Kapitel zwanzig

Die Ekzeme an ihren Beinen lenkten Vera Stanhope ab. Es fühlte sich an, als hätten ihre Glieder ein Eigenleben, als durchdrängen kleine maulwurfartige Tiere die Haut und lebten von ihrem Fett und Blut. Ihr war, als könnte sie das Schnaufen und Wühlen spüren. Es war immer das Gleiche, wenn sie Hosen trug. Sie sehnte sich danach, Luft an die Haut zu lassen, aber jetzt konnte sie da nicht allzu viel tun. Es schickte sich kaum, wenn eine Kommissarin, die die Ermittlungen leitete, mitten im Getümmel an einem Verbrechensschauplatz die Hosen herunterließ. Was würden die Gerichtsmedizinerin, die Leute von der Spurensicherung in ihren weißen Schutzanzügen und die örtlichen Polizisten von so etwas halten? Wenn sie denn überhaupt die Ermittlungen leitete, was noch bestätigt werden musste.

Ihr Arzt hatte gesagt, Stress wirke sich verschlechternd auf ihre Haut aus, aber was sie jetzt empfand, war kein Stress. Es war Hochstimmung und Schuld. Polizisten, die abstritten, dass ein Mord sie erregte, glaubte sie nicht. Wer wurde nicht unweigerlich angezogen von dem Drama, den Kostümen und der Show? Warum sonst waren sie in den Dienst eingetreten? Für die Angehörigen war es natürlich etwas anderes, und genau da kam die Schuld ins Spiel. Sie trug eine Verantwortung. Sie war die Sache langsam angegangen, hatte überall herumgestöbert, wie die imaginären Geschöpfe unter ihrer Haut, hatte sich bedächtig durch die komplexe Situation getastet, Feindseligkeiten und Lügen erspürt. Es bereitete ihr Kopfzerbrechen, ob der zweite Todesfall sich vielleicht nicht ereignet hätte, wenn sie einen gängigeren Ermittlungsansatz gewählt hätte.

Ach, Herzchen, du würdest doch immer noch im Dunkeln tappen. Wenn du sie alle aufs Revier bestellt hättest und ihre alten Aussagen Wort für Wort mit ihnen durchgegangen wärst, wärst du kein Stück schlauer als bei deiner Ankunft. Auf deine Weise verstehst du die Leute wenigstens. Du hast ein Gefühl dafür bekommen, was los war.

An Selbstvertrauen hatte es ihr nie gemangelt, und für gewöhnlich sah sie keinen Grund zur Reue.

Man hatte Scheinwerfer aufgestellt und ein Zelt über den Graben gespannt. Das Rumpeln eines Generators war zu hören, Allradfahrzeuge, die am Ende der schmalen Zufahrt zurücksetzten, und ernste Gespräche. Sie fand, dass sie hier jetzt nichts erreichen konnte. Bisher hatte sie mit einem örtlichen Detective Inspector namens Paul Holness zusammengearbeitet. Er war mittleren Alters, heiter und unverblümt, und erst nach dem Mord an Abigail aus Lancashire zur hiesigen Einheit gekommen. Ehrgeizig auf dem Papier, war er im wirklichen Leben träge und stellte wohl kaum eine Bedrohung für sie dar. Völlig ausgeschlossen, dass er die Ermittlungen leiten wollte. Zu viel Verantwortung. Zu viel Dreck, in dem man wühlen musste. Er stand gerade im Torbogen zur Alten Kapelle und sprach mit der Gerichtsmedizinerin. Sie machte sich zu den beiden auf.

«Definitiv Mord», sagte Holness. «Wenn er auf dem Rücken liegt, kann man es nicht sehen, aber ihm wurde der Schädel eingeschlagen.»

«Irgendeine Spur von der Mordwaffe?»

«Noch nicht, aber sie konnten auch noch nicht richtig suchen. Wir leiten das in die Wege.» Er stampfte mit den Füßen auf den Boden und schlang sich die Arme um die Brust. Obwohl er Handschuhe aus Schafswolle trug, schien er zu frieren. Wie verweichlicht die Leute hier in Yorkshire sind, dachte Vera. «Was hat die Mutter überhaupt hier draußen gemacht?», fragte er. «Hat jemand was dazu gesagt?»

«Ihrem Mann zufolge war ihr kalt, und sie wollte sich eine Jacke aus dem Auto holen.» Aus Mary hatte sie nichts Brauchbares herausbekommen. «Schon eine Ahnung vom Todeszeitpunkt? Ich meine, könnte er schon stundenlang hier gelegen haben, und es hat ihn nur keiner gesehen auf dem Weg zur Kapelle?»

Holness schüttelte den Kopf. «Sie kennen die Gerichtsmediziner. Legen sich nicht gern fest. Aber die Kollegin sagt, dass das sehr unwahrscheinlich ist. Sie glaubt, dass er noch keine Stunde tot war, als Mrs Winter ihn gefunden hat.»

