Kapitel 2

Am nächsten Morgen stand ich sehr spät auf - was wohl niemanden wundern wird. Zu meiner großen Erleichterung hatte meine Oma schon geschlafen, als ich in der Nacht nach Hause gekommen war, und so hatte ich einfach ins Bett klettern können, ohne sie zu wecken.

 * * *

Ich saß gerade mit einer Tasse Kaffee am Küchentisch, und Oma räumte die Speisekammer auf, als das Telefon klingelte. Oma ging hinüber zur Anrichte, pflanzte ihren Po auf den hohen Stuhl, der dort steht, wie sie es immer zu tun pflegt, wenn sie in Ruhe am Telefon plaudern will, und nahm ab.

„Ja? Bitte?“ meldete sie sich. Aus irgendeinem Grunde hörte sich Oma stets an, als sei ein Anruf das letzte, was sie gerade gebrauchen könnte. Ich wußte aus Erfahrung, daß dem nicht so war.

„Hey, Everlee. Nein, ich sitze hier und unterhalte mich mit Sookie, sie ist gerade aufgestanden. Nein, ich habe heute noch keine Nachrichten gehört. Nein, bisher hat mich niemand angerufen. Was? Welcher Tornado? Die letzte Nacht war doch sternenklar! Four Track Corners? Nein! Nein! Wirklich, gleich beide? Oh! Oh! Oh Gott! Was sagt Mike Spencer dazu?“

Mike Spencer war der amtliche Leichenbeschauer unserer Gemeinde. Ich spürte, wie es mir kalt über den Rücken lief. Ich trank meinen Kaffee aus und füllte die Tasse gleich wieder, denn ich würde das Koffein bestimmt gebrauchen können.

Wenig später legte meine Oma den Hörer auf und wandte sich zu mir um. „Sookie, du kannst dir nicht vorstellen, was passiert ist!“

Ich wäre jede Wette eingegangen, daß ich mir das durchaus vorstellen konnte.

„Was denn?“ fragte ich vorsichtig, bemüht, nicht allzu schuldbewußt zu wirken.

„Das Wetter gestern war doch ruhig, nicht? Kam einem wenigstens so vor? Trotzdem muß durch die Gegend von Four Tracks Corner ein Wirbelsturm gefegt sein! Der Wohnwagen, der dort auf der Lichtung steht, ist umgekippt, und das Paar, das ihn gemietet hatte, muß irgendwie unter den Wagen geraten sein - jedenfalls lagen die beiden völlig zu Mus zerquetscht darunter. Mike sagt, so etwas hat er noch nie in seinem Leben gesehen.“

„Leitet er die Leichen weiter, zur Autopsie?“

„Das wird er wohl müssen, nehme ich an. Auch wenn Stella sagt, die Todesursache läge eigentlich auf der Hand. Der Wohnwagen ist auf die Seite gekippt, das Auto der beiden liegt mehr oder weniger oben auf dem Wohnwagen, und ringsumher sind Bäume entwurzelt worden.“

„Mein Gott!“ flüsterte ich und dachte an die Kraft, die vonnöten gewesen war, eine solche Szenerie zu arrangieren. „Meine Kleine! Du hast mir noch gar nicht erzählt, ob dein Freund, der Vampir, gestern abend bei euch im Lokal war.“

Schuldbewußt zuckte ich zusammen, aber dann war mir rasch klar, daß Oma einfach nur das Thema gewechselt hatte. Dieselbe Frage hatte sie mir inzwischen jeden Tag gestellt, und jetzt endlich konnte ich ihr berichten, daß ich Bill in der Tat gesehen hatte. Aber leichten Herzens gab ich ihr die Auskunft nicht.

Wie vorherzusehen gewesen war, geriet Oma bei der Nachricht völlig aus dem Häuschen und flatterte in der Küche umher, als handle es sich bei dem Gast, der uns ins Haus stand, um Prinz Charles.

„Morgen abend will er kommen? Um welche Zeit denn?“ wollte sie wissen.

„Nach Einbruch der Dunkelheit. Auf eine nähere Angabe konnte ich ihn nicht festnageln.“

„Wir haben Sommerzeit, das kann also spät werden.“ Oma dachte laut nach. „Dann können wir vorher zu Abend essen und in Ruhe abwaschen und haben den ganzen morgigen Tag zum Saubermachen. Ich wette, diesen Teppich da habe ich schon ein Jahr lang nicht mehr richtig ausgeklopft.“

„Oma, wir reden von einem Typen, der den Tag unter der Erde verbringt!“ rief ich ihr ins Gedächtnis. „Ich glaube nicht, daß er den Teppich überhaupt auch nur bemerkt.“

Aber auch darauf wußte meine Oma eine Erwiderung: „Dann mache ich eben nicht seinetwegen sauber, sondern meinetwegen, damit ich stolz auf mich sein kann.“ Dagegen ließ sich nichts mehr einwenden. „Außerdem, junge Frau“, fuhr sie fort, „woher weißt du denn, wo er schläft?“

„Gute Frage. Ich gebe zu, daß ich das gar nicht weiß. Aber er darf auf keinen Fall ans Tageslicht und muß sich tagsüber irgendwo aufhalten, wo niemand ihm etwas anhaben kann. Also würde ich darauf tippen, daß er unter der Erde liegt.“

Wenig später mußte ich feststellen, daß nichts mehr meine Großmutter daran hindern konnte, sich einem Anfall von Hausfrauenstolz hinzugeben. Als ich mich fertig machte, um zur Arbeit zu gehen, machte sie sich auf den Weg zum Laden, wo sie eine Teppichreinigungsmaschine mietete, um sofort mit dem Großreinemachen beginnen zu können.

Ich machte auf dem Weg zur Arbeit einen kleinen Umweg Richtung Norden, damit ich mir die Sache bei Four Tracks Corner ansehen konnte. Four Tracks Corner war eine Kreuzung, und es gab sie schon, seit Menschen in dieser Gegend siedelten. Mittlerweile wirkte sie mit all ihren Straßenschildern und dem Asphalt sehr formell, aber der Überlieferung zufolge schnitten sich an dieser Stelle in früheren Zeiten einmal zwei Jagdpfade. Irgendwann einmal würden wohl auch hier zu beiden Seiten der Straßen moderne Landhäuser und Einkaufszentren entstehen, aber noch umstand Wald die Kreuzung und in diesem Wald konnte man, wie Jason mir versichert hatte, immer noch hervorragend jagen.

Da mich kein Verbotsschild davon abhielt, bog ich auf den holprigen Pfad ein, der zur Lichtung führte, auf der der Wohnwagen der Rattrays gestanden hatte. Dort parkte ich und starrte entgeistert aus dem Seitenfenster. Der Wohnwagen - recht klein und schon sehr alt - lag völlig zerquetscht etwa vier Meter von seinem ursprünglichen Stellplatz entfernt. Auf diesem beweglichen Zuhause, das nun eher einer Ziehharmonika glich, thronte das zerbeulte rote Auto der Ratten. Die ganze Lichtung war mit Trümmern übersät, und der Wald dahinter sah aus, als sei eine ungeheure Kraft durch ihn hindurchgefahren: überall geknickte Zweige, und die Spitze einer Kiefer hing nur noch an einem winzigen Rest Rinde. Oben in den Bäumen baumelten Kleidungsstücke und sogar eine Schmorpfanne.

Ich stieg ganz langsam aus und sah mich um. Die Zerstörung war einfach unglaublich, vor allem, weil ich ja wußte, daß kein Wirbelsturm sie verursacht hatte. Bill der Vampir hatte die Szene arrangiert, um einen einleuchtenden Grund für den Tod der beiden Rattrays zu liefern.

Durch die Schlaglöcher im Pfad näherte sich nun holpernd ein alter Jeep und kam neben mir zum Stehen.

„Wenn das nicht Sookie Stackhouse ist!“ rief Mike Spencer mir zu. „Mädchen, was tust du denn hier? Mußt du nicht bald zur Arbeit?“

„Ja, Sir. Ich kannte die Ratten - die Rattrays. Das ist alles ganz schrecklich!“ Das klang wenigstens für meine Begriffe reichlich zweideutig. Nun sah ich auch, daß sich der Sheriff in Mikes Begleitung befand.

„Eine schreckliche Sache, ja.“ Mit diesen Worten kletterte Sheriff Bud Dearborn aus dem Jeep. „Aber es ist mir auch zu Ohren gekommen, daß du dich mit Mack und Denise - na ja, daß ihr drei euch neulich auf dem Parkplatz vom Merlottes sozusagen nicht gerade gut verstanden habt.“

Die beiden bauten sich vor mir auf, und ich fühlte irgendwo in der Lebergegend ein kaltes Gefühl emporkriechen.

Mike Spencer leitete eines der beiden Bestattungsunternehmen, die Bon Temps aufzuweisen hatte. Bei 'Spencer und Söhne' konnte sich jeder, der das wünschte, beerdigen lassen, wie Mike bei jeder Gelegenheit bereitwillig erklärte, aber nur Weiße schienen diesen Wunsch zu hegen. So, wie nur Schwarze vom Bestattungshaus 'Ruhe Sanft' unter die Erde gebracht werden wollten. Mike war ein Mann mittleren Alters. Sein Haar und sein Schnurrbart waren hellbraun wie schwacher Tee, und er hegte eine Vorliebe für Cowboystiefel und Lederschnüre, die er beim Dienst für Spencer und Söhne nicht ausleben konnte. Weswegen er die Sachen außer Dienst ständig trug; so auch jetzt.

Sheriff Dearborn, der im Ruf stand, ein guter Mann zu sein, war ein wenig älter als Mike, aber vom grauen Haar bis hinab zu den schweren Schuhen fit und zäh. Der Sheriff hatte ein Gesicht, das leicht eingedrückt wirkte, und flinke braune Augen. Er war ein guter Freund meines Vaters gewesen.

„Ja, Sir, wir hatten eine Meinungsverschiedenheit“, sagte ich ganz offen und in meiner besten Mädchen-vom-Lande-Manier.

„Willst du mir sagen, worüber?“ Der Sheriff zog eine Marlboro aus der Tasche, die er mit einem schlichten Metallfeuerzeug anzündete.

Nun beging ich einen Fehler. Ich hätte den beiden frank und frei sagen können, worum es gegangen war. Mich hielten ohnehin alle für verrückt, und genügend Menschen in der Gemeinde dachten auch, ich sei nicht besonders helle. Ich sah nur einfach nicht ein, warum ich Sheriff Dearborn gegenüber irgendwelche Erklärungen abgeben sollte, und es gab ja auch eigentlich keinen Grund dafür - außer den gesundem Menschenverstand.

Statt mit einer Erklärung antwortete ich mit einer Gegenfrage: „Warum?“

Dearborns kleine braune Augen blickten mit einem Mal ungeheuer wach und seine ganze väterliche, wohlwollende Art war mit einem Schlag verschwunden.

„Sookie!“ sagte er mit unendlichem Bedauern in der Stimme, das ich ihm aber nicht eine Sekunde lang abnahm.

„Das war ich nicht“, sagte ich und deutete auf das Werk der Zerstörung.

„Nein, das warst du nicht“, pflichtete er mir bei. „Trotzdem sind die beiden Rattrays knapp eine Woche, nachdem sie in eine Schlägerei verwickelt waren, ums Leben gekommen, und da kann es nicht schaden, denke ich mir, wenn ich mal ein paar Fragen stelle!“

Inzwischen hätte ich nicht mehr sagen können, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, mich mit dem Sheriff auf ein geistiges Armdrücken einzulassen. Klar, ich hätte mich prima gefühlt, wenn ich siegreich daraus hätte hervorgehen können, aber war ein prima Gefühl die Sache wirklich wert? Mir wurde immer klarer, daß es auch Vorteile haben konnte, wenn man im Ruf stand, ein wenig einfältig zu sein.

Mir mag es zwar an Bildung mangeln, und ich kenne mich in der Welt nicht besonders gut aus, aber ich bin weder doof noch unbelesen.

„Sie haben meinem Freund wehgetan“, gestand ich nun also, ließ den Kopf hängen und starrte angelegentlich auf meine Schuhe.

„Dein Freund, könnte das dieser Vampir sein, der im alten Compton-Haus lebt?“ Mike Spencer und Bud Dearborn wechselten bedeutungsschwangere Blicke.

„Ja.“ Da also wohnte Bill! Ich war baß erstaunt über diese Information, aber das konnten die beiden Männer nicht ahnen. Jahrelang hatte ich mich darin geschult, nicht auf Dinge zu reagieren, die ich gar nicht hatte hören wollen - mein Gesicht war eine eiserne Maske. Das alte Compton-Haus lag dem Haus meiner Großmutter direkt gegenüber, nur ein paar Felder weiter auf derselben Seite der Straße. Zwischen unseren beiden Häusern lagen nur das Wäldchen und der Friedhof. Wie praktisch für Bill, dachte ich und mußte lächeln.

„Sookie Stackhouse! Erlaubt deine Oma dir etwa, mit diesem Vampir zu verkehren?“ fragte Spencer, und das war nicht klug von ihm.

„Darüber können Sie sich gern einmal mit ihr unterhalten“, erwiderte ich scheinheilig und hätte zu gern sofort vernommen, was meine Oma zu sagen hätte, wenn jemand andeutete, sie kümmere sich nicht genügend um mich. „Die Rattrays haben versucht, Bill auszubluten ...“

„Der Vampir wurde also von den Rattrays zur Ader gelassen, und du hast sie daran gehindert, ihn auszubluten?“ unterbrach mich der Sheriff.

„So war es!“ antwortete ich und versuchte, recht resolut dreinzublicken.

