Kapitel 5

Die folgenden beiden Tage hatte ich allerhand zum Nachdenken. Ich sammle Dinge, über die ich nachdenken kann, damit es mir in ruhigen Zeiten nicht langweilig wird, und nun hatte ich gleich Stoff für mehrere Wochen. Allein die Menschen, die ich im Fangtasia gesehen hatte, lieferten mir ausreichend Stoff zum Grübeln, von den Vampiren ganz zu schweigen. So lange hatte ich mich danach gesehnt, einmal einen Vampir kennenzulernen. Nun kannte ich mehr, als mir lieb ist.

Die Polizei bestellte ziemlich viele Männer aus Bon Temps und Umgebung auf die Wache und befragte sie zu Dawn Green und deren Gewohnheiten. Andy Bellefleur war dazu übergegangen, seine Freizeit in unserem Lokal zu verbringen, was ein wenig unangenehm war. Er hockte hinter seinem Bier - mehr als eins trank er in der Regel nicht - und verfolgte mit Argusaugen alles, was um ihn herum vor sich ging. Sobald unsere Kunden sich an Andy gewöhnt hatten, machte seine Anwesenheit niemandem mehr groß etwas aus, was unter anderem auch daran lag, daß man das Merlottes nicht gerade als einen Hort illegaler Aktivitäten bezeichnen konnte.

Irgendwie schaffte Andy es jedes Mal, sich einen Tisch in dem Teil des Lokals zu sichern, für den ich zuständig war. Dann spielte er ein Spiel ohne Worte mit mir: Sobald ich an seinen Tisch trat, dachte er an etwas Provozierendes. Er wollte mich zwingen, auf seine Gedanken zu reagieren. Offenbar hatte er keinen blassen Schimmer, wie unhöflich das war - die Provokation an sich, nicht die beleidigenden Dinge, an die er dachte. Er wollte unbedingt, daß ich seine Gedanken noch einmal las, und ich konnte nicht verstehen, warum.

Das war vielleicht vier oder fünf Mal so gegangen. Dann mußte ich irgend etwas an seinen Tisch bringen - ich glaube, es war eine Cola Light und er beschäftigte sich gedanklich mit einer Szene, bei der mein Bruder und ich es miteinander trieben. Ich war schon völlig nervös gewesen, noch ehe ich überhaupt an den Tisch getreten war, denn ich hatte genau gewußt, daß mir etwas bevorstand, wenn auch natürlich nicht haargenau, was. Die ganze Sache machte mich derart nervös, daß ich noch nicht einmal mehr wütend sein konnte, sondern mich ständig den Tränen nahe fühlte, weil mich Andys Vorgehen an die nicht gerade raffinierten Foltermethoden erinnerte, denen ich während meiner Grundschulzeit ausgeliefert gewesen war.

Andy blickte mir bereits erwartungsvoll entgegen, sah die Tränen in meinen Augen, und in seinem Gesicht spiegelte sich mit einem Mal eine erstaunliche Vielfalt an Gefühlen: Triumph, Besorgnis und letztlich ein tief empfundenes Schamgefühl.

Ich schüttete ihm seine verdammte Cola über das Hemd.

Dann stiefelte ich direkt am Tresen vorbei zur Hintertür hinaus.

„Was ist los?“ fragte Sam, der mir stehenden Fußes gefolgt war, in scharfem Ton.

Ich wollte auf keinen Fall irgendwelche Erklärungen abgeben müssen. Also schüttelte ich nur verzweifelt den Kopf, zog ein nicht mehr ganz frisches Taschentuch aus der Seitentasche meiner Shorts und trocknete mir damit die Augen.

„Hat er etwas Häßliches zu dir gesagt?“ wollte Sam wissen, wobei seine Stimme leise, aber überaus zornig klang.

„Er hat häßliche Dinge gedacht“, erwiderte ich. „Er will mich zu einer Reaktion zwingen. Er weiß Bescheid.“

„Gottverdammter Schweinehund!“ sagte Sam, und diese Reaktion versetzte mir einen derartigen Schock, daß ich mich schon fast wieder normal fühlte. Sam flucht nämlich nie.

Dann fing ich an zu weinen, und meine Tränen wollten und wollten nicht aufhören zu fließen. Ich weinte mich ordentlich aus - nicht weil ein großes Unglück passiert war, sondern verschiedener kleinerer Traurigkeiten wegen.

„Geh du ruhig wieder rein“, bat ich Sam nach einer Weile, denn die endlose Fontäne, die aus meinen Augen quoll, war mir sehr peinlich. „Es geht dann schon wieder.“

Gleich darauf hörte ich, wie sich die Hintertür öffnete und wieder schloß und nahm an, Sam hätte meiner Bitte Folge geleistet. Aber dann hörte ich die Stimme Andy Bellefleurs. „Ich würde mich gern bei dir entschuldigen, Sookie.“

„Für Sie bin ich immer noch Miss Stackhouse, Andy Bellefleur!“ sagte ich. „Meiner Meinung nach sollten Sie lieber nach den Mördern von Dawn und Maudette suchen, statt hier mit mir fiese Kopfspielchen zu spielen.“

Mit diesen Worten drehte ich mich um und sah dem Polizisten direkt ins Gesicht. Dieser wirkte ganz schrecklich beschämt; das schien echt, ich glaubte nicht, daß er mir etwas vorspielte.

Neben uns fuchtelte Sam wütend mit den Händen. Er steckte voller Zorn und voller Energie, weil er so zornig war. „Hören Sie“, befahl er streng, wobei in seinem Ton eine Menge unterdrückter Gewaltbereitschaft mitschwang, „Sie halten sich gefälligst von Sookies Tischen fern, wenn Sie da wieder reingehen.“

Andy musterte Sam angelegentlich. Was den Körperbau betraf, war der Kriminalbeamte gut das Doppelte meines Chefs und überragte diesen um gute vier Zentimeter, aber trotzdem hätte ich mein Geld in diesem Augenblick auf Sam gesetzt. Auch Andy schien sich nicht auf eine Herausforderung einlassen zu wollen, und sei es auch nur, weil er über ausreichend gesunden Menschenverstand verfügte. Er nickte wortlos und ging über den Parkplatz auf sein Auto zu, wobei sich die Sonne in den blonden Strähnen seiner braunen Haare fing.

„Das alles tut mir sehr leid, Sookie“, sagte Sam.

„Es war nicht deine Schuld.“

„Möchtest du nach Hause gehen? Heute ist hier nicht viel los.“

„Nein, ich arbeite meine Schicht noch zu Ende.“ Charlsie Tooten hatte sich inzwischen prima an das Arbeitstempo bei uns gewöhnt, aber guten Gewissens hätte ich sie nicht allein lassen mögen, da Arlene an diesem Tag frei hatte.

Sam und ich begaben uns also gemeinsam zurück ins Lokal, wobei wir, als wir durch die Tür traten, von ein paar neugierigen Blicken begrüßt wurden; aber niemand fragte, was passiert war. Von meinen Tischen war nur ein einziger besetzt; das Pärchen dort war mit Essen beschäftigt und hatte volle Gläser. Sie würden mich so schnell nicht brauchen. Ich fing an, Weingläser in die Regale zu räumen, und Sam lehnte neben mir an der Arbeitsfläche.

„Stimmt es, daß Bill Compton heute abend bei den Nachkommen ruhmreicher Toter einen Vortrag hält?“

„So hat es meine Großmutter mir jedenfalls erzählt.“

„Gehst du hin?“

„Das hatte ich eigentlich nicht vor.“ Ich wollte Bill erst wiedersehen, wenn er selbst bei mir anrief und sich mit mir verabredete.

Sam sagte nichts dazu. Später aber, als ich meine Handtasche aus seinem Büro holte, um nach Hause zu gehen, kam er mir nach und machte sich an irgendwelchen Papieren auf seinem Schreibtisch zu schaffen. Ich hatte gerade meine Bürste aus der Handtasche genommen und versuchte, mir den Pferdeschwanz auszukämmen, in dem sich eine Strähne verfilzt hatte. Die ganze Art, wie Sam mit den Papieren herumpusselte, ließ darauf schließen, daß er eigentlich mit mir reden wollte. Plötzlich spürte ich eine Mischung aus Lachlust und Verzweiflung in mir aufsteigen: Was für verquere Umwege Männer anscheinend immer für notwendig hielten!

Genau wie Andy Bellefleur: Warum fragte der mich nicht einfach direkt nach meiner Behinderung, anstatt diese Spielchen mit mir zu treiben?

Wie Bill: Er hätte doch einfach sagen können, was er von mir wollte, statt diese ganze merkwürdige Nummer mit den heißen und kalten Wechselbädern abzuziehen.

„Sam, was ist?“ fragte ich meinen Chef schärfer, als ich eigentlich beabsichtigt hatte.

Sam lief rot an, als er meinen Blick auf sich ruhen fühlte.

„Ich habe mich gerade gefragt, ob du nicht vielleicht mit mir zusammen zur Veranstaltung der Nachkommen gehen möchtest. Wir könnten hinterher noch eine Tasse Kaffee trinken.“

Ich war so erstaunt, daß meine Hand mit der Bürste mitten in einem Abstrich erstarrte. Eine Menge Dinge schossen mir durch den Kopf. Das Gefühl von Sams Hand in meiner, als wir vor Dawns Haushälfte Händchen gehalten hatten; die Mauer, mit der ich in seinem Kopf zusammengestoßen war, all die Gründe, die dagegen sprechen, mit dem eigenen Chef auszugehen.

„Gerne“, sagte ich nach einer nicht unerheblichen Pause.

Sam atmete erleichtert aus. „Prima. Dann hole ich dich so gegen zwanzig nach sieben zu Hause ab. Das Treffen fängt um halb acht an.“

„Bis dann also.“

Rasch nahm ich meine Handtasche und ging nach draußen zu meinem Wagen, denn ich hatte Angst, ich würde irgend etwas Merkwürdiges tun, wenn ich länger bliebe. Mir war nicht recht klar, ob ich jetzt vergnügt kichern oder lieber ob meiner Blödheit laut stöhnen sollte.

Um viertel nach sechs kam ich zu Hause an. Meine Oma hatte das Abendessen bereits fertig, denn sie wollte rechtzeitig aus dem Haus, um die Erfrischungen, die die Nachkommen bei der Veranstaltung reichen wollten, ins Bürgerhaus von Bon Temps zu schaffen, wo die Abendveranstaltung stattfinden sollte.

„Ich wüßte gern, ob er auch hätte kommen können, wenn wir das Gemeindehaus der Baptisten genommen hätten“, begrüßte mich meine Oma etwas unvermittelt, aber ich hatte keine Probleme damit, ihrem Gedankengang zu folgen.

„Ich glaube schon“, erwiderte ich also. „Meiner Meinung nach stimmt es nicht, daß Vampire sich vor religiösen Symbolen fürchten. Aber ich habe ihn nie direkt danach gefragt.“

„Bei den Baptisten hängt ein großes Kreuz“, fuhr meine Oma nachdenklich fort.

„Ich komme heute abend doch zum Vortrag“, sagte ich daraufhin. „Ich gehe mit Sam Merlotte.“

„Mit Sam, deinem Chef?“ Oma war überrascht.

„Ja, Ma'am.“

„Hm. Gut.“ Lächelnd stellte Oma unsere Teller auf den Tisch. Während wir Butterbrote und Obstsalat aßen, versuchte ich, mir über die Kleiderfrage für den heutigen Abend schlüssig zu werden, und Oma wurde immer vergnügter. Sie freute sich auf die Veranstaltung, freute sich ungeheuer darauf, Bill ihren Freundinnen vorstellen zu können, und nach meiner Ankündigung, ich würde in Sams Begleitung kommen, war sie endgültig nicht mehr von dieser Welt, sondern höchstwahrscheinlich irgendwo in der Gegend der Venus. Ihre Enkelin hatte eine richtige Verabredung für diesen Abend, noch dazu mit einem Menschen!

„Wir wollen danach noch ausgehen“, erklärte ich. „Ich komme wohl erst eine Stunde oder so nach Ende der Veranstaltung heim.“ Groß ist die Auswahl an Restaurants, in denen man in Bon Temps Kaffee trinken kann, nicht gerade, und die wenigen vorhandenen Lokale laden nicht wirklich ein, dort stundenlang zu verweilen.

„Laß dir ruhig Zeit, Herzchen.“ Oma hatte sich schon schick gemacht, und nach dem Abendbrot half ich ihr, die Platten mit den Keksen und die riesige Kaffeekanne, die sie für solche Anlässe angeschafft hatte, im Auto zu verstauen. Zu diesem Zweck hatte Oma ihr Auto vor der Hintertür geparkt, was uns einiges Treppensteigen ersparte. Oma war ganz in ihrem Element. Sie lachte und plauderte die ganze Zeit vergnügt. Abende wie diesen liebte sie von ganzem Herzen.

Ich zog mir die Kellnerinnentracht aus und verschwand unter der Dusche. Während ich mich abseifte, grübelte ich weiter über die Kleiderfrage. Ich würde auf keinen Fall schwarz und weiß tragen. Die Farbkombination, die die Kellnerinnen im Merlottes tragen mußten, hing mir schon reichlich zum Halse heraus. Ich rasierte mir schnell die Beine, hatte aber keine Zeit, auch die Haare zu waschen, denn die wären einfach nicht mehr trocken geworden. Gut, daß ich sie mir erst am Vortag gewaschen hatte. Dann stand ich nachdenklich vor meiner offenen Kleiderschranktür. Das weiße Kleid mit den Blumen hatte Sam schon gesehen. Der blaue Jeans-Trägerrock war nicht festlich genug für eine Veranstaltung mit Omas Freundinnen. Letztlich entschied ich mich für eine kurzärmlige bronzefarbene Seidenbluse und eine khakifarbene Hose. Ich besaß braune Lederschuhe und einen braunen Ledergürtel, die gut dazu passen würden. Ich hängte mir eine Kette um den Hals, steckte große goldene Ohrringe in die Ohren und war fertig angezogen, da klingelte auch schon Sam an der Tür, als hätte er den Moment abgepaßt.

Ich öffnete, und einen Augenblick lang standen wir einander etwas befangen gegenüber.

„Ich würde dich gern hereinbitten, aber ich glaube, wir schaffen es gerade noch rechtzeitig ...“

„Ich würde ja gern hereinkommen, aber ich glaube, wir schaffen es gerade ...“

Dann mußten wir beide lachen.

Ich zog die Tür hinter mir zu und schloß ab, während Sam rasch zu seinem Pick-up ging, um mir die Beifahrertür zu öffnen. Ich war froh, eine Hose angezogen zu haben und stellte mir vor, wie es gewesen wäre, hätte ich in einem meiner kurzen Kleidchen in die hohe Fahrerkabine klettern müssen.

