Dämon die Mistgabel in den Hintern.“

„Mein Gott, Sookie!“

„Mit dir hat er schließlich auch nie rumgemacht!“

„Da kannst du Gift drauf nehmen!“

„Was willst du damit andeuten?“

„Nichts, Sookie. Aber außer dir hat er meiner Meinung nach nie jemanden belästigt.“

„Das ist Schwachsinn! Er hat auch Tante Linda belästigt.“

Jasons Gesicht wirkte vor Schreck ganz ausdruckslos. Endlich war es mir gelungen, wirklich zu Jason vorzudringen. „Hat Oma dir das erzählt?“ „Ja.“

„Mir gegenüber hat sie nie etwas erwähnt.“

„Oma wußte, wie hart es für dich war, daß du ihn nicht sehen durftest. Sie wußte, daß du ihn gern hattest. Aber sie durfte dich nicht mit ihm allein lassen. Immerhin konnte sie nicht hundertprozentig sicher sein, daß er es wirklich nur auf Mädchen abgesehen hatte.“

„Ich habe ihn in den letzten Jahren ein paarmal besucht.“

„Du hast ihn besucht?“ Das war neu für mich. Das wäre auch für Oma neu gewesen.

„Er war ein alter Mann. Er war sehr krank. Er hatte Prostatabeschwerden und war sehr schwach. Beim Gehen brauchte er eine Gehhilfe.“

„Die hat ihn wahrscheinlich ziemlich behindert, wenn er hinter den Fünfjährigen her war!“

„Komm doch endlich drüber weg!“

„Gerne! Wenn ich nur könnte.“

Wir starrten einander an, und zwischen uns lag die ganze Breite der Vorderbank in der Fahrerkabine.

„Was ist denn passiert?“ fragte ich schließlich, obwohl ich es eigentlich gar nicht wirklich wissen wollte.

„Jemand hat letzte Nacht bei ihm eingebrochen.“

„Ja und?“

„Der Einbrecher hat ihm das Genick gebrochen. Ihn die Treppe hinuntergeworfen.“

„Gut. Nun weiß ich Bescheid. Ich fahre jetzt heim. Ich muß duschen und mich für die Arbeit fertig machen.“

„Mehr hast du zu der Sache nicht zu sagen?“

„Was gibt es da denn sonst noch zu sagen?“

„Willst du nicht wissen, wann die Beerdigung ist?“

„Nein.“

„Willst du nicht wissen, was in seinem Testament steht?“

„Nein.“

Jason hob die Hände. „Also gut“, sagte er, als hätte er sich endlos mit mir gestritten und wäre nun endlich zu der Erkenntnis gelangt, daß ich nicht nachgeben würde.

„Was sonst? Gibt es sonst noch etwas?“ wollte ich wissen.

„Nein. Nur daß dein Großonkel gestorben ist. Ich dachte, das würde reichen.“

„Du hast recht!“ sagte ich, öffnete die Beifahrertür des Pick-up und glitt nach draußen. „Es hat gereicht.“ Ich prostete ihm mit dem Kaffeebecher zu und sah ihm in die Augen. „Vielen Dank für den Kaffee, Bruderherz.“

* * *

Erst als ich schon auf der Arbeit war, fiel bei mir der Groschen.

Ich trocknete gerade ein Glas ab, ohne an Onkel Bartlett zu denken, und plötzlich waren meine Finger völlig kraftlos.

„Jesus Christus, Hirte von Judäa!“ sagte ich und starrte fassungslos auf die Scherben zu meinen Füßen. „Bill hat ihn umbringen lassen.“

* * *

Ich weiß nicht, woher ich die Gewißheit nahm: Sobald mir diese Idee in den Kopf gekommen war, wußte ich, daß es stimmte. Vielleicht hatte ich Bill im Halbschlaf das Telefon bedienen hören, vielleicht hatte Bills Miene am Ende meiner Erzählung über Onkel Bartlett in mir ein unhörbares Warnsignal ausgelöst.

Ich fragte mich, ob Bill wohl den anderen Vampir mit Geld entlohnen würde oder mit einer gleichwertigen Gegenleistung.

Wie betäubt stand ich den Arbeitstag durch. Was mir im Kopf herumging, konnte ich niemandem anvertrauen, konnte noch nicht einmal sagen, mir sei übel, ohne daß gleich alle gefragt hätten, was denn los sei. Also sagte ich nichts; ich arbeitete nur. Ich blendete alles aus bis auf die Bestellung, die ich als nächstes servieren sollte. Ich fuhr nach Hause und versuchte, diesen Zustand der Betäubung aufrecht zu erhalten, aber sobald ich allein war, mußte ich den Tatsachen ins Auge sehen.

Da flippte ich aus.

Ich hatte ja gewußt, daß Bill in seinem langen, langen Leben bestimmt ein oder zwei Menschen umgebracht hatte. Als er ein junger Vampir gewesen war. Damals, als er noch viel Blut gebraucht hatte, ehe er seine Bedürfnisse so weit im Griff hatte, daß ihm ein Schlückchen hier, ein Mund voll da reichten, daß er trinken konnte, ohne zu töten ... er hatte mir ja selbst erzählt, daß es in jener Zeit ein oder zwei Todesfälle gegeben hatte, und er hatte die Rattrays umgebracht. Aber die hätten mich, wäre Bill nicht dazugekommen, in jener Nacht auf dem Parkplatz des Merlottes fertiggemacht, daran konnte kein Zweifel bestehen. Also war ich natürlich geneigt, ihm diese Tode zu verzeihen.

Was war denn dann so anders an dem Mord an Bartlett? Auch er hatte mir Schaden zugefügt, schweren Schaden. Hatte eine ohnehin schon schwere Kindheit zum wirklichen Alptraum werden lassen. War ich denn nicht erleichtert, ja sogar erfreut gewesen zu hören, daß man ihn tot aufgefunden hatte? Roch denn da nicht mein jetziges Entsetzen über Bills Intervention nach Heuchelei der schlimmsten Sorte?

Doch. Oder nicht?

Müde und unglaublich verwirrt setzte ich mich auf meine Vordertreppe und wartete in der Dunkelheit, die Arme um meine Knie geschlungen. Als Bill eintraf, so rasch und leise, daß ich ihn gar nicht hatte kommen hören, sangen die Grillen im hohen Gras. Gerade hatte ich noch allein in der warmen Nacht gesessen, da hockte auch schon Bill neben mir auf der Treppe.

Er legte den Arm um mich. „Was willst du heute nacht unternehmen, Sookie?“

„Ach Bill!“ Vor lauter Verzweiflung klang meine Stimme ganz schwer.

Er ließ den Arm sinken. Ich sah ihn nicht an, hätte seine Gesichtszüge im Dunkeln ohnehin nicht erkannt.

„Das hättest du nicht tun sollen.“

Er gab sich nicht die geringste Mühe, seine Tat zu leugnen.