«Können Sie hier übernehmen?», fragte Vera. «Ich würde gern mit den Zeugen reden, bevor sie Zeit haben, ihre Aussagen auszuschmücken. Sie wissen ja, wie das ist. Alle wollen eine schlüssige Geschichte und füllen die Lücken einfach auf, ohne zu merken, was sie da anrichten.» Mit einer gewissen Genugtuung sah sie, dass sie ihn abgehängt hatte. «Ich bin in Springhead House, wenn mich jemand braucht.» Keine schlechte Methode, dem Ganzen ihren Stempel aufzudrücken, dachte sie. Einfach sicherstellen, dass jeder mitbekam, dass sie diesen Todesfall als Teil des Mantel-Falls betrachtete. Dass sie noch dafür zuständig war.

Sie hatte sich darum gekümmert, dass jemand die Winters nach Hause fuhr. Die Frau wollte nicht aufhören zu schluchzen, und das machte sie alle mürbe. Robert hatte seinen eigenen Wagen nehmen wollen.

«Hier hat ein Verbrechen stattgefunden», sagte sie. «Es könnte eine Spur dran sein, wissen Sie, jemand, der Ihr Auto angefahren hat. Das müssen wir erst nachprüfen.»

Das akzeptierte er und ging am Ende ganz ruhig davon.

Der Himmel war immer noch klar, doch über den Gräben und Senken auf den Äckern hatten sich Nebelfelder gebildet. Der Weg zu Springhead House war voller Schlaglöcher, und ihre Reifen knirschten durch die gefrorenen Pfützen. Die Menschen im Haus mussten den Wagen gehört haben, aber sie rührten sich nicht. Eine Polizistin in Uniform machte ihr die Tür auf und brachte sie in die Küche, wo alle um eine große braune Teekanne auf einem Tablett herumsaßen und schwiegen. Robert Winter saß am Kopfende des Tisches, seine Frau zusammengesunken neben ihm. James umklammerte mit beiden Händen einen Becher Tee. Emma hatte ein schlafendes Baby auf dem Schoß.

Vera deutete leicht mit dem Kinn auf das Baby. «Sie haben den Kleinen also geholt?»

Das war Emmas Hauptsorge gewesen, als Vera sie alle bat, sich von der Zufahrt zu entfernen und anderswo auf sie zu warten. Robert wollte mit ihnen nach Springhead House fahren. Mary sei hysterisch, sagte er, sie müsse jetzt nach Hause. Emma bestand darauf, erst zum Captain’s House zu fahren. Das überraschte Vera. Der Bruder dieser Frau war ermordet worden, und sie beharrte auf einem Umweg über Elvet, um ihr Kind zu holen? Aber Vera wusste nicht, wie es war, Mutter zu sein, und überhaupt drückten die Leute ihren Kummer ja ganz unterschiedlich aus.

Vera hatte nicht erwartet, dass Mary noch bei ihnen sitzen würde. Ihr Kummer war roh und für alle sichtbar gewesen, was besonders verstörend war, weil die Frau eigentlich so zurückhaltend wirkte. Später sagte Vera zu ihrem Sergeant, es sei gewesen, wie wenn die Pfarrersfrau auf die Bühne des Gemeindesaals steigt und einen Striptease hinlegt. Man fühlte sich sehr unwohl dabei. Sie hatte der Polizistin, die abgestellt worden war, um bei der Familie zu bleiben, aufgetragen, einen Arzt zu rufen, und erwartet, dass Christophers Mutter, mit Beruhigungsmitteln betäubt, im Bett liegen würde.

Sie saßen alle in dicken Pullovern da, obwohl in der Küche geheizt war. Die plötzliche Wärme ließ Veras Ekzeme wieder jucken. Sie widerstand dem Drang, sich in den Kniekehlen zu kratzen, und setzte sich zu den anderen an den Tisch.

«Tee, Ma’am? Er ist gerade frisch gemacht.»

Die Polizistin stand noch immer in der Küche herum. Vera winkte sie ungeduldig hinaus. Die anderen saßen um den Tisch, sahen Vera mit ausdruckslosen Gesichtern an, wie erstarrt, und warteten darauf, dass sie etwas sagte. Vera konnte es sich nicht verkneifen, den Augenblick auszukosten. Sie hatte schon immer gern Publikum gehabt.

«Wir glauben, dass Christopher ermordet wurde», sagte sie vorsichtig. Sie wusste, dass es ihnen schwerfallen würde, die Tatsachen zu begreifen. Sie tat ihnen einen Gefallen, wenn sie ehrlich zu ihnen war. «Er hat eine Wunde im Schädel.»

«Kann er nicht ausgerutscht sein?», fragte James. «Der Weg war ganz vereist.»

«Er könnte schon ausgerutscht und mit dem Kopf auf die Straße gefallen sein. Aber das erklärt nicht, wieso er in dem Graben gelegen hat. Dort war nichts zu sehen, was eine solche Wunde hätte verursachen können. Es tut mir leid.»

Mary holte tief Luft und ließ sie als Schluchzer wieder entweichen.

«Geht es Ihnen gut?», fragte Vera. «Wenn es Ihnen lieber ist, kann ich auch morgen mit Ihnen reden. Sollen wir einen Arzt holen?»