„Es ist ja auch illegal, einen Vampir auszubluten“, meinte Dearborn nun nachdenklich.

„Ist es nicht sogar Mord, wenn man einen Vampir umbringt, ohne von ihm angegriffen worden zu sein?“ fragte ich unschuldig.

Nun hatte ich das mit der Naivität wohl etwas zu weit getrieben.

„Du weißt verdammt genau, daß das Mord ist. Obwohl ich persönlich das entsprechende Gesetz nicht befürworte, ist es doch ein Gesetz, also sorge ich dafür, daß es auch eingehalten wird“, erklärte der Sheriff steif.

„Der Vampir hat die beiden einfach so stehen lassen, ohne Rache zu schwören? Hat nicht einmal gesagt, er wünschte, sie wären tot?“ Nun spielte Mike Spencer den Naiven.

„Genau.“ Mit diesen Worten lächelte ich den beiden Männern zu und warf einen Blick auf meine Armbanduhr, wobei ich sofort an das Blut denken mußte, das in der Nacht zuvor das Uhrglas verklebt hatte. Mein Blut, von den Rattrays aus mir herausgeprügelt. Diese Erinnerung mußte ich niederringen, um die Uhrzeit lesen zu können.

„Entschuldigen Sie mich, ich muß zur Arbeit“, sagte ich. „Auf Wiedersehen, Mr. Spencer. Auf Wiedersehen, Sheriff.“

„Auf Wiedersehen, Sookie“, gab Dearborn zurück. Man sah ihm an, daß er mir gern noch weitere Fragen gestellt hätte, aber nicht wußte, wie er sie formulieren sollte. Ich wußte auch, daß der Anblick der Szenerie auf der Lichtung dem Sheriff nicht wirklich gefiel, und ich glaubte nicht, daß dieser spezielle Wirbelsturm auf den Radarschirmen irgendwelcher Wetterstationen zu sehen gewesen war. Aber da lag der Wohnwagen, da stand das Auto, da waren die entwurzelten Bäume, und unter all dem hatten die toten Rattrays gelegen. Wie konnte man da zu dem Schluß kommen, etwas anderes als ein Wirbelsturm habe sie umgebracht? Ich nahm an, daß man die Leichen der beiden zur Autopsie in die Stadt geschickt hatte ,und fragte mich, was eine solche Prozedur unter den gegebenen Umständen wohl an Erkenntnissen zu Tage fördern mochte.

Der menschliche Verstand ist schon eine erstaunliche Einrichtung. Sheriff Dearborn wußte bestimmt, daß Vampire ungeheuer stark sind. Aber er konnte sich einfach nicht vorstellen, wie stark: stark genug, um einen Wohnwagen auf den Kopf zu stellen, ihn zu zerschmettern. Das zu verstehen fiel ja selbst mir schwer, und ich wußte ganz genau, daß kein Wirbelsturm durch Four Tracks Corner gefegt war.

Die ganze Kneipe summte förmlich der beiden neuen Todesfälle wegen. Gespräche über den Mord an Maudette waren hinter Spekulationen über Macks und Denises Hinscheiden zurückgetreten. Ein paarmal ertappte ich Sam dabei, wie er mich aus den Augenwinkeln musterte, dachte jedes Mal an die vergangene Nacht und fragte mich, wie viel er wohl wissen mochte. Direkt fragen wollte ich ihn nicht, weil ich ja befürchten mußte, daß er unter Umständen gar nichts mitbekommen hatte. Letzte Nacht waren ein paar Dinge geschehen, die ich mir noch nicht einmal zu meiner eigenen Zufriedenheit erklären konnte. Ich war jedoch so froh darüber, überhaupt noch am Leben zu sein, daß ich ein Nachdenken hierüber lieber aufschob.

Ich hatte noch nie so strahlend gelächelt, während ich die Getränke verteilte, ich war noch nie so rasch mit dem Wechselgeld bei der Hand gewesen, hatte die Bestellungen noch nie so akkurat weitergegeben wie in dieser Nacht. Selbst der gute alte Rene mit seiner buschigen Mähne konnte mich nicht aufhalten, auch wenn er jedes Mal, wenn ich mich dem Tisch näherte, an dem er zusammen mit Hoyt und ein paar anderen alten Kumpanen saß, versuchte, mich in eine seiner langatmigen Unterhaltungen zu verstricken.

Rene spielte von Zeit zu Zeit das exzentrische Mitglied einer alteingesessenen französischstämmigen Familie, schaffte es aber nicht, den dazugehörigen Akzent auch wirklich hinzubekommen. Seine Familie hatte ihrer Herkunft keine besondere Bedeutung beigemessen. Jede der Frauen, die Rene geheiratet hatte, war wild gewesen und hatte nichts anbrennen lassen. Seine kurze Affäre mit Arlene hatte stattgefunden, als meine Freundin noch jung und kinderlos gewesen war und, Wie sie mir einmal gestanden hatte, Dinge getrieben hatte, an die sie sich heute nicht einmal mehr erinnern konnte, ohne daß ihr die Haare zu Berge standen. Arlene war inzwischen erwachsen, was man von Rene allerdings nicht behaupten konnte. Aber sie hatte ihn weiterhin gern, was mich immer wieder erstaunte.

Jeder, der an diesem Abend im Merlottes hockte, war aufgeregt, weil sich in Bon Temps plötzlich mal all diese ungewöhnlichen Dinge ereigneten. Eine Frau war ermordet worden, und niemand wußte, wer es getan hatte; normalerweise ließen sich Morde in Bon Temps rasch aufklären. Ein Ehepaar war gewaltsam umgekommen, weil die Natur verrückt gespielt hatte. Ich schrieb das, was an dem Abend als nächstes geschah, der ganzen Aufgeregtheit zu. Unser Lokal ist eine Nachbarschaftskneipe; hinzu kommen immer ein paar Kunden von auswärts, die regelmäßig in Bon Temps sind, und ich hatte mich noch nie irgendwelcher Aufdringlichkeiten erwehren müssen. An diesem Abend jedoch schob einer der Männer, die am Tisch neben dem Hoyts und Renes saßen, ein schwerer blonder Mann mit einem breiten, roten Gesicht, mir die Hand ins Hosenbein meiner Shorts, als ich einen Krug Bier an seinen Tisch brachte.

Mit so etwas kommt man im Merlottes nicht durch.

Ich wollte ihm gerade mein Tablett auf den Kopf hauen, als ich spürte, wie die Hand wieder entfernt wurde. Außerdem fühlte ich, daß jemand direkt hinter mir stand. Ich wandte den Kopf zur Seite und sah Rene, der von seinem Stuhl aufgesprungen war, ohne daß ich es überhaupt mitbekommen hatte. Ein Blick auf Renes Arm zeigte mir, daß seine Hand die des Blonden fest umklammert hielt und zudrückte. Auf dem roten Gesicht des Blonden zeigten sich noch rötere Flecken.

„Laß los, Mann“, protestierte er. „Ich hab' das doch nicht bös' gemeint.“

„Wer hier arbeitet, wird nicht angegrabscht. So sind die Regeln.“ Rene mag klein und schlank sein, aber jeder in der Kneipe hätte sein Geld eher auf unseren Jungen gesetzt als auf den fleischigen Fremden.

„Schon gut, schon gut!“

„Entschuldige dich bei der Dame.“

„Bei der verrückten Sookie?“ Der Blonde klang, als könne er das nicht ernst nehmen. Er war wohl früher schon einmal hier gewesen.

Rene drückte nun noch stärker zu. Ich sah, wie dem Blonden die Tränen in die Augen schossen.

„Tut mir leid, Sookie, ja?“

Ich nickte, so würdevoll ich irgend konnte. Rene ließ die Hand des anderen abrupt los und deutete mit dem Daumen auf die Tür, um ihm zu verstehen zu geben, er solle lieber verduften. Der Blonde verlor keine Zeit und war im Handumdrehen weg. Sein Gefährte folgte ihm auf dem Fuße.

„Rene, ich hätte das auch allein geregelt“, sagte ich leise, als es aussah, als hätten sich alle anderen Kunden wieder ihren eigenen Gesprächen zugewandt. Wir hatten der Klatschbörse für mindestens zwei Tage neuen Stoff geliefert. „Aber ich weiß es zu schätzen, daß du dich für mich stark gemacht hast.“

„Ich dulde nicht, daß jemand Arlenes Freundin belästigt“, erklärte Rene. „Das Merlottes ist eine anständige Kneipe, und wir alle wollen, daß das so bleibt. Außerdem erinnerst du mich an Cindy, weißt du?“

Cindy war Renes Schwester. Sie war ein oder zwei Jahre zuvor nach Baton Rouge gezogen. Cindy war blond und blauäugig; abgesehen davon hatte ich bisher keine Ähnlichkeiten zwischen uns entdecken können. Aber es schien unhöflich, das laut zu sagen. „Siehst du Cindy eigentlich oft?“ fragte ich. Hoyt und der andere Mann am Tisch ließen sich gerade über die Torergebnisse und Meisterschaftschancen der Shreveport Captains aus.

„Ab und an“, antwortete Rene und schüttelte den Kopf, als wolle er mir damit zu verstehen geben, daß er seine Schwester gern öfter gesehen hätte. „Sie arbeitet in einer Krankenhauskantine.“

Ich klopfte ihm auf die Schulter. „Ich geh' dann mal wieder an die Arbeit.“

Als ich an den Tresen kam, um meine nächste Bestellung abzuholen, hob Sam die Brauen. Ich riß die Augen weit auf, um ihm zu verstehen zu geben, wie sehr Renes Eingreifen mich überrascht hatte, und Sam zuckte leicht die Achseln, als wolle er damit sagen, menschliches Verhalten sei nun einmal ein Buch mit sieben Siegeln.

Aber als ich hinter den Tresen ging, um mir einen Stapel Papierservietten zu holen, sah ich, daß er den Baseballschläger hervorgeholt hatte, den er für den Fall der Fälle unter der Kasse aufzubewahren pflegte.

Den nächsten Tag über hielt Oma mich auf Trab. Sie staubte jeden Winkel unseres Hauses ab und saugte Staub und wischte die Fußböden; ich brachte die Badezimmer auf Hochglanz und fragte mich, während ich mit der Klobürste in der Kloschüssel herumfuhrwerkte, ob Vampire überhaupt aufs Klo gingen. Oma zwang mich, die Katzenhaare vom Sofa zu saugen, und ich leerte sämtliche Papierkörbe und Mülleimer. Außerdem polierte ich all unsere Tische blank und wischte wirklich und wahrhaftig sogar die Waschmaschine und den Trockner feucht ab.

Als Oma mich drängte, rasch noch zu duschen und mir etwas Hübsches anzuziehen, wurde mir klar, daß sie den Vampir Bill für meinen Verehrer hielt. Da war mir ein bißchen komisch zumute. Zum einen, weil sich meine Oma offenbar so große Sorgen um mein gesellschaftliches Leben machte, daß sie zu dem Schluß gekommen war, selbst ein Vampir müsse meiner Aufmerksamkeit wert sein; zum zweiten, weil ich ein paar Überlegungen angestellt hatte, die sich mit denen meiner Oma fast haargenau deckten; drittens, weil Bill unter Umständen genau mitbekommen würde, was Oma und ich in Bezug auf ihn dachten und viertens: Konnten Vampire 'es' überhaupt tun wie Menschen?

Ich duschte, schminkte mich und zog ein Kleid an, weil ich wußte, daß meine Oma sich schrecklich aufregen würde, wenn ich das nicht täte. Ein dünnes Strickkleid aus blauer Baumwolle, mit winzigen Gänseblümchen bestickt, das enger saß, als Oma lieb war und kürzer war, als Jason es für seine Schwester angemessen fand. Das hatte ich jedenfalls zu hören bekommen, als ich das Kleid zum ersten Mal getragen hatte. Ich legte meine kleinen gelben Ohrringe an, die aussehen wie Bälle, kämmte mir das Haar hoch und hielt es mit einem gelben Bananenclip locker zusammen.

Als ich in die Küche kam, warf Oma mir einen merkwürdigen Blick zu. Ich hätte schnell herausfinden können, wie er gemeint war, wenn ich ihr zugehört hätte, aber so ein Verhalten ist einfach schrecklich einem Menschen gegenüber, mit dem man zusammen lebt, und so hütete ich mich davor. Oma selbst trug eine Kombination aus Rock und Bluse, die sie oft zu den Treffen der Nachkommen ruhmreicher Toter anzog; nicht gut genug für den Kirchgang, aber auch nicht schlicht genug, um tagtäglich getragen zu werden.

Als er kam, fegte ich gerade die vordere Veranda, die wir vergessen hatten. Er legte einen Vampirauftritt hin: In der einen Sekunde war noch nichts von ihm zu sehen und zu hören, in der nächsten stand er bereits am Fuß der Treppe und sah zu mir hoch.

Ich grinste. „Hat mich nicht erschreckt“, sagte ich.

Er wirkte etwas peinlich berührt. „Das ist nur eine Angewohnheit“, sagte er, „so aufzutauchen. Ich mache nicht viel Lärm.“

Ich öffnete die Tür. „Kommen Sie doch bitte herein“, forderte ich ihn auf und er kam die Stufen empor, wobei er sich umsah.

„Ich erinnere mich an dieses Haus“, meinte er dann. „Allerdings war es damals nicht so groß.“

„Sie erinnern sich an dieses Haus? Das wird meine Großmutter freuen!“ Ich führte Bill ins Wohnzimmer und rief dabei nach meiner Oma.