„Soll ich von unten nachhelfen?“ fragte Sam hoffnungsvoll.

„Nein, ich glaube, ich schaffe es auch so“, versicherte ich, wobei ich versuchte, mir ein Grinsen zu verkneifen.

Schweigend fuhren wir zum Bürgerhaus, einem Gebäude in dem Teil von Bon Temps, der noch aus der Zeit vor dem Krieg stammt. Das Bürgerhaus selbst war zwar nicht vor dem Krieg erbaut worden, befand sich aber auf einem Gelände, auf dem bereits früher ein Haus gestanden hatte, das dann im Krieg zerstört worden war. Es konnte allerdings niemand mehr genau sagen, was für ein Haus das damals gewesen war.

Die Nachkommen ruhmreicher Toter waren ein bunt zusammengewürfelter Haufen. Einige Mitglieder waren bereits uralt und sehr zerbrechlich, andere waren nicht ganz so alt und sehr lebendig. Dazu kamen ein paar Männer und Frauen mittleren Alters. Junge Mitglieder fehlten allerdings gänzlich, eine Tatsache, die meine Oma oft lautstark bedauerte, nicht ohne dabei jeweils vielsagende Blicke in meine Richtung zu werfen.

An diesem Abend sollte Mr. Sterling Norris die Gäste willkommen heißen, der Bürgermeister von Bon Temps und ein guter Freund meiner Großmutter. Er stand auch bereits an der Tür, um jeden mit einem Handschlag und ein paar freundlichen Worten in Empfang zu nehmen.

„Sookie, Sie werden von Tag zu Tag hübscher“, begrüßte er mich.

„Sam! Sie habe ich ja eine Ewigkeit nicht mehr gesehen!“

„Sookie - stimmt es, daß dieser Vampir ein Freund von Ihnen ist?“

„Ja, Sir.“

„Ihrer Meinung nach wird heute abend hier niemandem etwas geschehen?“

„Ja, da bin ich mir ganz sicher. Es wird niemandem etwas geschehen. Er ist... ein sehr netter Kerl.“ Ein nettes Wesen? Eine nette Wesenheit? Er ist soweit in Ordnung, falls man Untote mag?

„Wenn Sie es sagen ... “, meinte Mr. Norris, und klang nicht überzeugt. „Zu meiner Zeit gehörte so etwas ja in den Bereich der Märchen.“

„Mr. Norris! Als sei Ihre Zeit schon vorbei!“ schalt ich mit dem fröhlichen Lächeln, das von mir erwartet wurde, woraufhin der Bürgermeister lachte und uns mit einer Handbewegung bat, einzutreten, denn genau das wurde von ihm erwartet. Sam ergriff meine Hand und steuerte mich, anders läßt sich das nicht sagen, auf die vorletzte Reihe der Metallstühle zu, und als wir uns setzten, winkte ich meiner Großmutter zu. Die Veranstaltung sollte gleich anfangen. Es befanden sich etwa vierzig Menschen im Raum, für Bon Temps eine Menge. Wer nicht da war, war Bill.

Statt seiner betrat die Vorsitzende der Nachkommen, eine große, mehr als stattliche Frau namens Maxine Fortenberry das Podium.

„Guten Abend! Guten Abend!“ verkündete sie strahlend und laut. „Gerade hat unser Ehrengast angerufen, um uns mitzuteilen, daß er Probleme mit seinem Wagen hat und sich einige Minuten verspäten wird. Wir erledigen also am besten erst einmal den geschäftlichen Teil der Vereinssitzung und warten auf sein Eintreffen.“

Die Gruppe der Vereinsmitglieder vertiefte sich in die Details, die zu einer regulären Vereinssitzung gehören, und wir anderen mußten uns allerhand langweiliges Zeug anhören. Sam saß mit verschränkten Armen neben mir und hatte den Knöchel des rechten Beins auf das linke Knie gelegt. Ich gab mir ganz große Mühe, niemandes Gedanken in meinen Kopf eindringen zu lassen, und sackte infolgedessen leicht in mich zusammen, als Sam sich zu mir herüberbeugte, um mir zuzuflüstern: „Entspann dich.“

„Ich dachte, ich sei entspannt!“ gab ich ebenfalls flüsternd zurück.

„Ich glaube, du weißt gar nicht, wie das geht.“

Ich starrte ihn mit hochgezogenen Brauen an. Nach der Veranstaltung würde ich ein paar Takte mit Mr. Merlotte reden müssen.

Da kam auch schon Bill und mit ihm ein Augenblick vollkommener Stille. Alle, die ihn vorher noch nie gesehen hatten, mußten sich erst einmal an seinen Anblick gewöhnen. Wer noch nie mit einem Vampir zusammen im selben Raum gewesen ist, muß sich wirklich erst einmal auf dessen Andersartigkeit einstellen. Im Neonlicht des Bürgerhauses wirkte Bill viel weniger menschlich als im Dämmerlicht bei Merlottes oder im mindestens ebenso schummrigen Licht seines eigenen Hauses. Hier hätte man ihn keinesfalls für einen gewöhnlichen Menschen halten können, wobei natürlich als erstes seine Leichenblässe hervorstach. Aber auch seine Augen, diese tiefen Seen, wirkten viel blauer und kälter als sonst. Bill trug einen hellblauen Sommeranzug, wobei ich hätte wetten können, daß Oma ihm zu dieser Wahl geraten hatte. Er sah phantastisch aus. Die klaren Bögen seiner Brauen, die kühn geschwungene Nase, die feingeschnittenen Lippen, die weißen Hände mit den langen Fingern und sorgfältig gestutzten Nägeln ... er wechselte gerade ein paar Worte mit der Vorsitzenden, die angesichts des Lächelns, das charmant seine geschlossenen Lippen umspielte, scheinbar am liebsten aus dem Hüfthalter gesprungen wäre.

Ich hätte nicht sagen können, ob Bill die gesamte Zuhörerschaft bezirzt hatte oder ob alle Anwesenden von vornherein bereit gewesen waren, ihm aufmerksam zuzuhören. Jedenfalls senkte sich jetzt erwartungsvolles Schweigen über den Saal.

Nun hatte Bill auch mich entdeckt, und ich hätte schwören können, daß seine Augenbrauen leicht zuckten. Er begrüßte mich mit einer knappen Verbeugung, die ich mit einem Nicken erwiderte, ohne ihm jedoch ein Lächeln zu schenken. Ich konnte nicht. Inmitten all dieser Menschen stand ich persönlich immer noch am Rande des Schweigens in das Bill sich mir gegenüber gehüllt hatte und das mir mindestens so tief schien wie ein ganzer See.

Mrs. Fortenberry stellte Bill den Anwesenden vor, aber ich erinnere mich nicht mehr, was sie genau sagte oder wie sie die Tatsache umging, daß Bill ja nun ein ganz anderes Lebewesen war als wir.

Dann sprach Bill, und ich stellte zu meiner großen Verwunderung fest, daß er sich für den Vortrag Notizen gemacht hatte. Neben mir beugte Sam sich vor, und sein Blick ruhte unverwandt auf Bills Gesicht.

„ ... hatten wir keine Decken mehr und sehr wenig zu essen“, schloß Bill ruhig. „Es gab viele Deserteure.“

Das hörten die Nachkommen nicht gerade gern, aber einige von ihnen nickten zustimmend. Offenbar deckte sich das, was Bill sagte, mit dem, was sie selbst bei ihren Nachforschungen herausgefunden hatten.