Die letzte Frage war an Robert gerichtet, aber bevor er antworten konnte, sagte Mary heftig: «Nein. Kein Arzt.»

«Es würde mir weiterhelfen, wenn ich wüsste, weshalb Christopher bei Mr Mantel am Haus war», setzte Vera an.

«Vielleicht hat er uns gesucht.» Vera hatte den Eindruck, dass es Emma widerstrebte, etwas zu sagen, aber womöglich sprach sie bloß leise, um das Baby nicht zu wecken.

«Aber natürlich. So muss es sein!» Mary sah fiebrig aus. Ihre Augen glänzten, und Röte überzog ihr Gesicht. «Er ist zu Mantel gekommen, um uns zu suchen. Im ganzen Dorf hingen Plakate für die Benefizveranstaltung. Ich habe es dir ja gesagt, Robert! Ich habe dir gesagt, ohne uns zu besuchen, würde er nicht zurück zur Universität fahren.»

«Christopher hat noch studiert?»

«Er hatte eine Forschungsstelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter in Aberdeen», sagte Robert. Er schwieg kurz. «Er war ein außergewöhnlich begabter Wissenschaftler. Zoologe.» Abbittend sah er zu Vera hinüber, als würde ihm bewusst, dass dies nicht der Moment für elterlichen Stolz war.

«Gab es einen bestimmten Grund für seinen Besuch? War er geplant?»

«Nein», sagte Emma. «Aber nur wenig von dem, was er tat, war tatsächlich geplant. Außer bei seiner Arbeit. Die hat ihn immer vollständig ausgefüllt.»

«Hatte er Mr und Mrs Winter seinen Besuch angekündigt?»

«Nein», sagte Robert. «Wir wussten nichts davon. Wir wussten nicht einmal, dass er in Elvet war, bis Emma mich gegen Mittag bei der Arbeit anrief.»

«Sie sind Bewährungshelfer, Mr Winter?»

«So ist es.»

«Sie haben Jeanie Long betreut?»

«Ich habe den Bericht über die häuslichen Umstände geschrieben, für den Bewährungsausschuss. Das war alles.»

Dazu sagte Vera nichts. Einen Augenblick lang herrschte Stille, die Emma füllte. «Ich habe Mum und Dad hier angerufen, als ich gemerkt hatte, dass Chris weg war, aber da waren sie beide schon unterwegs. Vor der Mittagszeit wollte ich sie damit nicht belästigen. Wissen Sie, ich habe ihn heute Morgen gar nicht mehr gesehen. Als ich aufstand, war er schon weg.»

«Ein Frühaufsteher also?»

«Für gewöhnlich nicht, nein. Das hat mich überrascht, und ich war wohl auch ein bisschen besorgt.»

«Besorgt? Wieso denn? Es kommt mir ungewöhnlich vor, sich Sorgen um einen erwachsenen Mann zu machen.» Sie schwieg kurz. «Welchen Eindruck hat er gestern Abend auf Sie gemacht?»

Emma und James sahen einander an. Vera argwöhnte eine unausgesprochene Bitte von Emma, die James ignorierte.

«Er hat sich komisch benommen», sagte James. «Er war betrunken, aber da steckte noch mehr dahinter. Wenn es um seine Arbeit ging, wirkte er ja immer schon hitzig, ganz schön selbstbezogen, aber gestern Abend schien ihn irgendein persönliches Problem zu beunruhigen. Ich habe mich gefragt, ob er vielleicht eine Art Zusammenbruch hat. Es klingt herzlos, aber ich war einfach zu müde, um mich darum zu kümmern, und ich hatte ja noch Bereitschaftsdienst. Schließlich habe ich ihn Em überlassen. Ich weiß nicht, ob sie irgendwas Sinnvolles aus ihm herausgekriegt hat.»

«Hast du denn etwas herausbekommen, Emma?», fragte Robert. Die ganze Zeit über hatte er vollkommen ruhig dagesessen und war dem Gespräch gefolgt. Vera wurde nicht schlau aus ihm. Sein Sohn war umgebracht worden, aber sie hatte nicht den Eindruck, dass er trauerte. Er war so schrecklich beherrscht. Vielleicht hatte das ja etwas mit seinem Glauben zu tun. Dan Greenwood hatte ihr erzählt, dass Winter der reformierten Kirche angehörte. Sie hatte immer gedacht, das wäre ein fideles Völkchen, wo alle mit den Händen in der Luft herumwedelten, doch bei dem Gottesdienst, den sie besucht hatte, war davon nichts zu sehen gewesen. Glaubte er, dass es falsch war, um einen Sohn zu trauern, der nun vor seinem Schöpfer stand? Saß er deshalb so da, unbeugsam und erstarrt, während nur seine Augen sich bewegten?

«Wir haben uns unterhalten», sagte Emma schließlich. «Er war betrunken, wie James schon gesagt hat. Er hat nicht viel Sinnvolles von sich gegeben.»

Vera nickte mitfühlend, doch plötzlich durchzuckte sie die Erregung, deretwegen sie ihren Beruf gewählt hatte, die Erregung, um die es in Wirklichkeit ging. Du lügst, