Kapitel 11

Meine Nerven lagen am nächsten Tag ziemlich blank. Als ich zur Arbeit kam und Arlene erzählte, was vorgefallen war, nahm sie mich in den Arm, drückte mich kräftig und sagte: „Am liebsten würde ich das Schwein umbringen, das der armen Tina das angetan hat!“ Irgendwie fühlte ich mich nach diesen Worten gleich viel besser. Charlsie zeigte sich genauso besorgt und mitfühlend, nur ging es ihr mehr um den Schock, den ich erlitten hatte, und weniger um Tinas qualvolles Sterben. Sam blickte beunruhigt und finster drein; er war der Meinung, ich sollte den Sheriff oder Andy anrufen und einem der beiden mitteilen, was geschehen war. Letztlich rief ich Bud Dearborn an.

„Derlei tritt in der Regel in Wellen auf“, erklärte der Sheriff mir mit seiner tiefen, brummigen Stimme. „Aber außer dir hat niemand ein totes oder verschwundenes Haustier gemeldet. Ich fürchte, hier geht es um dich persönlich. Dieser Vampir, mit dem du befreundet bist: Mag er Katzen?“

Ich schloß die Augen und atmete ein paar Mal tief ein und aus. Ich telefonierte von Sams Büro aus. Sam saß am Schreibtisch und füllte den Bestellschein für die nächste Getränkelieferung aus.

„Bill war zu Hause, als derjenige, der Tina ermordet hat, mir ihre Leiche auf die Veranda warf“, sagte ich, so ruhig ich konnte. „Ich habe ihn sofort danach angerufen, und er ist selbst ans Telefon gegangen.“ Sam sah fragend hoch, und ich verdrehte die Augen, um ihn wissen zu lassen, was ich von den Verdächtigungen des Sheriffs hielt.

„Er hat dir dann gesagt, daß deine Katze erwürgt worden ist?“ fuhr Bud nachdenklich fort.

„Ja.“

„Hast du denn den Strick?“

„Nein. Ich habe noch nicht einmal gesehen, was für einer es gewesen sein könnte.“

„Was hast du mit dem Kätzchen gemacht?“

„Wir haben sie begraben.“

„War das deine Idee oder die Mr. Comptons?“

„Meine.“ Was hätten wir denn sonst mit Tina tun sollen?

„Vielleicht kommen wir und graben Tina wieder aus. Wenn wir den Strick und die Katze hätten, könnten wir vielleicht feststellen, ob zwischen der Art, wie sie erwürgt wurde, und der, wie Maudette und Dawn erwürgt worden sind, eine Übereinstimmung besteht.“

„Es tut mir leid, daran habe ich gar nicht gedacht.“

„Nun, das spielt ja auch keine große Rolle mehr. Ohne den Strick, meine ich.“

„Na, dann auf Wiedersehen“, verabschiedete ich mich und legte auf, vielleicht ein wenig entschiedener, als eigentlich notwendig gewesen wäre. Sam zog fragend die Brauen hoch.

„Bud ist ein Affe!“ teilte ich ihm erbost mit.

„Bud ist kein schlechter Polizist“, widersprach Sam mir gelassen. „Niemand hier in der Gegend ist an derart kranke Morde gewöhnt.“

„Da hast du recht“, mußte ich nach einer kleinen Pause eingestehen. „Das war nicht fair von mir. Aber wie er immerfort 'Strick' sagte, als wäre das ein Wort, das er gerade erst gelernt hätte und worauf er ungeheuer stolz wäre. Es tut mir leid, daß ich so wütend auf ihn geworden bin.“

„Niemand verlangt von dir, daß du ständig perfekt bist, Sookie.“

„Heißt das, ich darf mich von Zeit zu Zeit mal richtig daneben benehmen und brauche nicht immerfort alles zu verstehen und zu verzeihen? Danke, Chef!“ Ich lächelte Sam an, wobei ich spürte, wie mühsam sich meine Lippen verzogen. Dann glitt ich von der Tischkante, auf die ich mich beim Telefonieren gehockt hatte, dehnte und reckte mich ausführlich, und erst als ich sah, mit welch hungrigem Blick Sam jede einzelne meiner Bewegungen verfolgte, wurde mir wieder ganz bewußt, wo ich war. „Nun aber los, an die Arbeit!“ rief ich gespielt munter und eilte aus dem Zimmer, peinlich darauf bedacht, auch den kleinsten Hüftschwung zu vermeiden.

„Könntest du heute abend wohl ein paar Stunden auf die Kinder aufpassen?“ fragte Arlene mich kurz darauf ein wenig schüchtern. Ich dachte an unsere letzte Unterhaltung darüber, ob ich ihre Kinder hüten könnte oder nicht, daran, wie betroffen und beleidigt ich gewesen war, als Arlene zögerte, ihre Kinder in einem Haus zu lassen, in dem ein Vampir verkehrte. Sie hatte mich beschuldigt, nicht wie eine Mutter zu denken, und nun versuchte sie wohl, sich zu entschuldigen.

„Die Kinder hüten? Gern!“ antwortete ich und wartete ab, ob Bill auch diesmal zur Sprache kommen würde. Das war aber nicht der Fall.

„Von wann bis wann?“

„Rene und ich wollen nach Monroe ins Kino. Kann ich die Kinder so gegen halb sieben bringen?“

„Halb sieben ist in Ordnung. Haben die beiden dann schon gegessen?“

„Abfüttern werde ich sie. Sie sind bestimmt entzückt darüber, endlich mal wieder zu Tante Sookie zu dürfen.“

„Ich bin genauso entzückt.“

„Danke“, sagte Arlene. Dann zögerte sie, wollte ganz offensichtlich etwas sagen und überlegte es sich dann anscheinend anders. „Wir sehen uns also so gegen halb sieben.“

Ich kam etwa um fünf nach Hause. Den gesamten Nachhauseweg hatte ich gegen die grelle Sonne anfahren müssen, die geglitzert und geglänzt hatte, als wolle sie mich niederstarren. Ich zog mich um - ein blaugrünes Strickensemble mit kurzer Hose - und bürstete mir die Haare zu einem Pferdeschwanz, den ich dann mit einem Bananenclip zusammenhielt. Daraufhin setzte ich mich allein an den Küchentisch, was nicht wirklich gemütlich war, und verzehrte ein belegtes Brot. Mein Haus fühlte sich groß und leer an, und ich war sehr froh, als ich sah, wie der Wagen mit Rene, Coby und Lisa darin vorfuhr.

„Arlene hat Schwierigkeiten mit einem künstlichen Fingernagel“, erklärte Rene, peinlich berührt, ein so intimes, weibliches Detail überhaupt erwähnen zu müssen. „Lisa und Coby konnten nicht warten, sie wollten unbedingt zu dir.“ Ich sah, daß Rene immer noch Arbeitskleidung trug - die schweren Stiefel, das Messer am Gürtel, den Hut, das ganze Drum und Dran eben. So würde Arlene nirgends mit ihm hingehen! Er mußte vorher noch duschen und sich umziehen.

Coby war acht, Lisa fünf. Beide hingen an mir wie zwei riesige Ohrringe, während Rene sich über sie beugte, um ihnen einen Abschiedskuß zu geben. Renes Zuneigung zu diesen Kindern hatte ihm in meinem Buch ein dickes, goldenes Sternchen eingebracht, und ich lächelte dem Liebsten meiner Kollegin wohlwollend zu, während ich die Kinder bei der Hand nahm, um sie in die Küche zu führen, wo wir alle zusammen Eis essen wollten.

„Wir sehen uns dann so gegen halb elf, elf“, verabschiedete sich Rene, die Hand bereits auf der Türklinke. „Wenn es dir recht ist?“

„Natürlich“, erwiderte ich. Ich hatte den Mund schon aufgemacht, um anzubieten, die Kinder über Nacht bei mir zu behalten, wie wir es bei anderen Gelegenheiten bereits getan hatten, aber dann mußte ich an Tinas leblosen Körper denken. Vielleicht sollten sie diese Nacht lieber nicht bei mir schlafen. Ich lieferte den beiden Kleinen einen Wettlauf in die Küche, und ein oder zwei Minuten später hörte ich Renes uralten Pick-up die Auffahrt hinunterklappern.

In der Küche angekommen stemmte ich erst einmal Lisa hoch, wobei ich ausrief: „Ich kann dich ja kaum noch tragen, Mädel! Du bist groß geworden! Was ist mit dir, Coby, rasierst du dich schon?“ Die nächste halbe Stunde verbrachten wir am Küchentisch. Die Kinder aßen Eis und berichteten mir ganz aufgeregt, was sie seit unserem letzten Treffen alles gelernt hatten.

Dann wollte Lisa mir unbedingt etwas vorlesen, und ich suchte ein Malbuch hervor, in dem die Namen der Zahlen und Farben jeweils auch in Druckbuchstaben standen. Stolz las Lisa mir diese Namen vor, und dann mußte Coby natürlich beweisen, daß er viel besser lesen konnte als seine Schwester. Dann wollten die beiden ihre Lieblingssendung im Fernsehen ansehen, und ehe ich mich versah, war es dunkel geworden.

„Mein Freund kommt heute abend auch noch vorbei“, erklärte ich da den beiden. „Er heißt Bill.“

„Mama hat uns erzählt, daß du einen besonderen Freund hast“, sagte Coby. „Ich hoffe nur, daß ich den mag, und ich hoffe, er behandelt dich anständig!“

„Oh ja, das tut er!“ versicherte ich dem kleinen Jungen, der sich kerzengerade aufgerichtet und in die Brust geworfen hatte, bereit, mich zu verteidigen, sollte sich irgendein besonderer Freund in seinen Augen als nicht nett genug erweisen.

„Schickt er dir Blumen?“ wollte Lisa wissen, die sehr romantisch veranlagt ist.

„Nein, bisher noch nicht. Aber vielleicht kannst du ihm einen kleinen Tip geben? Andeuten, daß ich gern welche bekäme?“

„Hat er dich gefragt, ob du ihn heiraten willst?“

„Nein, aber ich habe ihn auch nicht gefragt.“

Natürlich suchte sich Bill genau diesen Moment aus, um an die Tür zu klopfen.

„Ich habe Besuch“, sagte ich lächelnd, als ich öffnete.

„Das höre ich“, erwiderte Bill.

Ich nahm ihn bei der Hand und führte ihn in die Küche.

Bill - das hier ist Coby, und die junge Dame da drüben heißt Lisa.“ Mit diesen Worten stellte ich die drei einander ganz förmlich vor.

„Das trifft sich hervorragend“, sagte Bill zu meiner großen Verwunderung. „Genau die beiden wollte ich unbedingt kennenlernen. Lisa, Coby: Ist es euch recht, wenn ich mit eurer Tante Sookie zusammen bin?“

Die beiden betrachteten ihn nachdenklich. „Eigentlich ist sie gar nicht unsere richtige Tante“, erwiderte Coby dann, der offenbar sicherstellen wollte, woran er mit Bill war. „Sie ist eine gute Freundin unserer Mama.“

„Eine gute Freundin eurer Mama? Aha.“

„Ja, und sie sagt, du schickst ihr keine Blumen“, sagte Lisa, deren Stimme plötzlich glasklar und nur zu verständlich klang. Wie froh ich war, daß sie ihr kleines Problem mit der Aussprache des Buchstabens R so gut in den Griff bekommen hatte, die kleine Kröte!