Als diese ins Zimmer trat, tat sie das voller Würde, und mir fiel erst jetzt auf, wie viel Mühe sie sich mit ihrem dichten weißen Haar gegeben hatte. Es lag zur Abwechslung einmal glatt und ordentlich in einem komplizierten Zopf um ihren Kopf. Noch dazu hatte Oma sogar Lippenstift aufgelegt.

Es erwies sich, daß Bill die Regeln gesellschaftlichen Taktierens ebenso gut beherrschte wie meine Großmutter. Die beiden begrüßten einander, bedankten sich für die Einladung beziehungsweise das Kommen, bedachten einander mit Komplimenten, und schließlich saß Bill dann auf der Couch. Meine Großmutter holte drei Gläser Pfirsichtee aus der Küche und nahm dann auf dem Sessel Platz, wodurch sie mir zu verstehen gab, daß ich mich neben Bill setzen sollte. Daran führte ohnehin kein Weg vorbei, außer, ich hätte offen darauf beharrt, nicht neben dem Gast sitzen zu wollen. Also setzte ich mich, allerdings ganz vorn auf die Sofakante, als wollte ich jeden Moment aufspringen und ihm Eistee nachschenken - wo doch sein Teeglas eine rein zeremonielle Sache war.

Bill berührte höflich den Rand seines Glases mit den Lippen und setzte es dann ab. Oma und ich tranken unseren Tee in großen nervösen Schlucken.

Dann wählte Oma ein etwas unglückliches Thema, um das Gespräch zu eröffnen. „Ich nehme an, Sie haben von diesem merkwürdigen Wirbelsturm gehört?“

„Nein“, antwortete Bill mit seidenweicher Stimme. Ich wagte nicht, anzuschauen, sondern saß da und starrte auf meine im Schoß gefalteten Hände.

Also erzählte ihm Oma von dem widernatürlichen Wirbelsturm und dem Ableben der Ratten. Sie sagte, die Sache erschiene ihr ziemlich schrecklich, aber auch recht eindeutig, und ich meinte sehen zu können, wie Bill sich ein ganz kleines bißchen entspannte.

„Ich bin gestern auf dem Weg zur Arbeit da vorbeigefahren“, sagte ich, ohne den Blick zu heben. „Beim Wohnwagen.“

„Sah er so aus, wie Sie es erwartet hatten?“ fragte Bill, und in seiner Stimme lag nichts als Neugierde.

„Nein“, sagte ich, „so etwas kann man sich gar nicht vorstellen. Ich war wirklich ziemlich ... erstaunt.“

„Sookie, du hast doch nicht zum ersten Mal Wirbelsturmschäden gesehen!“ meinte meine Oma verwundert.

Ich wechselte das Thema. „Wo haben Sie ihr Hemd gekauft? Es sieht hübsch aus.“ Er trug khakifarbene Leinenhosen und ein grün-braun gestreiftes Polohemd, blankpolierte Halbschuhe und dünne, braune Socken.

„Dillard's“, sagte er, und ich versuchte, ihn mir im Einkaufzentrum von Monroe oder einer anderen Stadt vorzustellen, auch, wie die Leute dort sich die Hälse verrenkten, um dieses exotische Wesen mit der hellschimmernden Haut und den wunderschönen Augen genauer betrachten zu können. Woher er wohl das Geld nahm, um seine Einkäufe zu bezahlen? Wo und wie er wohl seine Kleidung wusch? Schlief er nackt? Besaß er ein Auto, oder schwebte er einfach an jeden Ort, zu dem er wollte?

Oma erschien erfreut über die Normalität von Bills Einkaufsgewohnheiten. Mir versetzte es erneut einen Stich, wie froh sie darüber war, jemanden in ihrem Wohnzimmer sitzen zu sehen, den sie für meinen Verehrer halten durfte. Selbst wenn dieser Jemand - wollte man der einschlägigen Ratgeberliteratur Glauben schenken - einem Virus zum Opfer gefallen und für tot gehalten worden war.

Dann machte sich meine Oma daran, Bill auszufragen. Er antwortete höflich und zumindest nach außen hin auch gutwillig. Ein toter Mann also, aber ein höflicher toter Mann.

„Ihre Familie stammt aus dieser Gegend?“ fragte Oma.

„Mein Vater war ein Compton, meine Mutter eine Loudermilk“, erklärte Bill bereitwillig und wirkte dabei völlig entspannt.

„Von den Loudermilks gibt es noch eine ganze Menge“, verkündete Oma. „Aber ich fürchte, der alte Jessie Compton ist letztes Jahr verschieden.“

„Das weiß ich“, sagte Bill. „Deswegen bin ich ja zurückgekommen. Das Land fiel an mich zurück, und da sich in unserem Kulturkreis das Verhältnis zu Menschen meiner Art geändert hat, beschloß ich, meine Ansprüche geltend zu machen.“

„Sie kannten die Stackhouses? Sookie erwähnte, Sie hätten schon eine lange Geschichte.“ Meiner Meinung nach hatte Oma das schön formuliert. Ich lächelte meine gefalteten Hände an.

„Ich erinnere mich an Jonas Stackhouse“, erklärte Bill zu Omas Entzücken. „Meine Leute lebten hier schon, als Bon Temps gerade mal ein Loch in einer Straße am Rande der Zivilisation war. Jonas Stackhouse ist mit seiner Frau und den vier Kindern hergezogen, als ich ein junger Mann von 16 Jahren war. Ist dies nicht auch das Haus, das er gebaut hat - zumindest in Teilen?“

Mir fiel auf, daß Bill, wenn er von der Vergangenheit sprach, andere Vokabeln benutzte und seine Worte auch anders betonte als sonst. Ich fragte mich, wie viele Änderungen sein Englisch im Laufe des vergangenen Jahrhunderts wohl erfahren haben mochte, was die Alltagssprache und Intonation betraf.

Nun schwebte meine Oma im siebten Ahnenforscherhimmel. Über Jonas Stackhouse, den Ur-Ur-Urgroßvater ihres Mannes, wollte sie einfach alles erfahren. „Besaß er Sklaven?“ fragte sie.

„Wenn ich mich recht entsinne, Madam, so hatte er eine Haussklavin und einen Feldsklaven. Die Haussklavin war eine Frau mittleren Alters und der Feldsklave ein sehr großer junger Mann, sehr stark, den man Minas rief. Aber im großen und ganzen haben die Stackhouses ihre Felder selbst bewirtschaftet, wie meine Leute auch.“

„Oh! Genau solche Sachen würde meine kleine Gruppe zu gern hören! Hat Sookie Ihnen erzählt...“ Noch ein paar Runden vergingen in höflichem Ringelpiez, und dann hatten Oma und Bill sich auf einen Termin geeinigt, an dem der Vampir den Nachkommen bei einem abendlichen Treffen einen kleinen Vortrag halten würde.

„Wenn Sie Sookie und mich jetzt entschuldigen würden? Dann könnten wir noch einen Spaziergang machen. Es ist eine so schöne Nacht.“ Langsam, so daß ich es kommen sehen konnte, langte Bill herüber, griff nach meiner Hand, stand auf und zog auch mich auf die Beine. Seine Hand war kalt und hart und glatt, und Bills Verhalten formvollendet: Er hatte meine Großmutter nicht ausdrücklich um die Erlaubnis gebeten, mit mir spazierengehen zu dürfen, aber irgendwie hatte er es doch getan.

„Geht nur, geht nur, ihr beiden!“ sagte meine Oma, vor Glück ganz flatterig. „Ich muß so viele Sachen nachschlagen! Sie müssen mir ganz genau sagen, an welche Namen hier aus der Gegend Sie sich noch erinnern, aus der Zeit, als Sie ...“ An dieser Stelle ging Oma die Luft aus, denn sie wollte nichts sagen, was verletzend sein könnte.

„Hier in Bon Temps wohnten“, ergänzte ich hilfsbereit.

„Natürlich“, sagte der Vampir, und die Art, wie er die Lippen zusammenpreßte, zeigte mir, daß er sich ein Lächeln verkneifen mußte.

Irgendwie standen wir dann an der Tür, und ich wußte, daß Bill mich aufgehoben und ganz rasch mit sich fortgetragen hatte. Ich mußte lächeln, ein ganz spontanes, natürliches Lächeln, denn ich liebe das Unerwartete.

„Wir bleiben nicht zu lange“, sagte ich zu Oma. Wahrscheinlich hatte sie meinen merkwürdigen Abtransport gar nicht mitbekommen, denn sie sammelte gerade unsere Teegläser ein.

„Meinetwegen braucht ihr beiden euch nicht zu beeilen“, erwiderte sie. „Ich mache es mir gemütlich.“

Draußen schmetterten die Frösche, Kröten und Käfer ihre nächtliche ländliche Oper. Bill hielt meine Hand, und wir gingen in den Garten hinaus, der nach frischgemähtem Gras und allen möglichen gerade aufblühenden Dingen roch. Meine Katze Tina trat aus den Schatten und wollte gestreichelt werden, und ich beugte mich vor, um sie am Kopf zu kraulen. Zu meinem großen Erstaunen rieb sich die Katze an Bills Hosenbeinen, wogegen er scheinbar nichts unternehmen wollte.

„Sie mögen dieses Tier?“ fragte er, und seine Stimme klang völlig neutral.

„Das ist meine Katze“, sagte ich. „Sie heißt Tina, und ich mag sie sehr.“

Ohne weiteren Kommentar stand Bill unbeweglich da und wartete, bis Tina sich wieder auf den Weg machte und in der Dunkelheit hinter dem Schein des Verandalichts verschwand.

„Möchten Sie gern auf der Schaukel oder auf den Gartenstühlen sitzen, oder wollen Sie spazierengehen?“ fragte ich, denn ich fühlte mich nun als die Gastgeberin.

„Lassen Sie uns doch ein bißchen spazierengehen. Ich muß mir die Beine vertreten.“

Diese Bemerkung machte mich irgendwie ein wenig nervös, aber dann gingen wir los, die lange Auffahrt hinab auf die zweispurige Landstraße zu, die an der Vorderseite unserer jeweiligen Ländereien entlangführte.

„Hat der Anblick des Wohnwagens Sie beunruhigt?“ wollte Bill wissen, und ich versuchte, mir zu überlegen, wie ich meine Reaktion am besten in Worte fassen konnte.

„Ich fühle mich sehr ... nun ... sehr klein und zerbrechlich. Wenn ich an den Wohnwagen denke.“

„Sie wußten, daß ich stark bin.“

Nachdenklich wandte ich den Kopf von einer Seite zur anderen und dachte über diese Feststellung nach. „Ja, aber das ganze Ausmaß Ihrer Kraft konnte ich mir bildlich nicht vorstellen“, erklärte ich ihm dann. „Oder auch das Ausmaß Ihrer Phantasie.“

„Wir werden im Lauf der Jahre sehr gut darin, unsere Taten zu tarnen.“

„Ach ja? Ich nehme an, Sie haben ziemlich viele Menschen umgebracht?“

„Einige.“ Damit mußt du umgehen lernen - das sagte er nicht, aber es schwang deutlich mit.

Ich verschränkte die Arme hinter dem Rücken. „Waren Sie, gleich nachdem Sie Vampir wurden, hungriger? Wie ist es passiert?“

Mit dieser Frage hatte er nicht gerechnet. Er sah mich an, und ich spürte seine Augen auf mir ruhen, auch wenn wir uns jetzt völlig im Dunkeln befanden, denn um uns herum standen dicht die Bäume des Waldes. Unter unseren Füßen knirschte der Kies der Auffahrt.

„Was die Frage betrifft, wie ich Vampir wurde - das wäre eine zu lange Geschichte. Aber ja, als ich jünger war, habe ich - ein paar Mal - versehentlich getötet. Ich wußte nie, wann ich wieder etwas zu essen bekommen würde, verstehen Sie? Natürlich wurde ständig auf uns Jagd gemacht, und so etwas wie künstliches Blut gab es nicht. Damals lebten hier auch noch nicht so viele Menschen. Aber ich war zu Lebzeiten ein guter Mann - ich meine: ehe mich das Virus erwischte. Also versuchte ich, zivilisiert mit der ganzen Sache umzugehen, mir schlechte Menschen als Opfer zu wählen, mich nie von Kindern zu nähren. Ich habe es zumindest fertiggebracht, nie ein Kind zu ermorden. Heute ist das alles ganz anders. Ich kann jederzeit in jeder Stadt in eine rund um die Uhr geöffnete Ambulanz gehen und mir ein wenig synthetisches Blut besorgen, auch wenn es ekelhaft schmeckt. Oder ich kann eine Hure bezahlen und mir bei ihr genug Blut holen, um ein paar Tage auszukommen. Oder ich kann jemanden bezirzen, der sich dann aus Liebe von mir beißen läßt und hinterher vergißt, was geschehen ist. Ich brauche auch nicht mehr so viel.“

„Oder Sie lernen ein Mädchen mit einer Kopfverletzung kennen“, sagte ich.

„Oh, Sie waren der Nachtisch. Die Rattrays waren die Mahlzeit.“

Damit mußt du umgehen lernen.

„Holla!“ sagte ich atemlos. „Lassen Sie mir ein wenig Zeit.“

Er ließ mir Zeit. Kein Mann - nicht einer von einer Million - hätte mir all diese Zeit gelassen, ohne etwas zu sagen. Ich öffnete mich, ließ alle Wachsamkeit fahren, entspannte mich. Sein Schweigen schlug über mir zusammen wie eine Welle. Mit geschlossenen Augen stand ich da und atmete Erleichterung aus, die zu tief war, um sie in Worte fassen zu können.

„Sind Sie nun glücklich?“ fragte er, ganz so, als könne er das eigentlich selbst erraten.

