Kapitel 9

Gegen Sonnenuntergang am nächsten Tag machte ich mich zum Ausgehen fertig. Bill hatte gesagt, er werde sich irgendwo anders nähren, ehe wir losführen, und obwohl mich der bloße Gedanke daran ziemlich mitnahm, mußte ich mir doch eingestehen, daß ein solches Vorgehen sinnvoll war. Bill hatte ja auch recht gehabt, was meine eigene kleine, informelle Vitaminzufuhr vom Abend zuvor betraf: Mir ging es einfach phantastisch. Ich fühlte mich ungeheuer stark und beweglich, sehr klar im Kopf und eigenartigerweise auch sehr, sehr hübsch.

Was sollte ich nun anziehen bei meinem eigenen kleinen Interview mit einem Vampir? Ich wollte mir auf keinen Fall den Anschein geben, als versuchte ich, möglichst sexy auszusehen, aber ich wollte mich auch nicht zum Narren machen und irgendeinen unförmigen Sack überwerfen. Wie so oft im Leben schien ein Paar Jeans die Antwort auf diese knifflige Frage. Dazu zog ich weiße Sandalen und ein blaues T-Shirt mit ausgeschnittenem Kragen an, das ich nicht mehr getragen hatte, seit ich mit Bill zusammen war, da es meine Bißnarben nicht verdeckte. An diesem Abend jedoch, dachte ich, konnte es nicht schaden, auf jegliche nur denkbare Art zu betonen, daß ich Bills 'Eigentum' war. Dann fiel mir ein, wie der Polizist beim letzten Mal meinen Hals kontrolliert hatte, und ich steckte ein Halstuch in meine Handtasche. Dann fiel mir noch etwas ein, und ich steckte zur Sicherheit auch noch eine silberne Halskette dazu. Ich bürstete mein Haar, das mindestens drei Farbstufen heller wirkte als sonst, und kämmte es so, daß es mir wie ein Wasserfall offen über den Rücken floß.

Ich hatte gerade wirklich schwer mit der Vorstellung zu kämpfen, daß Bill mit jemand anderem zusammen war, als er auch schon an meine Tür klopfte. Ich öffnete, und wir starrten einander etwa eine Minute lang schweigend an. Bills Lippen hatten mehr Farbe als sonst, also hatte er 'es' wohl getan. Ich biß mir auf die Lippen, um jeglichen Kommentar zu unterbinden.

„Du wirkst verändert“, bemerkte Bill als erstes.

„Glaubst du, daß das anderen auch auffällt?“ Ich hoffte, das möge nicht der Fall sein.

„Ich weiß nicht.“ Er streckte mir die Hand hin, und dann gingen wir zusammen zu seinem Wagen. Dort hielt er mir die Beifahrertür auf, und ich schob mich an ihm vorbei, um auf den Sitz zu klettern. Mitten in der Bewegung erstarrte ich.

„Was ist?“ wollte Bill nach einer kleinen Pause wissen.

„Ach, nichts“, sagte ich, wobei ich versuchte, möglichst beiläufig zu klingen. Dann nahm ich auf dem Beifahrersitz Platz und blickte starr geradeaus.

Ich schalt mich unlogisch, sagte mir, ebensogut könnte ich wütend auf die Kuh sein, wenn Bill einen Hamburger gegessen hätte, aber irgendwie schien der Vergleich zu hinken.

„Du riechst anders“, sagte ich schließlich, als wir schon ein paar Minuten auf der Autobahn fuhren. Die nächsten paar Minuten fuhren wir dann wieder schweigend.

„Nun weißt du, wie mir zumute ist, wenn Eric dich anfaßt“, sagte Bill dann. „Nur, daß ich wohl noch wütender sein werde, denn Eric wird es Spaß machen, dich anzufassen, und ich habe meine Mahlzeit nicht wirklich genossen.“

Das, nahm ich an, stimmte nicht - oder jedenfalls nicht ganz und in allen Punkten: Mir zumindest macht Essen immer Spaß, auch wenn man mir nicht mein Lieblingsgericht vorsetzt. Aber ich wußte es zu schätzen, daß Bill zumindest dachte, ihm ginge es anders.

Danach redeten wir beide nicht mehr viel, uns beiden bereitete das, was uns nun bevorstand, große Sorgen. Viel zu schnell kamen wir beim Fangtasia an, parkten diesmal jedoch nicht vorne auf dem Kundenparkplatz, sondern hinter der Bar. Bill hielt mir die Wagentür auf, und ich mußte mich sehr anstrengen, mich nicht verzweifelt am Sitz festzuklammern und mich zu weigern, das Fahrzeug zu verlassen. Nachdem ich das Aussteigen hinter mich gebracht hatte, mußte ich ein weiteres Gefecht mit mir selbst austragen: Ich hätte mich am liebsten hinter Bills Rücken versteckt. Statt dessen holte ich einmal tief und vernehmlich Luft, nahm den Arm meines Freundes, und dann schritten wir beide auf die Tür zu, als gingen wir zu einer Party, der wir beide mit freudiger Erwartung entgegensahen.

Bill blickte wohlwollend auf mich herab.

Ich unterdrückte das Bedürfnis, ihn anzuknurren.

Er klopfte an eine Stahltür, auf die mit Schablone der Name FANGTASIA geschrieben worden war. Wir befanden uns in der Versorgungsgasse, die hinter der kleinen Einkaufszeile entlanglief und für Lieferanten und die Müllabfuhr gedacht war. Hier standen außer Bills Auto noch andere Fahrzeuge, unter anderem Erics rotes Sportcoupé. All diese Autos gehörten zur gehobenen Fahrzeugklasse.

In einem Ford Fiesta trifft man jedenfalls keinen Vampir an.

Bill klopfte: dreimal kurz, zweimal lang. Das war wohl das geheime Klopfzeichen der Vampire. Vielleicht würde ich ja demnächst auch noch den geheimen Händedruck lernen.

Eine wunderschöne blonde Vampirfrau - diejenige, die an Erics Tisch gesessen hatte, als ich das letzte Mal in der Bar gewesen war - öffnete uns. Ohne ein Wort zu sagen, trat sie beiseite, um uns hereinzulassen.

Wäre Bill ein Mensch gewesen, dann hätte er sich sicher darüber beschwert, wie fest ich seine Hand umklammert hielt.

Wir traten ein, und die Vampirin hatte so rasch zu uns aufgeschlossen, um dann wieder vor uns zu gehen, daß meine Augen es nicht mitbekommen hatten, weswegen ich erschrocken zusammenzuckte. Bill war natürlich kein bißchen überrascht. Die Frau führte uns durch einen Lagerraum, der dem im Merlottes auf beunruhigende Weise bis aufs Haar glich, und von da aus in einen kleinen Korridor. Dort traten wir dann durch die erste Tür zu unserer Rechten.

Die Tür führte zu einem kleinen Zimmer, und in diesem Zimmer stand Eric und wartete auf uns. Seine Gestalt dominierte den ganzen Raum. Es war nicht wirklich so, daß Bill sich verneigte, um Eric den Ring zu küssen, aber er neigte den Kopf ziemlich tief. Es war noch ein weiterer Vampir anwesend, Long Shadow, der Barmann; er war an diesem Abend in Höchstform, in einem knallengen Shirt mit Spaghettiträgern und einer Gymnastikhose, beides in leuchtendem Dunkelgrün.

„Bill, Sookie“, begrüßte uns Eric. „Bill, ihr kennt Long Shadow. Sookie, du erinnerst dich an Pam.“ Pam, das war die blonde Vampirin. „Dies hier ist Bruce.“

Bruce war ein Mensch, und ich hatte noch nie zuvor in meinem Leben einen so verängstigten Menschen zu Gesicht bekommen. Ich fühlte sehr mit ihm. Bruce war ein Mann mittleren Alters mit Bäuchlein und dunklem Haar, das bereits schütter wurde und in steifen Wellen um seinen Kopf lag. Er hatte ein Doppelkinn und einen winzigen Mund. Er trug einen eleganten beigen Anzug, dazu ein weißes Hemd und eine Krawatte mit Muster in Blau- und Brauntönen. Bruce schwitzte aus allen Poren. Er saß Eric gegenüber am Schreibtisch auf einem harten Stuhl mit gerader Lehne, während Eric im imposanten Chefsessel thronte. Pam und Long Shadow standen Eric gegenüber an der Wand neben der Tür. Bill trat neben die beiden, und ich machte Anstalten, es ihm gleichzutun, aber da richtete Eric das Wort an mich.

„Sookie, hör dir bitte Bruce an.“

Verwirrt stand ich da und blickte auf den schwitzenden Mann, wartete darauf, daß er den Mund aufmachte - dann verstand ich erst, was Eric gemeint hatte.

„Worauf soll ich denn achten?“ fragte ich, wobei ich wußte, daß meine Stimme sehr scharf klang.

„Irgend jemand hat uns um ungefähr 60.000 Dollar erleichtert“, erklärte Eric.

Mann, der jemand hatte aber eine ausgeprägte Todessehnsucht.

„Wir haben uns gedacht, ehe wir nun alle unsere menschlichen Angestellten der Folter oder dem Tod überantworten, könntest du ihnen doch in die Köpfe schauen und uns sagen, wer es war.“

Er sagte 'Tod oder Folter' so ruhig und beiläufig, wie ich 'Budweiser oder Heineken' gesagt hätte.

„Was tun Sie, wenn Sie es wissen?“ fragte ich.

Die Frage schien Eric zu überraschen.

„Wer immer es war, wird uns unser Geld zurückgeben“, sagte er schlicht.

„Was dann?“

Seine großen blauen Augen verengten sich, als er mich nun prüfend ansah.

„Nun, wenn wir Beweise für die Schuld des Betreffenden haben, dann werden wir ihn und den Fall der Polizei übergeben“, erwiderte er dann aalglatt.

Wer's glaubt, wird selig! „Ich biete Ihnen einen Tauschhandel an.“ Ich gab mir keine Mühe, gewinnend zu lächeln; mit Charme kam man bei Eric kein Stück weiter, und momentan hatte er auch nicht das geringste Bedürfnis, sich an meiner Gurgel zu schaffen zu machen - das allerdings konnte sich ja noch ändern.

Eric lächelte mir gönnerhaft zu. „Was für ein Tauschhandel wäre das, Sookie?“

„Wenn Sie die schuldige Person wirklich der Polizei übergeben, dann lausche ich auch weiterhin für Sie, wann immer Sie das wollen.“

Der uralte Vampir zog eine Braue hoch.

„Ich weiß, das muß ich wahrscheinlich ohnehin tun. Aber ist es nicht viel besser, wenn ich freiwillig komme, wenn wir uns aufeinander verlassen, einander vertrauen können?“ Mir brach der Schweiß aus. Kaum zu fassen: Hier stand ich nun und verhandelte mit einem Vampir.

Eric schien sich die Sache wirklich durch den Kopf gehen zu lassen. Plötzlich fand ich mich in seinen Gedanken wieder: Er dachte, er könne mich zu allem zwingen, jederzeit, an jedem Ort, denn er bräuchte einfach nur Bill oder einen Menschen, den ich liebte, zu bedrohen. Weiterhin dachte er, daß er bürgerlich leben wolle und sich von daher nach Möglichkeit im Rahmen der geltenden Gesetze zu bewegen habe, daß es besser sei, seine Beziehungen zu Menschen offen und ehrlich zu gestalten, zumindest so offen und ehrlich, wie es bei Beziehungen zwischen Vampiren und Menschen überhaupt ging. Eric wollte niemanden umbringen, wenn es nicht unbedingt notwendig war.

Mir kam es vor, als sei ich plötzlich in eine Schlangengrube geworfen worden - in eine Grube mit kalten Schlagen, mit tödlichen Schlangen. Das Ganze ging in Sekundenschnelle vor sich, war nur ein kleiner Blitz, ein kurzer Einblick, denn sonst hätte Eric mitbekommen, daß ich mich in seinem Kopf befand, der mich aber nichtsdestoweniger mit einer ganz anderen Realität konfrontierte.

„Außerdem“, sagte ich dann schnell, ehe der Vampir registrieren konnte, daß ich seine Gedanken mitbekommen hatte, „wie genau wissen Sie denn, daß ein Mensch der Dieb war?“

Pam und Long Shadow bewegten sich ungeheuer rasch, aber Eric erfüllte das ganze Zimmer mit seiner dominierenden Gegenwart und befahl den beiden, sich ruhig zu verhalten.

„Eine interessante Frage“, sagte er dann. „Pam und Long Shadow betreiben die Bar zusammen mit mir als meine Partner, und wenn keiner der Menschen schuldig ist, die hier arbeiten, werden wir uns wohl diese beiden ansehen müssen.“

„Es war ja nur so ein Gedanke“, sagte ich bescheiden, und Eric musterte mich mit den eisblauen Augen eines Wesens, das sich kaum noch daran erinnert, was Menschsein einmal bedeutet hat.

„Du kannst bei diesem Mann hier anfangen“, befahl er mir.

Ich kniete neben Bruces Stuhl und wußte nicht recht, wie ich vorgehen sollte. Bislang hatte ich nie versucht, etwas, was sich immer ziemlich zufällig und nebenbei abgespielt hatte, in einen formellen Rahmen zu spannen. Wahrscheinlich würde es helfen, wenn ich den Mann berührte - verbesserte Übertragung durch direkten Kontakt sozusagen. Also nahm ich Bruces Hand, fand das zu persönlich (und viel zu verschwitzt), schob seinen Ärmel hoch, legte meine Hand um sein Handgelenk und sah ihm in die kleinen, verängstigten Augen.

Ich habe das Geld nicht geklaut, wer denn bloß, welcher verrückte Vollidiot bringt uns denn alle derart in Gefahr, was soll Lillian denn bloß anfangen, wenn sie mich umbringen, und Bobby und Heather, warum habe ich überhaupt für Vampire gearbeitet, es war die reine Habsucht, und nun zahle ich dafür, guter Gott, ich arbeite nie wieder für diese schrecklichen Wesen, und wie kann diese verrückte Frau herausfinden, wer das verdammte Geld geklaut hat, warum läßt sie mich nicht los, was wenn sie auch ein Vampir ist oder irgendein Dämon, ihre Augen sind so merkwürdig, ich hätte schon viel früher merken müssen, daß das Geld weg ist und hätte rausfinden sollen, wer es hat, ehe ich Eric davon erzählte ...

„Haben Sie das Geld gestohlen?“ fragte ich leise, auch wenn ich sicher war, die Antwort bereits zu kennen.

„Nein“, stöhnte Bruce, und der Schweiß rann ihm in Strömen über das Gesicht. Seine Gedanken, die Reaktion auf die Frage, die ich gestellt hatte, bestätigten nur, was ich bereits gehört hatte.

„Wissen Sie, wer es getan hat?“

„Ich wünschte, ich wüßte es.“

Ich stand auf, wandte mich zu Eric um und schüttelte den Kopf. „Dieser Typ war es nicht“, sagte ich.

Pam begleitete den armen Bruce nach draußen und brachte den nächsten, der befragt werden sollte.

Diesmal war meine Klientin eine Kellnerin. Die Frau trug ein langes, schwarzes Gewand, zeigte reichlich Busen und hatte langes, ausgefranstes erdbeerrotes Haar, das ihr unordentlich bis auf den Rücken hing. Eine Anstellung im Fangtasia war natürlich für jeden Fangbanger der Traumjob, und dieses Mädel verfügte über reichlich Narben, die nachwiesen, daß ihr die Vergünstigungen, die mit der Arbeitsstelle einhergingen, gut gefielen. Sie war so selbstsicher, daß sie Eric vergnügt angrinste, als sie ins Zimmer kam, und war närrisch genug, voller Vertrauen auf dem harten Stuhl vor dem Schreibtisch Platz zu nehmen, wobei sie die Beine übereinanderschlug und sich vorkam wie Sharon Stone - zumindest hoffte sie, so auszusehen. Sie wunderte sich darüber, im Zimmer einen fremden Vampir und eine neue Frau vorzufinden, und mein Anblick gefiel ihr ganz und gar nicht, wohl aber der Bills, bei dem ihr das Wasser im Munde zusammenlief.

„Hey, Süßer!“ sagte sie zu Eric, und an diesem Punkt gelangte ich zu der Erkenntnis, daß dieser Frau jegliche Phantasie fehlte.

„Ginger, du wirst die Fragen dieser Frau beantworten“, befahl Eric, und seine Stimme klang wie eine Steinmauer, hart und unerbittlich.

Zum ersten Mal, seit sie das Zimmer betreten hatte, schien Ginger nun zu bemerken, daß die Sache ernst war und sie das lieber auch sein sollte. Sie kreuzte die Beine an den Knöcheln und saß, die Hände auf die Schenkel gelegt, mit feierlichem Gesichtsausdruck da. „Ja, Herr“, sagte sie dann mit einem Augenaufschlag, und ich dachte, ich müßte gleich kotzen.

Dann wedelte sie mir mit einer gebieterischen Handbewegung zu, als wolle sie sagen: „Nun mach schon, die du wie ich eine Dienerin der Vampire bist.“ Als ich jedoch nach ihrem Handgelenk griff, schlug sie meine Hand weg. „Rühr' mich nicht an!“ sagte sie, und es klang fast wie ein Zischen.

Das war eine so extreme Reaktion, daß sich alle anwesenden Vampire verspannten und ich spürte, wie die Atmosphäre im Zimmer förmlich knisterte.

„Pam, halte Ginger ruhig“, befahl Eric, und Pam tauchte geräuschlos hinter Gingers Stuhl auf, um der Frau die Hände auf die Oberarme zu legen. Man konnte sehen, daß Ginger sich wehrte, denn ihr Kopf bewegte sich, aber Pam hielt den Oberkörper des Mädchens so, daß es völlig unbeweglich dasaß.

Meine Finger umspannten Gingers Handgelenk. „Hast du das Geld genommen?“ fragte ich und sah in die ausdruckslosen braunen Augen der Frau.

Da schrie sie lang und laut. Sie verfluchte mich, belegte mich mit allen möglichen Namen. Ich lauschte dem Chaos im Spatzenhirn dieses Mädchens, und es war, als würde man versuchen, sich einen Weg durch die Überreste eines zerbombten Hauses zu bahnen.

„Sie weiß, wer es war“, berichtete ich Eric. Daraufhin wurde Ginger still, auch wenn sie immer noch schluchzte. „Sie kann den Namen nicht sagen“, fuhr ich fort. „Der Betreffende hat sie gebissen.“ Mit diesen Worten berührte ich die Narben an Gingers Hals, auch wenn eine solche Erläuterung wohl nicht nötig gewesen wäre. „Sie steht unter einem Zwang“, ergänzte ich, nachdem ich noch einmal versucht hatte, Genaueres zu hören. „Sie kann sich den Betreffenden noch nicht einmal vorstellen.“

„Hypnose“, kommentierte Pam. Ihre Fänge waren ausgefahren; das lag daran, daß sie so nah hinter dem verängstigten Mädchen stand. „Ein sehr starker Vampir.“

„Holen Sie ihre beste Freundin“, schlug ich vor.

Mittlerweile zitterte Ginger wie ein Blatt im Wind, und die Gedanken, die sie nicht denken durfte, preßten gegen ihre Schädeldecke wie gegen verschlossene Schranktüren.

„Soll sie bleiben oder gehen?“ fragte Pam direkt an mich gewandt.

„Sie sollte gehen. Sie würde alle anderen doch nur verschrecken.“

Ich war so in die Sache vertieft, so sehr darin verstrickt, mein merkwürdiges Talent einmal offen zu benutzen, daß ich Bill nicht ansah. Ich hatte das Gefühl, wenn ich ihn ansähe, würde mich das schwächen. Ich wußte, wo er war, daß er und Long Shadow sich nicht gerührt hatten, seit die Befragung begonnen hatte.

Pam schleppte die heulende Ginger fort. Ich weiß nicht, was sie mit der Kellnerin machte, aber sie kehrte mit einer anderen wieder, die ein ähnliches Gewand trug. Der Name dieser Frau war Belinda, und sie war älter und weiser. Belinda hatte braunes Haar, trug eine Brille und hatte den verführerischsten Schmollmund, den ich je gesehen hatte.

„Belinda, mit welchem Vampir war Ginger zusammen?“ fragte Eric unvermittelt, sobald die Frau Platz genommen hatte und ich ihr Handgelenk umfaßt hielt. Die Kellnerin hatte genug gesunden Menschenverstand, das ganze Verfahren schweigend hinzunehmen und genügend Grips, zu wissen, daß sie ehrlich sein mußte.

„Mit jedem, der sie haben wollte“, sagte Belinda unumwunden.

In Belindas Kopf sah ich ein Bild, wobei sie den Namen dazu nicht dachte.

„Mit welchem der anwesenden Vampire?“ fragte ich dann, und plötzlich hatte ich den Namen. Ehe ich den Mund öffnen konnte, glitt mein Blick in die Ecke, und dann war er, Long Shadow, auch schon über mir; nach einem Riesensatz über den Stuhl, auf dem Belinda saß, landete er auf mir, die ich neben dem Stuhl hockte. Ich wurde umgeworfen und knallte gegen Erics Schreibtisch, und nur der Tatsache, daß dabei mein Arm hochflog, habe ich es zu verdanken, daß die Fangzähne Long Shadows meine Kehle verfehlten und er sie mir nicht herausreißen konnte. Statt dessen senkten sich die Fangzähne mit roher Gewalt in meinen Unterarm, woraufhin ich schrie oder zumindest zu schreien versuchte, aber nach dem Aufprall war nicht mehr viel Luft in meinen Lungen verblieben, so daß mein Schrei eher wie ein ängstliches Krächzen klang.

Das einzige, was mir bewußt war, war die schwere Gestalt, die auf mir lag, der Schmerz in meinem Arm und meine eigene Angst. Bei den Rattrays hatte ich erst befürchtet, sie könnten mich umbringen, als es fast schon zu spät gewesen war, aber bei Long Shadow wußte ich genau, er würde mich auf der Stelle umbringen, um zu verhindern, daß sein Name über meine Lippen kam. Als ich dann den schrecklichen Lärm hörte und der Körper des Vampirs sich noch heftiger an mich preßte, hatte ich überhaupt keine Vorstellung davon, was das wohl bedeuten mochte. Ich hatte über meinen Arm hinweg Long Shadows Augen sehen können. Sie waren groß, braun, wahnsinnig, kalt. Plötzlich jedoch wurden sie matt und ausdruckslos. Dann schoß dem Vampir Blut aus dem Mund. Es floß an meinem Arm entlang in meinen offenen Mund. Ich mußte würgen. Long Shadows Zähne zogen sich zurück, und dann fiel sein Gesicht in sich zusammen. Er bekam immer mehr Falten, immer mehr Runzeln, seine Augen wurden zu gallertartigen Seen. In großen Büscheln fiel dickes, schwarzes Haar auf mein Gesicht.

Ich war so geschockt, daß ich mich nicht rühren konnte. Hände packten mich an der Schulter und zogen mich unter der verwesenden Leiche hervor. Dann stieß ich mich mit den Füßen ab und half nach.

Es stank nicht, aber es war auch so ekelhaft genug. Die Leiche wurde schwarz und streifig, und dann das absolute Entsetzen, der Schrecken, mit ansehen zu müssen, wie Long Shadow mit ungeheurer Geschwindigkeit zerfiel. Ein Pflock ragte ihm aus dem Rücken. Eric stand da und sah zu, wie wir alle es taten, hielt jedoch einen Holzhammer in der Hand. Bill stand hinter mir, denn er hatte mich unter Long Shadow hervorgezogen. Pam stand an der Tür und hielt Belindas Arm umklammert. Die Kellnerin wirkte völlig erschüttert, und bestimmt sah ich genauso aus.

Nun verschwand sogar das Gerippe und wurde zu Rauch. Wir alle verharrten stocksteif, bis das letzte Wölkchen entschwunden war. Auf dem Teppichboden verblieb eine Art Brandfleck.

„Da müssen Sie aber einen Läufer drüberlegen“, sagte ich plötzlich unvermittelt. Ehrlich: Ich konnte das Schweigen ganz einfach nicht mehr ertragen.

„Dein Mund ist blutig“, sagte Eric. Alle Vampire hatten voll ausgefahrene Fänge. Sie waren ziemlich erregt.

„Er hat in mich hineingeblutet.“

„Ist dir irgend etwas davon in den Hals geraten?“

„Wahrscheinlich. Was heißt das?“

„Das wird man sehen“, sagte Pam. Ihre Stimme klang dunkel und rauh. Sie beäugte Belinda in einer Art, die mich ziemlich nervös gemacht hätte. Belinda jedoch, so unglaublich das klingen mag, schien sich zu spreizen wie ein Pfau. „In der Regel“, fuhr Pam fort, den Blick unverwandt auf den Schmollmund der Kellnerin gerichtet, „trinken wir von Menschen, nicht umgekehrt.“

Eric sah mich höchst interessiert an, und zwar mit demselben Interesse, mit dem Pam Belinda fixierte. „Wie siehst du nun die Welt, Sookie?“ fragte er mit einer so weichen Stimme, daß kein Außenstehender je auf die Idee gekommen wäre, daß er gerade einen alten Freund vernichtet hatte.

Wie sah ich die Welt? Alles wirkte heller, klarer, die Geräusche klangen deutlicher, ich hörte besser. Ich wollte mich umdrehen und Bill anschauen, fürchtete mich aber davor, Eric aus den Augen zu lassen.

„Ich glaube, Bill und ich sollten jetzt lieber gehen“, sagte ich, als sei etwas anderes ohnehin nicht denkbar. „Ich habe getan, worum Sie mich gebeten haben, und nun müssen wir fort. Keine Repressalien Bruce, Belinda und Ginger gegenüber, ja? So war es abgemacht.“ Hoch erhobenen Hauptes und mit einer Unbekümmertheit, die ich keineswegs empfand, schritt ich zur Tür. „Sie müssen doch bestimmt nachsehen, ob vorn im Lokal alles in Ordnung ist“, fuhr ich fort. „Wer bedient denn heute nacht am Tresen?“

„Wir haben eine Vertretung engagiert“, murmelte Eric geistesabwesend, und seine Augen ließen meine Kehle nicht eine Sekunde aus dem Blick. „Du riechst so anders, Sookie“, murmelte er fasziniert und trat einen Schritt näher.

„Nicht vergessen, Eric: Wir hatten eine Abmachung!“ Mein Lächeln war breit und verkrampft, meine Stimme überschlug sich fast vor Jovialität. „Bill und ich gehen jetzt heim, nicht wahr?“ Ich riskierte einen Blick hinter mich, auf Bill, woraufhin mir mein Herz in die Hose rutschte. Bills Augen standen ganz weit und starr offen: Seine Lippen hatten sich zu einem lautlosen Knurren verzogen, und er hatte die ausgefahrenen Fangzähne in ganzer Länge entblößt. Mit enorm geweiteten Pupillen starrte er Eric unverwandt an.

„Geh aus dem Weg, Pam“, sagte ich ruhig, aber bestimmt. Pam, durch meine Bitte von der eigenen Blutgier abgelenkt, nahm zum ersten Mal wahr, wie sich die Situation im Büro entwickelt hatte. Sie stieß die Bürotür auf, schob Belinda hindurch und trat neben die Tür, um auch Bill und mich gehenzulassen. „Ruf Ginger“, schlug ich vor, und das, was ich damit meinte, drang selbst durch den Nebel an Begierde, der Pam fest im Griff hatte. „Ginger“, rief sie heiser, und das blonde Mädchen stolperte aus einer Tür weiter unten im Flur. „Eric braucht dich.“ Gingers Miene leuchtete auf, als hätte sie ein Rendezvous mit David Duchovny. Fast so schnell, wie ein Vampir gewesen wäre, stand sie im Büro und rieb sich an Eric. Wie aus einer Verzauberung erwacht sah der große Vampir auf Ginger hinab, als die Frau ihm mit beiden Händen über die Brust fuhr. Er beugte sich vor, um sie zu küssen, und warf mir über den Kopf der Kellnerin hinweg einen raschen Blick zu. „Wir sehen uns wieder“, sagte er, und dann zog ich Bill so rasch durch die Tür, daß unser ganzer Aufbruch nicht länger dauerte als ein Blinzeln. Bill wollte nicht gehen; es war, als würde ich einen widerstrebenden Hund an der Leine hinter mir herziehen. Sobald wir im Flur standen, schien er sich jedoch der Notwendigkeit, schnellstmöglich zu verschwinden, durchaus bewußt, und Seite an Seite eilten wir aus dem Fangtasia und hinüber zu Bills Auto.

Ich warf einen kurzen Blick an mir herunter: Ich war blutverschmiert und zerknittert und roch seltsam. Igitt. Ich sah Bill an, um meinen Widerwillen mit ihm zu teilen, aber mein Freund starrte mich in einer Art und Weise an, die völlig unmißverständlich war.

„Nein!“ sagte ich. „Du läßt jetzt dieses Auto an und haust hier ab, ehe noch was passiert, Bill! Ich sage dir frei heraus: Ich bin nicht in Stimmung.“

Er beugte sich über den Sitz zu mir herüber und schloß mich in die Arme, ehe ich noch protestieren konnte. Dann lag sein Mund auf meinem, und gleich darauf leckte er mir das Blut aus dem Gesicht.