Bill warf mir von der Seite her einen fragenden Blick zu, und ich zuckte die Achseln. „Sie hat mich danach gefragt“, erklärte ich ein wenig hilflos.

„Ach so ist das“, meinte Bill bedächtig. „Da werde ich mich wohl bessern müssen. Vielen Dank, daß du mich darauf hingewiesen hast. Wann hat Tante Sookie denn Geburtstag, weißt du das?“

Ich spürte, wie mein Gesicht rot wurde und ganz heiß anlief. „Bill!“ sagte ich. „Nun laß es aber gut sein.“

„Weißt du es, Coby?“ fragte Bill den Jungen.

Bedauernd schüttelte Coby den Kopf. „Aber ich weiß, daß der Geburtstag im Sommer ist. Letztes Jahr hat Mama Sookie an ihrem Geburtstag zum Mittagessen in Shreveport eingeladen, und das war im Sommer. Rene hat auf uns aufgepaßt.“

„Wie klug von dir, daß du dir das gemerkt hast, Coby“, sagte Bill.

„Ich bin noch viel klüger! Rate mal, was ich in der Schule gelernt habe!“ Damit war Coby nicht mehr zu halten.

Während Coby erzählte und erzählte, beobachtete Lisa die ganze Zeit unverwandt Bill. Als ihr Bruder endlich eine Pause einlegte, sagte sie: „Du bist ziemlich weiß, Bill.“

„Das stimmt“, erwiderte mein Vampir. „Das ist meine normale Gesichtsfarbe.“

Die beiden Kinder wechselten vielsagende Blicke. Ich wußte genau, daß sie sich schweigend darüber verständigten, daß 'normale Gesichtsfarbe' bestimmt eine Krankheit war und es unhöflich wäre, noch weiter zu fragen. Von Zeit zu Zeit können Kinder erstaunlich taktvoll sein.

Anfangs verhielt sich Bill ein wenig steif, aber er wurde immer lockerer, je weiter der Abend voranschritt. Gegen neun war ich ziemlich erschöpft und hätte das auch jedem gegenüber unumwunden zugegeben, aber Bill beschäftigte sich auch um elf, als Arlene und Rene kamen, um Lisa und Coby abzuholen, noch immer hellwach und begeistert mit den beiden Kindern.

Ich hatte meine beiden Freunde gerade Bill vorgestellt, und alle hatten einander auf völlig normale Art und Weise die Hände geschüttelt, als ein weiterer Besucher sich anschickte, auf meiner Türschwelle aufzutauchen.

Aus dem nahen Wald schlenderte ein gutaussehender Vampir mit dichtem, zu einer unglaublich hohen Welle aus der Stirn zurückgekämmtem Haar herbei. Währenddessen verstaute Arlene schon die Kinder im Auto, und Rene stand noch mit Bill zusammen und plauderte. Mein Vampir winkte dem neuen Vampir beiläufig zu, und der hob die Hand, um Bills Gruß zu erwidern und gesellte sich dann zu Rene und Bill, als ginge er davon aus, daß er erwartet wurde.

Von der Schaukel auf der vorderen Veranda aus sah ich zu, wie Bill Rene und den Neuen einander vorstellte und Mann und Vampir sich die Hand schüttelten. Rene starrte den Neuankömmling ziemlich unverblümt und mit leicht offenstehendem Mund an, und ich sah, daß er sich sicher war, den Untoten zu kennen. Bill warf Rene einen bedeutungsvollen Blick zu und schüttelte den Kopf, und Rene schloß den Mund wieder und verkniff sich den Kommentar, den er offenbar gerade hatte von sich geben wollen - was für ein Kommentar das auch immer gewesen sein mochte.

Der Neuankömmling war ein eher stämmiger Bursche und größer als Bill. Er trug eine verwaschene Jeans und ein T-Shirt mit der Aufschrift „I visited Graceland“. Die Absätze seiner schweren Stiefel waren ziemlich abgelatscht. In der Hand hielt er eine der Plastikflaschen, mit denen man sich Flüssigkeit in den Mund spritzen kann und aus der er sich von Zeit zu Zeit einen kräftigen Spritzer synthetisches Blut zuführte. Die Höflichkeit in Person, dieser Fremde!

Möglicherweise hatte mir Renes Verhalten den ersten Hinweis geliefert: Je länger ich den Vampir ansah, desto vertrauter schien er mir. Ich versuchte, ihn mir mit einer wärmeren Gesichtsfarbe vorzustellen, dem Ganzen hier und da ein paar Linien hinzuzufügen, ihn mir aufrechter stehend auszumalen und seine Gesichtszüge ein wenig zu beleben.

Grundgütiger Himmel!

Der Mann aus Memphis!

Nun wandte Rene sich zum Gehen, und Bill steuerte den Neuankömmling in meine Richtung, damit auch ich ihn begrüßen konnte. Schon aus fünf Metern Entfernung rief der Neue mir mit ausgeprägtem Südstaatlerakzent fröhlich zu: „Hallo! Bill sagt, irgendwer hat Ihre Katze umgebracht!“

Gequält schloß mein Vampir einen Moment lang die Augen, und ich konnte nur sprachlos nicken.

„Das tut mir leid“, fuhr der neue Vampir fort. „Ich mag Katzen!“ Irgendwie wußte ich genau, daß er damit nicht meinte, daß er gern ihr Fell streichelte. Ich hoffte inständig, die Kinder hätten nichts mitbekommen, aber nun tauchte Arlenes verschrecktes Gesicht im Rückfenster von Renes Pick-up auf. Der ganze gute Ruf, all das Vertrauen, das Bill so mühsam aufgebaut hatte, war jetzt wohl mit einem Schlag futsch.

Hinter dem Rücken des neuen Vampirs schüttelte Rene ein wenig fassungslos den Kopf. Dann kletterte er auf den Fahrersitz seines Pick-up, startete den Motor, rief uns noch einmal auf Wiedersehen zu und streckte den Kopf aus dem Fenster, um den Neuankömmling mit einem letzten, ungläubigen Blick zu mustern. Er hatte wohl auch irgend etwas zu Arlene gesagt, denn der Kopf meiner Freundin tauchte erneut am Fenster auf. Arlene musterte den Fremden neugierig und ausführlich, solange sie konnte. Kaum hatte ich noch mitbekommen, wie ihr Unterkiefer vor Staunen herabfiel, da war ihr Kopf auch schon wieder im Wageninnern verschwunden, und der Pick-up fuhr mit quietschenden Reifen die Auffahrt hinunter.

„Sookie“, wandte sich Bill mit leicht warnendem Unterton an mich, „darf ich dir Bubba vorstellen?“

„Bubba“, wiederholte ich und mochte meinen Ohren kaum trauen.

„Bubba“, bestätigte der neue Vampir gut gelaunt, und sein furchterregendes Lächeln verkündete nichts als Wohlwollen. „Das bin ich. Freut mich, Sie kennenzulernen.“

Ich schüttelte dem Vampir die Hand und zwang mich, sein Lächeln zu erwidern. Allmächtiger Gott - ich hatte nie gedacht, daß er mir je die Hand schütteln würde. Aber er hatte sich eindeutig nicht zu seinem Besten verändert.

„Bubba, würde es dir etwas ausmachen, hier auf der Veranda zu warten? Ich möchte mit Sookie das Arrangement besprechen, das wir getroffen haben.“

„Ist recht“, erwiderte Bubba unbekümmert. Er ließ sich auf der Schaukel nieder, so glücklich und hirnlos wie ein Pfund Brot.

Bill und ich gingen ins Wohnzimmer, aber ehe sich die Verandatür hinter uns geschlossen hatte, fiel mir noch auf, daß ein Großteil der nächtlichen Geräusche - all die Insekten und Frösche - mit Bubbas Auftauchen einfach verstummt war. „Ich wollte dir die Sache eigentlich erklären, ehe Bubba angestiefelt kommt“, flüsterte Bill. „Aber das ging ja nicht.“

Ich sagte: „Ist Bubba der, für den ich ihn halte?“

„Ja. Wie du siehst, stimmt zumindest ein Teil der Geschichten, in denen behauptet wird, er sei gesehen worden. Aber bitte, nenn' ihn nicht beim Namen! Nenn' ihn Bubba. Irgend etwas ist schiefgelaufen, als er herüberwechselte - vom Menschen zum Vampir wurde, meine ich -; daran mag all die Chemie schuld sein, die er im Körper hatte.“

„Aber er war wirklich tot, oder?“

„Nicht ... ganz. Einer von uns hat da unten im Leichenschauhaus gearbeitet und war ein großer Fan von ihm. Er konnte einen winzigkleinen Funken Leben ausmachen, der immer noch glomm, und so brachte er ihn zu uns herüber. Allerdings im Eilverfahren.“

„Brachte ihn herüber?“

„Machte ihn zum Vampir“, erklärte Bill. „Aber das war ein Fehler. Nach dem, was mir Freunde erzählen, wurde er nie wieder der Alte. Er hat ungefähr so viel Grips wie ein Baumstamm, weshalb er sich mit Gelegenheitsjobs für andere Vampire über Wasser hält. So richtig auf die Öffentlichkeit können wir ihn nicht loslassen, das hast du ja selbst gesehen.“

Ich nickte, und mein Mund stand immer noch offen. Natürlich nicht. „Mein Gott“, murmelte ich. In meinem Garten saß eine königliche Hoheit.

„Also: Vergiß nie, wie dumm und impulsiv er ist. Verbring nicht zu viel Zeit mit ihm allein und nenn' ihn nie anders als Bubba. Ein zusätzliches Problem besteht darin, daß er Haustiere mag, wie er dir ja selbst schon erzählt hat. Er nährt sich fast ausschließlich von Haustieren, wodurch er auch nicht gerade berechenbarer wird. Aber jetzt will ich dir noch erklären, warum ich ihn überhaupt hierher gebracht habe ...“

Ich stand da, die Arme vor der Brust verschränkt, und erwartete Bills Erklärung mit einigem Interesse.

„Liebling, ich muß für ein paar Tage die Stadt verlassen“, hob mein Liebster an.

Diese Ankündigung kam ziemlich unerwartet und warf mich völlig aus dem Konzept.

„Was ... warum? Nein, warte: Das brauche ich nicht wirklich zu wissen!“ Ich machte eine abwehrende Bewegung mit beiden Händen, um nur nicht den Eindruck aufkommen zu lassen, Bill sei verpflichtet, mich in seine Geschäfte einzuweihen.

„Das erkläre ich dir, wenn ich wieder zurück bin“, sagte mein Freund bestimmt.

„Was hat das mit deinem Kumpel - Bubba - zu tun?“ Ich mußte die Frage einfach stellen, auch wenn ich das unangenehme Gefühl hatte, die Antwort eigentlich bereits zu kennen.

„Bubba wird auf dich aufpassen, während ich fort bin“, sagte Bill, genau wie ich erwartet hatte.

Ich zog die Brauen hoch.

„Ich weiß, er hat nicht besonders viel...“, auf der Suche nach Worten blickte Bill sich ein wenig hilflos um, „... viel irgendwas. Aber er ist stark, er tut, was ich ihm sage, und er wird dafür sorgen, daß niemand bei dir einbricht.“

„Er bleibt also draußen im Wald?“

„Aber auf jeden Fall!“ erklärte Bill mit Nachdruck. „Er hat Befehl, noch nicht einmal hoch zum Haus zu kommen, und reden soll er mit dir auch nicht. Er soll sich bei Dunkelwerden einfach irgendeinen Ort suchen, von dem aus er das Haus im Auge hat, und dann die ganze Nacht über wachen.“

Dann durfte ich auf keinen Fall vergessen, die Rollos herunterzulassen. Die Vorstellung, ein dümmlicher Vampir könnte durch meine Fenster linsen, war nicht besonders erbaulich.

„Du findest es wirklich notwendig, daß er hier wacht?“ fragte ich ein wenig hilflos. „Ich kann mich nämlich gar nicht daran erinnern, daß du mich nach meiner Meinung gefragt hast.“

„Liebling!“ setzte Bill in einem übertrieben geduldigen Tonfall an, „ich gebe mir ja wirklich alle Mühe, mich daran zu gewöhnen, wie Frauen heutzutage behandelt werden wollen. Aber leicht fällt es mir nicht, es geht völlig gegen meine Natur. Besonders jetzt, wo ich befürchten muß, daß dir große Gefahr droht. Da versuche ich, alles so zu organisieren, daß ich mir keine Sorgen machen muß, solange ich fort bin. Ich wünschte, ich bräuchte überhaupt nicht zu fahren, und das, was ich vorhabe, geht mir eigentlich auch ziemlich gegen den Strich, aber ich muß es tun, und zwar für uns beide.“

Ich betrachtete Bill lange und abwägend. „Gut“, sagte ich dann, „ich glaube, ich habe dich verstanden. Das Arrangement gefällt mir zwar nicht besonders, aber ich habe Angst des Nachts, und ich nehme an ... also gut!“

Wenn ich ganz ehrlich sein soll, glaubte ich nicht, daß es überhaupt eine Rolle spielte, ob ich nun meine Zustimmung gab oder nicht. Wie hätte ich Bubba zum Gehen bewegen können, wenn er nicht gehen wollte? Selbst der Polizeiapparat in unserer kleinen Stadt verfügte ja nicht über die Mittel und die Ausrüstung, mit Vampiren fertig zu werden, und beim Anblick dieses einen, besonderen Vampirs würden ohnehin alle Beamten so lange stocksteif mit offenen Mündern in der Gegend herumstehen, bis es ihm gelungen war, sie allesamt in Stücke zu reißen! Ich wußte Bills Besorgnis zu schätzen und bekam langsam das Gefühl, ihm ein Dankeschön zu schulden. Also nahm ich ihn kurz in die Arme und drückte ihn ein wenig an mich.

„Wenn du unbedingt gehen mußt, dann paß gut auf dich auf!“ sagte ich dazu, wobei ich mir alle Mühe gab, nicht allzu verloren zu klingen. „Weißt du denn schon, wo du wohnen kannst?“

„]a. Ich werde in New Orleans wohnen. Im 'Blood in the Quarter' hatten sie ein Zimmer frei.“

Über das Hotel 'Blood in the Quarter' hatte ich bereits einen Artikel gelesen. Es war das erste der Welt, das sich auf die Unterbringung von Vampiren spezialisiert hatte. Das Hotel versprach seinen Besuchern absolute Sicherheit und hatte dieses Versprechen bislang auch halten können. Noch dazu lag es direkt im French Quarter der Stadt. Bei Dämmerung war es jeden Abend umzingelt von Fangbangern und Touristen, die miterleben wollten, wie die Vampire herauskamen.

Beim Gedanken an New Orleans wurde ich ein wenig neidisch. Ich strengte mich sehr an, nicht wie ein trauriges kleines Hündchen auszusehen, das durch die Tür zurück ins Haus geschoben wird, weil seine Besitzer allein ausgehen wollen, und sorgte rasch dafür, daß mein Lächeln wieder dort saß, wo es hingehörte. „Na, dann amüsier dich schön!“ sagte ich strahlend. „Hast du schon gepackt? Die Fahrt dauert doch bestimmt ein paar Stunden, und die Nacht ist schon fortgeschritten.“

„Der Wagen ist fertig“, entgegnete Bill, und erst jetzt verstand ich, daß er seine Abreise hinausgezögert hatte, um mit mir und Arlenes Kindern zusammensein zu können. „Du hast recht: Ich muß jetzt wirklich los.“ Dann zögerte er, offensichtlich auf der Suche nach den passenden Worten, streckte mir aber schließlich statt dessen einfach beide Hände hin. Ich ergriff sie, und er zog mich sanft näher zu sich heran. Ich trat in seine Umarmung und rieb mein Gesicht an seiner Brust. Meine Arme legten sich um Bill, und ich drückte mich an ihn.

„Du wirst mir fehlen“, sagte mein Vampir, wobei seine Stimme nur ein schwacher Hauch in der Luft war, aber ich hörte sie trotzdem. Ich spürte seine Lippen, die mir einen ganz leichten Kuß auf das Haar drückten; dann löste er sich von mir und trat durch die Vordertür hinaus. Von der vorderen Veranda her hörte ich seine Stimme Bubba ein paar letzte Anweisungen erteilen, gefolgt vom Quietschen der Schaukel, als Bubba aufstand.

Aus dem Fenster sah ich erst wieder, als ich Bills Wagen die Auffahrt hinunterfahren hörte. Ich sah, wie Bubba zum Wäldchen schlenderte. Später duschte ich, wobei ich mir ständig versicherte, daß Bubba Bills vollstes Vertrauen genoß, denn sonst hätte mein Freund den anderen Vampir nicht hier gelassen, um mich zu bewachen. Aber unter dem Strich war ich mir immer noch nicht ganz schlüssig darüber, vor wem ich mehr Angst haben sollte: vor dem Mörder, nach dem Bubba Ausschau hielt, oder vor Bubba selbst.

* * *

Am nächsten Tag auf der Arbeit fragte Arlene, warum der unbekannte Vampir zu mir gekommen war. Ich wunderte mich nicht darüber, daß sie das Thema ansprach.

.,Bill muß für ein paar Tage verreisen, und da er sich Sorgen macht...“ Ich hatte gehofft, es dabei belassen zu können, aber nun hatte sich auch Charlsie zu uns gesellt - im Merlottes war an diesem Tag nicht viel zu tun, da die Handelskammer im 'Fins and Hooves' ein Mittagessen mit Gastredner veranstaltete und die Damen der Vereinigung 'Kartoffel und Choral' im riesigen Haus der alten Mrs Bellefleur gemeinsam ihre Kartoffeln samt geistiger Erbauung zu sich nahmen.

„Willst du damit sagen“, fragte Charlsie mit großen leuchtenden Augen, „daß dir dein Liebster einen Leibwächter besorgt hat?“

Ich nickte zögernd. So konnte man es sagen.

„Wie romantisch“, seufzte Charlsie.

So konnte man es auch sehen.

„Aber was für einen! Den solltest du mal sehen!“ warf Arlene nun ein, die ihre Zunge so lange im Zaum gehalten hatte, wie ihr irgend möglich gewesen war. „Er sieht haargenau aus wie ...“

„Der Eindruck legt sich, sobald man mit ihm redet“, unterbrach ich. „Dann ist da überhaupt keine Ähnlichkeit mehr.“ Das war die reine Wahrheit. „Im übrigen hört er den Namen gar nicht gern - du weißt schon, welchen.“

„Oh!“ hauchte Arlene, als befürchte sie, Bubba könne uns am helllichten Tage zuhören.

„Ich muß allerdings sagen, daß ich mich sicherer fühle, jetzt, wo sich Bubba im Wald herumtreibt“, sagte ich, was mehr oder weniger auch den Tatsachen entsprach.

„Ist er denn nicht bei dir im Haus?“ fragte Charlsie, wobei sie eindeutig ein wenig enttäuscht klang.

„Guter Gott, nein, wo denkst du hin!“ sagte ich und entschuldigte mich im Stillen bei Gott, weil ich seinen Namen mißbraucht hatte - in letzter Zeit entschuldigte ich mich ziemlich oft im Geiste bei Gott. „Nein, Bubba bleibt nachts im Wald und beobachtet das Haus.“

„War das ernstgemeint mit den Katzen?“ Arlene sah aus, als sei ihr beim bloßen Gedanken daran ein wenig übel.

„Er hat nur Spaß gemacht. Sein Humor ist nicht gerade beeindruckend.“ Ich hatte die Zähne zusammengebissen und log meine Kolleginnen schamlos an, denn eigentlich war ich ziemlich sicher, daß Bubba nur zu gern einen Schluck Katzenblut zu sich nahm.

Besonders überzeugend hatte ich wohl nicht geklungen, denn Arlene schüttelte den Kopf, woraufhin ich beschloß, es sei Zeit, das Thema zu wechseln. „Hattet ihr beiden denn einen schönen Abend gestern, du und Rene?“

„Rene war letzte Nacht prima, findest du nicht?“ fragte Arlene mit hochroten Wangen.

Eine oft verheiratete Frau, die errötete. „Sag du's mir.“

„Du nun wieder! Ich meinte doch nur, daß er zu Bill und sogar zu diesem Bubba richtig höflich war.“

„Hätte er denn aus irgendeinem Grund unhöflich zu den beiden sein sollen?“

„Rene hat Probleme, was Vampire betrifft“, erklärte Arlene kopfschüttelnd. „Ich weiß, die habe ich auch“, ergänzte sie hastig, als ich die Brauen hob. „Aber Rene hat tiefsitzende Vorurteile. Cindy war eine Zeitlang mit einem Vampir zusammen, womit Rene nur sehr schlecht umgehen konnte.“

„Wie geht es Cindy? Gut?“ fragte ich, denn ich hatte großes Interesse daran etwas über den Gesundheitszustand einer Frau zu erfahren, die einmal mit einem Vampir zusammengewesen war.