„Ich bin froh, daß er tot ist, Bill, aber ich kann nicht... “

„Glaubst du, ich würde dir je wehtun, Sookie?“ Bills Stimme klang ruhig und fast wie ein Rascheln; wie Schritte im trockenen Gras.

„Nein. Es ist vielleicht verwunderlich, aber ich glaube wirklich nicht, daß du mir je etwas antun würdest, selbst wenn du sehr wütend auf mich wärst.“

„Dann ... “

„Bill, es ist so, als hätte ich ein Verhältnis mit dem Paten! Ich habe jetzt Angst, in deiner Gegenwart irgend etwas zu sagen. Ich bin nicht daran gewöhnt, daß meine Probleme auf diese Art und Weise gelöst werden.“

„Ich liebe dich.“

Das hatte er bisher noch nie gesagt, und auch jetzt sagte er es so leise und flüsternd, daß ich fast hätte meinen können, ich hätte mir das alles nur eingebildet.

„Tust du das wirklich?“ fragte ich, ohne das Gesicht zu heben, das Kinn immer noch auf den Knien. „Ja.“

„Dann mußt du auch dulden, daß ich mein Leben wirklich lebe, Bill. Du kannst es nicht einfach für mich verändern.“

„Als die Rattrays dabei waren, dich zusammenzuschlagen, hattest du nichts dagegen, daß ich es dir verändere.“

„In dem Punkt muß ich dir recht geben. Aber ich kann nicht zulassen, daß du sozusagen mein ganzes Alltagsleben neu stimmst wie ein Klavierstimmer. Ich werde immer mal wieder auf irgendwen wütend sein, und andere Menschen werden wütend auf mich sein. Ich kann nicht ständig in Angst und Sorge leben, die würden womöglich als Nächstes ermordet. So kann ich nicht leben, Schatz. Verstehst du das?“

„Schatz?“ wiederholte er.

„Ich liebe dich“, sagte ich. „Warum, weiß ich auch nicht, aber so ist es. Ich will dir all diese kitschigen Namen geben, die man Leuten gibt, wenn man sie liebt. Ganz egal, wie doof das klingt, wo du doch Vampir bist. Ich will dir sagen, daß du mein Baby bist, daß ich dich lieben werde, bis wir beide alt und grau sind - auch wenn das ja gar nicht geschehen wird. Ich will dir sagen, daß ich weiß, du wirst mir immer treu sein - und auch das würde nicht stimmen, oder? Immer, wenn ich versuche, dir zu sagen, daß ich dich liebe, renne ich gegen eine Mauer!“ Damit verstummte ich.

„Die Krise ist schneller da, als ich gedacht hatte“, kam Bills Stimme aus der Dunkelheit. Die Grillen hatten ihr Konzert wieder aufgenommen, und ich hörte ihnen eine ganze Zeitlang schweigend zu.

„Ja“, sagte ich dann.

„Was jetzt, Sookie?“ „Ich brauche ein bißchen Zeit.“

„Bis ...“

„Bis ich entscheiden kann, ob die Liebe all diesen Kummer wert ist.“

„Sookie, wenn du wüßtest, wie anders du schmeckst, wie sehr ich mich danach sehne, dich zu beschützen ...“

An Bills Stimme konnte ich hören, daß er mit diesen Worten seinen überaus zarten Gefühlen für mich Ausdruck geben wollte. „Merkwürdig!“ sagte ich. „Ich empfinde für dich dasselbe. Aber ich muß hier, an diesem Ort leben, und ich muß mit mir selbst leben. Ich muß mir über ein paar Regeln klarwerden, die im Umgang zwischen uns gelten sollten.“

„Wie machen wir jetzt also weiter?“

„Ich denke nach. Du kannst tun, was du getan hast, ehe du mich kennenlerntest.“

„Da habe ich versucht herauszufinden, ob ich wirklich bürgerlich würde leben können. Habe gegrübelt, bei wem ich würde trinken können, ob ich irgendwann würde aufhören können, das vermaledeite Kunstblut zu trinken.“

„Ich weiß, du wirst ... bei jemand anderem trinken.“ Ich versuchte, mir so gut es ging nichts anmerken zu lassen. „Bitte, trink bei niemandem hier aus der Stadt, bei niemandem, dem ich nicht aus dem Weg gehen kann. Das könnte ich nicht ertragen. Ich weiß, es ist nicht fair, das von dir zu verlangen, aber ich verlange es trotzdem.“

„Wenn du mit niemand anderem ausgehst, mit niemand anderem ins Bett gehst.“

„Das werde ich nicht.“ Es schien mir nicht allzuschwer, dies zu versprechen.

„Macht es dir etwas aus, wenn ich ins Merlottes komme?“

„Nein. Ich werde niemandem sagen, daß wir nicht zusammen sind. Ich werde nicht darüber reden.“

Er beugte sich zu mir, und ich spürte den Druck an meinem Arm, als sein Körper sich gegen meinen lehnte.

„Küß mich“, sagte er.

Ich hob den Kopf und wandte ihn Bill zu, und unsere Lippen trafen sich. Es war ein blaues Feuer, kein orangerotes, kein hitziges: ein blaues. Nach einer knappen Sekunde schlossen sich Bills Arme um mich. Nach einer weiteren schlossen sich meine um Bill. Ich fühlte mich matt als hätte ich keinen einzigen Knochen im Leibe. Ich seufzte tief auf und riß mich los.

„Ach Bill, das dürfen wir nicht!“

Ich hörte, wie er tief Luft holte. „Natürlich nicht, wir trennen uns ja gerade“, sagte er dann ganz ruhig, hörte sich aber nicht so an, als glaube er seine eigenen Worte. Als glaube er, daß ich es ernst meinte.

„Da sollten wir uns nicht küssen. Noch weniger sollte ich dich jetzt hier auf der Veranda flachlegen und dich ficken, bis dir Hören und Sehen vergeht.“

Da schlotterten mir wirklich und wahrhaftig die Knie. Die rüden Worte, so absichtlich hingeworfen in dieser kühlen, süßen Stimme - sie schürten nur das Verlangen, das ohnehin heftig in mir brodelte. Ich mußte alle Kraft aufbieten, jede einzelne kleine Unze Selbstüberwindung, um aufstehen und ins Haus gehen zu können.

Aber genau das tat ich.

* * *

In der folgenden Woche richtete ich mich in einem Leben ohne meine Oma und ohne Bill ein. Ich arbeitete nachts, und ich arbeitete viel. Zum ersten Mal in meinem Leben achtete ich auf Dinge wie Haustürschlösser und Sicherheitsvorkehrungen. Bei uns in der Gegend lief ein Mörder frei herum, und ich hatte meinen mächtigen Beschützer nicht mehr an meiner Seite. Ich dachte darüber nach, ob ich mir einen Hund anschaffen sollte, konnte mich aber für keine Rasse entscheiden. So war Tina, meine Katze, mein einziger Schutz - zumindest reagierte sie, sobald jemand unserem Haus allzunahe kam.

Ab und an erhielt ich Anrufe vom Anwalt meiner Oma, der mich informierte, welche Fortschritte die Vollstreckung ihres Testaments machte. Auch von Bartletts Anwalt erhielt ich einen Anruf. Mein Großonkel hatte mir 20.000 Dollar hinterlassen - eine erhebliche Summe für ihn. Fast hätte ich das Legat zurückgewiesen. Aber dann dachte ich noch einmal gründlich nach und nahm es an. Ich spendete das Geld dem örtlichen sozialpsychologischen Zentrum, mit der Auflage, es für die Behandlung von Kindern zu verwenden, die Opfer von sexueller Gewalt und Vergewaltigung geworden waren.

Die Leute im Zentrum freuten sich über das Geld.

Ich schluckte Vitamintabletten, denn ich war ein wenig blutarm geworden. Ich nahm viel Flüssigkeit zu mir und ernährte mich eiweißreich.

Ich aß soviel Knoblauch, wie ich Appetit darauf hatte, etwas, was Bill nicht hatte tolerieren können. Der hatte mich eines Nachts, als ich ein Knoblauchbrot mit Sauce Bolognese gegessen hatte, sogar beschuldigt, der Knoblauchgeruch käme mir schon zu den Poren heraus.

Dann schlief ich. Ich schlief und schlief. All die Nächte, in denen ich auch nach der Spätschicht noch mit Bill zusammen lange aufgeblieben war, hatten in mir ein starkes Nachholbedürfnis geweckt.

Nach zwei Tagen hatte ich mich körperlich wieder erholt. Ich fühlte mich sogar stärker als je zuvor, zumindest schien es mir so.

Ich fing an, wieder zu registrieren, was um mich herum vor sich ging.

Das erste, was ich mitbekam, war die Tatsache, daß die Leute bei uns wirklich sauer waren auf die Vampire, die in Monroe nisteten. Diane, Malcolm und Liam trieben sich in allen Kneipen der Gegend herum und legten es offenbar darauf an, die Bemühungen anderer Vampire, die ein bürgerliches Leben anstrebten, gründlich zunichte zu machen. Sie verhielten sich unmöglich, stießen alle vor den Kopf. Im Vergleich zum Treiben dieser drei wirkten die Eskapaden der Studenten der technischen Hochschule Louisiana wie Kinderkram.

Die drei schienen nie auch nur im entferntesten auf die Idee zu kommen, sie könnten sich durch ihr Verhalten selbst gefährden. Ihnen war die Freiheit zu Kopf gestiegen. Nun, wo sie sich nicht länger in ihren Särgen verstecken mußten, sondern völlig legal leben durften, hatten sie alle Fesseln abgestreift und jegliche Vor- oder Umsicht in den Wind geschrieben. Malcolm nippte an einem Tresenkellner in Bogaloosas. Diane tanzte nackt in Farmerville. Liam hatte gleichzeitig eine Beziehung mit einer Minderjährigen aus Shongaloo und mit ihrer Mutter angefangen. Er trank von beiden. Er löschte bei keiner der Frauen die Erinnerung daran.

Eines Abends im Merlottes unterhielt sich Rene mit Mike Spencer, dem Beerdigungsunternehmer, und als ich an ihrem Tisch vorbeikam, unterbrachen die beiden ihr Gespräch. Das weckte natürlich sofort meine Aufmerksamkeit. Also hörte ich mit, was Mike dachte. Offenbar planten ein paar Männer aus unserer Gegend, die Vampire aus Monroe auszuräuchern.

Ich wußte nicht, wie ich mich verhalten sollte. Die drei waren keine Freunde Bills, gehörten aber doch irgendwie zur gleichen - na ja: Zunft wie er. Aber mir waren Diane, Malcolm und Liam ebenso zuwider wie allen anderen auch. Andererseits - Mann, daß es auch immer ein andererseits geben muß! - ging es mir gegen den Strich, Kenntnis von geplanten Verbrechen zu haben und einfach gar nichts zu tun.

Vielleicht hatte aus Mike ja nur der Suff gesprochen. Um sicherzugehen, tauchte ich in ein paar andere Köpfe um mich herum und war entsetzt, in wie vielen von ihnen ich den Plan fand, das Nest der Vampire niederzubrennen. Aber ich konnte nicht zurückverfolgen, wo der Plan seinen Ursprung hatte. Es sah ganz so aus, als sei das Gift in einem bestimmten Gehirn entstanden, um dann alle anderen anzustecken. Nur: in welchem Hirn?

Dafür, daß Maudette und Dawn und meine Großmutter von einem Vampir umgebracht worden waren, gab es keine Beweise, nicht einen einzigen. Es waren sogar Gerüchte im Umlauf, denen zufolge der Autopsiebericht des Leichenbeschauers genau das Gegenteil belegte. Aber die drei Vampire führten sich derart unmöglich auf, daß die Leute ihnen einfach für irgend etwas die Schuld in die Schuhe schieben wollten, daß sie sie loswerden wollten. Da sowohl Maudette als auch Dawn von Vampiren gebissen worden waren und in Vampirbars verkehrt hatten, brachten die Leute diese beiden Tatsachen einfach mit der Ermordung der Frauen zusammen und zimmerten sich daraus eine Verurteilung.

In der siebten Nacht nach unserer Trennung kam Bill ins Merlottes. Überraschend tauchte er an seinem Tisch auf, nicht allein, sondern in Begleitung eines etwa fünfzehn Jahre alten Jungen. Auch ein Vampir.

„Sookie, das ist Harlen Ives aus Minneapolis“, begrüßte mich Bill, als sei es völlig normal und an der Tagesordnung, daß er mir einen anderen Vampir vorstellte.

„Harlen!“ nickte ich. „Sehr erfreut.“

„Sookie.“ Auch der Junge senkte kurz den Kopf.

„Harlen ist auf der Durchreise von Minnesota nach New Orleans“, erklärte Bill und hörte sich so an, als sei er ordentlich zum Plaudern aufgelegt.

„Ich fahre in Urlaub“, ergänzte Harlen. „Seit Jahren träume ich von einem Besuch in New Orleans. Für uns ist die Stadt ja das reinste Mekka, müssen Sie wissen.“

„Aha?“ sagte ich und bemühte mich, ganz beiläufig zu klingen.

„Man kann diese Telefonnummer anrufen“, führte Harlen weiter aus. „Die bringen einen tagsüber entweder bei einem der Bewohner der Stadt unter, in der man übernachten will, oder man kann einen ...“

„Sarg mieten?“ fragte ich munter.

„Nun ja, genau: einen Sarg.“

„Wie schön!“ Ich warf Harlen mein strahlendstes Lächeln zu. „Was darf ich Ihnen bringen? Ich glaube, Sam hat seine Blutvorräte aufgefüllt, Bill. Willst du ein Glas? Neuerdings führen wir auch A negativ. Wir haben aber auch O positiv auf Lager.“

„Ach, ich glaube, wir nehmen A negativ“, sagte Bill, nachdem er sich wortlos mit Harlen verständigt hatte.