In der ersten Reihe hob nun ein uralter Mann die Hand.

„Sir, haben Sie vielleicht zufällig meinen Urgroßvater gekannt, Tolliver Humphries?“

„Ja“, sagte Bill nach kurzem Schweigen. „Tolliver war mein Freund.“

Einen ganz kleinen Moment lag etwas so Tragisches in seiner Stimme, daß ich die Augen schließen mußte.

„Wie war er?“ fragte der alte Mann zittrig.

„Er war tollkühn, und das führte zu seinem Tod“, erwiderte Bill mit einem müden Lächeln. „Er war tapfer. Er hat in seinem Leben nicht einen Cent verdient, den er nicht gleich wieder verschwendet hätte.“

„Wie starb er? Waren Sie dabei?“

„Ja, ich war da,“ sagte Bill und wirkte sehr erschöpft. „Ich sah, wie er von einem Scharfschützen aus dem Norden erschossen wurde, in den Wäldern, etwa zwanzig Meilen von hier. Er konnte sich nicht mehr sehr schnell bewegen, denn er hatte lange nichts Richtiges gegessen; wir waren ja alle kurz vorm Verhungern. In den späten Morgenstunden dieses Tages hatte Tolliver gesehen, wie ein Junge aus unserem Regiment angeschossen wurde. Dieser Junge hatte ohne ausreichende Deckung mitten in einem Feld gelegen, als es ihn erwischte. Er war nicht tot, aber schwer verwundet und litt sehr. Aber er war noch in der Lage, uns etwas zuzurufen, und das tat er auch, den ganzen Morgen über. Er rief, wir sollten ihm helfen. Er wußte, er würde sterben, wenn niemand ihm zu Hilfe kam.“

Im ganzen Raum war es so still, daß man eine Stecknadel hätte zu Boden fallen hören können.

„Er schrie und stöhnte. Ich stand kurz davor, ihm noch eine Kugel zu verpassen, um ihn zum Schweigen zu bringen, denn sich dort hinauszuwagen, um ihn in Sicherheit zu bringen, wäre Selbstmord gewesen, das wußte ich genau. Aber ihn zu töten brachte ich dann doch nicht über mich. Das, so sagte ich mir, wäre Mord, kein Töten wie im Krieg. Später habe ich mir oft gewünscht, ich hätte ihn erschossen. Im Gegensatz zu mir schaffte es Tolliver nämlich nicht, dem Flehen des Jungen kein Gehör zu schenken. Nachdem er es sich zwei Stunden lang angehört hatte, teilte er mir mit, er werde versuchen, den Jungen zu retten. Ich tat mein Bestes, ihn davon abzubringen, ich stritt mich mit ihm, aber Tolliver sagte, Gott wünsche, daß er den Jungen rette. Er sagte, er habe gebetet, während wir dort in den Wäldern lagen.

Ich sagte zu Tolliver, Gott wolle bestimmt nicht, daß er sein Leben sinnlos aufs Spiel setze, und seine Frau und die Kinder zu Hause würden doch auch beten, nämlich darum, daß er heil nach Hause käme. Aber Tolliver bat mich nur, den Feind abzulenken, während er versuchte, den Jungen zu retten. Er lief auf diese Lichtung, als sei es ein schöner Frühlingstag, der ihn dort erwartete, und als sei er bestens ausgeruht, und er kam auch heil bis zu diesem verletzten Jungen. Aber dann fiel ein Schuß, und Tolliver sank tot zu Boden. Nach einiger Zeit schrie der Junge dann erneut um Hilfe.“

„Was wurde aus ihm?“ fragte Mrs. Fortenberry, und ihre Stimme klang so leise, wie Mrs. Fortenberrys Stimme überhaupt klingen konnte.

„Er hat überlebt“, sagte Bill in einem Ton, der mir kalte Schauder über den Rücken jagte. „Er hat den Tag überlebt, und in der Nacht waren wir in der Lage, ihn zu bergen.“

Irgendwie waren all diese Menschen wieder zum Leben erwacht, als Bill von ihnen erzählte, und für den alten Mann in der ersten Reihe gab es nun eine Erinnerung, die er in seinem Herzen bewegen und wertschätzen konnte, eine Erinnerung, die viel über den Charakter seines Vorfahren aussagte.

Ich glaube, niemand, der an diesem Abend zur Veranstaltung der Nachkommen erschienen war, hatte auch nur im geringsten damit gerechnet, welch nachhaltigen Eindruck der Bericht eines Überlebenden des Bürgerkrieges hinterlassen würde. Die Anwesenden waren allesamt völlig fasziniert, und sie waren mit den Nerven am Ende, am Boden zerstört.

Nachdem Bill die letzte Frage beantwortet hatte, gab es donnernden Applaus - jedenfalls so donnernd, wie vierzig Leute applaudieren können. Selbst Sam schaffte begeistertes Händeklatschen, und er war ja nun nicht gerade Bills größter Fan.

Bis auf Sam und mich wollten alle nach der Veranstaltung gern noch ein paar persönliche Worte mit Bill wechseln. Widerstrebend fand sich der Gast damit ab, daß ihn die Nachkommen förmlich umzingelten, während ich mich mit Sam hinaus zu Sams Pick-up schlich. Wir fuhren zum Crawdad Diner, einer ziemlichen Spelunke, die jedoch über eine überraschend gute Küche verfügte. Ich hatte keinen Hunger, aber Sam bestellte sich zu seinem Kaffee ein Stück Limonenkuchen.

„Das war interessant“, leitete Sam vorsichtig die Unterhaltung ein.

„Bills Vortrag? Sehr interessant“, erwiderte ich ebenso vorsichtig.

„Empfindest du etwas für ihn?“

Nach all den Umwegen hatte Sam nun wohl beschlossen, einen direkten Angriff wagen zu wollen.

„Ja“, sagte ich.

„Sookie!“ sagte Sam, „eine solche Beziehung hat keine Zukunft.“

„Wieso das denn? Immerhin gibt es den Mann schon eine ganze Weile, und ich gehe davon aus, daß er noch ein paar hundert Jahre machen wird.“

„Man weiß nie, was einem Vampir alles widerfahren kann.“

Gegen dieses Argument ließ sich nichts einwenden. Aber ich wies Sam darauf hin, daß man genauso wenig sagen konnte, was mir, einem Menschen, alles widerfahren würde.

So ging es eine Weile zwischen uns hin und her, bis ich schließlich die Geduld verlor. „Was geht dich das eigentlich an, Sam?“

Sams sonnengegerbtes Gesicht wurde knallrot, aber seine hellen, blauen Augen hielten meinem Blick tapfer stand. „Ich mag dich. Als Freund, vielleicht aber auch als etwas anderes ... “

„Was?“

„Mir würde es einfach leid tun, wenn du eine falsche Entscheidung triffst.“

Ich sah ihn unverwandt an und konnte dabei spüren, wie sich mein Gesicht zu einer ungläubigen Miene verzog, die Brauen zusammengezogen, die Mundwinkel leicht nach oben.

„Aber sicher doch!“ sagte ich mit einer Stimme, die genau zu meinem Gesichtsausdruck paßte.

„Ich habe dich immer schon gern gehabt.“

„So gern, daß du warten mußtest, bis jemand anderes Interesse an mir zeigte, ehe du es erwähnen konntest?“

„Das habe ich wohl verdient.“ Sam schien nachzudenken. Anscheinend hatte er noch etwas sagen wollen, konnte sich dann aber doch nicht dazu entschließen.