„Ich habe sie eine ganze Weile nicht gesehen“, gab sie zu, „aber Rene fährt sie etwa jede zweite Woche besuchen. Es geht ihr gut, sie hat wieder auf den rechten Weg gefunden. Sie arbeitet in einer Krankenhauskantine.“

Sam hatte hinter dem Tresen gestanden und den Kühlschrank mit Flaschenblut aufgefüllt. Nun mischte er sich in unsere Unterhaltung ein. „Vielleicht hätte Cindy ja Interesse, wieder hierher zu ziehen. Lindsey Krause, die in der anderen Schicht arbeitet, hat nämlich gekündigt, weil sie nach Little Rock zieht.“

Mit diesem Einwurf hatte Sam unser Interesse auf ein ganz anderes Thema gelenkt. Wie es aussah, verlor das Merlottes eine Kellnerin nach der anderen, und bald würden wir ernsthaft unterbesetzt sein. Minijobs schienen sich seit ein paar Monaten irgendwie nicht mehr besonders großer Beliebtheit zu erfreuen.

„Hat sich schon irgendwer beworben?“ wollte Arlene wissen.

„Ich müßte mal meine Unterlagen durchsehen“, sagte Sam und klang nicht besonders begeistert bei der Vorstellung. Arlene und ich waren die einzigen beiden Bardamen, Kellnerinnen, Serviererinnen oder wie immer man es nennen mochte, die Sam länger als zwei Jahre hatte halten können. Wobei das nicht ganz stimmte: Außer uns gab es noch Susanne Mitchell, die in der anderen Schicht arbeitete. Sam verbrachte viel Zeit damit, irgendwelche Leute einzustellen und manchmal auch damit, sie wieder hinauszuwerfen. „Könntest du nicht den Stapel mit den Bewerbungen durchgehen, Sookie, die aussortieren, bei denen du weißt, daß sie weggezogen sind oder einen anderen Job angenommen haben, und mir dann die nennen, die du mir wirklich empfehlen kannst? Das wäre eine große Zeitersparnis für mich.“

„Gern!“ erwiderte ich und erinnerte mich daran, daß ihm vor ein paar Jahren, ehe Sam dann Dawn eingestellt hatte, Arlene einmal diese Vorarbeit abgenommen hatte. Arlene und ich kannten uns viel besser aus als Sam, hatten mehr Kontakt zu Leuten in der Stadt als unser Chef, der sich nie an irgendwelchen gesellschaftlichen Aktivitäten zu beteiligen schien. Seit sechs Jahren wohnte Sam nun in Bon Temps, und ich kannte niemanden, der gewußt hätte, was für ein Leben er geführt hatte, ehe er das Merlottes erwarb.

Mit einem dicken Stapel Bewerbungsmappen ließ ich mich an Sams Schreibtisch nieder. Wenige Minuten später hatte ich ein sehr effektives System entwickelt, nach dem ich nun vorging. Ich sortierte die Bewerbungen in drei Haufen: Frauen, die weggezogen waren, Frauen, die einen anderen Job gefunden hatten, Frauen, die in Frage kamen.

Als nächstes ergaben sich ein vierter und ein fünfter Haufen: Frauen, mit denen ich nicht arbeiten wollte, weil ich sie nicht ausstehen konnte, und tote Frauen. Die erste Bewerbungsmappe auf dem fünften Stapel, dem für tote Frauen, stammte von einem Mädchen, das am vergangenen Weihnachtstag bei einem Autounfall gestorben war. Beim Anblick ihres Namens vorne auf der Mappe tat mir ihre Familie noch einmal von ganzem Herzen leid. Auf der zweiten Mappe, die ich dem fünften Haufen hinzufügte, stand der Name Maudette Pickens.

Drei Monate vor ihrem Tod hatte sich Maudette bei Sam um einen Job beworben. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, daß die Arbeit im Grabbit Kwik nicht gerade inspirierend gewesen war. Auch Maudette tat mir noch einmal furchtbar leid, als ich ihre Bewerbung überflog und sah, wie schlecht ihre Rechtschreibung, wie krakelig ihre Handschrift gewesen waren. Dann versuchte ich, mir vorzustellen, was Jason wohl zu der Ansicht bewogen haben mochte, Sex mit dieser armen Frau - und das Filmen desselben - sei eine sinnvolle Art gewesen, die Zeit zu verbringen. Erneut konnte ich nicht umhin, mich über den merkwürdigen Geisteszustand meines Bruders zu wundern. Ich hatte Jason nicht mehr zu Gesicht bekommen, seit er mit Desiree entschwunden war. Hoffentlich war er heil heimgekommen - Desiree war wirklich ein ziemlicher Knaller gewesen. Ich wünschte mir, Jason würde mit Liz Barrett seßhaft werden; die Frau besaß so viel Rückgrat, daß es auch für meinen Bruder noch reichte.

In letzter Zeit machte ich mir eigentlich immer nur Sorgen, wenn ich an meinen Bruder dachte. Hätte er doch bloß Maudette Pickens und Dawn nicht so gut gekannt! Auch wenn das ja für viele Männer in dieser Gegend galt, die alle Maudette und Dawn flüchtig oder intim gekannt hatten. Noch dazu waren beide Frauen von Vampiren gebissen worden, Dawn hatte auf brutalen Sex gestanden - Maudettes Vorlieben in dieser Frage waren mir unbekannt. Im Grabbit Kwik tankten viele Männer, und viele holten sich dort auch einen Kaffee. Dasselbe galt für das Merlottes: Auch hierher kamen viele Männer, um einen Schluck zu trinken. Männer überall, sozusagen, aber außer meinem blöden Bruder hatte niemand den Sex mit Dawn und Maudette auf Video aufgenommen!

Während ich grübelte, starrte ich auf einen großen Plastikbecher, der auf Sams Schreibtisch stand und früher einmal Eistee enthalten hatte. Es handelte sich um einen grünen Becher mit einer Aufschrift in leuchtendem Orange: „Der große Kühle gegen den Durst - aus dem Grabbit Kwik.“ Sam hatte ebenfalls beide Frauen gekannt; Dawn hatte für ihn gearbeitet, Maudette sich bei ihm um einen Job beworben.

Sam sah es ganz und gar nicht gern, daß ich mit einem Vampir ausging. Vielleicht wollte er nicht, daß überhaupt irgendwer mit Vampiren ausging.

In diesem Moment kam mein Chef ins Büro, und ich zuckte zusammen, als sei ich gerade dabei gewesen, etwas zu tun, was ich nicht hätte tun dürfen. Meinen eigenen Kriterien zufolge hatte ich das auch getan: Es war schlimm, Böses über einen Freund zu denken.

„Welcher Stapel ist der mit den Guten?“ wollte Sam wissen, wobei er mir gleichzeitig einen leicht verwunderten Blick zuwarf.

Ich reichte ihm einen kleinen Stapel mit etwa zehn Bewerbungen. „Amy Burley“, erklärte ich dazu und zeigte auf die Mappe, die zuoberst lag, „hat Erfahrung und arbeitet nur aushilfsweise immer mal ein paar Stunden in der Good Times Bar. Charlsie hat mit ihr zusammengearbeitet. Am besten erkundigst du dich also noch bei Charlsie, ehe du die Frau zum Vorstellungsgespräch bittest.“

„Danke, Sookie, das spart mir wirklich allerhand Arbeit.“

Ich nickte kurz, um zu zeigen, daß ich Sams Dank zur Kenntnis genommen hatte.

„Ist alles in Ordnung?“ fragte mein Chef daraufhin besorgt. „Du wirkst ein wenig geistesabwesend.“

Ich betrachtete ihn grübelnd. Sam sah nicht anders aus als sonst auch immer - aber sein Kopf war mir verschlossen. Wie er das wohl machte? Der einzige andere Kopf, der völlig unzugänglich für mich war, war Bills. Ihn konnte ich nicht hören, weil er Vampir war. Aber Sam war ganz gewiß kein Vampir.

„Mir fehlt Bill“, sagte ich, um Sam ein wenig zu provozieren. Würde er mir nun einen Vortrag über die Gefahren halten, denen man sich aussetzte, wenn man mit einem Vampir schlief?

„Es ist doch Tag“, erwiderte Sam schlicht. „Tagsüber kann er doch gar nicht bei dir sein.“

„Natürlich nicht!“ sagte ich ungehalten und wollte gerade hinzufügen, Bill hätte die Stadt verlassen. Dann fragte ich mich jedoch, ob es klug war, Sam so etwas zu erzählen, solange ich auch nur noch den kleinsten Funken Verdacht gegen meinen Chef hegte. Wortlos und abrupt verließ ich daraufhin das Büro, wobei Sam mir verwundert hinterher starrte.

Später konnte ich beobachten, wie Sam und Arlene lange zusammenstanden und sich unterhielten, wobei sie mir immer wieder Seitenblicke zuwarfen, die mir zeigten, daß ich das Thema ihrer Unterhaltung war. Sam zog sich in sein Büro zurück und wirkte besorgter denn je. Den Rest des Tages über kam es zwischen ihm und mir zu keiner weiteren Unterhaltung.

An diesem Abend fiel es mir schwer, nach Hause zu fahren, da ich wußte, ich würde bis zum Morgen allein sein. An anderen Abenden, an denen ich allein zu Hause gewesen war, hatte ich doch zumindest die beruhigende Gewißheit gehabt, daß ich Bill nur anzurufen brauchte, und er würde sofort bei mir sein. Nun war er fort. Ich versuchte, froh darüber zu sein, daß mich jemand bewachen würde, sobald es dunkel wurde und Bubba aus welchem Loch auch immer hervorgekrabbelt käme, aber es gelang mir nicht.

Ich rief Jason an, der aber nicht zu Hause war. Daraufhin rief ich im Merlottes an, in der Hoffnung, ihn dort anzutreffen, aber Terry Bellefleur, der meinen Anruf entgegennahm, erklärte, Jason sei an diesem Abend noch nicht da gewesen.

Ich fragte mich, warum Sam nicht arbeitete, was er wohl vorhatte und warum es so aussah, als würde er sich so gut wie nie mit Frauen verbreden. Das konnte nicht daran liegen, daß ihm keine Angebote gemacht wurden: Ich hatte oft genug beobachtet, wie Frauen mit meinem Chef flirteten.

Besonders Dawn war ziemlich aggressiv hinter Sam hergewesen.

Es gelang mir an diesem Abend nicht, mich auf einen wirklich erfreulichen Gedanken zu konzentrieren.

Das ging damit los, daß ich mich fragte, ob Bubba der Revolvermann - oder treffenderweise wohl eher Revolvervampir - gewesen war, den Bill angerufen hatte, als er Onkel Bartlett hatte um die Ecke bringen wollen. Als nächstes fragte ich mich, warum Bill wohl ausgerechnet eine geistig so minderbemittelte Kreatur ausgesucht hatte, um mich bewachen zu lassen.

Jedes einzelne Buch, das ich zur Hand nahm, schien irgendwie nicht das richtige zu sein. Jede Fernsehsendung, die ich mir anzuschauen versuchte, wirkte unpassend und lächerlich. Ich versuchte, meine Time zu lesen und verstrickte mich in Überlegungen darüber, warum es so viele Nationen anscheinend darauf angelegt hatten, Selbstmord zu begehen, woraufhin ich die Zeitschrift letztlich erbost einmal quer durch das Wohnzimmer schleuderte.

Mein Verstand irrte umher wie ein Hamster im Laufrad. Er mochte sich auf nichts konzentrieren, sich nirgendwo wohlfühlen.

Als das Telefon klingelte, tat ich vor Schreck einen ziemlichen Satz.

„Hallo?“ meldete ich mich vorsichtig und mit belegter Stimme.

„Jason ist jetzt hier“, teilte mir Terry Bellefleur mit. „Er würde dir gern einen ausgeben.“

Ganz wohl war mir nicht beim Gedanken daran, zu meinem Auto gehen zu müssen, wo es doch draußen schon so dunkel war. Noch weniger wohl war mir beim Gedanken, später dann allein in ein leeres Haus heimzukehren - in ein Haus, von dem ich zumindest hoffte, es sei dann leer. Dann schalt ich mich im Geist selbst streng einen Angsthasen: Ich hatte doch einen Bewacher, einen sehr starken, wenn auch sehr hirnlosen Bewacher.

„Gut“, sagte ich zu Terry. „Ich bin in einer Minute da.“

Ohne weiteren Kommentar legte Terry den Hörer auf - wahrlich die Geschwätzigkeit in Person.

Ich zog mir einen Jeansrock und ein gelbes T-Shirt an und eilte rasch zu meinem Auto, nachdem ich mich erst einmal vorsichtig nach allen Seiten umgeschaut hatte. Alle Außenlichter brannten hell, und in ihrem Schein schloß ich nun blitzschnell mein Auto auf, warf mich auf den Fahrersitz und verriegelte im Handumdrehen wieder die Tür hinter mir.

Auf jeden Fall konnte man so auf Dauer nicht leben!

* * *

Beim Merlottes parkte ich ganz automatisch auf dem Angestelltenparkplatz. Ein Hund strich um unseren Müllcontainer, und ehe ich ins Haus ging, streichelte ich den Kopf des Tieres. Wir mußten ungefähr einmal die Woche den Tierschutzverein rufen, um streunende oder ausgesetzte Hunde fortschaffen zu lassen. Sehr viele dieser Tiere waren trächtig, was mich jedes Mal regelrecht krank machte.

Hinterm Tresen stand Terry.

„Hey“, begrüßte ich ihn, während ich mich suchend im Lokal umschaute. „Wo ist denn Jason?“

„Hier nicht“, erwiderte Terry. „Er war den ganzen Abend noch nicht da. Das hatte ich dir doch am Telefon auch schon gesagt.“

Ich sah ihn mit offenem Mund an. „Aber du hast doch dann später angerufen, um mir mitzuteilen, daß er gekommen ist.“

„Nein, das habe ich nicht getan.“

Terry und ich starrten einander an, wobei ich sehen konnte, daß mein Kollege einen seiner ganz schlechten Tage hatte. In seinem Kopf wanden sich ineinander verschlungen die Schlangen aus seiner Armeezeit zusammen mit denen aus seinem Kampf gegen Alkohol und Drogen. Äußerlich sah man ihm nur an, daß er erhitzt war und stark schwitzte, obwohl die Klimaanlage lief. Auch waren seine Bewegungen abgehackt und unbeholfen. Der arme Terry.

„Du hast mich wirklich nicht angerufen?“ hakte ich so neutral wie irgend möglich noch einmal nach.

„Das habe ich dir doch gerade erklärt, oder?“ Terry klang streitsüchtig.

Da konnte ich nur hoffen, daß sich an diesem Abend kein Kunde mit meinem Kollegen anlegte.

Mit einem versöhnlichen Lächeln auf den Lippen zog ich mich aus der Kneipe zurück.

An der Hintertür wartete immer noch der Hund; er winselte, als er mich sah.

„Du bist wohl hungrig, mein Junge?“ fragte ich, woraufhin er direkt auf mich zukam, ohne vorsichtig zu zögern und die Lage immer wieder neu einzuschätzen, wie ich es von streunenden Hunden gewöhnt war. Nun stand er im Licht einer der Außenlampen direkt vor mir, weswegen ich erkennen konnte, daß er, wollte man nach seinem glänzenden, gepflegten Fell gehen, wohl erst vor kurzem ausgesetzt worden war. Es handelte sich um einen Collie - zumindest größtenteils. Ich war drauf und dran, noch einmal zurückzugehen, um den, der heute für die Küche verantwortlich war, um ein paar Reste zu bitten, aber dann hatte ich eine viel bessere Idee.

„Ich weiß, der schlimme, alte Bubba schleicht ums Haus, aber vielleicht könntest du mit mir ins Haus kommen“, sagte ich mit dem Babystimmchen, in dem ich gern mit Tieren rede, wenn ich glaube, daß mir niemand zuhört. „Kannst du denn draußen pinkeln, damit wir im Haus keine Schweinerei bekommen?“

Als habe er mich genau verstanden, markierte der Collie folgsam eine Ecke des Müllcontainers.

„Guter Hund, lieber Hund! Was ist, sollen wir ein bißchen autofahren?“ Mit diesen Worten öffnete ich meine Beifahrertür, wobei ich hoffte, der Hund würde mir die Sitze nicht allzu dreckig machen. Der Collie zögerte. „Komm schon! Du kriegst auch was Feines zu fressen, wenn wir zu Hause sind.“ Nicht in allen Fällen ist Bestechung etwas Schlimmes.

Nach ein paar weiteren zögernden Blicken und nachdem er ausführlich meine Hand berochen hatte, sprang der Hund auf den Beifahrersitz und schaute erwartungsvoll durch die Windschutzscheibe, als hätte er sich nunmehr voll und ganz dem Abenteuer Autofahrt verschrieben.

Ich teilte ihm mit, ich wisse das sehr zu schätzen, und kraulte ihn hinter den Ohren. Nachdem wir losgefahren waren, wurde mir schnell klar, daß dieser Hund Autofahren gewohnt war.

„Wenn wir bei mir zu Hause ankommen, Kumpel“, erklärte ich ihm streng, „dann rennen wir so schnell es geht zur Tür, haben wir uns verstanden? Im Wald lebt nämlich ein Oger, der dich nur zu gern fressen würde.“

Der Hund kläffte aufgeregt.

„Aber er wird keine Gelegenheit dazu erhalten!“ fuhr ich beruhigend fort. Wie schön es war, jemanden zu haben, mit dem ich reden konnte. Sogar die Tatsache, daß er mir nicht antworten konnte, war schön, zumindest im Augenblick noch. Zudem brauchte ich mein Visier nicht zu schließen, denn schließlich war der Hund kein Mensch. Wie entspannend! „Wir beeilen uns einfach!“

„Wuff“ stimmte mein Gefährte mir zu.

„Ich muß dir irgendeinen Namen gebe“, fuhr ich fort. „Was hältst du von ... Buffy?“

Der Hund knurrte.

„Gut. Rover?“

Winseln.

„Gefällt mir auch nicht. Hmmm.“ Nun bogen wir in meine Auffahrt ein.

„Vielleicht hast du ja auch schon einen Namen“, überlegte ich dann laut. „Laß mich mal nachsehen, ob du etwas am Hals trägst.“ Ich stellte den Motor aus und strich dem Hund mit den Fingern durchs dichte Fell. Er trug nicht einmal ein Flohhalsband. „Besonders gut haben sie sich ja nicht um dich gekümmert“, sagte ich. „Aber das ist nun vorbei. Ich werde dir eine gute Mama sein.“ Mit diesen letzten, leicht schwachsinnigen Worten hatte ich meinen Haustürschlüssel aus dem Schlüsselbund herausgesucht, hielt ihn parat und öffnete entschlossen meine Wagentür. Wie der Blitz setzte der Hund an mir vorbei und stand in meinem Garten, wo er sich sorgsam umsah. Er hielt die Nase hoch in die Luft, schnüffelte, und in seiner Kehle bildete sich ein leises Knurren.

„Alles in Ordnung, Schatz; das ist nur der gute Vampir, der auf das Haus aufpaßt. Komm schnell!“ Ich mußte dem Hund gut zureden, aber schließlich gelang es mir, ihn dazu zu bewegen, mit mir ins Haus zu kommen. Rasch verschloß ich hinter uns beiden die Tür.

Nun trottete der Hund einmal durchs gesamte Wohnzimmer, wobei er alles genau beroch und besah. Ich sah ihm ein paar Minuten zu, um sicherzugehen, daß er nichts annagen oder gar sein Bein heben würde. Dann ging ich in die Küche, denn ich wollte ihm irgend etwas zu Fressen zusammensuchen. Zuerst einmal füllte ich eine große Schüssel mit Wasser, nahm dann eine weitere Plastikschüssel, in der meine Oma immer den Salat aufbewahrt hatte, und füllte sie mit den Resten von Tinas Katzenfutter und ein wenig Fleisch, das von meinem eigenen Essen übriggeblieben war. Das würde ihm schon schmecken - er hatte doch bestimmt ordentlich Hunger. Endlich hatte sich der Hund bis zur Küche vorgearbeitet. Sofort lief er auf die beiden Schüsseln zu, schnüffelte am Futter herum und warf mir dann einen langen, fragenden Blick zu.

„Tut mir leid. Hundefutter habe ich keins. Mit etwas Besserem kann ich nicht aufwarten. Aber wenn du bei mir bleibst, besorge ich morgen anständiges Hundefutter.“ Der Hund starrte mich noch ein paar Sekunden lang an, dann beugte er den Kopf über den Freßnapf. Er aß ein wenig Fleisch, trank ein paar Schluck Wasser und wandte seine Aufmerksamkeit dann wieder erwartungsvoll mir zu.

„Darf ich dich Rex nennen?“

Ein leises Knurren.

„Was hältst du von Dean?“ fragte ich. „Dean ist doch ein schöner Name.“ Ein netter Typ, der mir oft in einem Buchladen von Shreveport half, hieß Dean. Die Augen des Collies glichen ein wenig denen des Buchhändlers: hellwach und so, als würde ihnen nichts entgehen. Zudem war Dean ein besonderer Name, zumindest für einen Hund. Ich kannte keinen anderen Hund, der so hieß. „Ich wette, du bist schlauer als Bubba“, meinte ich nachdenklich, und der Hund gab sein kurzes, scharfes Bellen von sich.

„Also gut, Dean, machen wir uns fertig fürs Bett!“ Immer noch gefiel es mir sehr, jemanden zu haben, mit dem ich reden konnte. Der Hund trottete hinter mir her ins Schlafzimmer, wo er alle Möbelstücke einer sorgfältigen Prüfung unterzog. Ich zog Rock und T-Shirt aus, faltete beides ordentlich zusammen, trat aus dem Slip und hakte mir den BH auf. Aufmerksam sah mir der Hund zu, als ich nun ein sauberes Nachthemd aus der Kommode nahm und ins Bad ging, um zu duschen. Sauber und entspannt trat ich aus der Dusche. Dean hockte in der Tür und hielt den Kopf neugierig zur Seite geneigt.