Ich hatte in diesem Moment furchtbar Angst, aber gleichzeitig war ich auch wütend. Ich packte Bill bei den Ohren und zog seinen Kopf unter Aufbietung all meiner Kräfte von mir weg. All meine Kräfte: das waren mehr, als ich gedacht hatte.

Bills Augen glichen immer noch Höhlen, in deren Tiefen Geister hausten.

„Bill!“ kreischte ich. Ich schüttelte ihn kräftig. „Komm zu dir!“

Langsam trat seine eigene Persönlichkeit wieder in Bills Augen. Er küßte mich sanft auf die Lippen.

„Gut, können wir dann nach Hause fahren?“ fragte ich und schämte mich dafür, daß meine Stimme so zittrig klang.

„Sicher“, erwiderte er und klang selbst nicht besonders gefaßt.

„War das da eben wie Haie, die Blut wittern?“ fragte ich, nachdem ein Schweigen von beinahe fünfzehn Minuten Länge uns fast aus Shreveport hinausgebracht hatte.

„Ein treffender Vergleich.“

Zu entschuldigen brauchte sich Bill nicht - er hatte getan, was die Natur ihm zu tun befahl, falls man davon ausgehen konnte, daß Vampire viel mit Natur zu tun haben. Mein Freund machte sich auch gar nicht die Mühe, sich zu entschuldigen. Ich jedoch hätte mich irgendwie über eine Entschuldigung gefreut.

„Wie es aussieht, stecke ich wohl ziemlich in der Patsche?“ fragte ich schließlich. Es war zwei Uhr morgens, und ich stellte fest, daß die Frage mich bei weitem nicht so störte oder mitnahm, wie es doch eigentlich der Fall hätte sein müssen.

„Eric wird dich beim Wort nehmen“, sagte Bill. „Ob er dich in Ruhe lassen wird, weiß ich nicht. Ich wünschte ...“ Aber er sprach nicht weiter. Ich hörte Bill zum ersten Mal sagen, er wünsche irgend etwas.

„60.000 Dollar sind doch für einen Vampir sicher nicht die Welt!“ merkte ich an. „Ihr scheint alle ziemlich viel Geld zu haben.“

„Vampire rauben ihre Opfer aus“, sagte Bill beiläufig. „Am Anfang nehmen wir der Leiche das Geld weg. Später, wenn wir mehr Erfahrung haben, beherrschen wir die Sache so gut, daß wir einen Menschen überzeugen können, uns freiwillig Geld zu geben und dies dann zu vergessen. Einige von uns beschäftigen Manager, die ihr Geld verwalten, andere betätigen sich auf dem Immobilienmarkt, und wieder andere leben von den Zinserträgen ihrer Investitionen. Pam und Eric hatten die Bar zusammen eröffnet, wobei Eric einen Großteil des Geldes stellte und Pam den Rest. Beide kannten Long Shadow seit 100 Jahren, und so haben sie ihn als Barmann eingestellt. Er hat sie betrogen.“ „Was mag ihn veranlaßt haben, die beiden zu bestehlen?“

„Er hatte wohl irgendein Unternehmen vor, für das er Kapital brauchte“, sagte Bill ein wenig geistesabwesend. „Er lebte ja bürgerlich, das heißt, er konnte nicht einfach hingehen, einen Bankdirektor hypnotisieren, damit er ihm sein ganzes Geld gibt, und den Mann hinterher umbringen. Also hat er sich bei Eric bedient.“

„Hätte Eric ihm das Geld nicht auch geliehen?“

„Wenn Long Shadow nicht zu stolz gewesen wäre, um zu fragen, wohl schon“, erwiderte Bill.

Wieder schwiegen wir eine lange Zeit. Schließlich sagte ich: „Ich habe eigentlich immer gedacht, Vampire seien klüger als Menschen, aber das stimmt gar nicht, oder?“

„Nicht immer“, stimmte Bill mir zu.

Als wir die Außenbezirke Bon Temps' erreichten, bat ich Bill, mich zu Hause abzusetzen. Er sah mich von der Seite an, aber er sagte nichts. Vielleicht waren Vampire ja doch intelligenter als Menschen.