„Kommt sofort!“ Ich stürmte zum Kühlschrank hinter dem Tresen, fischte zwei Flaschen A negativ heraus, öffnete die Kronkorken und trug die Flaschen auf meinem Tablett an den Tisch der beiden. Die ganze Zeit lächelte ich, wie ich es immer tue.

„Wie geht es dir, Sookie?“ fragte Bill in seinem ganz normalen Ton, als ich die Flaschen mit jeweils einem kleinen Knall vor den beiden auf dem Tisch absetzte.

„Wunderbar, Bill“, verkündete ich strahlend. Am liebsten hätte ich die Flasche auf Bills Kopf zertrümmert. Harlen - also wirklich. Übernachtungsbesuch - wirklich!

„Harlen will später noch kurz bei Malcolm vorbei“, teilte Bill mir mit, als ich nach einiger Zeit wieder an den Tisch der beiden kam, um die leeren Flaschen einzusammeln und mich zu erkundigen, ob ich ihnen noch irgend etwas bringen könnte.

„Ich bin sicher, Malcolm wird über einen Besuch Harlens höchst erfreut sein“, sagte ich und versuchte, nicht so zickig zu klingen, wie mir zumute war.

„Es ist so toll, daß ich Bill habe kennenlernen dürfen!“ Harlen strahlte mich an, wobei er Fänge zeigte. Der Junge verstand sich zweifelsohne darauf, zickig zu sein. „Aber Malcolm! Malcolm ist eine Legende!“

„Paß auf!“ sagte ich zu Bill, und eigentlich wollte ich ihm erklären, in welcher Gefahr sich die drei in Monroe nistenden Vampire befanden. Aber ich dachte, die Dinge seien noch nicht so weit fortgeschritten, daß es zum Schlimmsten kommen konnte, und Klartext wollte ich schon allein deswegen nicht reden, weil neben Bill Harlen saß, mir mit babyblauen Augen zuzwinkerte und aussah wie ein halbwüchsiges Sexsymbol. „Im Moment sind die drei aus Monroe hier nicht gut angesehen“, fügte ich hinzu. Eine richtige Warnung war das aber nicht.

 Bill blickte mich verständnislos an. Ich machte auf dem Absatz kehrt und ging von dannen.

Das sollte ich später bereuen. Bitter bereuen.

* * *

Als Bill und Harlen gegangen waren, summte es in der Kneipe noch heftiger, und viele der Gespräche und Gedanken drehten sich um die Dinge, die ich aus den Köpfen Mikes und Renes erfahren hatte. Mir kam es vor, als hätte jemand ein Feuer entfacht und sorge nun dafür, daß es geschürt wurde. Aber ich war beim besten Willen nicht in der Lage, herauszufinden, wer das sein mochte, auch wenn ich breit gefächert Ausschau hielt, sowohl mental als auch physisch. Jason kam ins Lokal, und wir sagten Hallo zueinander, aber viel mehr auch nicht. Er hatte mir meine Reaktion auf den Tod von Onkel Bartlett noch nicht verziehen.

Er würde drüber wegkommen. Zumindest dachte er nicht daran, irgendwo ein Feuer zu entfachen, es sei denn, in Liz Barretts Bett. Liz war jünger als ich, hatte kurze braune Locken, große braune Augen und gab sich unerwartet vernünftig. Wenn ich die beiden zusammen sah, hatte ich schon manchmal gedacht, Jason könne in Liz vielleicht endlich jemanden gefunden haben, der es mit ihm aufnehmen konnte. Die beiden tranken einen Krug Bier und verabschiedeten sich. Danach mußte ich feststellen, daß der Zorn in der Kneipe sich noch gesteigert hatte und die Männer ernsthaft daran dachten, loszuziehen und etwas zu unternehmen.

Da fing ich an, mir Sorgen zu machen, große Sorgen.

Je weiter der Abend voranschritt, desto hektischer wurde die Stimmung in unserem Lokal. Unversehens schienen deutlich weniger Frauen anwesend zu sein und viel mehr Männer. Zwischen den Tischen herrschte ein reges Kommen und Gehen. Es wurde viel getrunken. Viele Männer zogen es vor zu stehen, anstatt zu sitzen. Es geschah nichts, auf das man hätte den Finger legen können, es gab keine Zusammenrottungen, nein, alles wurde von einem Ohr ins andere geflüstert. Niemand sprang auf den Tresen und schrie: „Los, Jungs! Zeigen wir's den Monstern in Monroe! Die haben bei uns nichts zu suchen. Auf zum Schloß, zum Schloß!“ Einer nach dem anderen diffundierten die Männer zur Tür hinaus und standen dann in kleinen Grüppchen auf dem Parkplatz herum. Ich sah mir das durch eines der Fenster an und schüttelte den Kopf. Gut sah das nicht aus, was da abging. Auch Sam war besorgt.

„Was hältst du davon?“ fragte ich ihn, und plötzlich wurde mir bewußt, daß ich an diesem Abend zum ersten Mal mit ihm sprach außer: 'Zapf mir noch ein Bier, eine Margarita bitte', natürlich. „Ich glaube, hier rottet sich der Pöbel zusammen“, sagte Sam. „Aber sie werden wohl kaum jetzt noch nach Monroe fahren. Die Vampire sind ja bis Sonnenaufgang wach und wohl auch gar nicht zu Hause.“ „Wo wohnen die drei, Sam?“

„Soweit ich das verstanden habe, befindet sich ihr Haus am Stadtrand von Monroe und zwar auf der Westseite - mit anderen Worten, nicht gerade weit weg“, antwortete Sam. „Genau weiß ich es aber auch nicht.“

Als wir das Lokal geschlossen hatten, fuhr ich heim, wobei ich insgeheim hoffte, Bill würde sich auf meiner Auffahrt herumtreiben, damit ich ihm sagen konnte, was sich da zusammenbraute.

Aber ich bekam ihn nicht zu Gesicht, und zu ihm nach Hause wollte ich auf keinen Fall gehen. Ich trödelte lange herum, ehe ich versuchte, bei ihm anzurufen, wobei ich lediglich seinen Anrufbeantworter erreichte. Ich hinterließ eine Nachricht. Unter welchem Namen das Telefon der drei Vampire im Telefonbuch stehen könnte, hätte ich beim besten Willen nicht sagen können. Ich wußte ja noch nicht einmal, ob sie überhaupt Telefon besaßen.

Während ich mir die Schuhe auszog und den Schmuck ablegte - alles Silber, Bill! Das hast du nun davon - machte ich mir Sorgen, daran erinnere ich mich, aber ich machte mir nicht genug Sorgen. Ich ging zu Bett und schlief rasch ein, in dem Schlafzimmer, das nun mein eigenes war. Mondlicht strömte durch die offenen Lamellen der Jalousien und warf ungewohnte Schatten auf den Fußboden, aber ich hatte nicht lange Gelegenheit, sie mir anzusehen. Bill weckte mich in dieser Nacht nicht mehr, um meinen Anruf zu erwidern.

Dafür klingelte das Telefon gleich früh am Morgen, als die Sonne schon aufgegangen war.

„Was?“ fragte ich noch ganz benommen und preßte den Hörer an mein Ohr. Dabei schielte ich nach meinem Wecker: Es war halb acht.

„Sie haben das Haus dieser Vampire angesteckt“, sagte Jason. „Ich hoffe, deiner war da nicht drin.“

„Was?“ fragte ich noch einmal, aber diesmal überschlug sich meine Stimme fast vor Schreck.

„Sie haben nach Sonnenaufgang am Stadtrand von Monroe das Haus der Vampire angesteckt. Es liegt an der Callista Street, westlich der Archer Street.“

Ich erinnerte mich daran, daß Bill gesagt hatte, er würde Harlen dort vorbeibringen. Ob er selbst auch geblieben war?

„Nein“, erklärte ich bestimmt.

„Doch“, erwiderte Jason.

„Ich muß weg“, sagte ich daraufhin und legte auf.

* * *

Die Ruine glomm im hellen Sonnenlicht vor sich hin. Kleine Rauchfahnen stiegen hinauf zum blauen Himmel. Verkohltes Holz sah aus wie Alligatorhaut. Auf dem Rasen des zweistöckigen Hauses standen wild durcheinander Feuerwehr- und Polizeiautos. Hinter der Absperrung aus gelbem Plastikband hatte sich eine kleine Schar Schaulustiger versammelt.

Auf dem verbrannten Gras standen nebeneinander aufgereiht die Überreste von vier Särgen. Daneben lag noch ein Leichensack. Ich ging auf die Särge zu, aber sie schienen nicht näherkommen zu wollen - wie in einem dieser Alpträume, in denen man sein Ziel nie erreicht.

Jemand packte mich am Arm und versuchte, mich aufzuhalten. Ich weiß nicht mehr, was ich zu dem Mann sagte, aber ich erinnere mich noch gut an sein entsetztes Gesicht. Ich schleppte mich also weiter durch den Müll und atmete den Geruch verbrannter Dinge ein, von nassen, verkohlten Dingen, einen Geruch, den ich zeitlebens nicht mehr loswerden würde.

Dann erreichte ich den ersten Sarg und sah hinein. Was vom Deckel übrig war, stand zum Licht hin offen. Am Himmel stieg die Sonne unaufhaltsam auf ihrer Bahn, und bald würden ihre Strahlen das schreckliche Etwas küssen, das dort in der durchweichten weißen Sargauskleidung ruhte.

Ob das Bill sein konnte? Es war unmöglich festzustellen. Noch während ich zusah, löste sich die Leiche Stück für Stück auf. Einzelne Teile zerbröselten einfach und wurden von der leichten Brise, die wehte, hinfortgefegt oder lösten sich dort, wo die Sonnenstrahlen sie berührten, in winzige Rauchwölkchen auf.

In jedem Sarg begegnete mir ein ähnlich erschreckender Anblick.

Sam stand neben mir.

„Kann man das Mord nennen, Sam?“

Er schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht. Rein rechtlich gesehen ist es Mord, Vampire zu vernichten. Aber dafür muß man erst einmal Brandstiftung nachweisen. Das dürfte zwar nicht schwerfallen ... “ Wir beide konnten das Benzin genau riechen. Männer eilten geschäftig ums Haus herum, kletterten hierhin und dorthin, riefen einander Bemerkungen zu. Mir schien es nicht so, als seien diese Männer ernsthaft mit der Untersuchung eines Tatorts befaßt.

„Aber dieser Körper hier“, mit diesen Worten deutete Sam auf den Leichensack im Gras, „war ein richtiger Mensch. Da müssen sie ermitteln. Ich glaube nicht, daß von dem Pöbel irgendwer im Kopf hatte, daß ja auch ein Mensch im Haus sein könnte. Daß sie überhaupt etwas anderes im Kopf hatten als das, was sie vorhatten.“

„Warum bist du hier, Sam?“ fragte ich.

„Für dich“, erwiderte er schlicht.

„Ich werde den ganzen Tag nicht wissen, ob es Bill ist, Sam.“

„Ja, ich weiß.“

„Was soll ich den ganzen Tag machen? Wie soll ich das Warten überstehen?“

„Vielleicht Tabletten?“ schlug er vor. „Schlaftabletten oder so?“

„So etwas besitze ich nicht“, sagte ich. „Ich hatte nie Schlafprobleme.“

Unsere Unterhaltung nahm immer merkwürdigere Züge an, aber ich glaube nicht, daß ich irgend etwas anderes hätte von mir geben können.

Dann stand ein großer Mann vor mir, der örtliche Gesetzesvertreter. Er schwitzte in der Morgenhitze und sah so aus, als sei er bereits seit Stunden auf den Beinen. Vielleicht hatte er während der Nachtschicht gearbeitet und dann bleiben müssen, als das Feuer ausgebrochen war.

Als Männer, die ich kannte, dafür gesorgt hatten, daß das Feuer ausbrach.

„Kannten Sie diese Leute, Miss?“

„]a, ich kannte sie.“

„Können Sie die Überreste identifizieren?“

„Wer soll das denn identifizieren können?“ fragte ich ungläubig zurück.

Die Körper waren bereits fast verschwunden; sie trugen keinerlei Gesichtszüge mehr und lösten sich schnell ganz auf.

Der Polizist sah aus, als sei ihm speiübel. „Ja, Ma'am. Aber die Person?“

„Ich sehe sie mir an“, sagte ich, ohne groß nachzudenken. Es fällt schwer, mit alten Gewohnheiten zu brechen und nicht immer automatisch hilfsbereit zu sein.

Als ahne er, daß ich kurz davor stand, meine Meinung zu ändern, kniete sich der große Mann in das angesengte Gras und zog den Leichensack auf. Das rußige Gesicht darin war das eines Mädchens, das ich noch nie gesehen hatte. Ich dankte Gott dafür.

„Ich kenne sie nicht“, sagte ich, und dann merkte ich, wie meine Knie nachgaben. Sam fing mich auf, ehe ich zu Boden gehen konnte, und ich mußte mich gegen ihn lehnen.

„Das arme Mädchen“, flüsterte ich. „Sam? Ich weiß nicht, was ich tun soll.“

Einen Teil meiner Zeit nahmen an diesem Tag die Ordnungshüter in Anspruch. Sie wollten alles erfahren, was ich ihnen über die Vampire, denen das Haus gehört hatte, sagen konnte, und ich gab ihnen die gewünschte Auskunft, aber viel war es nicht. Malcolm, Diane, Liam - woher stammten sie, wie alt waren sie, warum hatten sie sich in Monroe niedergelassen, wie hießen ihre Anwälte? - wie hätte ich auch nur eine dieser Fragen beantworten sollen? Ich war nie zuvor im Haus der drei gewesen.