„Wir tun das, um sauber zu werden“, erklärte ich. „Menschen duschen gern. Ich weiß, das gilt für Hunde nicht. Es ist wohl eine reine Menschensache.“ Ich putzte mir die Zähne und zog mein Nachthemd an. „Was ist, Dean: wollen wir schlafen gehen?“

Als Antwort hüpfte der Collie auf mein Bett, drehte sich dort einmal im Kreis und legte sich hin.

„He! Nun mach aber mal halblang.“ Da hatte ich mir ja etwas Schönes eingebrockt! Oma hätte einen Anfall bekommen, wenn sie gewußt hätte, daß sich ein Hund auf ihrem Bett befand. Gegen Tiere hatte Oma nichts einzuwenden gehabt - solange sie die Nacht draußen verbrachten. Der Mensch gehörte ihrer Meinung nach ins Haus, das Haustier nach draußen, und nun hatte ich einen Vampir draußen vor dem Haus und einen Collie in meinem Bett.

„Runter mit dir“, sagte ich streng, wobei ich auf den Bettvorleger deutete.

Langsam und widerstrebend kletterte der Collie wieder vom Bett, warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu und machte sich auf dem Bettvorleger breit.

„Da bleibst du auch!“ wies ich ihn energisch an und kletterte nun selbst ins Bett. Ich war sehr müde und nun, wo mein Hund hier war, nicht mehr halb so ängstlich wie vorher. Auch wenn mir nicht klar war, welche Hilfe ich von ihm erwarten konnte, sollte wirklich ein Eindringling in mein Schlafzimmer gelangen. Er kannte mich noch nicht lange genug, um sich im Ernstfall wie ein loyaler Hund zu verhalten. Aber ich war bereit, jeglichen Trost anzunehmen, der mir geboten wurde, und so entspannte ich mich und glitt langsam in den Schlaf. Kurz bevor ich endgültig einschlief, spürte ich das Bett unter dem Gewicht des Collies nachgeben. Eine schmale Zunge fuhr mir einmal über die Wange, dann ließ sich der Hund ganz dicht bei mir nieder. Ich drehte mich um und tätschelte ihn. Irgendwie war es nett, ihn neben mir zu wissen.

Unversehens war es Morgen. Ich hörte die Vögel vor meinem Fenster ordentlich einen draufmachen. Sie zwitscherten auf Teufel komm raus, und es war wunderschön, entspannt und kuschelig im Bett zu liegen. Durch das Nachthemd hindurch spürte ich die Wärme, die von meinem Hund ausging. Wahrscheinlich war es mir irgendwann in der Nacht zu warm geworden, weswegen ich die Bettdecke weggeschoben hatte. Noch immer schläfrig tätschelte ich den Kopf des Tiers, wobei meine Finger träge durch das weiche Fell glitten. Dean schmiegte sich enger an mich, schnüffelte an meinem Gesicht herum, legte den Arm um mich ...

Den Arm?

Mit einem Aufschrei sprang ich aus dem Bett.

In meinem Bett lag auf einen Ellbogen gestützt Sam, die sonnige Seite nach oben gekehrt, und betrachtete mich ziemlich amüsiert.

„Ach du meine Güte! Wie bist du hierher gekommen? Was tust du hier? Wo ist Dean?“ Entsetzt bedeckte ich mein Gesicht mit beiden Händen und drehte mich hastig um, aber ich hatte schon alles gesehen, was es an Sam zu sehen gab.

„Wuff!“ sagte Sam, ein Hundelaut aus einer Menschenkehle, und mit Siebenmeilenstiefeln stürmte die Erkenntnis auf mich ein.

Ich drehte mich mit einem Ruck wieder zu ihm um, bereit, mich ihm zu stellen, so wütend, daß ich befürchten mußte, mir würde gleich eine Sicherung durchbrennen.

„Du hast mir letzte Nacht beim Ausziehen zugeguckt, du ... du ... verdammter Hund du!“

„Sookie“, flehte Sam beschwörend, „hör mir bitte zu!“

Aber das ging nicht, denn mir war gerade ein weiterer Gedanke durch den Kopf geschossen. „Oh Gott, Bill bringt dich um!“ Damit sank ich auf den Schemel, der neben der Badezimmertür stand, legte die Ellbogen auf die Knie und ließ den Kopf sinken. „Oh nein!“ stöhnte ich. „Nein, nein.“ Sam kniete vor mir. Das drahtige, rotgoldene Haar auf seinem Kopf setzte sich auf der Brust fort und zog sich dann in einer Linie bis zu ... ich schloß erneut die Augen.

„Sookie, ich hatte Angst um dich, als Arlene mir sagte, du würdest allein sein“, setzte Sam an.

„Hat sie dir denn nicht von Bubba erzählt?“

„Bubba?“

„Dieser Vampir, den Bill mir dagelassen hat, damit er auf mein Haus aufpaßt.“

„Ach ja, jetzt erinnere ich mich. Sie sagte, er erinnere sie an einen Sänger.“

„Nun, der Vampir heißt Bubba. Falls es dich interessiert: Er läßt gern Tiere ausbluten, nur so zum Spaß.“

Voller Genugtuung konnte ich nun (durch meine Finger hindurch) sehen, wie Sam ganz blaß wurde.

„Na, dann kann ich ja wirklich von Glück sagen, daß du mich ins Haus gelassen hast“, sagte er nach einer langen Pause.

Das erinnerte mich natürlich wieder an die Verkleidung, in der er in der Nacht zuvor aufgetreten war, und ich fragte: „Was bist du, Sam?“

„Ich bin ein Gestaltwandler. Ich dachte, es sei an der Zeit, daß du das erfährst.“

„Mußte ich es denn unbedingt auf diese Art und Weise erfahren?“

Sam schien peinlich berührt. „Eigentlich hatte ich vor, aufzuwachen und mich davonzuschleichen, ehe du die Augen aufmachst. Ich habe verschlafen. Auf allen Vieren herumzulaufen ist ziemlich ermüdend.“

„Ich dachte, Menschen verwandeln sich nur in Wölfe.“

„Nein. Ich kann mich in alles verwandeln.“

Das interessierte mich brennend, weswegen ich die Hände fallen ließ und versuchte, mich auf Sams Gesicht zu konzentrieren. „Wie oft?“ fragte ich. „Kannst du es dir aussuchen?“

„Bei Vollmond muß ich mich wandeln“, erklärte Sam. „Zu jeder anderen Zeit kann ich die Veränderung per Willenskraft herbeiführen, aber das ist schwieriger und dauert länger. Ich verwandle mich immer in das letzte Tier, das ich vor der Verwandlung gesehen habe. Also habe ich bei mir daheim auf dem Couchtisch immer ein Hundebuch liegen. Ich habe es auf der Seite aufgeschlagen, die das Foto eines Collies zeigt. Collies sind groß, wirken aber nicht bedrohlich.“

„Also könntest du auch ein Vogel sein?“

„Ja, aber fliegen ist schwer. Ich habe Angst davor, zwischen Starkstromleitungen zu geraten und gebraten zu werden oder aber gegen eine Fensterscheibe zu fliegen.“

„Warum? Warum wolltest du, daß ich es weiß?“

„Weil es mir so vorkam, als würdest du ziemlich gut mit der Tatsache fertig werden, daß Bill ein Vampir ist. Es hatte sogar den Anschein, als würdest du sein Vampirsein genießen. Also dachte ich mir, ich probiere einfach mal aus, ob du auch mit meiner ... Beschaffenheit umgehen kannst.“

„Das, was du bist“, sagte ich ein wenig schroff, denn nun war ich im Kopf auf eine völlig andere Schiene geraten, „läßt sich aber nicht mit einer Viruserkrankung erklären. Ich meine: Du veränderst dich doch ganz und gar!“

Daraufhin sagte Sam gar nichts. Er sah mich nur unverwandt an, und seine Augen waren nun zwar blau, blickten aber noch genauso hellwach wie die des Collies, und auch ihnen schien so gut wie nichts zu entgehen.

„Ein Gestaltwandler zu sein ist ja nun eindeutig übernatürlich, und wenn dein Zustand übernatürlich ist, dann können andere Sachen es auch sein. Das heißt also“, fuhr ich ganz langsam fort, „daß Bill gar kein Virus hat. Was ein Vampir ist, das kann man nicht wirklich mit einer Allergie gegen Knoblauch oder Silber oder Sonnenlicht erklären

... das ist doch der reinste Schwachsinn, den die Vampire da verbreiten, man könnte es fast schon Propaganda nennen, und es geht darum

... es geht darum, daß man sie eher akzeptiert, wenn man denkt, sie leiden an einer Krankheit. Aber in Wirklichkeit sind sie ... sie sind in Wirklichkeit...“

Ich stürzte ins Badezimmer, wo ich mich übergeben mußte. Glücklicherweise schaffte ich es bis zur Toilette.

„Ja“, sagte Sam, der im Türrahmen lehnte, und seine Stimme klang traurig. „Tut mir leid, Sookie, aber Bill hat nicht einfach ein Virus. Er ist wirklich und wahrhaftig tot.“

* * *

Ich wusch mir das Gesicht und putzte mir zweimal die Zähne. Dann setzte ich mich auf meine Bettkante, denn weiter kam ich nicht, dazu war ich viel zu müde. Sam hockte sich neben mich. Er legte tröstend den Arm um mich, und nach einiger Zeit schmiegte ich mich eng an ihn und legte meine Wange in seine Halsbeuge.

„Weißt du, einmal hörte ich im Radio eine Informationssendung“, sagte ich völlig unvermittelt. „Es ging um Kryogenik, genauer gesagt darum, daß viele Leute sich entscheiden, nur ihren Kopf einfrieren zu lassen, weil das wesentlich billiger ist, als den ganzen Körper einzufrieren.“

„Umm?“

„Rate mal, welches Lied sie am Schluß der Sendung spielten?“

„Ich kann das nicht erraten, Sookie. Welches Lied spielten sie denn?“

Put Your Head On My Shoulder.“

Zuerst gab Sam nur einen halb erstickten Laut von sich, dann aber bog er sich vor Lachen.

„Hör mal, Sam“, sagte ich, als er sich beruhigt hatte, „ich habe zur Kenntnis genommen, was du mir erzählt hast, aber ich muß das mit Bill klären. Ich liebe Bill. Ich bin ihm treu, und er ist nicht hier, hat also keine Chance, seine Sicht der Dinge darzulegen.“

„Mir geht es auch nicht darum, dich Bill zu entfremden, Sookie. Auch wenn das prima wäre!“ Hierbei lächelte Sam ein strahlendes, viel zu seltenes Lächeln. Nun, wo ich sein Geheimnis kannte, wirkte er in meiner Gegenwart viel entspannter.

„Worum geht es denn dann?“

„Es geht darum, dafür zu sorgen, daß du am Leben bleibst, bis man den Mörder gefunden hat.“

„Deswegen bist du also nackt in meinem Bett aufgewacht? Um mich zu beschützen?“

Er besaß genug Anstand, beschämt dreinzublicken. „Nun, wahrscheinlich hätte ich das in der Tat besser planen können. Aber glaub mir, ich dachte wirklich, du brauchst jemanden bei dir. Arlene hatte mir ja erzählt, daß Bill nicht in der Stadt ist. Du hättest mir nie gestattet, in Menschengestalt die Nacht hier zu verbringen, das wußte ich ganz genau.“

„Beruhigt es dich denn jetzt zu wissen, daß Bubba bei Nacht mein Haus bewacht?“

„Vampire sind stark und grausam“, mußte Sam zugeben. „Ich nehme an, dieser Bubba schuldet Bill irgend etwas, sonst würde er ihm keinen Gefallen erweisen. Vampire sind nicht groß darin, sich gegenseitig Gefallen zu tun. In ihrer Welt herrschen rigide Strukturen.“

Wahrscheinlich hätte ich Sams Worten mehr Aufmerksamkeit schenken sollen, aber ich dachte angestrengt darüber nach, daß es wohl besser sei, ihm nicht zu erklären, woher Bubba kam.

„Wenn es dich gibt und Bill, dann kann ich wohl davon ausgehen, daß es auch noch ein paar andere Dinge gibt, die außerhalb der Natur stehen“, sagte ich, und mit einem Mal wurde mir klar, daß mich hier ein ganzes Schatzkästchen an Gedanken erwartete. Seit ich Bill kannte, hatte ich nicht mehr ganz so sehr das Bedürfnis verspürt, interessante Dinge zu horten, um später einmal darüber nachdenken zu können, aber es konnte ja unmöglich schaden, auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein. „Davon mußt du mir später einmal unbedingt ausführlich erzählen.“ Der Yeti? Nessie? An die Existenz des Ungeheuers von Loch Ness hatte ich persönlich ja schon immer geglaubt.

„Ich sollte wohl zusehen, daß ich nach Hause komme“, sagte Sam, sah mich dabei aber hoffnungsvoll an. Er war immer noch nackt.

„Ja, das glaube ich allerdings auch. Aber - verdammt! Ach, Mist aber auch!“ Wütend stapfte ich die Treppe hinauf ins Obergeschoß meines Hauses, auf der Suche nach etwas, was mein Chef anziehen konnte. Meines Wissens hatte Jason dort oben für irgendeinen Notfall ein paar Sachen aufbewahrt.

So war es dann auch; im ersten Schlafzimmer oben fand ich eine Jeans und ein Arbeitshemd. Oben unter dem Blechdach war es bereits recht warm, denn dieser Bereich des Hauses hatte einen anderen Thermostat als die unteren Räume. So war ich froh, wieder hinunter in die wohltemperierte Luft zu kommen.

Hier.“ Ich überreichte Sam die Sachen. „Ich hoffe, sie passen einigermaßen.“ Sam sah so aus, als würde er unsere Unterhaltung gern noch einmal wieder aufnehmen, aber mir war mittlerweile nur zu bewußt, wie dünn mein Nylonnachthemd war und daß er selbst gar nichts am Leibe trug.

„Du ziehst dir jetzt die Klamotten an“, befahl ich streng, „und zwar im Wohnzimmer!“ Damit scheuchte ich ihn aus dem Schlafzimmer und schloß die Tür hinter ihm. Ich dachte, wenn ich nun auch noch den Schlüssel im Schloß umdrehte, wäre das eine zu große Beleidigung, also ließ ich das lieber sein. Ich kleidete mich allerdings in Rekordzeit an: frische Unterwäsche sowie den Jeansrock und das gelbe Hemd, die ich auch am Vorabend getragen hatte. Ich legte Make-up auf, legte mir Ohrringe an und band mein Haar mit einem leuchtend gelben, dicken Gummiband zum Pferdeschwanz. Meine Laune hob sich um einiges, als ich nun in den Spiegel sah, aber dann verwandelte sich mein zufriedenes Lächeln in ein Stirnrunzeln, denn ich meinte, draußen einen Pick-up vorfahren zu hören.

Ich schoß aus dem Schlafzimmer, als hätte eine Kanone mich abgefeuert, wobei ich aus ganzem Herzen hoffte, Sam habe sich bereits umgekleidet und hielte sich nun versteckt. Mein Chef hatte sogar noch mehr getan: Er hatte sich in einen Hund zurückverwandelt. Jasons Kleidungsstücke lagen auf dem Fußboden verteilt, und ich hob sie rasch auf, um sie in den Flurschrank zu stopfen.

„Guter Hund!“ lobte ich begeistert und kraulte den Collie hinter den Ohren. Der reagierte, indem er seine kalte schwarze Nase unter meinen Rock schob. „Das kannst du sein lassen“, tadelte ich und warf einen Blick aus dem Fenster, das nach vorn hinausging. „Andy Bellefleur kommt“, teilte ich dem Hund mit.

Draußen kletterte Andy aus seinem Dodge Ram, reckte sich lange und ausführlich und kam dann mit großen Schritten auf meine Vordertür zu. Ich öffnete, Dean an meiner Seite.

Ich sah Andy fragend an. „So, wie du aussiehst, warst du die ganze Nacht auf, Andy“, begrüßte ich ihn. „Darf ich dir einen Kaffee kochen?“

Der Hund neben mir trat unruhig von einer Pfote auf die andere.

„Das wäre toll“, sagte Andy. „Darf ich hereinkommen?“

„Klar“, sagte ich und trat beiseite. Dean knurrte.

„Einen guten Wachhund hast du da. Komm ruhig, Junge.“ Andy hockte sich hin, um dem Hund, den ich noch nicht einmal im Geist Sam nennen konnte, die Hand hinzustrecken. Dean beschnüffelte Andys Hand, mochte sie aber nicht lecken. Statt dessen achtete er genau darauf, sich immer zwischen Andy und mir aufzuhalten.

„Komm mit nach hinten in die Küche“, sagte ich, und Andy richtete sich wieder auf, um mir zu folgen. Im Handumdrehen hatte ich Kaffee gekocht und ein paar Scheiben Brot in den Toaster gesteckt. Zwar vergingen noch ein paar Minuten damit, Sahne, Zucker und Löffel zusammenzusuchen, aber dann führte kein Weg mehr daran vorbei: Ich mußte mich der Frage stellen, was Andy Bellefleur in meinem Haus wollte. Andys Gesicht war eingefallen, und der Mann sah zehn Jahre älter aus, als er meines Wissens nach war. Ein Höflichkeitsbesuch war das hier gewiß nicht.

„Wo warst du letzte Nacht? Du hast nicht gearbeitet?“

„Nein, habe ich nicht. Ich war hier - bis auf eine kurze Fahrt zum Merlottes.“

„War Bill letzte Nacht irgendwann einmal hier?“

„Nein, Bill ist in New Orleans. Er wohnt in diesem neuen Hotel nur für Vampire im French Quarter.“

„Bist du sicher, daß er sich auch wirklich dort aufhält?“

„Ja.“ Ich spürte, wie sich meine Züge anspannten. Jetzt kam die schlimme Nachricht.

„Ich war die ganze Nacht wach“, setzte Andy an. „Ja.“

„Ich komme gerade von einem weiteren Tatort.“

„Ja.“ Ich lugte in Andys Kopf. „Amy?“ Ich starrte dem Kriminalbeamten direkt in die Augen, um ganz sicher zu gehen. „Amy, die in der Good Times Bar arbeitete?“ Der Name auf der Bewerbungsmappe ganz oben auf dem Stapel, den ich Sam noch genannt hatte? Ich sah den Hund neben mir an. Der lag auf dem Boden, die Schnauze zwischen den Pfoten, und sah genauso traurig und wie vor den Kopf geschlagen aus, wie ich mich fühlte. Er winselte jämmerlich.

Andys braune Augen bohrten ein Loch in mein Gesicht. „Woher weißt du das?“

„Laß den Scheiß, du weißt, daß ich Gedanken lesen kann. Wie schrecklich! Die arme Amy. War es wie bei den anderen?“

„Ja“, erwiderte Andy, „wie bei den anderen. Nur die Bißspuren waren frischer.“

Ich dachte an die Nacht, in der Bill und ich auf Erics Ruf hin nach Shreveport hatten fahren müssen. Hatte Amy in dieser Nacht Bill Blut gegeben? Mir gelang es noch nicht einmal nachzurechnen, wie viele Nächte das nun her war. Die fremdartigen und schrecklichen Ereignisse der letzten Wochen schienen mein Zeitgefühl völlig durcheinandergebracht zu haben.

Hilflos sank ich auf einen der hölzernen Küchenstühle und schüttelte ein paar Minuten schweigend und geistesabwesend den Kopf, völlig perplex über die Wendung, die mein Leben genommen hatte.

In Amy Burleys Leben würde es keine Wendungen und Überraschungen mehr geben. Ich schüttelte die merkwürdige Lethargie ab, die mich überkommen hatte, stand auf und schenkte den Kaffee ein.

„Bill war seit der Nacht vor der gestrigen nicht mehr hier.“

„Du warst die ganze Nacht über hier?“

„Ja. Mein Hund kann es bestätigen.“ Mit diesen Worten lächelte ich auf meinen Hund hinunter, der winselte, als er sich nun von mir beachtet wußte. Er kam zu mir, legte mir seinen wolligen Kopf auf die Knie und ließ sich hinter den Ohren kraulen, während ich meinen Kaffee trank.

„Hast du etwas von deinem Bruder gehört?“ wollte Andy als nächstes wissen.

„Nein, aber gestern abend erhielt ich einen merkwürdigen Telefonanruf: Jemand behauptete, Jason sei im Merlottes.“ Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, als mir auch schon klar wurde, daß der Anruf nur von Sam gekommen sein konnte. Er hatte mich in das Lokal gelockt, um sicherzustellen, daß er mich würde nach Hause begleiten können. Dean gähnte, ein riesiges Gähnen, bei dem sein Kiefer leicht knackte und bei dem man jeden einzelnen seiner scharfen, weißen Zähne sehen konnte.

Ich wünschte, ich hätte den Mund gehalten.

Aber nun mußte ich Andy die ganze Sache erklären. Der Detective hing halb wach auf meinem Küchenstuhl, sein kariertes Hemd zerknittert und mit Kaffeeflecken verunziert, seine Jeans durch das lange Tragen völlig aus der Form. Er sehnte sich nach seinem Bett, wie ein Pferd sich nach dem eigenen Stall sehnt.

„Du mußt dich ein wenig ausruhen“, sagte ich sanft. Irgend etwas war traurig an Andy Bellefleur, irgendwie wirkte der Mann erschüttert.

„Es sind die Morde“, erklärte er, und seine Stimme klang vor lauter Erschöpfung ganz zittrig. „Diese armen, armen Frauen - und sie waren sich in so vielen Dingen ähnlich.“

„Ungelernte Arbeitskräfte mit geringer Bildung, die in Kneipen arbeiteten? Die nichts dagegen hatten, es von Zeit zu Zeit mit einem Vampir zu treiben?“

Der Detective nickte, und die Augen fielen ihm zu.

„Mit anderen Worten: Frauen wie ich.“

Schlagartig riß Andy die Augen wieder auf. Er war erschüttert über seinen Fehler. „Sookie ...“

„Ich verstehe schon, Andy“, sagte ich. „In manchen Aspekten sind wir ja wirklich alle gleich, und wenn du davon ausgehst, daß der Angriff auf meine Großmutter eigentlich mir gegolten hat, dann muß ich wohl annehmen, daß ich die einzige Überlebende bin.“

Ich fragte mich, wer sonst noch übrig sein mochte, wen der Mörder noch umbringen konnte. War ich wirklich die einzige, die noch am Leben war und seinen Kriterien gerecht wurde? Das war der schreckenerregendste Gedanke, der mir an diesem Tag bislang in den Kopf gekommen war.

Inzwischen war Andy mehr oder weniger über seiner Kaffeetasse eingeschlafen.

„Warum legst du dich nicht im Gästezimmer hin?“ schlug ich ihm leise vor. „Du mußt wirklich ein wenig schlafen. Ich glaube nicht, daß du in diesem Zustand noch Auto fahren solltest.“

„Das ist sehr nett von dir“, sagte Andy mit schleppender Stimme, wobei er sich noch dazu ein wenig überrascht anhörte, als gehöre Nettigkeit nicht zu den Dingen, die er von mir erwartete. „Aber ich muß nach Hause, ich muß meinen Wecker stellen können. Ich darf allerhöchstens drei Stunden schlafen.“

„Ich verspreche dir, dich zu wecken“, versicherte ich. Dabei wollte ich Andy eigentlich gar nicht in meinem Haus schlafen lassen, ich wollte nur nicht, daß er auf dem Heimweg einen Autounfall baute. Das würde die alte Mrs. Bellefleur mir nie verzeihen und Portia höchstwahrscheinlich auch nicht. „Du legst dich jetzt schön hier in diesem Zimmer ins Bett“, sagte ich und führte ihn zu meinem früheren Schlafzimmer, in dem mein altes Einzelbett frisch bezogen und ordentlich gemacht stand. „Leg dich einfach oben auf die Bettdecke, und ich stelle inzwischen den Wecker.“ Genau das tat ich, während Andy mir dabei zusah. „Jetzt versuchst du ein wenig zu schlafen. Ich muß etwas erledigen, aber dann komme ich gleich wieder.“ Mittlerweile protestierte Andy nicht mehr, sondern ließ sich einfach schwer auf das Bett fallen, während ich den Raum verließ und die Tür hinter mir zuzog.

Der Hund war mir gefolgt, während ich Andy zu Bett brachte, und nun sagte ich zu ihm, in einem ganz anderen Ton als dem, in dem ich vorher mit dem Detective gesprochen hatte: „Du ziehst dich jetzt auf der Stelle an!“

Andy steckte den Kopf aus der Schlafzimmertür. „Sookie, mit wem redest du da?“

„Mit dem Hund,“ sagte ich. „Er bringt mir jeden Morgen sein Halsband, und ich lege es ihm dann an.“

„Warum nimmst du es überhaupt ab?“

„Das Metall daran klingelt. Davon werde ich in der Nacht wach. Geh zu Bett!“

„Schön.“ Andy wirkte ganz so, als hätte ihn meine Erklärung zufriedengestellt und schloß seine Tür wieder.

Ich kramte Jasons Kleider aus dem Wandschrank im Flur, legte sie vor den Hund auf das Sofa und drehte mich so, daß ich dem Tier den Rücken zukehrte. Aber dann mußte ich feststellen, daß ich alles im Spiegel über dem Kaminsims mit ansehen konnte.

Die Luft, die den Collie umgab, wurde neblig und schien zuerst vor Energie zu summen und zu vibrieren. Dann veränderte sich die Gestalt im Mittelpunkt dieser elektrischen Konzentration, und als der Dunst sich letztlich auflöste, tauchte Sam auf, der splitterfasernackt auf dem Boden kniete. Ach du meine Güte: was für ein knackiger Po! Ich mußte mich wirklich zwingen, da nicht hinzusehen, sondern mir standhaft zu versichern, daß ich Bill gar nicht untreu geworden war, auch nicht in Gedanken. Bill, so versicherte ich mir streng, hatte einen ebenso schönen und knackigen Po!

„Ich bin fertig“, verkündete Sam dann, und zwar so dicht hinter mir, daß ich vor Schreck einen kleinen Satz machte. Rasch stand ich auf und drehte mich um, wonach sich mein Gesicht ganze zehn Zentimeter von dem seinen entfernt befand.

„Sookie“, murmelte er hoffnungsvoll, und seine Hand landete auf meiner Schulter, um diese zu streicheln und zu liebkosen.

Ich war sehr wütend, denn eine Hälfte von mir hätte nur zu gern auf diese Liebkosung reagiert.

„Hör mal, Kumpel, du hättest dich mir in den letzten paar Jahren jederzeit anvertrauen können. Wir kennen einander immerhin - wie lange, vier Jahre? Oder sogar noch mehr! Und dennoch hast du gewartet, bis Bill Interesse an mir zeigte, obwohl wir uns fast jeden Tag gesehen haben, und hast dann erst ...“ Unfähig, den Satz zu beenden, warf ich verzweifelt beide Hände in die Luft.

Sam zog sich zurück, und das war auch gut so.

„Ich habe nicht gesehen, was direkt vor meiner Nase war, bis die Gefahr bestand, daß es mir jemand wegnahm“, sagte er, und seine Stimme klang ganz leise.

Dazu hatte ich nichts zu sagen. „Es wird Zeit, daß du heimgehst“, teilte ich ihm mit. „Wir sollten dafür sorgen, daß du da hinkommst, ohne daß dich jemand sieht. Das meine ich ernst, Sam.“

Diese ganze Sache war riskant genug, auch ohne daß irgendeine Person mit nichts als Flausen im Kopf - z. B. Rene - Sam in den frühen Morgenstunden in meinem Auto sah, daraus falsche Schlüsse zog und diese dann an Bill weitergab.

Also machten wir uns auf den Weg, Sam kauerte auf dem Rücksitz. Ich bog vorsichtig auf den Angestelltenparkplatz hinter dem Merlottes ein. Da stand ein Pick-up. Schwarz, mit rosa und hellblauen Flammen an beiden Seiten. Jasons Pick-up.

„Oha!“ sagte ich.

„Was ist?“ Sams Stimme klang ein wenig gedämpft; das lag an der Haltung, die einzunehmen ich ihn gezwungen hatte.

„Ich gehe erst mal nachsehen“, sagte ich und fing an, mich zu sorgen. Warum sollte Jason hier parken, auf dem Angestelltenparkplatz? Mir schien außerdem, als befände sich irgendeine Gestalt dort in seinem Wagen.

Ich öffnete meine Wagentür, wobei ich davon ausging, daß das Geräusch die Person im Pick-up auf mich aufmerksam machen würde. Ich wartete, ob sich in Jasons Wagen irgend etwas bewegte. Als das nicht der Fall war, ging ich los. Ganz vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen und schlich langsam über den Kies auf Jasons Wagen zu, verängstigter, als ich es bei Tageslicht je zuvor gewesen war.

 Als ich dicht genug beim Wagenfenster stand, konnte ich erkennen, daß es sich bei der Gestalt im Wageninnern um Jason handelte, der hinter dem Steuer zusammengesunken war. Weiterhin konnte ich sehen, daß Jasons Hemd voller Flecken war, daß sein Kinn auf seiner Brust ruhte und seine Hände schlaff zu beiden Seiten seines Körpers neben ihm auf dem Sitz lagen und daß es sich bei dem Strich, den ich auf seinem hübschen Gesicht wahrgenommen hatte, um einen langen roten Kratzer handelte. Auf der Ablage des Pick-up lag ein Video.

Unbeschriftet.

„Sam!“ sagte ich, und die Angst in meiner Stimme war mir zuwider. „Komm bitte her.“

Schneller, als ich es je für möglich gehalten hätte, stand Sam neben mir, und dann langte er an mir vorbei, um die Tür des Pick-up zu öffnen. Da dieser offensichtlich schon seit ein paar Stunden dort gestanden hatte - auf seiner Kühlerhaube hatte sich Tau gesammelt -, und zwar mit geschlossenen Fenstern in der Frühsommersonne, war der Geruch, der nun herausdrang, ziemlich streng. Er setzte sich aus mindestens drei Bestandteilen zusammen: Blut, Sex und Alkohol.

„Ruf den Notarzt!“ bat ich drängend, als Sam in den Wagen griff, um Jasons Puls zu fühlen. Mein Chef warf mir einen zweifelnden Blick zu. „Bist du sicher, daß du das tun willst?“ fragte er.

„Natürlich! Er ist bewußtlos!“

„Warte, Sookie, denk darüber nach!“

Wahrscheinlich hätte ich es mir schon eine Minute später anderes überlegt, aber genau in diesem Moment bog Arlene in ihrem uralten blauen Ford auf den Parkplatz ein, und Sam seufzte und ging in seinen Wohnwagen, um zu telefonieren.

Ich war so naiv! Das hatte ich nun davon, daß ich fast jeden Tag meines ganzen Lebens eine gesetzestreue Bürgerin gewesen war.

Ich fuhr mit Jason im Krankenwagen zu unserem winzigen örtlichen Krankenhaus, wobei ich gar nicht mitbekam, daß die Polizei sich Jasons Pick-up ganz genau ansah, wobei ich den Streifenwagen nicht sah, der dem Krankenwagen folgte, wobei ich völlig vertrauensvoll tat, wie mir geheißen wurde, als der behandelnde Arzt in der Notaufnahme mich nach Hause schickte und sagte, er würde mich anrufen, sobald Jason das Bewußtsein wiedererlangte. Der Doktor erklärte mir, während er mich dabei neugierig betrachtete, Jason stünde offenbar unter Einfluß von Alkohol oder Drogen und schlafe von daher so tief. Aber Jason hatte noch nie zuvor zuviel Alkohol getrunken, und er nahm keine Drogen: Der Abstieg unserer Kusine Hadley hin zu einem Leben auf der Straße hatte auf uns beide einen nachhaltigen Eindruck gemacht. Ich teilte dem Arzt all diese Dinge mit, und er hörte mir zu und scheuchte mich dann fort.

Ich wußte nicht, was ich denken sollte. Also fuhr ich nach Hause, wo ich feststellen mußte, daß Andy Bellefleur von seinem Mobiltelefon geweckt worden war. Er hatte mir einen Zettel hinterlassen, auf dem er mir dies mitteilte, mehr aber auch nicht. Später fand ich heraus, daß er wirklich und wahrhaftig im Krankenhaus gewesen war, als auch ich mich noch dort aufhielt, und daß er aus Rücksicht auf mich gewartet hatte, bis ich gegangen war, ehe er Jason mit Handschellen an sein Bett fesselte.