Kapitel sechsundvierzig
Vera erwischte Dan Greenwood in Wendys Cottage auf der Landspitze. Sie fand, dass sie noch etwas Erfreuliches verdient hatte, bevor sie nach Hause fuhr. Es war der nächste Morgen. Sie hatte sich gar nicht erst schlafen gelegt. Die Nacht war zu einem einzigen Albtraum verschwommen. Sie erinnerte sich noch daran, wie Robert in Springhead House neben der Küchentür stand, als sie seine Frau in die eiskalte Nacht hinausführten. «Eines Tages, Mary, werde ich dir hoffentlich vergeben können.» Was sollte das denn bloß? Eine grandiose theatralische Geste, die doch nur sagte: Scheiß drauf. Sie hätte ihn zu gerne auch vor Gericht gebracht, aber Ashworth überzeugte sie davon, dass sie keine Handhabe dafür hatten. Winter hatte keinen Sexualverkehr mit Zoe Sullivan gehabt. In dem Punkt war sich die Mutter ganz sicher gewesen. Und wahrscheinlich auch nicht mit Abigail. Es blieben zwei Morde, begangen wegen nichts weiter als den Phantasien eines Mannes im mittleren Alter, der seine Würde verloren hatte. Ein Mann im mittleren Alter, der seine Würde verloren hatte, und eine Frau im mittleren Alter, die ihren Verstand verloren hatte. Er würde am Sonntag wieder in der Kirche stehen, und die alten Damen würden sich zweifellos um ihn scharen und ihm selbstgekochte Suppe und ihr Mitgefühl zu Füßen legen.
Wendy machte die Tür auf. Sie war noch im Bademantel.
«Ich würde gern mit Greenwood sprechen», sagte Vera.
Wendy zögerte.
«Erzählen Sie mir bloß keinen Quatsch. Ich weiß, dass er hier ist. Emma Bennett hat euch gestern Abend zusammen in der Töpferei gesehen.»
«Die arme Emma», sagte Wendy. «Ich glaube, sie war ein bisschen in ihn verschossen.»
«Erzählen Sie das bloß nicht dem guten Danny. Sie wollen doch nicht, dass er sich was darauf einbildet. Er steckt übrigens nicht in Schwierigkeiten. Ich bin nur hier, um auf Wiedersehen zu sagen.» Sie hob die Stimme. «Komm schon runter, Dan. Mit oder ohne Klamotten.»
Sie ging hinter Wendy ins Cottage. Dabei fragte sie sich, ob Wendy wohl Unterwäsche unter dem Bademantel trug. Einen schwarzen Slip mit einem Herz aus Pailletten. Von allen Orten in Elvet war dies das Haus, in dem Vera sich am wohlsten fühlte. Ihr gefiel das Durcheinander, der Blick übers Wasser. Danny kam die Treppe herunter und zog sich eben einen Pullover über den Kopf. «Wie lange geht das schon mit euch beiden?», fragte sie.
«Keine Ahnung. Ein paar Monate.» Wendy lächelte, sie konnte nichts dagegen tun. Sie setzte sich auf die Lehne des Stuhls, auf dem Dan Platz genommen hatte.
«Warum habt ihr es geheim gehalten?»
«Würden Sie das nicht tun? An einem Ort wie diesem?»
«Aye, wahrscheinlich schon.» Sie stand vor dem Fenster und blickte hinaus. «Es ist vorüber», sagte sie. «Sie haben jemanden verhaftet.»
«Wen?», fragte Danny.
«Mary Winter, die Mutter von dem Mädchen, das die Leiche gefunden hat.»
«Großer Gott!» Einen Augenblick lang saß er ganz still da und versuchte das zu begreifen. «Warum hat sie die beiden umgebracht?»
«Weiß der Himmel», sagte Vera. «Sie sagt, sie hätte nur das Beste für alle gewollt, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich ihr glaube. Vielleicht einfach nur aus Eifersucht, weil die Kleine jung und niedlich und ihr Mann in sie vernarrt war. Darüber sollen sich die Anwälte streiten. Aber am Urteil wird das nichts ändern. Es ist vorüber.»
«Zu spät für Jeanie Long.»
«Aber nicht zu spät für dich. Es wird Zeit, dass du das alles hinter dir lässt.» Ein Tanker schob sich langsam den Fluss hinauf. «Ich habe das Dossier in deinem Schreibtisch gefunden.»
«Ich hatte mich schon gefragt, ob du es gesehen hast.»
«Eine Zeitlang habe ich überlegt, ob du sie wohl umgebracht hast.»
«Nein», sagte er. «Das war eine ganz andere Besessenheit. Ich dachte, eines Tages würde ich in der Lage sein, alles richtigzustellen. Den wahren Mörder zu finden. Nicht, dass ich dafür irgendwas unternommen hätte. Ich habe die Berichte nur ab und zu hervorgeholt, um Salz in die Wunden zu streuen.»
«Was wirst du jetzt damit machen?»
«Es verbrennen.»
«Viel Glück», sagte Vera, «für alles.»
«Danke.»
«Nun denn. Ich verschwinde.»
«Heimwärts?»
«Ja», sagte sie. «Zurück über den Tyne. In die Zivilisation.» Sie grinste breit. «Nichts für ungut.»
Sie fuhr durchs Dorf, um Ashworth vom Hotel abzuholen. Beim Captain’s House musste sie bremsen, um ein paar Kinder über die Straße zu lassen, und sie sah, dass Emma Bennett zu James nach Hause zurückgekehrt war. Sie saß hinter dem Schlafzimmerfenster und blickte über den Platz, offenkundig in Gedanken versunken. Wie die Heldin aus einem viktorianischen Melodram, dachte Vera.
Es wurde Zeit, dass sie endlich aufwachte.