Als der Polizist, der mich befragte - wer immer das auch gewesen sein mag - feststellte, daß ich die drei durch meine Freundschaft mit Bill kannte, wollte er wissen, wer Bill sei und wie er ihn erreichen könne.

„Vielleicht befindet er sich ja gleich hier“, sagte ich und wies auf die vier Särge. „Das werde ich erst nach Sonnenuntergang wissen.“ Dann hob sich meine Hand von ganz allein und verschloß mir den Mund.

Genau diesen Moment wählte einer der Feuerwehrleute, um in lautes Gelächter auszubrechen. „Bratvampire nach Südstaatenart!“ rief der kleine Mann dem Beamten zu, der mich befragt hatte. „Da haben wir doch glatt ein paar Bratvampire nach Südstaatenart!“

Als ich ihn trat, fand er das nicht so witzig. Sam zog mich weg, und der Mann, der mich befragt hatte, schnappte sich den Feuerwehrmann, den ich angegriffen hatte. Ich tobte wie eine Furie, und hätte Sam mich losgelassen, hätte ich mich sofort wieder auf den Mann gestürzt.

Aber Sam ließ mich nicht los. Er schleppte mich zu meinem Wagen, und seine Hände waren stark wie Schraubzwingen. Plötzlich hatte ich das Bild meiner Großmutter vor Augen: Wie sehr hätte sie sich geschämt, wenn sie hätte mitbekommen müssen, wie ich jemanden tätlich angriff und einen Beamten anpöbelte. Dieses Bild brachte meine ganze wütende, verrückte Aufgebrachtheit zum Platzen wie eine Nadel, mit der man einen Ballon zersticht. Ich ließ zu, daß Sam mich auf den Beifahrersitz meines Wagens schob, und nachdem er das Auto angelassen, zurückgesetzt und ausgeparkt hatte, ließ ich mich von ihm nach Hause fahren, wobei ich die ganze Zeit stocksteif und schweigend neben ihm hockte.

Viel zu schnell erreichten wir mein Haus. Es war erst zehn Uhr. Wir hatten Sommerzeit. Ich würde mindestens zehn Stunden warten müssen.

Sam erledigte ein paar Anrufe, während ich auf dem Sofa saß und vor mich hinstarrte. Nachdem etwa fünf Minuten vergangen waren, kam Sam zu mir ins Wohnzimmer.

„Komm schon, Sookie“, sagte er munter. „Die Jalousien hier starren ja schon vor Dreck“

„Was?“

„Die Jalousien. Wie konntest du es soweit kommen lassen?“

„Was?“

„Wir machen hier sauber. Besorg einen Eimer, Ammoniak und ein paar alte Lappen, und dann kochst du uns einen schönen Kaffee.“

Ich konnte mich nur ganz langsam und vorsichtig bewegen, denn ich hatte Angst, ich würde sonst austrocknen und davonfliegen wie die Leichen in den Särgen, aber ich tat, wie mir geheißen.

Als ich mit dem Eimer und den Lappen zurückkam, hatte Sam die Vorhänge im Wohnzimmer schon abgenommen.

„Wo steht deine Waschmaschine?“

„Da hinten, in der Kammer hinter der Küche“, sagte ich und zeigte ihm den Weg.

Beide Arme voller Gardinen machte Sam sich auf den Weg in die Waschküche. Oma hatte sie vor noch nicht einmal einem Monat gewaschen, zu Ehren von Bills Besuch. Davon sagte ich kein Wort.

Ich ließ eine der Jalousien herunter, klappte die Lamellen ganz zu und fing an, sie abzuseifen. Als die Jalousien sauber waren, putzten Sam und ich die Fenster. Der Vormittag war zur Hälfte um, da fing es an zu regnen, so daß wir die Scheiben nicht von außen putzen konnten. Sam holte sich den Staubmop mit dem langen Stil und machte sich daran, die Spinnweben aus allen Ecken der hohen Zimmerdecken zu entfernen, während ich die Scheuerleisten abwischte. Er nahm den Spiegel über dem Kaminsims ab, staubte die Teile ab, an die wir normalerweise nicht drankamen, und dann reinigten wir den Spiegel und hängten ihn wieder auf. Ich putzte den alten Marmorkamin, bis keine Spur unserer winterlichen Feuer mehr zu erkennen war. Ich holte einen besonders schönen Funkenschutz, der mit Magnolienblüten bemalt war, und stellte ihn in den Kamin. Ich säuberte den Bildschirm des Fernsehers und bat Sam, den Fernseher selbst hochzuheben, damit ich darunter wischen konnte. Ich sortierte alle Videofilme zurück in die Hüllen, in die sie gehörten und beschriftete alle Videos, die ich selbst aufgezeichnet hatte. Ich entfernte sämtliche Kissen von der Couch und saugte den Dreck weg, der sich darunter angesammelt hatte, wobei ich einen Dollar und 50 Cent in Münzen fand. Ich saugte den Teppich und fegte mit dem Mop den Staub von den Holzfußböden.

Dann zogen wir um ins Eßzimmer, wo wir alles polierten, was sich polieren ließ. Als der Tisch und die Stühle funkelten und glänzten, fragte mich Sam, wie lange es her sei, daß ich Großmutters Silber geputzt hätte.

Ich hatte Omas Silber noch nie geputzt. Wir öffneten also alle Anrichtenschubladen und stellten fest: Ja, das Silber mußte dringend geputzt werden. Also schleppten wir es in die Küche, fanden das Silberputzmittel und putzten und polierten. Das Radio lief vor sich hin, aber nach einer Weile stellte ich fest, daß Sam es jedes Mal ausstellte, wenn Nachrichten kamen.

Wir putzten den ganzen Tag. Es regnete den ganzen Tag. Sam sagte nur dann etwas, wenn er mir Anweisungen für den nächsten Arbeitsschritt gab.

Ich arbeitete sehr schwer. Sam ebenfalls.

Als das Licht langsam nachließ, hatte ich das sauberste Haus in ganz Renard Parish.

Sam sagte: „Ich gehe jetzt, Sookie. Ich glaube, jetzt möchtest du lieber allein sein.“

„Ja“, sagte ich. „Ich möchte dir gern irgendwann einmal danken, aber jetzt noch nicht. Du hast mich heute gerettet.“

Ich spürte Sams Lippen auf meiner Stirn, und etwa eine Minute später hörte ich die Haustür zuschlagen. Ich saß am Tisch, während Finsternis die Küche füllte. Als ich fast nichts mehr sah, ging ich nach draußen. Ich nahm meine große Taschenlampe mit.

Es machte nichts, daß es immer noch regnete. Ich trug ein ärmelloses Leinenkleid und ein paar Sandalen, das, was ich am Morgen angezogen hatte, nach Jasons Anruf.

Ich stand in dem strömenden warmen Regen, mein Haar klebte mir am Schädel, und mein Kleid klebte mir naß am Körper. Ich wandte mich nach links in den Wald und begann, mir zunächst noch langsam und vorsichtig einen Weg zwischen den Bäumen hindurch zu suchen. Dann jedoch verpuffte nach und nach der beruhigende Einfluß, den Sam auf mich gehabt hatte, so daß ich anfing zu laufen, und dann rannte ich und riß mir die Wangen an Ästen auf, zerkratzte mir die Beine an dornigen Ranken. Als ich aus dem Wald herauskam, rannte ich über den Friedhof, der Strahl der Taschenlampe hüpfte vor mir auf und ab. Eigentlich hatte ich zum Haus der Comptons laufen wollen, aber nun wußte ich auf einmal, daß Bill irgendwo hier sein mußte, hier, in diesen sechs Morgen voller Knochen und Steine. Da stand ich nun mitten im ältesten Teil des Friedhofs, umgeben von Monumenten und bescheidenen Grabsteinen, in der Gesellschaft der Toten.

Ich kreischte: „Bill! Komm jetzt raus!“

Ich drehte mich im Kreis, starrte hinein in die fast schwarze Dunkelheit, wußte, auch wenn ich ihn nicht sehen konnte, würde Bill mich sehen können, wenn er überhaupt noch etwas sah, wenn er nicht - wenn er nicht eine dieser rußgeschwärzten, vor sich hinbröckelnden Abscheulichkeiten gewesen war, die ich im Vorgarten des Hauses am Stadtrand von Monroe gesehen hatte.

Kein Laut. Keine Bewegung bis auf das Fallen des sanften, alles durchtränkenden Regens.

„Bill! Bill! Komm raus!“

Zu meiner Rechten fühlte ich eine Bewegung eher, als daß ich sie hörte. Ich wandte den Strahl meiner Taschenlampe dorthin. Der Boden hob sich leicht, und vor meinen Augen schoß eine weiße Hand aus der roten Erde. Dann fing diese Erde an, sich zu bewegen und zu zerbröckeln. Eine Gestalt erhob sich aus ihr.

„Bill?“

Die Gestalt drehte sich zu mir um. Verschmiert mit roter Erde und die Haare voller Dreck trat Bill zögernd einen Schritt in meine Richtung.

Ich schaffte es nicht, ihm entgegenzugehen.

„Sookie!“ sagte er und war jetzt ganz nah bei mir. „Warum bist du hier?“ Zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, klang Bill desorientiert und unsicher.

Ich mußte es ihm sagen, aber ich bekam den Mund nicht auf.

„Liebling?“

Da sank ich wie ein Stein zu Boden. Plötzlich lag ich auf den Knien im regendurchtränkten Gras.

„Was ist passiert, während ich schlief?“ Bill kniete neben mir, splitterfasernackt, und der Regen strömte an ihm herab.

„Du hast nichts an“, murmelte ich leise.

„Das würde doch alles nur dreckig werden“, erwiderte er, und das klang natürlich völlig vernünftig. „Wenn ich in der Erde schlafe, ziehe ich mich vorher aus.“

„Ja. Natürlich.“

„Jetzt mußt du mir sagen, was los ist.“

„Du darfst mich aber nicht hassen.“

„Was hast du getan?“

„Mein Gott, ich war es nicht! Aber ich hätte dich deutlicher warnen sollen, ich hätte dich packen und dich zwingen sollen, mir zuzuhören. Ich habe versucht, dich anzurufen, Bill!“

„Was ist passiert?“

Ich nahm sein Gesicht in beide Hände, berührte seine Haut, und mir wurde bewußt, was ich womöglich hätte verlieren können, was ich immer noch verlieren konnte.

„Sie sind tot, Bill, die Vampire aus Monroe und jemand anders auch noch.“

„Harlen“, sagte er tonlos. „Harlen blieb letzte Nacht dort. Diane und er fuhren schwer aufeinander ab.“ Er wartete, daß ich zu Ende erzählte, und seine Augen ruhten unverwandt auf mir.

„Sie sind verbrannt.“

„Brandstiftung.“

„Ja.“

Er hockte sich in den Regen neben mich, und ich konnte sein Gesicht nicht sehen. Ich hielt die Taschenlampe immer noch krampfhaft umklammert, aber ansonsten hatte mich alle Kraft verlassen. Bills Zorn war körperlich spürbar.

Ich konnte auch seine Gewaltbereitschaft spüren.

Ich konnte seinen Hunger spüren.

Nie war Bill so sehr Vampir gewesen. An ihm war nichts mehr, was an einen Menschen erinnerte.

Er wandte sein Gesicht gen Himmel und heulte.

Ich dachte, er würde gleich jemanden umbringen, so groß war der Zorn, den er ausstrahlte. Ich war diejenige, die am nächsten an ihm dran war.

Ich hatte gerade erst kapiert, in welcher Gefahr ich mich befand, da packte mich Bill an den Oberarmen. Er zog mich ganz langsam an sich. Es hatte keinen Sinn, sich zu wehren, im Gegenteil: Ich spürte, daß ich dadurch Bill nur noch mehr erregen würde. Jetzt war ich höchstens noch einen Zentimeter von ihm entfernt; fast konnte ich seine Haut riechen. Ich spürte den Aufruhr, der in ihm tobte, konnte seinen Zorn förmlich schmecken.

Wenn es mir gelang, diese Energie in eine andere Richtung zu lenken, war ich vielleicht gerettet. Ich beugte mich den entscheidenden Zentimeter vor und legte meinen Mund an Bills Brust. Ich leckte ihm den Regen von der Haut, ich rieb meine Wange an seiner Brustwarze, ich drückte mich an ihn.

Im nächsten Augenblick streiften seine Zähne meine Schulter, und sein Körper, hart und steif und nur zu bereit, versetzte mir einen so heftigen Stoß, daß ich mich unversehens rücklings im Schlamm liegend wiederfand. Bill glitt direkt in mich hinein, als wolle er versuchen, durch mich hindurch die Erde aufzuspießen. Ich schrie, und er knurrte als Antwort, als seien wir wirklich Schlamm-Menschen, primitive Höhlenbewohner. Ich hatte die Finger in die Haut auf Bills Rücken gekrallt und spürte auf ihnen den Regen, der auf uns niederfloß, spürte das Blut unter meinen Nägeln und Bill, wie er sich bewegte, unnachgiebig, unnachlässig. Ich dachte, ich würde in den Schlamm gepflügt, in mein Grab. Bill senkte die Fangzähne in meinen Hals.

Plötzlich kam ich. Bill heulte auf, als er auch seinen Höhepunkt erreichte. Dann brach er auf mir zusammen, seine Fangzähne zogen sich zurück, und er leckte mir sanft die kleinen Bißwunden sauber.

Ich hatte gedacht, er würde mich umbringen, ohne es überhaupt zu wollen.

Meine Muskeln wollten mir einfach nicht mehr gehorchen, es hätte mir also auch nicht viel genutzt, wenn ich gewußt hätte, was ich nun machen sollte. Bill nahm mich in die Arme und hob mich hoch. Er trug mich zu seinem Haus, drückte die Haustür auf und brachte mich direkt ins große Badezimmer. Dort legte er mich vorsichtig auf den großen Teppich, auf dem ich Lehm, Regenwasser und ein ganz klein wenig Blut verspritzte, um dann die Hähne an der großen Badewanne aufzudrehen, und als die Wanne voll war, ließ er mich sanft hineingleiten und stieg dann selbst hinein. Wir saßen auf den Sitzen, und unsere Beine baumelten in dem warmen schäumenden Wasser, das sich schnell verfärbte.

Bills Augen starrten auf etwas, das bestimmt kilometerweit entfernt war.

„Alle tot?“ fragte er kaum hörbar.

„Alle tot, und ein Mensch, ein Mädchen, auch noch“, erwiderte ich ruhig.

„Was hast du den ganzen Tag gemacht?“

„Geputzt. Sam hat mich gezwungen, das Haus zu putzen.“

„Sam“, sagte Bill nachdenklich. „Sag mir, Sookie, kannst du Sams Gedanken lesen?“

„Nein“, gestand ich, mit einem Mal völlig erschöpft. Ich tauchte den Kopf unter, und als ich wieder auftauchte, hielt Bill die Shampooflasche bereit. Er seifte mein Haar ein, spülte es aus und kämmte es, wie an dem Tag, an dem wir uns zum ersten Mal geliebt hatten.

„Bill, die Sache mit deinen Freunden tut mir sehr leid“, sagte ich, so erschöpft, daß ich die Worte kaum herausbekam. „Ich bin so glücklich, daß du noch existierst!“ Ich schlang die Arme um seinen Hals und legte meinen Kopf an seine Schulter. Die Schulter war hart wie Stein. Ich erinnere mich daran, daß Bill mich mit einem großen, weißen Handtuch abtrocknete, daß ich dachte, wie weich das Kissen doch sei, daß er neben mir ins Bett glitt und die Arme um mich legte. Dann schlief ich ein.

In den frühen Morgenstunden erwachte ich halb, weil ich hörte, wie jemand sich im Zimmer bewegte. Ich hatte wohl geträumt, und es war wohl ein Alptraum gewesen, denn als ich aufwachte, schlug mein Herz rasend schnell und so, als wollte es zerspringen. „Bill?“ fragte ich, und ich konnte die Angst in meiner Stimme deutlich hören.

„Was ist?“ fragte er, und ich spürte, wie die Matratze nachgab, als er sich auf die Bettkante setzte.

„Ist alles in Ordnung?“

„Ja, ich war nur draußen. Ich habe einen Spaziergang gemacht.“

„Da draußen ist niemand?“

„Nein, Liebling.“ Ich hörte den Laut, der entsteht, wenn Stoff über Haut gleitet, und dann lag er neben mir unter den Laken.

„Ach Bill, das da in einem dieser Särge, das hättest auch du sein können“, sagte ich, und die Angst, die ich empfunden hatte, war mir ganz frisch im Gedächtnis.

„Sookie, hast du je daran gedacht, daß das in dem Leichensack du gewesen sein könntest? Was, wenn sie hierher kommen, wenn sie im Morgengrauen dieses Haus anzünden?“

„Du mußt mit in mein Haus kommen! Mein Haus brennen sie nicht nieder. Mit mir zusammen wärest du sicher“, sagte ich, und das meinte ich auch so.

„Sookie, hör mir zu: Du könntest meinetwegen sterben!“

„Was würde ich denn dadurch verlieren?“ fragte ich leidenschaftlich. „Seit ich dich kennengelernt habe, das war die schönste Zeit meines Lebens.“

„Wenn ich sterbe, dann geh du zu Sam.“

„Reichst du mich jetzt schon weiter?“

„Nie“, sagte er, und seine weiche Stimme war kalt. „Niemals.“ Ich fühlte seine Hände, die nach meinen Schultern griffen; auf einen Ellbogen gestützt lag er neben mir. Er rückte ein wenig näher, und ich spürte seinen langen, kühlen Körper ganz nah an meinem.

„Hör mal, Bill“, sagte ich, „ich bin nicht besonders gebildet, aber dumm bin ich nicht. Ich habe auch wirklich nicht viel Erfahrung und kenne mich vielleicht nicht so gut aus in der Welt, aber ich glaube nicht, daß ich naiv bin.“ Ich hoffte sehr, daß Bill jetzt nicht im Dunkeln auf mich herablächelte. „Ich kann dafür sorgen, daß sie dich akzeptieren. Ich kann es.“

„Wenn jemand es kann, dann du“, sagte er. „Ich möchte noch einmal in dich.“

„Du meinst? Oh, ja, ich verstehe schon, was du meinst.“ Er hatte meine Hand genommen und sie sanft an seinem Leib hinabgleiten lassen. „Das möchte ich auch gern.“ Und wie ich es wollte - falls ich es überlebte, nach dem, was ich auf dem Friedhof mitgemacht hatte. Bill war so wütend gewesen, daß ich mich immer noch fühlte, als sei ich verprügelt worden. Aber ich spürte auch diese süße Wärme, die mich durchströmte, die ruhelose Erregung, mit der Bill mich vertraut gemacht hatte, nach der ich nun süchtig war. „Liebster“, sagte ich und streichelte ihn dort unten mit den Fingern, hoch und runter, „Liebster.“ Ich küßte ihn; ich spürte seine Zunge in meinem Mund. Ich berührte mit der Zungenspitze seine Fänge. „Kannst du es tun, ohne zu beißen?“ flüsterte ich.

„Ja. Aber wenn ich dein Blut schmecken kann, ist das ein großes Finale.“

„Wäre es denn ohne fast so gut?“

„Es kann ohne nie so gut sein wie mit, aber ich möchte dich nicht schwächen.“

„Wenn es dir nichts ausmacht“, bat ich vorsichtig. „Ich habe drei Tage gebraucht, um wieder fit zu werden.“

„Ich war selbstsüchtig ... du schmeckst aber auch so gut.“

„Aber wenn ich stark bin, wird es noch besser sein“, gab ich zu bedenken.

„Zeig mir, wie stark du bist“, neckte er.

„Leg dich auf den Rücken. Ich weiß nicht ganz genau, wie das funktioniert, aber ich weiß, daß andere Leute es tun.“ Ich setzte mich rittlings auf ihn, hörte, wie sein Atem schneller ging. Ich war froh, daß es im Zimmer dunkel war und draußen nach wie vor der Regen niederging. Ein Blitz zeigte mir Bills glühende Augen. Ich manövrierte mich vorsichtig in die Position, von der ich hoffte, es sei die korrekte, und lenkte ihn in mich. Ich setzte großes Vertrauen in den Instinkt, und was soll ich sagen - er ließ mich nicht im Stich.