„Ja“, flüsterte ich atemlos. In diesem Augenblick, nach einem ganzen Leben, in dem sich die Gedanken anderer Menschen in meinem Kopf herumgetrieben hatten, empfand ich den Frieden neben diesem Wesen als unendlich wertvoll - ganz gleich, was dieses Wesen getan haben mochte.

„Sie tun mir ebenfalls gut“, sagte er und überraschte mich damit.

„Wie das denn?“ fragte ich langsam und verträumt.

„Keine Angst, keine Eile. Sie verdammen mich nicht, ich muß Sie nicht bezirzen, damit Sie stillhalten und ich mich mit Ihnen unterhalten kann.“

„Bezirzen?“

„So etwas wie Hypnose“, erklärte er. „Alle Vampire tun das auf die eine oder andere Weise. Wenn wir uns nähren wollten - in den Zeiten, als synthetisches Blut noch nicht erfunden worden war -, mußten wir Menschen von unserer Harmlosigkeit überzeugen ... oder sicherstellen, daß sie uns gar nicht gesehen hatten ... oder sie dazu bringen, zu denken, sie hätten ganz etwas anderes gesehen.“

„Funktioniert das auch bei mir?“

„Natürlich!“ sagte er und wirkte schockiert.

„Okay, dann versuchen Sie es.“

„Schauen Sie mich an.“

„Es ist dunkel.“

„Das macht nichts. Schauen Sie in mein Gesicht.“ Bill trat vor mich, legte mir die Hände sacht auf die Schultern und sah auf mich herab. Ich sah den leichten Schimmer seiner Haut und seiner Augen und fragte mich, während ich zu ihm aufsah, ob ich nun bald wie ein Huhn gackern oder mich gar entkleiden würde.

Dann geschah ... nichts. Ich spürte lediglich weiterhin die große, vollständige, einer Droge gleichende Entspannung, die ich in Bills Gegenwart immer verspürte.

„Merken Sie den Einfluß?“ fragte er und klang ein wenig atemlos.

„Nicht im Geringsten, tut mir leid“, sagte ich bescheiden. „Ich sehe nur Ihren Schein.“

„Den können Sie sehen?“ Wieder einmal hatte ich ihn überrascht.

„Sicher. Die anderen nicht?“

„Nein. Das ist merkwürdig, Sookie.“

„Wenn Sie es sagen. Kann ich einmal zusehen, wie Sie schweben?“

„Jetzt?“ Bill klang belustigt.

„Sicher, warum nicht. Außer, es geht aus irgendeinem Grund nicht?“

„Kein Problem.“ Mit diesen Worten ließ er meinen Arm los und hob vom Boden ab.

Vor Begeisterung seufzte ich tief auf. Da schwebte er in der dunklen Nacht und schimmerte im Mondlicht wie weißer Marmor. Als er fast einen Meter Höhe gewonnen hatte, blieb er dort schweben, und ich hatte das Gefühl, als lächle er auf mich hinab.

„Können Sie das alle?“ fragte ich.

„Können Sie singen?“

„Nein, ich treffe leider keinen einzigen richtigen Ton.“

„So ist das auch bei uns Vampiren - wir können nicht alle das Gleiche.“ Langsam kam Bill wieder herunter und landete völlig lautlos. „Den meisten Menschen ist bei dem Gedanken an Vampire nicht wohl. Ihnen scheint das nicht so zu gehen“, bemerkte er.

Ich zuckte die Achseln. Wer war ich denn, daß mir bei dem Gedanken an etwas, das nicht ganz gewöhnlich war, nicht recht wohl sein sollte? Bill schien zu verstehen, was in mir vorging, denn er fragte nach einer Gesprächspause, in deren Verlauf wir unseren Spaziergang wieder aufnahmen: „War es immer schwer für Sie?“

„Ja.“ Etwas anderes ließ sich dazu nicht sagen, auch wenn ich ihm ungern etwas vorjammern wollte. „Als ich klein war, das war die schlimmste Zeit. Ich wußte nicht, wie ich mich schützen sollte, und natürlich hörte ich Gedanken, die ich nicht hätte hören dürfen, und dann wiederholte ich das Gehörte, wie Kinder es nun einmal tun. Meine Eltern wußten nicht, was sie mit mir anfangen sollten. Besonders meinem Vater war die Sache sehr peinlich. Meine Mutter brachte mich schließlich zu einer Kinderpsychologin, die ganz genau wußte, was ich war, die dies aber einfach nicht akzeptieren konnte und meiner Familie immer wieder erzählte, ich deute Körpersprache und sei eben eine sehr gute Beobachterin, und deswegen würde ich denken, ich könne die Gedanken anderer Menschen wirklich hören. Zuzugeben, daß ich die Gedanken anderer Menschen tatsächlich wortwörtlich hörte, war unmöglich, das paßte nicht in ihre Welt.

In der Schule war ich nie gut, denn es fiel mir schwer, mich zu konzentrieren, wo so wenige andere es taten. Wenn allerdings eine Arbeit geschrieben wurde, schnitt ich immer sehr gut ab, denn dann konzentrierten die anderen Kinder sich auf ihre Hefte. Das verhalf mir zu etwas Spielraum. Manchmal hielt meine Familie mich für faul, weil ich in der alltäglichen Schularbeit so schlecht abschnitt. Manchmal dachten die Lehrer, ich sei lernbehindert. Sie würden nicht glauben, welche Theorien entwickelt wurden! Mir kommt es im Nachhinein vor, als hätte man alle zwei Monate meine Augen und meine Ohren getestet, und dann die ganzen Gehirntomographien! Meine arme Familie mußte dafür ganz schön was hinblättern. Aber die schlichte Wahrheit konnte sie nicht akzeptieren. Zumindest konnte sie es nicht offen zugeben, verstehen Sie?“

„Aber eigentlich wußte sie es.“

„Ja. Einmal, als mein Vater nicht genau sagen konnte, ob er einem Mann Geld leihen sollte, der einen Laden für Autoersatzteile aufmachen wollte, bat er mich, im Zimmer zu bleiben, als der Mann uns besuchen kam. Nachdem der Mann dann gegangen war, trat mein Vater mit mir vor die Tür, sah betreten zur Seite und fragte: 'Sookie, sagt er die Wahrheit?'. Das war vielleicht ein merkwürdiger Augenblick!“

„Wie alt waren Sie da?“

„Ich war noch keine sieben, denn meine Eltern starben, als ich in die zweite Klasse ging.“

„Wie starben Ihre Eltern?“

„Ein überraschende Sturmflut hat sie auf der Brücke erwischt, die westlich von hier über den Fluß führt.“

Dazu sagte Bill nichts. Natürlich hatte er unzählige Tode gesehen.

„Hatte der Mann gelogen?“ fragte er dann, nachdem ein paar Sekunden verstrichen waren.

„Aber ja doch. Er hatte vor, Dads Geld zu nehmen und sich abzusetzen.“

„Sie verfügen über eine Gabe.“

„Aber sicher doch: eine Gabe!“ Ich spürte, wie meine Mundwinkel sich nach unten senkten.

„Das unterscheidet Sie von anderen Menschen.“

„Was Sie nicht sagen.“ Einen Augenblick lang gingen wir schweigend nebeneinander her. „Sie selbst betrachten sich also gar nicht mehr als menschlich?“

„Schon seit langem nicht mehr.“

„Glauben Sie wirklich, Sie hätten Ihre Seele verloren?“ Das predigte die katholische Kirche nämlich zum Thema Vampire.

„Ich habe keine Möglichkeit, das herauszufinden“, erwiderte Bill, und es klang fast beiläufig. Offensichtlich hatte er über dieses Thema so oft und so lange nachgedacht, daß der Gedanke für ihn etwas ganz Gewöhnliches war. „Ich persönlich glaube es nicht. In mir ist etwas, das nicht grausam ist, nicht mordlüstern, selbst nach all den Jahren nicht. Auch wenn ich beides sein kann, grausam und mordlüstern.“

„Es ist schließlich nicht Ihre Schuld, daß Sie mit diesem Virus infiziert wurden.“

Bill schnaubte und schaffte es selbst dabei, elegant zu wirken. „Theorien gibt es, seit es Vampire gibt. Vielleicht ist diese ja die richtige.“ Dann sah er mich an, als täte es ihm leid, so etwas gesagt zu haben. „Wenn das, was einen Vampir zu einem Vampir macht, ein Virus ist“, fügte er wie nebenbei hinzu, „dann ist es ein sehr selektives Virus.“

„Wie sind Sie Vampir geworden?“ Ich hatte ja allerhand zu diesem Thema gelesen, aber nun würde ich es aus erster Hand erfahren können.

„Dazu müßte ich Sie ausbluten, entweder in einer einzigen Sitzung oder auf zwei, drei Tage verteilt, bis Sie kurz davor sind, zu sterben.

Dann müßte ich Ihnen mein Blut geben. Sie würden etwa 48 Stunden wie tot wirken, das kann sogar bis zu drei Tagen dauern. Danach würden Sie sich erheben und fortan die Nacht bevölkern - und Sie wären hungrig.“

Mich schauderte bei der Art, wie er 'hungrig' sagte.

„Anders geht es nicht?“

„Andere Vampire haben mir erzählt, Menschen, von denen sie sich regelmäßig jeden Tag nährten, hätten sich plötzlich und unerwartet in Vampire verwandelt. Aber dazu ist erforderlich, daß man sich wirklich kontinuierlich und auch sehr ausführlich nährt. Andere Menschen wiederum werden unter denselben Umständen nur blutarm, und wenn ein Mensch am Abgrund des Todes steht, nach einem Autounfall etwa oder weil er eine Überdosis Drogen konsumiert hat, und man versucht, ihn zu wandeln, dann kann das ganze Verfahren auch drastisch schieflaufen.“

Mir wurde allmählich immer mulmiger zumute. „Es wird Zeit, daß wir das Thema wechseln. Was haben Sie mit dem Land der Comptons vor?“

„Ich gedenke, dort zu wohnen, solange ich irgend kann. Ich habe es satt, ständig umherzuziehen. Ich bin auf dem Land groß geworden. Nun, wo mir das Gesetz das Recht zu leben zubilligt und ich nach Monroe oder Shreveport oder New Orleans gehen kann, um mir synthetisches Blut zu besorgen oder eine Prostituierte, die sich auf unsereins spezialisiert hat, möchte ich gern hier bleiben. Ich will zumindest herausfinden, ob es geht. Jahrzehntelang war ich immer nur unterwegs.“

„In welcher Verfassung ist das Haus?“

„In schlechter“, mußte Bill zugeben. „Ich habe versucht, es zu entrümpeln. Das kann ich nachts tun. Aber ich brauche Handwerker, um Reparaturen vornehmen zu lassen. Als Zimmermann bin ich nicht schlecht, aber von Elektrizität habe ich nicht den leisesten Schimmer.“

Natürlich nicht, wie sollte er auch.

„Ich habe das Gefühl, das Haus könnte ganz gut neue Leitungen vertragen“, fuhr Bill fort und klang nicht anders als jedweder besorgte Hausbesitzer irgendwo auf der Welt.

„Haben Sie Telefon?“ fragte ich.

„Natürlich“, antwortete er erstaunt.

„Warum sind Handwerker dann ein Problem?“

„Es ist schwer, mich nachts mit ihnen in Verbindung zu setzen, sie dazu zu bringen, sich mit mir zu treffen, ihnen zu erklären, was getan werden muß. Sie haben Angst oder denken, jemand will sie auf die Schippe nehmen, wenn ich anrufe.“ Auch wenn Bill sich von mir abgewandt hatte, konnte ich seiner Stimme anhören, wie sehr ihn das Thema frustrierte.

Ich lachte. „Wenn Sie wollen“, sagte ich, „rufe ich die Handwerker an. Sie kennen mich. Mich halten zwar alle für verrückt, aber sie wissen genau, daß ich ehrlich bin.“

„Damit würden Sie mir einen riesigen Gefallen tun“, gab Bill nach einigem Zögern zu. „Wenn ich mich erst einmal mit den Handwerkern getroffen habe, um die Arbeit und die Kosten zu besprechen, könnten sie natürlich tagsüber arbeiten.“

„Wie unbequem, wenn man tagsüber gar nicht weggehen kann“, bemerkte ich gedankenlos. Ich hatte mich vorher noch nie wirklich mit dieser Frage befaßt.

Bills Antwort klang recht trocken: „Das können Sie laut sagen.“

„Dazu noch die Notwendigkeit, seinen Ruheplatz verstecken zu müssen!“ plapperte ich weiter.

Als Bill daraufhin gar nichts mehr sagte und ich mir denken konnte, warum, entschuldigte ich mich hastig bei ihm.

„Es tut mir leid!“ sagte ich, und wenn es nicht so dunkel gewesen wäre, hätte er sehen können, wie ich dunkelrot anlief.

„Der Ort, an dem ein Vampir tagsüber ruht, ist sein bestgehütetes Geheimnis,“ erwiderte Bill steif.

„Ich möchte mich wirklich entschuldigen!“

„Ich nehme die Entschuldigung an“, erklärte er daraufhin nach einem schrecklichen kleinen Augenblick des Schweigens. Dann kamen wir zur Straße und sahen erst in die eine, dann in die andere Richtung, als warteten wir auf ein Taxi. Jetzt, wo wir aus dem Wald heraus waren, konnte ich Bill im Mondlicht klar erkennen. Auch er konnte mich sehen und betrachtete mich nun prüfend von oben bis unten.

„Ihr Kleid hat dieselbe Farbe wie Ihre Augen.“

„Danke.“ So deutlich konnte ich ihn nun wiederum nicht sehen.

„Es ist allerdings nicht viel Kleid vorhanden.“

„Wie bitte?“

„Es fällt mir schwer, mich an junge Damen zu gewöhnen, die so wenig anhaben“, erklärte Bill.

„Sie hatten ein paar Jahrzehnte Zeit, sich daran zu gewöhnen“, erwiderte ich ungehalten. „Nun lassen Sie es aber gut sein! Kleider sind seit mehr als vierzig Jahren kurz!“

„Ich mochte lange Röcke“, bemerkte er nostalgisch. „Ich mochte auch die Unterkleider. Die Krinolinen.“

Ich gab ein sehr unhöfliches Geräusch von mir.

„Besitzen Sie überhaupt eine Krinoline?“ fragte er daraufhin.

„Ich besitze einen sehr hübschen beigen Nylonslip mit Spitze“, erklärte ich indigniert. „Wenn Sie ein Mann der menschlichen Art wären, würde ich jetzt sagen, Sie wollen mich nur dazu bringen, über meine Unterwäsche zu reden!“

Er lachte, das dunkle, ungeübte Kichern, das mir so sehr gefiel. „Tragen Sie heute diesen Slip, Sookie?“

Da ich wußte, er konnte mich sehen, streckte ich ihm die Zunge heraus. Ich hob den Saum meines Kleids und enthüllte den Spitzenbesatz des Slips und ein paar Zentimeter mehr von meiner sonnengebräunten Haut.

„Zufrieden?“ fragte ich.

„Sie haben hübsche Beine, aber lange Kleider mag ich trotzdem lieber.“

„Sie sind einfach nur dickköpfig“, teilte ich ihm mit.

„Das hat meine Frau auch immer gesagt.“

„Sie waren verheiratet?“

„Ja. Mit dreißig wurde ich Vampir. Ich hatte eine Frau und fünf Kinder, die das Säuglingsalter überlebt hatten. Meine Schwester Sarah wohnte bei uns. Sie hat nie geheiratet. Ihr Verlobter war im Krieg getötet worden.“

„Im Bürgerkrieg?“

„Ja. Ich kam vom Schlachtfeld zurück. Ich war einer der Glücklichen. Zumindest dachte ich das damals.“

„Sie haben für die Konföderierten gekämpft“, sagte ich nachdenklich. „Wenn Sie noch Ihre Uniform hätten und die zum Treffen der Nachkommen anziehen würden, dann fielen die Damen vor Freude alle in Ohnmacht.“

„Am Ende des Krieges war von meiner Uniform nicht mehr viel übrig“, bemerkte Bill. „Wir trugen Lumpen und waren halb verhungert.“ Er schien die Erinnerung abschütteln zu wollen. „Das alles hatte keine Bedeutung mehr für mich, nachdem ich Vampir geworden war.“ Nun klang seine Stimme wieder kalt und so, als sei er kilometerweit von mir entfernt.

„Ich habe etwas angesprochen, was Ihnen Kummer bereitet“, sagte ich. „Tut mir leid. Worüber wollen Sie sprechen?“ Wir wandten uns um und schlenderten die Auffahrt hinauf, zurück zum Haus.

„Über Ihr Leben“, sagte er. „Erzählen Sie mir, was Sie tun, wenn Sie am Morgen aufstehen.“

„Ich klettere aus dem Bett. Dann mache ich sofort das Bett und frühstücke. Toast, manchmal Müsli, manchmal Eier und Kaffee, und dann bürste ich mir die Zähne, dusche und ziehe mich an. Manchmal rasiere ich mir die Beine. Wenn es ein Arbeitstag ist, gehe ich zur Arbeit. Wenn ich erst abends zur Arbeit muß, gehe ich vielleicht einkaufen, oder ich begleite meine Oma zum Laden, oder ich leihe mir ein Video aus, oder ich sitze ein wenig in der Sonne. Ich lese viel. Ich kann mich glücklich schätzen, daß meine Oma noch so gut beieinander ist. Sie wäscht und bügelt und kocht auch fast immer.“

„Was ist mit jungen Männern?“

„Ach, das habe ich Ihnen doch schon erzählt. Es ist einfach unmöglich.“

„Was wollen Sie also tun, Sookie?“ fragte er sanft.

„Alt werden und sterben.“ Meine Stimme klang dünn. Bill hatte einmal zu oft an meine empfindlichen Punkte gerührt.

Zu meiner Verwunderung nahm der Vampir nun meine Hand. Jetzt, wo wir einander ein wenig wütend gemacht und wunde Punkte berührt hatten, schien die Luft mit einem Mal klarer. In der lauen Nacht wehte mir eine Brise die Haare ins Gesicht.

„Würden Sie die Spange herausnehmen?“ bat Bill.

Kein Grund, das nicht zu tun. Ich entzog ihm meine Hand und griff nach oben, um die Spange zu öffnen. Dann schüttelte ich den Kopf, um die Haare zu lockern. Die Haarspange steckte ich Bill in die Tasche, denn ich hatte keine. Bill ließ seine Finger durch mein Haar gleiten, als sei das die natürlichste Sache der Welt, und breitete es auf meinen Schultern aus.

Ich berührte seine Koteletten, denn berühren schien in Ordnung. „Die sind ziemlich lang“, stellte ich fest.

„Das war damals Mode“, sagte er. „Ich hatte Glück, ich trug keinen Bart, wie so viele der Männer, sonst hätte ich den jetzt für alle Ewigkeit.“

„Sie brauchen sich nie zu rasieren?“

„Nein, zum Glück hatte ich mich gerade rasiert.“ Mein Haar schien ihn zu faszinieren. „Im Mondlicht sehen sie silbern aus“, sagte er ruhig.

„Ah. Was tun Sie gerne?“

Selbst im Dunkeln konnte ich den Schatten seines Lächelns sehen.

„Auch ich lese gern.“ Dann dachte er nach. „Ich gehe gern ins Kino. Ich habe die Filmwelt von ihren Anfängen an beobachtet. Ich bin gern in Gesellschaft von Menschen, die ihr Leben normal verbringen. Manchmal sehne ich mich auch nach einem Zusammensein mit anderen Vampiren, auch wenn viele von denen ein Leben führen, das sich von meinem grundsätzlich unterscheidet.“

Wir gingen eine Weile schweigend nebeneinander her.

„Sehen Sie gern fern?“

„Manchmal“, gab er zu. „Eine Zeitlang habe ich Seifenopern aufgenommen und sie mir nachts angesehen, weil ich dachte, ich liefe Gefahr zu vergessen, was Menschsein heißt. Das habe ich nach einer Weile aber wieder gelassen. Was ich dort zu sehen bekam, ließ mich denken, es sei gar nicht so schlecht, wenn man vergißt, was Menschsein heißt.“ Da mußte ich lachen.

Nun traten wir in den Lichtkreis, der unser Haus umgab. Ich war mir fast sicher gewesen, daß Oma auf der Verandaschaukel sitzen und auf uns warten würde, aber das tat sie nicht, und im Wohnzimmer brannte lediglich eine einzige, nicht besonders helle Lampe. Also wirklich, Oma! dachte ich gereizt. Das war nun wahrlich fast so, als brächte mich ein neuer Verehrer nach der ersten Verabredung nach Hause, und schon ertappte ich mich tatsächlich bei der Frage, ob Bill wohl versuchen würde, mich zu küssen. Angesichts seiner Ansichten über die Länge oder Kürze von Kleidern stand zu befürchten, daß er dies für nicht angebracht hielt. Aber wie dumm es auch sein mag, sich ausgerechnet nach dem Kuß eines Vampirs zu sehnen: Ich wollte genau das - von Bill geküßt werden. Das wollte ich in diesem Moment mehr als alles andere auf der Welt.

Schon spürte ich, wie sich in meiner Brust etwas verspannte, spürte die Bitterkeit darüber, daß mir schon wieder etwas verweigert wurde, wonach ich mich sehnte. Aber dann dachte ich: warum eigentlich nicht?

Sanft zog ich an Bills Hand und brachte ihn so zum Stehen. Dann reckte ich mich auf die Zehenspitzen und preßte meine Lippen an seine matt schimmernde Wange. Dabei atmete ich seinen Geruch ein, einen gewöhnlichen, aber leicht salzigen Geruch. Zudem duftete er ganz fein nach Eau de Cologne.

Ich fühlte, wie der Vampir bebte. Dann drehte er den Kopf so, daß seine Lippen die meinen berührten, und ich schlang ihm die Arme um den Hals. Sein Kuß wurde immer intensiver, und ich öffnete meine Lippen: So war ich noch nie geküßt worden. Der Kuß dauerte und dauerte, bis ich dachte, die ganze Welt läge darin, in dem Mund des Vampirs auf dem meinen. Dann ging mein Atem hörbar immer rascher, und ich fing an, mich auch nach anderen Dingen zu sehnen.

Ganz plötzlich zog Bill sich zurück. Er wirkte erschüttert, was mich unendlich freute. „Gute Nacht, Sookie“, murmelte er und strich mir ein letztes Mal übers Haar.

„Gute Nacht, Bill“, erwiderte ich und klang selbst auch ganz schön zittrig. „Ich werde versuchen, morgen ein paar Elektriker anzurufen. Ich lasse dich dann wissen, was sie gesagt haben.“

„Komm doch morgen abend bei mir vorbei - wenn du nicht arbeitest?“

„Ja“, sagte ich nur, denn ich war immer noch damit beschäftigt, mich wieder einzukriegen.

„Bis dann. Vielen Dank.“ Damit schickte er sich an, durch den Wald hindurch zurück zu seinem Haus zu gehen. Als er die Dunkelheit zwischen den Bäumen erreicht hatte, war nichts mehr von ihm zu sehen.

Ich stand da und starrte ihm hinterher wie eine Närrin. Dann schüttelte ich mich einmal und ging zu Bett.

Dort verbrachte ich unanständig viel Zeit damit, wach zu liegen und mich zu fragen, ob die Untoten - na ja - ob sie 'es' überhaupt tun konnten. Zudem fragte ich mich, ob sich Sex offen mit Bill erörtern ließe, denn manchmal erschien er mir altmodisch. Dann wieder kam er mir vor wie der Typ von nebenan. Na - vielleicht nicht gerade wie der Typ von nebenan, aber doch schon ziemlich normal.

Mir erschien es einerseits wunderbar, andererseits jedoch auch ein wenig traurig, daß ich in all den Jahren nur ein einziges Wesen kennengelernt hatte, zu dem es mich sexuell hinzog, und dieses Wesen war noch nicht einmal ein Mensch. Meine telepathische Gabe ließ mir in dieser Frage keine große Wahl. Klar: Ich hätte mit irgendwem schlafen können, nur des sexuellen Erlebnisses wegen, aber ich hatte nun einmal auf jemanden gewartet, mit dem zusammen Sex wirklich Spaß machen würde.

Was, wenn wir miteinander schliefen und ich nach all den Jahren feststellen mußte, daß mir jegliches Talent fehlte? Oder wenn es sich einfach nicht gut anfühlte? Vielleicht hatten all die Bücher und Filme ja schamlos übertrieben - und auch Arlene, die nie verstehen wollte, daß ich über ihr Liebesleben nichts hören mochte?

Nach langer Zeit schlief ich endlich ein und träumte unendlich ausführliche, sehr dunkle Träume.

Sobald es mir am nächsten Morgen gelungen war, Omas Fragen nach meinem Spaziergang mit Bill und unseren zukünftigen Plänen miteinander elegant zu umschiffen, tätigte ich ein paar Telefonanrufe. Es gelang mir, zwei Elektriker, einen Klempner und ein paar andere Handwerker aufzutreiben, die bereit waren, mir Telefonnummern zu geben, unter denen sie nachts erreichbar sein würden, und erklärte ihnen, es handle sich nicht um einen Scherz, wenn sie einen Anruf von Bill Compton erhalten sollten.

Gerade hatte ich mich im Garten in die Sonne gelegt, um ein wenig zu rösten, als mir Oma das Telefon an den Liegestuhl brachte.

„Dein Chef“, verkündete sie und strahlte dabei über beide Ohren wie eine höchst zufriedene Katze. Oma konnte Sam gut leiden, und offenbar hatte er am Telefon etwas zu ihr gesagt, das sie glücklich machte.

„Hallo, Sam“, meldete ich mich und klang dabei im Gegensatz zu meiner Oma nicht besonders glücklich. Wenn Sam mich anrief, hieß das, daß auf der Arbeit etwas schiefgelaufen war.

„Meine Liebe: Dawn ist nicht zur Arbeit gekommen!“ verkündete mein Chef da auch bereits.

„Oh ... verdammt“, erwiderte ich, denn ich wußte, daß ich nun an Dawns Stelle zum Dienst antreten sollte. „Ich habe eigentlich etwas vor!“ Das war neu. „Wann brauchst du mich denn?“

„Könntest du von fünf bis neun? Das wäre mir schon eine große Hilfe.“

„Kriege ich dafür einen ganzen Tag frei?“

„Dawn teilt sich einen anderen Abend dafür mit dir die Schicht - was hältst du davon?“

Ich gab ein unanständiges Geräusch von mir; meine Oma starrte mich mit unbewegtem Gesicht an, und ich wußte, daß sie mir später eine Standpauke halten würde. „Schon gut!“ brummte ich unwillig. „Ich bin um fünf Uhr da.“

„Danke“, meinte Sam. „Ich wußte doch, daß ich mich auf dich verlassen kann.“

Ich versuchte ja, mich über dieses Lob zu freuen, aber ich konnte mir nicht helfen: Mir schien die Tugend, für die ich da gelobt wurde, eine langweilige zu sein. Klar konnte man sich darauf verlassen, daß Sookie einsprang und half, denn sie hatte ja sonst nichts vor in ihrem Leben.