Was immer es sein mochte: Offenbar war es ihm unmöglich, damit herauszurücken.

„Laß uns gehen“, schlug ich vor. Die Unterhaltung jetzt wieder auf neutralen Boden zu steuern würde schwer sein, und da konnte ich, dachte ich mir, genauso gut auch nach Hause fahren.

Die Rückfahrt verlief eigenartig. Irgendwie schien Sam ein paar Mal etwas sagen zu wollen, schüttelte aber jedes Mal, wenn er den Mund aufgemacht hatte, gleich wieder den Kopf und schwieg statt dessen. Das regte mich so auf, daß ich den Mann am liebsten verprügelt hätte.

Als wir bei mir zu Hause ankamen - später, als ich angenommen hatte -, brannte im Zimmer meiner Oma noch Licht, der Rest des Hauses jedoch lag im Dunkeln. Den Wagen meiner Oma sah ich nicht, also ging ich davon aus, daß sie ihn vor der Hintertür geparkt hatte, um das, was von den Erfrischungen des Abends übrig geblieben war, gleich vom Auto in die Küche tragen zu können. Für mich hatte sie das Verandalicht brennen lassen.

Sam ging um den Pick-up herum, öffnete die Beifahrertür, und ich schickte mich an auszusteigen, wobei mein Fuß jedoch leider im Dunkeln das Trittbrett verfehlte und ich praktisch aus der Fahrerkabine fiel. Sam fing mich auf. Zuerst hatte er die Arme nur ausgestreckt, um meinen Sturz abzufangen, dann aber schlang er sie um mich und küßte mich.

Ich dachte, das würde ein kleiner Gutenachtkuß werden, aber sein Mund schien den meinen nicht wieder freigeben zu wollen. Es war schön - mehr als nur schön sogar -, aber mein innerer Zensor meldete sich sofort heftig zu Wort: „Das ist dein Chef!“

Sanft löste ich mich aus der Umarmung, und Sam verstand auch sofort, daß ich lieber den Rückzug antreten wollte. Seine Hände glitten sacht an meinen Armen hinab, bis er mich nur noch bei den Händen hielt. So gingen wir zur Tür, ohne ein einziges Wort zu sagen.

„Mir hat es gefallen“, flüsterte ich dann, um meine Oma nicht zu wecken. Ich wollte auch nicht allzu vergnügt klingen.

„Mir auch. Wollen wir das bald mal wiederholen?“

„Abwarten“, sagte ich, denn ich war mir nicht klar, welche Gefühle ich für Sam hegte.

Ich wartete, bis ich den Pick-up wenden hörte, dann löschte ich das Verandalicht und ging ins Haus. Auf dem Weg durchs Wohnzimmer knöpfte ich mir die Bluse auf, denn jetzt war ich müde und wollte nur noch auf dem schnellsten Weg ins Bett.

Aber irgend etwas stimmte nicht.

Ich blieb mitten im Wohnzimmer stehen und sah mich um.

Alles sah doch so aus wie immer, oder etwa nicht?

Ja, alles stand an seinem Platz.

Es war der Geruch, der nicht stimmte.

Im Wohnzimmer roch es, wie ein Penny riecht.

Eine Art Kupfergeruch, scharf und salzig.

Es roch nach Blut.

Dieser Geruch lag hier unten in der Luft, wo ich war, nicht oben, wo ordentlich und einsam die Schlafzimmer für Gäste lagen.

„Oma?“ rief ich, und es gefiel mir gar nicht, wie meine Stimme zitterte.

Ich zwang mich, vorwärts zu gehen, ich zwang mich, bis zu Omas Zimmertür zu gehen. Das Zimmer war sauber und leer. Da fing ich an, auf dem Weg durch unser Haus überall Licht zu machen.

Mein Zimmer war so, wie ich es verlassen hatte.

Das Badezimmer war leer.

Die Waschküche war leer.

Ich schaltete die letzte Lampe ein. Die Küche war ...

Dann schrie ich und schrie und schrie, und meine Hände flatterten sinnlos in der Luft umher und zitterten mit jedem Schrei stärker. Hinter mir ertönte lautes Krachen, aber das war mir egal, nichts hätte mich weniger interessieren können. Dann aber griffen starke Hände nach mir, und ein großer Körper schob sich zwischen mich und das, was ich auf dem Küchenfußboden hatte liegen sehen. Ohne daß ich Bill erkannt hätte, hob er mich auf und trug mich ins Wohnzimmer, wo ich das, was ich auf dem Küchenfußboden hatte liegen sehen, nicht mehr sehen konnte.

„Sookie!“ befahl er rauh. „Halt den Mund! Das tut doch nicht gut.“

Wäre er lieb zu mir gewesen, dann hätte ich nie aufhören können zu kreischen.

„Es tut mir leid!“ entschuldigte ich mich, immer noch nicht wieder ganz bei Sinnen. „Ich führe mich ja auf wie dieser Junge!“

Bill starrte mich verständnislos an.

„Der in deiner Geschichte.“ Ich fühlte mich wie betäubt.

„Wir müssen die Polizei rufen.“

„Sicher.“

„Wir müssen zum Telefon.“

„Warte“, sagte ich. „Wie bist du hergekommen?“

„Deine Oma wollte mich gleich nach Hause fahren, aber ich habe darauf bestanden, ihr erst einmal beim Ausladen zu helfen.“

„Warum bist du dann immer noch hier?“

„Ich habe auf dich gewartet.“

„Du hast also mitbekommen, wer sie umgebracht hat?“

„Nein. Zwischendurch war ich zu Hause und habe mich umgezogen.“

Bill trug Jeans und ein T-Shirt der Grateful Dead, und unversehens mußte ich ganz schrecklich kichern.

„Das ist ja köstlich!“ kreischte ich und krümmte mich schier vor Lachen.

Dann mußte ich ebenso plötzlich weinen. Ich hob den Telefonhörer ab und wählte 911.

Andy Bellefleur war innerhalb von fünf Minuten da.

* * *

Jason kam, sobald ich ihn hatte verständigen können. Ich hatte an vier oder fünf verschiedenen Stellen versucht, ihn zu erreichen, bis es mir im Merlottes endlich gelang. Dort hütete an diesem Abend statt Sam Terry Bellefleur den Tresen. Nachdem ich Terry gebeten hatte, Jason zu sagen, er möge sofort zum Haus seiner Oma kommen, bat ich ihn auch noch, mich bei Sam zu entschuldigen und ihm auszurichten, ich würde ein paar Tage nicht zur Arbeit kommen können, da ich zu Hause Probleme hätte.

 Terry hatte Sam offenbar postwendend von meinem Anruf verständigt, denn eine halbe Stunde später war er da, immer noch in der Kleidung, die er auch bei der Veranstaltung der Nachkommen getragen hatte. Als ich ihn sah, mußte ich plötzlich daran denken, daß ich mir ja die Bluse aufgeknöpft hatte, und blickte hastig an mir herunter. Ich war jedoch vollständig und züchtig bekleidet - wahrscheinlich hatte Bill mir die Bluse gerichtet, und später irgendwann würde mir diese Tatsache gewiß auch peinlich sein, aber im Moment war ich ihm einfach nur sehr dankbar.

Dann tauchte Jason auf. Als ich ihm mitteilte, Oma sei tot, eines gewaltsamen Todes gestorben, starrte er mich nur an. Hinter seinen Augen schien sich nichts abzuspielen. Es war, als hätte jemand Jasons Fähigkeit zur Aufnahme und Verarbeitung von Informationen gelöscht. Dann drangen meine Worte zu ihm durch, und mein Bruder sank dort, wo er gerade stand, in die Knie. Auch ich kniete mich hin, direkt ihm gegenüber. Er legte die Arme um mich, ließ den Kopf auf meine Schulter sinken, und so verharrten wir eine Weile. Jetzt waren wir die einzigen, die noch übrig waren.

Bill und Sam saßen draußen im Vorgarten in Liegestühlen, um der Polizei nicht im Wege zu sein. Auch Jason und mich bat man nach einer Weile, das Haus zu verlassen und uns auf die Veranda zu begeben. Wir beschlossen, uns lieber auch auf den Rasen zu setzen. Es war ein milder Abend. Ich saß da und sah unser Haus an, das so hell erleuchtet war wie ein Geburtstagskuchen, und sah den Menschen zu, die dort ein- und ausgingen wie Ameisen, denen man erlaubt hatte, an der Geburtstagsparty teilzunehmen. All diese Geschäftigkeit rings um das, was einmal meine Großmutter gewesen war.

„Was ist passiert?“ fragte Jason nach einer Weile.

„Ich bin von der Veranstaltung nach Hause gekommen“, sagte ich ganz langsam, „und ins Haus gegangen, nachdem ich gehört hatte, wie Sam mit dem Pick-up wegfuhr. Ich habe gemerkt, daß irgend etwas nicht stimmte. Ich habe in jedem Zimmer nachgesehen.“ Das war die offizielle Version: wie es dazu gekommen war, daß ich die Leiche meiner Oma fand. „Als ich in die Küche kam, sah ich sie.“

Jason wandte ganz langsam den Kopf, bis er mir in die Augen sehen konnte. „Erzähl.“

Ich schüttelte den Kopf und preßte die Lippen zusammen. Aber er hatte ein Recht darauf, es zu erfahren. „Jemand hat sie zusammengeschlagen. Aber sie hat versucht, sich zu wehren, das nehme ich jedenfalls an. Wer immer sie umgebracht hat, hat ihr mehrere Stichwunden zugefügt. Dann hat er sie erwürgt. So sah es jedenfalls aus.“

Bei dem, was jetzt kam, konnte ich nicht einmal meinem Bruder ins Gesicht sehen. „Es war ganz allein meine Schuld.“ Meine Stimme klang nicht lauter als ein Flüstern.

„Wie kommst du denn darauf?“ sagte Jason und klang lediglich völlig begriffsstutzig und leicht nuschelig.

„Ich glaube, daß jemand hier war und mich umbringen wollte, so wie Maudette und Dawn. Aber ich war nicht da. Statt meiner war Oma da.“

Ich konnte förmlich sehen, wie diese Überlegung langsam in Jasons Kopf einsickerte.

„Ich hatte heute abend eigentlich zu Hause sein wollen, nicht auf dem Treffen der Nachkommen. Sam hat mich in letzter Minute gebeten, mit ihm hinzugehen. Mein Auto stand vor der Tür, wie sonst auch, wenn ich zu Hause bin, denn wir nahmen Sams Pick-up. Oma hatte ihr Auto hinten geparkt, zum Ausladen, also sah es so aus, als sei sie gar nicht da. Als sei nur ich da. Oma wollte Bill nach Hause fahren, aber der wollte erst einmal mit ihr hierher kommen, um ihr beim Ausladen zu helfen. Dann ist er nach Hause gegangen und hat sich umgezogen. Als er gegangen war, da hat... wer immer es gewesen sein mag ... sie erwischt.“

„Woher wissen wir, daß es nicht Bill war?“ fragte Jason, als säße der nicht direkt neben ihm.

„Woher wissen wir von irgendwem, daß er es nicht war?“ fragte ich, und es machte mich nervös und ungeduldig, daß Jason so langsam dachte. „Jeder könnte als Täter in Frage kommen, alle, die wir kennen. Ich glaube nicht, daß Bill es war. Ich glaube nicht, daß Bill Dawn und Maudette umgebracht hat, aber ich glaube, daß derjenige, der Dawn und Maudette umgebracht hat, auch Oma umgebracht hat.“

„Wußtest du,“ fragte Jason nun, wobei seine Stimme viel zu laut klang, „daß Oma dieses Haus dir ganz allein vermacht hat?“

Es war, als hätte er mir einen Eimer kaltes Wasser mitten ins Gesicht geschüttet. Ich hatte gesehen, daß auch Sam zusammengezuckt war. Bills Augen leuchteten noch dunkler, noch eisiger.

„Nein. Ich ging immer davon aus, daß wir beide es erben würden, gemeinsam, wie das andere auch.“ Wie das Haus unserer Eltern, in dem Jason lebte.

„Sie hat dir auch das Land hinterlassen.

“Warum sagt du das? Was meinst du damit?“ Gleich würde ich wieder anfangen zu weinen, und ich war doch so sicher gewesen, überhaupt keine Tränen mehr zu haben.

„Das war ungerecht von ihr!“ schrie Jason. „Es war ungerecht, und nun kann sie das nicht mehr gutmachen.“

Nun zitterte ich am ganzen Leib. Bill zog mich aus dem Liegestuhl und führte mich im Garten auf und ab. Sam hockte sich vor Jason und redete mit leiser, eindringlicher Stimme auf meinen Bruder ein.

Bill hielt mich im Arm, aber ich konnte nicht aufhören zu zittern.

„Hat er das wirklich so gemeint?“ fragte ich und rechnete gar nicht mit einer Antwort von Bill.

„Nein“, erwiderte er, und ich sah verwundert zu ihm auf.

„Nein. Er war nicht hier, er hat deiner Oma nicht helfen können und wird nicht mit der Vorstellung fertig, daß jemand dir hier aufgelauert und dann statt deiner deine Großmutter umgebracht hat. Auf irgend etwas muß er jetzt wütend sein, das braucht er. Statt wütend auf dich zu sein, weil du dich nicht hast umbringen lassen, ist er wütend auf irgendwelche Dinge. Ich würde mir darüber keine Gedanken machen.“

„Ich finde es ziemlich erstaunlich, daß ausgerechnet du das sagst“, erwiderte ich frei heraus.

„Ich habe ein paar Abendkurse in Psychologie besucht“, erklärte Bill Compton, der Vampir.

Ich konnte mir nicht helfen, ich mußte einfach daran denken, daß alle Jäger die Gewohnheiten ihrer Beute studieren. „Warum hat Oma alles mir hinterlassen und nicht Jason?“

„Vielleicht findest du das später einmal heraus“, antwortete Bill, und diese Antwort reichte mir zunächst einmal.

Dann trat Andy Bellefleur aus dem Haus, blieb auf der Verandatreppe stehen und blickte zum Himmel empor, als sei dort oben alles verzeichnet, was er für die Lösung des Falls wissen mußte.

„Compton!“ rief er dann in scharfem Ton.

„Nein.“ Das kam von mir - und es klang wie ein Knurren.

Ich spürte, wie mich Bill erstaunt von der Seite ansah; für seine Verhältnisse war das eine ziemlich heftige Reaktion.

„Nun geht es los!“ verkündete ich wütend.