Auch nach neun Uhr würde ich noch prima bei Bill vorbeischauen können, das war nicht die Frage. Er würde ja ohnehin die ganze Nacht wach sein.

Nie war auf der Arbeit die Zeit so langsam vergangen. Ich hatte Probleme damit, ständig meinen Schutzwall aufrecht zu erhalten, weil meine Gedanken immer wieder zu Bill abschweiften. Zum Glück war nicht viel Kundschaft da, sonst hätte ich haufenweise unerwünschte Gedanken zu hören bekommen. So wie die Dinge standen, erfuhr ich, daß Arlenes Regel ausgeblieben war und sie befürchtete, schwanger zu sein, und ehe ich mich zusammenreißen konnte, hatte ich meine Kollegin auch schon liebevoll in den Arm genommen. Sie sah mich prüfend an und wurde dann knallrot.

„Hast du meine Gedanken gelesen, Sookie?“ fragte sie, und in ihrer Stimme lag ein eindeutig warnender Unterton. Arlene gehörte zu den wenigen Menschen, die meine Fähigkeiten einfach zur Kenntnis genommen hatten, ohne zu versuchen, eine Erklärung dafür zu finden oder mich als Mißgeburt abzustempeln. Allerdings sprach sie nicht oft über meine Gabe, und wenn, so hatte ich festgestellt, dann nie in einem normalen Tonfall.

„Es tut mir so leid! Ich wollte es nicht“, beteuerte ich. „Ich kann mich nur heute einfach nicht konzentrieren.“

„Okay. Aber von jetzt an hältst du dich raus!“ Mit diesen Worten fuchtelte Arlene mir mit dem Zeigefinger vor der Nase herum, während ihre roten Locken im Takt dazu ihren Kopf umtanzten.

Ich wäre am liebsten in Tränen ausgebrochen. „Es tut mir so leid!“ wiederholte ich, und dann verkroch ich mich im Lager, um wieder richtig zu mir zu kommen. Ich wollte versuchen, meine Gesichtszüge wieder in die gewohnte Ordnung zu bringen, und mußte auf jeden Fall verhindern, daß meine Tränen ungehemmt flossen.

Kaum hatte ich die Tür hinter mir geschlossen, als ich auch schon hörte, wie sie wieder aufging.

„Arlene! Ich habe nun schon zweimal gesagt, wie leid es mir tut!“ fauchte ich, denn ich wollte allein sein.

Arlene verwechselte nämlich manchmal Telepathie mit Hellsehen, und ich befürchtete, sie würde mich fragen wollen, ob das mit der Schwangerschaft stimmte. In der Frage war sie aber mit einem Schwangerschaftstest aus der Apotheke wesentlich besser bedient.

„Sookie?“ Nicht Arlene war mir in den Lagerraum gefolgt, sondern Sam. Er legte mir die Hand auf die Schultern, drehte mich zu sich um und fragte: „Was ist?“

Er fragte das ganz sanft, was mich den Tränen nur noch näher brachte.

„Bitte sei fies zu mir, sonst heule ich los!“ bat ich ihn.

Er lachte, kein lautes Lachen, ein ganz kleines, leises. Dann nahm er mich in den Arm.

„Was ist los?“ Er würde nicht aufgeben und gehen.

„Ach, ich ...“ Weiter kam ich nicht, dann biß ich mir auf die Zunge. Ich hatte mein Problem (denn als solches sah ich das, was Bill meine Gabe genannt hatte) nie offen mit Sam oder jemand anderem besprochen. Jeder in Bon Temps war mit den Gerüchten vertraut, die über mich in Umlauf waren, meinte zu wissen, warum ich so merkwürdig wirkte. Niemandem jedoch schien wirklich bewußt zu sein, daß ich ihrem geistigen Geplapper tagaus, tagein ausgesetzt war, ob ich das nun wollte oder nicht, daß ich gezwungen war, mit einer ewigen Geräuschkulisse aus Bla-bla-bla zu leben.

„Hast du irgend etwas gehört, was dir Kummer macht?“ Sams Stimme klang ruhig, und die Frage kam beiläufig. Er berührte sanft meine Stirn und gab mir so zu verstehen, daß er durchaus wußte, daß ich 'hören' konnte. „Ja.“

„Kannst das gar nicht verhindern, oder?“

„Nein.“

„Und es nervt dich, nicht, Schatz?“

„Und wie!“

„Aber es ist doch nicht deine Schuld, oder?“

„Ich versuche ja, nicht zuzuhören, aber ich kann einfach nicht ständig auf der Hut sein.“ Ich spürte, wie eine Träne, die ich nicht hatte zurückhalten können, mir über die Wange kullerte.

„Du bist also auf der Hut, Sookie, so machst du das? Wie schaffst du es, auf der Hut zu sein?“

Sam klang ehrlich interessiert und schien mich nicht für einen Fall für die Klapsmühle zu halten. Ich hob den Blick - weit mußte ich ihn nicht heben - und sah in die leuchtenden Augen, die sein Gesicht beherrschten.

„Das läßt sich jemandem, der es nicht selbst auch tut, schwer beschreiben. Ich errichte im Kopf einen Zaun ... nein: keinen Zaun. Ich stelle Stahlplatten auf und schiebe sie ineinander. Als Bollwerk zwischen meinem Kopf und den Köpfen aller anderen.“

„Und dann mußt du dafür sorgen, daß diese Stahlplatten nicht verrutschen oder kippen?“

„]a, und das verlangt ungeheure Konzentration. Es ist so, als müßte ich meine Gedanken immerfort aufteilen, weswegen die Leute mich auch für verrückt halten. Die eine Hälfte meines Bewußtseins erhält die Stahlplatten aufrecht, und die andere versucht, sich Bestellungen zu merken - für eine zusammenhängende Konversation ist da oft kein Platz mehr.“ Während ich Sam das alles erklärte, überkam mich eine Welle der Erleichterung. Endlich einmal konnte ich darüber reden!

„Hörst du Worte oder empfängst du einfach nur Eindrücke?“

„Das hängt davon ab, wem ich zuhöre und in welchem Zustand sich der Betreffende befindet. Menschen, die betrunken oder verwirrt sind, vermitteln mir Bilder, Eindrücke, Vorhaben. Bei Menschen, die nüchtern und klar im Kopf sind, höre ich Worte und empfange dazu noch einige Bilder.“

„Der Vampir sagt, ihn kannst du nicht hören.“

Bei der Vorstellung, Sam und Bill könnten sich über mich unterhalten haben, wurde mir etwas mulmig zu Mute. „Das stimmt“, gab ich zu.

„Da kannst du dich entspannen?“

„Ja!“ Das kam aus tiefstem Herzen.

„Kannst du mich auch hören, Sookie?“

„Das möchte ich noch nicht einmal versuchen“, sagte ich hastig und eilte zur Tür, wo ich, die Hand bereits auf der Klinke, noch einmal stehenblieb. Aus der Seitentasche meiner schwarzen Shorts fischte ich ein Papiertaschentuch und wischte mir die Tränenspuren von den Wangen. „Wenn ich deine Gedanken lesen würde, Sam, müßte ich hier kündigen. Ich mag dich, mir gefällt es hier.“

„Versuch es doch einfach irgendwann mal“, sagte Sam beiläufig und wandte sich dann einem Karton mit Whiskeyflaschen zu, den er mit dem rasiermesserscharfen Teppichschneider, den er stets bei sich trug, aufschneiden wollte. „Wenn du es tust, brauchst du dir meinetwegen nicht den Kopf zu zerbrechen. Was mich betrifft, so ist der Job hier dir sicher, solange du ihn haben willst.“

Wenig später wischte ich einen Tisch ab, auf dem Jason Salz verstreut hatte, als er am Nachmittag dagewesen war, um einen Hamburger mit Pommes zu essen und ein paar Bierchen zu trinken. Dabei ließ ich mir Sams Vorschlag durch den Kopf gehen.

An diesem Tag würde ich jedenfalls nicht mehr versuchen, ihm zuzuhören. Heute war er vorbereitet. Ich würde abwarten, bis Sam mit anderen Dingen beschäftigt war, und mich dann einfach mal ein wenig bei ihm einschalten. Immerhin hatte er mich dazu eingeladen - das war mir noch nie passiert.

Irgendwie war es nett, so eingeladen zu werden.

Ich besserte meine Schminke auf und kämmte mich, denn ich trug mein Haar an diesem Tag offen, weil Bill das zu mögen schien. Mich persönlich hatten die Haare den ganzen Abend über eher gestört. Nun war es fast Zeit für mich, zu gehen, und so holte ich meine Handtasche aus Sams Büro.

* * *

Das Compton-Haus lag, wie auch das Haus meiner Großmutter, in einiger Entfernung von der Straße, war aber von dort aus eher zu sehen als das unsrige. Vom Haus der Comptons aus hatte man einen Blick auf den Friedhof; von unserem Haus aus nicht. Das lag (zumindest zum Teil) daran, daß das Compton-Haus höher lag als das unsrige. Es befand sich oben auf einem kleinen Hügel und war wirklich zweistöckig, während Großmutters Haus im Obergeschoß zwar ein paar zusätzliche Schlafzimmer und einen Dachboden hatte, eigentlich aber nur anderthalbstöckig war.

Die Comptons hatten irgendwann einmal in ihrer langen Geschichte ein wahrhaft schönes Heim ihr eigen nennen können, und selbst jetzt strahlte das Haus in der Dunkelheit noch eine gewisse Würde und Anmut aus. Bei Tageslicht jedoch, so wußte ich, konnte man sehen, daß die Farbe von den Säulen abblätterte, die hölzernen Balustraden schief hingen und der Garten ein einziger Urwald war. In der feuchten Wärme Louisianas gerät ein Garten leicht außer Kontrolle, und der alte Compton war kein Mann gewesen, der für die Gartenarbeit jemanden anstellte. Als er selbst dafür zu schwach geworden war, war die Arbeit einfach liegengeblieben.

Schon jahrelang hatte niemand mehr die runde Auffahrt mit frischem Kies ausgestreut, und so ließ ich mein Auto recht vorsichtig bis zur Vordertür kriechen. Als ich sah, daß das ganze Haus hell erleuchtet war, wußte ich, daß der Abend nicht so verlaufen würde wie der vergangene. Außer meinem stand noch ein Auto vor der Tür, ein Lincoln Continental, weiß mit blauem Verdeck. Ein Aufkleber - blaue Schrift auf weißem Grund - zierte die Stoßstange und verkündete 'Vampire sind Blutsauger'. Ein weiterer Kleber - rote Schrift auf gelbem Grund - bat: 'Blutspender bitte hupen', und das speziell gefertigte Nummernschild des Wagens - so eins, das der Eitelkeit diente und für das man sehr viel Geld bezahlte - lautete schlicht: Fangzahn 1.

Bill schien bereits Besuch zu haben - vielleicht sollte ich da lieber wieder nach Hause gehen?

Aber ich war eingeladen worden und wurde erwartet. Zögernd hob ich also die Hand und klopfte an die Vordertür.

Ein weiblicher Vampir öffnete mir.

Sie leuchtete wie verrückt, war mindestens 1,80 m groß und schwarz. Sie trug Stretch: einen Sport-BH, leuchtend rot wie ein Flamingo, und passende Leggins, die ihr bis zur Hälfte der Waden reichten. Dazu ein weißes, offenes Männerhemd und mehr nicht.

Ich fand, sie sah so billig aus wie nur irgend etwas und höchstwahrscheinlich - von einem männlichen Blickwinkel aus - wahrhaft appetitlich.

„Hallo, sieh da, ein kleines menschliches Püppchen!“ gurrte die Vampirfrau.

Da wurde mir schlagartig klar, daß ich mich in Gefahr begeben hatte. Verschiedentlich schon hatte Bill mir warnend zu verstehen gegeben, daß nicht alle Vampire so waren wie er und daß es selbst in seinem Leben Momente gab, in denen man sein Verhalten nicht wirklich als nett bezeichnen konnte. Auch ohne die Gedanken des Wesens da vor mir lesen zu können: Ich hörte durchaus, wie grausam und kalt ihre Stimme klang.

Vielleicht hatte sie Bill etwas angetan. Vielleicht war sie seine Geliebte.

All diese Gedanken rasten mir durch den Kopf, aber keiner von ihnen zeigte sich auf meinem Gesicht. Schließlich hatte ich mich jahrelang darin üben können, meine Züge unter Kontrolle zu halten. Schon spürte ich, wie sich mein Lächeln noch vertiefte und sich mein Rücken kerzengerade aufrichtete. Dann strahlte ich: „Hallo! Bill bat mich, vorbeizuschauen und ein paar Informationen mit ihm durchzugehen. Ist er zu sprechen?“

Nun lachte die Vampirin mich offen aus, aber das war schließlich nichts Ungewohntes für mich. Mein Lächeln leuchtete noch heller. Das Wesen, das da vor mir stand, strahlte Gefahr aus wie eine Glühbirne Hitze.

„Das kleine Menschenmädchen hier sagt, sie hat Informationen für dich, Bill“, brüllte die Vampirin über ihre (schlanke, braune, schöne) Schulter hinweg.

Ich versuchte, mir meine Erleichterung in keiner Weise anmerken zu lassen.

„Willst du das kleine Ding sprechen? Oder soll ich ihr einfach einen Knutschfleck verpassen?“

Nur über meine Leiche! dachte ich fuchsteufelswild, und dann wurde mir ein wenig übel: Genau das konnte schließlich passieren.

Bills Antwort vermochte ich nicht zu hören, aber nun gab die Vampirfrau die Tür frei, und ich trat in das alte Haus. Fortlaufen hätte keinen Zweck gehabt, der Vamp hätte mich fraglos schon nach fünf Schritten auf die Matte geworfen. Zudem hatte ich Bill noch nicht zu Gesicht bekommen und konnte von daher auch nicht sicher sein, daß ihm nichts geschehen war. Ich würde all meinen Mut zusammennehmen und auf das Beste hoffen. Darin war ich ziemlich gut.

Das große vordere Zimmer war vollgestopft mit dunklen, alten Möbeln und Menschen. Nein, nicht mit Menschen: Bei genauerem Hinsehen erkannte ich zwei Menschen und zwei weitere, mir unbekannte Vampire.

Beide Vampire waren weiß und männlich. Der eine trug einen Irokesenschnitt und Tätowierungen auf jedem sichtbaren Fitzelchen Haut. Der andere war noch größer als die Frau, die mir die Tür geöffnet hatte, vielleicht größer als zwei Meter. Er hatte einen dichten Schopf dunklen Haars, das ihm bis über die Schultern und noch weiter hinabfiel, sowie eine beeindruckende Figur.

Die anwesenden Menschen machten weit weniger her. Einer von ihnen war weiblich: füllig und blond, etwa fünfunddreißig, vielleicht auch älter. Die Frau trug ungefähr ein Pfund Schminke zu viel und wirkte ausgelatscht wie ein alter Stiefel. Da war der Mann schon eine andere Nummer, denn er war hübsch, wunderhübsch sogar, der hübscheste Mann, den ich je gesehen hatte. Er war bestimmt nicht älter als einundzwanzig und mochte spanischer Herkunft sein, denn er war dunkelhäutig, klein und feingliedrig. Er war mit Jeans bekleidet, die er ein ganzes Stück über dem Knie abgeschnitten hatte. Sonst trug er nichts. Außer Make-up - was ich zur Kenntnis nahm, ohne mit der Wimper zu zucken, nicht aber wirklich attraktiv fand.

Dann bewegte sich Bill, so daß ich endlich erkennen konnte, wo er war. Er stand in den Schatten eines dunklen Flurs, der vom Wohnzimmer aus in den hinteren Teil des Hauses führte. Ich sah ihn an, denn er sollte mir vermitteln, wie ich mich in dieser unerwarteten Situation zu verhalten hatte. Zu meinem großen Entsetzen strahlte Bill nichts aus, was ich als beruhigend empfand. Er verzog keine Miene; sein Gesicht wirkte absolut undurchdringlich. Ich mochte es ja selbst kaum glauben, aber einen Moment lang schoß mir durch den Kopf, welche Erleichterung es jetzt wäre, einen kurzen Blick auf Bills Gedanken werfen zu können.

„Wunderbar!“ sagte der langhaarige Vampir. „Dann können wir uns ja alle zusammen einen entzückenden Abend machen. Ist das hier eine kleine Freundin von dir? Sie wirkt irgendwie so frisch.“

Mir gingen ein paar Kraftausdrücke durch den Kopf, die Jason mir beigebracht hatte.

„Wenn Sie Bill und mich einen Augenblick entschuldigen würden?“ bat ich höflich, als sei dies für mich ein total normaler Abend. „Ich habe mich heute um ein paar Handwerker gekümmert, die das Haus renovieren sollen.“ Nun wird einem in der Regel nicht viel professioneller Respekt gezollt, wenn man Shorts und Nikes trägt, aber ich versuchte dennoch, geschäftsmäßig und unpersönlich zu klingen. Sie alle sollten glauben, ich sei nicht in der Lage, mir vorzustellen, die netten Menschen, denen ich hier im Verlauf meines Arbeitstages begegnete, könnten eine wirkliche Bedrohung für mich darstellen.

„Da hat man uns gesagt, Bill lebt jetzt ausschließlich von synthetischem Blut!“ bemerkte der tätowierte Vampir kopfschüttelnd. „Da müssen wir uns doch irgendwie verhört haben, Diane!“

Die Vampirin neigte den Kopf und musterte mich von der Seite. „Da bin ich nicht so sicher. Sie sieht mir sehr nach Jungfrau aus.“

Auf Jungfernhäutchen bezog sich Diane mit dieser Bemerkung bestimmt nicht.

Wie zufällig tat ich ein paar Schritte in Bills Richtung und hoffte inständig, er möge mir beistehen, sollte es zum Schlimmsten kommen. Wobei ich mir, wie ich feststellen mußte, nicht hundert Prozent sicher war, daß er das auch tun würde. Immer noch strahlend lächelnd stand ich dann da und betete, Bill würde etwas sagen, würde sich zumindest bewegen.

Genau das tat er auch. „Sookie gehört mir“, sagte er mit einer Stimme, die so kalt und glatt klang, daß sie, wäre sie ein Stein gewesen, in jedem Teich hätte versinken können, ohne auf der Wasseroberfläche auch nur die kleinste Wellenbewegung zu verursachen.

Ich warf ihm einen scharfen Blick zu, hatte aber genug Grips im Leibe, den Mund zu halten.

„Wie gut hast du dich bis jetzt um unseren Bill hier gekümmert?“ wollte Diane wissen.

„Das geht Sie einen Dreck an“, bediente ich mich immer noch lächelnd einer von Jasons Redewendungen. Ich kann ziemlich wütend werden, wenn ich provoziert werde - das hatte ich doch schon erwähnt, oder?

Es entstand eine angespannte kleine Pause, in der mich alle Anwesenden - Menschen wie Vampire - einer angelegentlichen Prüfung unterzogen, bei der ihnen wahrscheinlich nicht ein einziges Härchen auf meinen Armen entging. Dann fing der große Mann an, aus vollem Halse zu lachen. Es schüttelte ihn förmlich. Die anderen schlossen sich ihm an, und während sie alle lauthals vor sich hingackerten, trat ich unauffällig noch näher an Bill heran. Dessen dunkle Augen ruhten auf meinem Gesicht. Er jedenfalls lachte nicht, und ich hatte das deutliche Gefühl, er wünschte mindestens ebenso sehr wie ich, ich könnte seine Gedanken lesen.

Irgendwie befand Bill sich in Gefahr; soviel hatte ich inzwischen kapiert, und wenn er sich in Gefahr befand, dann galt das gleiche auch für mich.

„Irgendwie hast du ein komisches Lächeln“, bemerkte der große Vampir nun nachdenklich. Wenn er lachte, gefiel er mir wesentlich besser.

„Ach, Malcolm!“ grummelte Diane. „In deinen Augen sind doch alle weiblichen Menschen merkwürdig.“

 Daraufhin zog Malcolm den männlichen Menschen ganz dicht zu sich heran und küßte ihn ausführlich. Mir wurde ein wenig übel bei diesem Anblick: Solche Sachen sind doch nicht für die Öffentlichkeit bestimmt! „Da hast du recht“, sagte Malcolm nach einer Weile, wobei er sich vom Mund des zierlichen Mannes losriß, der deswegen recht enttäuscht wirkte. „Aber trotzdem scheint diese Frau etwas Außergewöhnliches an sich zu haben. Vielleicht ist ihr Blut ja besonders nahrhaft.“

„Mann!“ mischte sich jetzt die stark geschminkte Blonde ein, und zwar mit einer Stimme, mit der man Tapete hätte von den Wänden kratzen können. „Das ist doch bloß die verrückte Sookie Stackhouse.“

Nun sah ich mir die Frau genauer an und konnte ihr nach einer Weile und nachdem ich ihr im Geiste eine Menge harter Jahre und ungefähr das halbe Make-up aus dem Gesicht entfernt hatte, auch einen Namen geben. Janella Lennox hatte einmal zwei Wochen lang im Merlottes gearbeitet. Nach diesen zwei Wochen hatte Sam sie entlassen, und die Frau war, wie Arlene mir erzählt hatte, nach Monroe gezogen.

Nun legte der Vampir mit den Tätowierungen den Arm um Janella und fummelte an ihren Brüsten herum. Ich fühlte, wie mir bei diesem Anblick das Blut aus dem Gesicht wich. Aber es kam noch schlimmer. Offenbar scherte sich Janella inzwischen ebenso wenig um gutes Benehmen wie die Vampire: Sie griff dem Tätowierten genüßlich in den Schritt und massierte flott drauflos.

Zumindest erhielt ich so den deutlichen Beweis dafür, daß Vampire in der Tat zu einem normalen Liebesleben fähig sind.

Im Moment machte mich dieses Wissen aber nicht wirklich scharf.

Malcolm hatte mich nicht aus den Augen gelassen, und er hatte mir wohl angemerkt, wie sehr mich die ganze Sache anwiderte.

„Sie ist unschuldig!“ versicherte er Bill mit einem Lächeln, das voller Erwartung war.

„Sie gehört mir!“ wiederholte Bill noch einmal. Diesmal klang seine Stimme eindringlicher und enthielt eine Warnung, die deutlicher selbst dann nicht hätte ausfallen können, wenn Bill eine Klapperschlange gewesen wäre.

„Aber Bill, du kannst mir unmöglich weismachen wollen, das kleine Ding da hätte dir alles gegeben, was du brauchst!“ gurrte Diane. „Du wirkst so blaß und lethargisch! Sie hat sich nicht genug um dich gekümmert.“

Ich rückte noch einen Zentimeter näher an Bill heran.

„Hier!“ lockte Diane, die ich inzwischen richtig haßte, „versuch mal einen Schluck von Liams Frau oder Malcolms hübschem Knaben Jerry.“

Janella reagierte nicht darauf, daß sie so in der Runde angeboten wurde. Wahrscheinlich war sie zu sehr mit dem Reißverschluß an Liams Jeans befaßt. Aber Malcolms hübscher Freund Jerry glitt brav zu Bill hinüber, bereit und willens, ihm zu dienen. Als der Junge seine Arme um Bill schlang, meinen Vampir zärtlich auf den Nacken küßte und sich dabei mit seiner Brust an Bills Oberhemd rieb, wurde mein Lächeln so breit, daß es mir fast den Unterkiefer ausgerenkt hätte.

Bills Gesicht war so angespannt, daß es mir fast unerträglich war, ihn anzusehen. Schon fuhr er die Fangzähne aus, und zum ersten Mal sah ich sie in voller Länge. Es war ganz klar: Das synthetische Blut befriedigte nicht alle Bedürfnisse, die Bill verspürte.

Nun glitt Jerrys Zunge über einen Punkt an Bills Halsansatz, und ich schaffte es nicht länger, auf der Hut zu sein und mein Visier geschlossen zu halten. Da es sich bei dreien der Anwesenden um Vampire handelte, deren Gedanken ich nicht hören konnte, und Janella voll und ganz beschäftigt war, blieb nur Jerrys Kopf. Ich lauschte, und dann mußte ich würgen.

Bill, der so verzückt schien, daß er förmlich zitterte, beugte bereits den Kopf, um seine Fangzähne in Jerrys Nacken zu senken. Da rief ich: „Nein! Er hat das Sino-Virus!“

Bill starrte mich über Jerrys Schulter hinweg an, als sei er von einem Bannspruch erlöst. Noch keuchte er schwer, aber seine Fangzähne sahen wieder aus wie sonst immer. Ich ergriff die Gelegenheit, trat rasch noch ein paar Schritte näher und befand mich nun nur einen halben Meter von Bill entfernt.

„Sino-AIDS“, verkündete ich.

Waren ihre Opfer stark alkoholisiert oder hatten sie eine Menge anderer Drogen im Blut, dann litten auch die Vampire, die sich an ihnen genährt hatten, eine Zeitlang unter den Folgen, und man erzählte sich, manchen von ihnen gefiele dieser kleine Kick. Das Blut von Menschen, bei denen AIDS bereits zum Ausbruch gekommen war, hatte keine Auswirkungen auf sich nährende Vampire. Das galt auch für andere Geschlechtskrankheiten und generell für alle Viren, von denen Menschen geplagt werden können.

Die Ausnahme von all diesen Regeln hieß Sino-AIDS. Menschen starben unweigerlich an diesem Virus, Vampire nicht. Der Genuß infizierten Blutes führte aber dazu, daß die betreffenden Untoten mindestens einen Monat lang sehr geschwächt waren und in dieser Zeit wesentlich leichter gefangen und gepfählt werden konnten. Es kam auch vor, daß ein Vampir, der sich wiederholt von infiziertem Blut genährt hatte, starb - oder sollte ich lieber sagen: erneut starb - ohne gepfählt worden zu sein. Noch war Sino-AIDS in den USA recht selten, aber die Krankheit fing gerade an Fuß zu fassen, besonders in Hafenstädten wie New Orleans, in denen Seeleute aus vielen verschiedenen Ländern und andere Reisende in Feierlaune sich vorübergehend aufhielten.

Alle Vampire standen wie angewurzelt da und starrten Jerry an, als sei er der leibhaftige Tod, und für sie konnte er das ja auch durchaus sein.

Dann tat der wunderschöne junge Mann etwas, was mich völlig unvorbereitet traf: Er stürzte sich auf mich. Auch wenn er kein Vampir war, verfügte er doch über ziemliche Kräfte, und seine Krankheit befand sich augenscheinlich erst im ersten Stadium. Jedenfalls gelang es ihm problemlos, mich gegen die Wand zu meiner Linken zu schleudern. Dann umklammerte er mit der einen Hand meinen Hals und holte mit der anderen aus, um mir einen Schlag zu versetzen. Abwehrend hob ich die Arme, aber ich hatte sie noch nicht vor dem Gesicht, da wurde Jerrys Hand auch schon gepackt, woraufhin der junge Mann erstarrte.

„Laß ihren Hals los“, sagte Bill, und seine Stimme klang so drohend, daß selbst ich mich fürchtete. Mittlerweile gab es hier so viele Dinge, vor denen ich mich fürchtete, daß ich mir schon gar nicht mehr vorstellen konnte, je wieder angstfrei zu sein. Jerrys Finger an meinem Hals ließen nicht locker, und ohne es zu wollen stieß ich ein leises Wimmern aus. Ich schielte zur Seite in Jerrys aschfahles Gesicht, und da sah ich, daß Bill Jerrys Hand umklammert hielt, während Malcolm seine Beine gepackt hatte, indes der Mann selbst so verängstigt war, daß er gar nicht mehr begriff, was man von ihm wollte.

Der Raum verschwamm vor meinen Augen, und summende Stimmen erklangen und verklangen wieder. Jerrys Gedanken kämpften gegen meine. Ich war hilflos, weshalb ich mich seinem verzweifelten Denken gegenüber nicht verschließen konnte. So drangen Bilder von Jerrys Geliebtem auf mich ein, der ihn mit dem Virus infiziert und dann eines Vampirs wegen verlassen hatte, weswegen er letztlich von Jerry in einem Anfall rasender Eifersucht umgebracht worden war. Nun mußte Jerry erkennen, wie in den Vampiren, die er doch eigentlich hatte vernichten wollen, der Tod auf ihn zukam. Noch fand er seine Rachegelüste nicht befriedigt, denn er glaubte nicht, daß er schon genügend Vampire mit dem Virus infiziert hatte.

Über Jerrys Schulter hinweg konnte ich Dianes Gesicht sehen; sie lächelte.

Bill brach Jerry das Handgelenk.

Da schrie der schöne junge Mann auf und brach zusammen. Mir schoß das Blut zurück in den Kopf, und ich wäre um ein Haar in Ohnmacht gefallen. Beiläufig, als sei der junge Mann ein leichter, zusammengerollter Teppich, hob Malcolm Jerry auf und trug ihn zum Sofa. Was nicht beiläufig wirkte, war Malcolms Miene. Ich wußte, Jerry konnte von Glück sagen, wenn ihn ein rascher Tod ereilte.

Bill stellte sich vor mich, dorthin, wo noch vor ein paar Sekunden Jerry gestanden hatte. Seine Finger, die Finger, die Jerrys Handgelenk gebrochen hatten, massierten meinen Nacken so sanft, wie es die Finger meiner Oma getan hätten. Er legte mir einen Finger auf die Lippen, um sicherzustellen, daß ich jetzt auch bestimmt nichts sagen würde.

Dann wandte er sich, den Arm um mich gelegt, wieder den anderen Vampiren zu.

„Das war ja nun alles recht unterhaltsam“, sagte Liam. Seine Stimme klang unglaublich kühl, unbeteiligt und ganz und gar nicht so, als verpasse ihm Janella auf der Couch gerade eine ungeheuer intime Massage. Während des gesamten Zwischenfalls hatte er sich nicht die Mühe gemacht, einen Finger zu rühren. Gerade bekamen wir alle zu sehen, daß sein Körper auch an Stellen, an denen ich es nie für möglich gehalten hätte, Tätowierungen aufwies, und mir war nicht zuletzt von diesem Anblick gründlich schlecht. „Nun“, fuhr er fort, „sollten wir uns wohl lieber auf den Rückweg nach Monroe machen. Mit Jerry werden wir uns sicher ein wenig unterhalten müssen, wenn er wieder sich kommt, oder meinst du nicht, Malcolm?“

Wortlos warf Malcolm sich den bewußtlosen Jerry über die Schulter und nickte Liam zu. Diane wirkte enttäuscht.

„Jungs!“ protestierte sie, „wir haben noch nicht herausgefunden, wieso das Mädel hier das mit dem Sino-AIDS wußte!“

Nun richteten die beiden männlichen Vampire zur gleichen Zeit den Blick auf mich, während Liam sich rasch und ganz wie nebenbei noch eine kleine zweite Auszeit nahm, um zum Orgasmus zu kommen. Womit endgültig klar war: Auch Vampire taten 'es'. Dann bedankte sich Liam mit einem zufriedenen Seufzer bei Janella und meinte: „Eine gute Frage. Diane hat es wie immer auf den Punkt gebracht.“ Die drei Gastvampire lachten, als sei das ein guter Witz. Ich fand, er klinge sehr gefährlich.

„Kannst du überhaupt schon wieder sprechen, Liebste?“ fragte Bill und drückte leicht meine Schulter, als müsse er befürchten, ich könne seinen Wink mißverstehen.

Ich schüttelte den Kopf.

„Ich würde sie wahrscheinlich durchaus zum Reden bringen“, erbot sich Diane.

„Diane, du vergißt dich“, mahnte Bill sanft.

„Ach ja, sie gehört ja dir!“ murrte Diane. Aber sie klang weder eingeschüchtert noch überzeugt.

„Wir müssen uns eben ein andermal unterhalten“, sagte Bill, und die Art, wie er das sagte, stellte klar, daß die anderen nun zu gehen hatten oder aber würden mit ihm kämpfen müssen.

Liam stand auf, schloß den Reißverschluß seiner Hose und winkte seinem weiblichen Menschen. „Janella, man wirft uns raus.“ Er reckte sich, und die Tätowierungen auf seinem muskulösen Arm tanzten. Janella fuhr ihm mit der Hand über die Rippen, als könnte sie gar nicht genug von ihm bekommen, aber er wischte sie beiseite, als sei sie eine Fliege. Janella wirkte daraufhin leicht ungehalten, aber nicht vor Peinlichkeit am Boden zerstört, wie es mir gegangen wäre. Anscheinend war ihr eine solche Behandlung nicht unvertraut.

Nun packte Malcolm sich Jerry auf die Schulter und schleppte ihn wortlos zur Vordertür hinaus. Falls er das Virus in sich trug, weil er von Jerry getrunken hatte, so hatte dies noch keinerlei Auswirkung auf seine Körperkraft gehabt. Als letzte verschwand Diane, nachdem sie sich ihre Handtasche über die Schulter geworfen und noch einen letzten, hellwach prüfenden Blick hinter sich geworfen hatte.

„Dann will ich euch beide kleinen Turteltäubchen mal allein lassen. Es war mir ein Vergnügen, Schätzchen!“ sagte sie leichthin und schlug dann die Tür hinter sich zu.

Als ich hörte, wie draußen das Auto angeworfen wurde, fiel ich in Ohnmacht.

Ich war noch nie in meinem Leben ohnmächtig gewesen und hoffte auch, nie wieder in Ohnmacht zu fallen, aber irgendwie fand ich, hatte ich allen Grund dazu.

Anscheinend verlor ich häufiger mal das Bewußtsein, wenn ich mit Bill zusammen war. Darüber mußte ich dringend nachdenken, das war mir schon klar, aber nicht ausgerechnet jetzt. Als ich wieder zu mir kam, fielen mir gleich all die Dinge ein, die ich gesehen und gehört hatte, und nun wurde mir wirklich speiübel. Sofort nahm Bill meinen Kopf und hielt ihn über die Sofakante. Gott sei Dank gelang es mir schließlich doch, mein Essen bei mir zu behalten - vielleicht, weil ich nicht gerade viel im Magen hatte.

„War das eben Vampirbenehmen?“ flüsterte ich. Mein Hals war dort, wo Jerry ihn zusammengedrückt hatte, rauh und voller blauer Flecken. „Die waren ja fürchterlich!“

„Ich habe versucht, dich in der Kneipe anzurufen, als ich feststellen mußte, daß du nicht zu Hause bist“, sagte Bill mit ausdrucksloser Stimme. „Aber da warst du schon gegangen.“

Auch wenn ich wußte, daß damit niemandem geholfen sein würde, fing ich an zu weinen. Ich war mir sicher, daß Jerry mittlerweile tot war, und hatte das Gefühl, ich hätte etwas unternehmen müssen, um das zu verhindern. Aber ich hatte nicht schweigen können, als er kurz davor war, Bill zu infizieren! In dieser kurzen Episode eben hatten sich so viele Dinge zugetragen, die mich nachhaltig erschüttert hatten, daß ich schon gar nicht mehr wußte, worüber ich mich als erstes aufregen sollte. Nicht einmal fünfzehn Minuten hatte die ganze Sache gedauert, aber in dieser kurzen Zeit hatte ich um mein Leben fürchten müssen, um das Bills (na, ja: um Bills Existenz), war ich Zeugin sexueller Akte geworden, die sich eigentlich strikt im Privaten hätten zutragen sollen, hatte meinen potentiellen Liebsten in den Fängen von Blutlust erlebt (mit der Betonung auf Lust), und ein sterbenskranker Strichjunge hatte mich fast mit bloßen Händen erwürgt.

Das alles stand mir noch einmal in aller Deutlichkeit vor Augen, und von daher erteilte ich mir selbst höchst offiziell die Erlaubnis zum Heulen. Ich setzte mich auf, weinte und wischte mir dann das Gesicht mit dem Taschentuch, das Bill mir reichte. Beim Anblick dieses Taschentuchs fragte ich mich kurz, wozu ein Vampir so etwas brauchte _ ein kleines Aufflackern von Normalität, das aber sofort von einer nervösen Tränenflut erstickt wurde.

Bill war klug genug, mich nicht in die Arme zu nehmen. Er saß auf dem Fußboden und besaß genügend Feingefühl, seine Augen abzuwenden, als ich mich trockenrieb.

„Wenn Vampire zusammen in Nestern hausen“, sagte er unvermittelt, „werden sie oft immer grausamer und grausamer, weil sie sich gegenseitig anspornen. Ständig sind sie von anderen ihresgleichen umgeben, was sie ständig daran erinnert, wie weit sie von jeglicher menschlichen Existenz entfernt sind. Vampire wie ich, die allein existieren, besinnen sich dagegen öfter einmal darauf, daß sie selbst einstmals Menschen waren.“

Ich hörte seiner leisen Stimme zu, die langsam seine Gedanken sammelte, während er versuchte, mir das Unerklärliche zu erklären.

„Sookie, unser Leben besteht darin, zu verführen und zuzugreifen, was für manche von uns seit Jahrhunderten so ist. Die Tatsache, daß es jetzt synthetisches Blut gibt und die Menschen uns widerwillig akzeptieren, ändert dies nicht von einem auf den anderen Tag - auch innerhalb von zehn Jahren nicht. Diane und Malcolm und Liam sind seit fünfzig Jahren zusammen.“

„Wie schön“, sagte ich, und meine Stimme klang, wie ich sie noch nie gehört hatte: bitter. „Das war dann also ihre goldene Hochzeit.“

„Kannst du die Sache nicht einfach vergessen?“ fragte Bill. Seine riesigen dunklen Augen kamen immer näher. Sein Mund war nur Zentimeter von meinem entfernt.

„Ich weiß nicht“. Die Worte sprudelten aus mir heraus. „Weißt du, daß ich noch nicht einmal gewußt habe, ob du es tun kannst?“

Bills Augenbrauen hoben sich fragend: „Was tun ...“

„Ihn ...“ Dann verstummte ich und überlegte, wie ich es auf nette Art und Weise formulieren konnte. Ich hatte an diesem Abend mehr Geschmacklosigkeiten gesehen als sonst in meinem ganzen Leben, denen ich nicht noch eine weitere hinzufügen wollte. „Eine Erektion bekommen“, sagte ich dann, wobei ich es vermied, Bill in die Augen zu sehen.

„Na, nun weißt du es.“ Bill klang, als koste es ihn Mühe, nicht belustigt zu wirken. „Wir können uns lieben, aber wir können keine Kinder zusammen zeugen oder bekommen. Fühlst du dich nicht ein wenig besser bei dem Gedanken, daß Diane kein Baby haben kann?“

Da brannten bei mir alle Sicherungen durch. Ich schlug die Augen auf und blickte Bill unverwandt an: „Mach - dich - nicht - lustig - über - mich.“

„Ach Sookie!“ sagte er daraufhin, und seine Hand streichelte sanft meine Wange.

Ich wich der Hand aus und kam mühsam auf die Beine. Bill half mir nicht, was auch gut so war, aber er saß auf dem Boden und sah mir zu, keine Miene verzogen, mit einem Gesicht, auf dem sich nichts ablesen ließ. Seine Fangzähne waren wieder eingefahren, aber ich wußte, daß er immer noch Hunger litt. Na, damit würde er leben müssen!

Meine Handtasche lag auf dem Boden neben der Vordertür. Ich war zwar nicht sicher auf den Beinen, aber gehen konnte ich. Den Zettel, auf dem ich Namen und Telefonnummern der Elektriker notiert hatte, zog ich aus der Tasche und legte sie ihn den Tisch.

„Ich muß gehen.“

Plötzlich stand er vor mir. Wieder hatte er eine dieser Vampirnummern abgezogen. „Darf ich dir einen Abschiedskuß geben?“ fragte er. Seine Arme hingen locker herab, als wolle er mir eindeutig zu verstehen geben, daß er mich nur anfassen würde, wenn ich ihm grünes Licht gab.

„Nein!“ sagte ich vehement. „Nach denen da kann ich das jetzt nicht vertragen!“

„Ich komme dich besuchen.“

„Ja. Vielleicht.“

Er langte an mir vorbei, um die Tür zu öffnen, aber ich dachte, er wolle nach mir greifen und zuckte zusammen.

Ich machte auf dem Absatz kehrt und rannte fast zu meinen Auto, wobei ich erneut vor lauter Tränen kaum etwas sah. Ich war froh über meinen kurzen Nachhauseweg.