„Du willst mich also wirklich beschützen!“ sagte Bill verdattert. „Du hast gedacht, die Polizei würde mich des Mordes an den beiden Frauen verdächtigen, und deswegen wolltest du ganz sichergehen, daß die beiden auch mit anderen Vampiren verkehrt haben, und nun denkst du, dieser Bellefleur will mir die Schuld am Tod deiner Großmutter in die Schuhe schieben.“ „Ja.“

Bill holte tief Luft. Wir standen im Dunkeln unter den Bäumen, die unseren Garten umstanden. Die anderen sahen uns nicht. Andy wiederholte Bills Namen, und diesmal klang es wie ein Bellen.

„Sookie“, sagte Bill nun ganz sanft. „Ich bin sicher, daß du das Opfer sein solltest. Da bin ich mir ebenso sicher, wie du es dir bist.“

Es war ein Schock, meine spontane Theorie von jemand anderem bestätigt zu bekommen.

„Genauso sicher weiß ich, daß ich die beiden anderen Frauen nicht ermordet habe. Wenn der Mörder deiner Oma mit dem Mörder der beiden anderen Frauen identisch ist, dann bin nicht ich dieser Mörder, und Andy wird das feststellen können. Selbst wenn er ein Bellefleur ist.“

Wir gingen zurück dorthin, wo Licht war. Ich wünschte mir, alles möge anders sein. All die Lichter, all die Menschen sollten verschwinden, Bill auch. Ich wollte allein sein, allein mit meiner Oma, und meine Oma sollte wieder so glücklich und vergnügt aussehen wie bei unserem letzten Beisammensein.

Das waren sinnlose, kindische Wunschvorstellungen, aber ich konnte mich doch trotzdem danach sehnen, oder? Ich verlor mich in meinem Traum, verlor mich ganz und gar, so daß ich die Bedrohung erst wahrnahm, als es schon zu spät war.

Mein Bruder Jason stand vor mir und schlug mir ins Gesicht.

Der Schlag kam so unerwartet und war so schmerzhaft, daß ich das Gleichgewicht verlor, stolperte und seitwärts stürzte, wobei ich mit dem Knie auf dem Boden aufschlug.

Jason schien sich noch einmal auf mich werfen zu wollen, aber nun hatte sich Bill in Boxerstellung vor mir aufgebaut. Seine Fänge glitzerten in voller Länge, und er sah einfach furchterregend aus. Von hinten warf sich Sam gegen Jasons Beine, woraufhin mein Bruder zu Boden ging. Es kann durchaus sein, daß ihm Sam bei dieser Gelegenheit das Gesicht in den Rasen drückte.

Andy Bellefleur stand diesem plötzlichen Ausbruch von Gewalt völlig erstarrt und hilflos gegenüber. Er fing sich allerdings rasch wieder. Er trat zwischen unsere beiden kleinen Gruppen auf dem Rasen, sah Bill an, mußte schlucken, befahl dann aber tapfer und mit ruhiger Stimme: „Halten Sie sich zurück, Compton. Jason wird Sookie nicht noch einmal schlagen.“

Bill war sichtlich bemüht, seinen Durst nach Jasons Blut wieder in den Griff zu bekommen. Seine Gedanken konnte ich zwar nicht lesen, aber ich war durchaus in der Lage, seine Körpersprache zu deuten.

Sams Gedanken konnte ich nicht genau lesen, aber ich konnte sehen, daß er ungeheuer wütend war.

Jason schluchzte. Seine Gedanken waren ein verworrenes, verschlungenes, blaues Durcheinander.

Andy konnte keinen von uns leiden und wünschte sich, er könne uns Mißgeburten allesamt aus dem einen oder anderen Grund einbuchten.

Mühsam kam ich wieder auf die Beine. Ich berührte die schmerzende Stelle an meiner Wange und versuchte, mich durch diesen Schmerz von dem in meinem Herzen abzulenken, von der schrecklichen Trauer, die mich schlagartig überfiel.

Ich dachte, die Nacht würde nie zu Ende gehen.

* * *

Omas Beerdigung wurde die größte, die je in Renard Parish stattgefunden hatte. Das sagte der Pastor hinterher. Ein strahlender Frühsommerhimmel war Zeuge, wie meine Großmutter auf dem uralten Friedhof, der zwischen dem Haus der Comptons und ihrem eigenen lag, neben meiner Mutter und meinem Vater in unserem Familiengrab beigesetzt wurde.

Jason hatte Recht gehabt: Großmutters Haus war nun mein Haus. Das Haus und die 20 Morgen Land darum herum samt den dazugehörigen Schürfrechten. Großmutters Geld - das bißchen, das sie besessen hatte - war gerecht zu gleichen Teilen Jason und mir zugefallen, und Großmutter hatte verfügt, daß ich, um in den vollen Besitz ihres Hauses zu gelangen, meinem Bruder meinen Anteil an unserem Elternhaus überschreiben sollte. Das fiel mir nicht schwer, und ich wollte von Jason auch kein Geld für meine Haushälfte, auch wenn mein Anwalt nachdenklich dreingeschaut hatte, als ich ihm das mitteilte. Jason würde sich ungeheuer aufregen, wenn ich eine Bezahlung für meine Haushälfte auch nur am Rande erwähnte; die Tatsache, daß ich Mitbesitzerin dieses Hauses war, war für ihn nie recht greifbar gewesen. Es hatte ihn schwer getroffen, daß Oma mir ihr Haus einfach hatte hinterlassen können. Oma hatte ihn besser gekannt als ich.

Wie gut, daß ich außer über einen Lohn auch noch über anderes Einkommen verfügte, dachte ich düster, um an etwas anderes zu denken als an den Verlust, den ich erlitten hatte. Die Steuern für Haus und Land sowie der Unterhalt des Hauses, für den in der Vergangenheit meine Großmutter doch wenigstens zum Teil noch mitgesorgt hatte, hätten mein Einkommen ansonsten sicher arg strapaziert.

„Ich nehme an, du willst bald ausziehen“, sagte Maxine Fortenberry, als sie die Küche saubermachte. Maxine hatte gefüllte Eier und einen Schinkensalat vorbeigebracht und versuchte nun, sich noch zusätzlich nützlich zu machen, indem sie die Küche scheuerte.

„Nein!“ erwiderte ich erstaunt.

„Aber Herzchen, wo es doch hier passiert ist ...“ Maxines breites Gesicht verzog sich besorgt.

„Ich habe viel mehr gute als schlechte Erinnerungen an diese Küche“, erklärte ich.

„Was für eine schöne Art, die Dinge zu sehen!“ erwiderte Maxine überrascht. „Sookie, du bist viel schlauer, als die Leute immer denken.“

„Danke, Mrs. Fortenberry,“ sagte ich, und wenn sie hörte, daß mein Ton etwas trocken klang, dann reagierte sie nicht darauf. Vielleicht war das weise von ihr.

„Kommt dein Freund zur Beerdigung?“ Es war sehr warm in der Küche, und die schwere, quadratische Maxine wischte sich mit einem Geschirrtuch den Schweiß von der Stirn. Die Stelle, an der Großmutter gelegen hatte, war bereits von anderen Freundinnen geschrubbt worden; Gott segne sie alle.

„Mein Freund? Oh, Bill! Nein, er kann nicht.“

Maxine starrte mich verständnislos an.

„Die Beerdigung findet natürlich bei Tage statt.“

Sie verstand immer noch nichts.

„Er kann dann nicht auf die Straße.“

„Oh! Natürlich nicht.“ Sie schlug sich an die Stirn, als wolle sie andeuten daß man ihrem Verstand manchmal etwas auf die Sprünge helfen müsse. „Wie dumm von mir. Er zerfällt dann wirklich zu Asche?“

„Das behauptet er jedenfalls.“

“Ich bin froh, daß er den Vortrag für uns gehalten hat, weißt du? Seitdem gehört er doch mehr dazu.“

Ich nickte geistesabwesend.

„Diese Morde, Sookie: Die Gefühle schlagen hohe Wellen deswegen, und es wird ziemlich viel geredet. Im wesentlichen über Vampire, und daß sie für die Todesfälle verantwortlich sind.“

Ich starrte sie aus zusammengekniffenen Augen an.

„Werd jetzt bloß nicht wütend auf mich, Sookie Stackhouse! Die meisten Menschen denken sowieso, Bill könne diesen Frauen diese schlimmen Dinge gar nicht angetan haben. Weil er so nett war, uns bei der Versammlung der Nachkommen all diese faszinierenden Geschichten zu erzählen.“ Ich fragte mich, welche Geschichten über die 'schlimmen Dinge, die diesen Frauen angetan wurden' wohl im Umlauf waren, und schauderte beim bloßen Gedanken daran. „Aber Bill hatte wohl ein paar Besucher“, fuhr Maxine fort, „über deren Anblick niemand so recht begeistert war.“

Ich fragte mich, ob damit Malcolm, Liam und Diane gemeint sein konnten. Deren Anblick hatte auch mich nicht gerade erfreut, und ich widerstand dem spontanen Impuls, die drei zu verteidigen.

„Es gibt so viele unterschiedliche Vampire, wie es unterschiedliche Menschen gibt“, sagte ich statt dessen.

„Genau das habe ich auch zu Andy Bellefleur gesagt,“ meinte Maxine und nickte bedeutungsvoll. „Hinter ein paar der anderen solltest du her sein, habe ich zu Andy Bellefleur gesagt, hinter denen, die sich keine Mühe geben, so zu sein wie wir. Nicht hinter Bill Compton, habe ich gesagt, der sich wirklich bemüht, der gerne seßhaft werden möchte, der Teil dieser Gemeinde sein will. Ich habe Bill im Beerdigungsinstitut getroffen, und er hat mir erzählt, daß er nun endlich seine Küche fertig renoviert hat.“

Ich konnte sie nur sprachlos anstarren. Ich versuchte, mir vorzustellen, was Bill in seiner Küche wohl tat. Wozu brauchte er überhaupt eine?

Aber keins dieser Ablenkungsmanöver funktionierte, und letztlich mußte ich mir eingestehen, daß ich wohl noch eine Zeitlang bei jeder Gelegenheit losheulen würde. Was ich dann prompt auch tat.

Bei der Beerdigung stand Jason neben mir, hatte seinen Zorn auf mich bewältigt und schien wieder bei Sinnen. Er faßte mich nicht an und sprach kein Wort mit mir, aber er schlug mich auch nicht. Ich fühlte mich allein. Aber dann blickte ich über die Hügellandschaft um mich herum und erkannte, daß die ganze Stadt mit mir trauerte. So weit das Auge reichte, parkten dicht an dicht Autos auf den kleinen Straßen, die über den Friedhof führten, und hunderte schwarzgekleideter Menschen drängten sich um das Zelt, das das Beerdigungsinstitut errichtet hatte. Sam war da. Er trug einen Anzug und sah gar nicht wie er selbst aus. Arlene, die neben Rene stand, trug ein geblümtes Sommerkleid. Ganz am Rand der trauernden Menge stand Lafayette neben Terry und Charlsie Tooten. Das hieß, sie hatten das Lokal geschlossen! Alle Freunde meiner Oma waren gekommen - das heißt alle, die noch laufen konnten. Mr. Norris weinte ganz offen und hielt sich ein blütenweißes Taschentuch vor die Augen. Tiefe Trauerfalten durchfurchten Maxines breites Gesicht. Während der Pastor sagte, was er zu sagen hatte, während Jason und ich vorne in der Reihe für die Familie ganz allein auf wackligen Klappstühlen saßen, spürte ich, wie sich etwas von mir löste und hinauf ins helle Blau flog. Da wußte ich: Was immer meiner Großmutter widerfahren sein mochte, nun war sie zu Hause.

Gott sei Dank liegt über dem Rest des Tages Nebel. Ich will mich nicht an diesen Tag erinnern, ich will noch nicht einmal wissen, was alles an diesem Tag geschah. Aber eine Episode ragt aus dem Nebel heraus.

Jason und ich standen neben dem Eßtisch im Haus meiner Großmutter, und zwischen uns schien ein zeitweiliger Waffenstillstand zu herrschen. Wir begrüßten die Trauergäste, von denen die meisten sich größte Mühe gaben, den blauen Fleck an meiner Wange nicht anzustarren.

Wir kriegten das Ganze ziemlich gut hin. Jason dachte daran, daß er bald heimgehen und sich ein Schlückchen genehmigen würde und daß er mich dann ein Weilchen nicht würde sehen müssen, wonach alles schon wieder gut werden würde. Ich dachte fast dasselbe - bis auf das mit dem Schlückchen.

Dann gesellte sich eine dieser wohlmeinenden Frauen zu uns, die so gerne jedes einzelne Detail einer bestimmten Situation laut durchdenken, auch wenn es sie eigentlich alles nichts angeht.

„Ach es tut mir so leid für euch, Kinder!“ verkündete sie, und mir wollte beim besten Willen nicht einfallen, wie die Frau hieß. Sie war Methodistin. Sie hatte drei erwachsene Kinder. Ihr Name jedoch war gerade zur anderen Seite meines Hirns entfleucht.

„Was für ein trauriger Anblick, ihr zwei, so ganz allein da am Grab. Wie mußte ich da an euren Vater und eure Mutter denken!“ versicherte die Namenlose, und ihr Gesicht verzog sich ganz automatisch zu einer mitleidigen Miene. Ich blickte erst Jason, dann wieder die Frau an und nickte.

„Ja“, sagte ich höflich, aber dann hörte ich ihren Gedanken, ehe sie ihn aussprechen konnte und erbleichte.

„Aber wo war Adeles Bruder, euer Großonkel? Der ist doch bestimmt noch am Leben?“

„Wir haben keinen Kontakt mehr zu ihm“, erwiderte ich in einem Ton, der unter Garantie jedem, der sensibler war als diese Dame, den Wind aus den Segeln genommen hätte.

„Aber ihr einziger Bruder! Bestimmt... “ Da endlich versagte ihr die Stimme, denn nun hatte sie wohl mitbekommen, daß Jason und ich sie so merkwürdig ansahen.

Auch vorher schon hatte es ein paar Kommentare zur Abwesenheit unseres Onkels Bartlett gegeben, wir hatten jedoch ganz deutlich signalisiert, dies ginge nur die Familie etwas an, woraufhin niemand eine Nachfrage riskiert hatte. Lediglich diese Frau - wie hieß sie nur? - hatte unsere Signale nicht aufgefangen. Ich beschloß auf der Stelle, den Taccosalat, den sie mitgebracht hatte, wegzuwerfen, sobald die Dame aus dem Haus war.

„Mitteilen müssen wir es ihm aber“, sagte Jason ruhig, nachdem die Frau uns allein gelassen hatte. Rasch richtete ich meinen Schutzwall auf: Ich hatte wirklich kein Bedürfnis danach, jetzt seine Gedanken zu hören.

„Rufst du ihn an?“ fragte ich.

„Gut“, erwiderte er.

Mehr sagten wir an diesem Tage nicht zueinander.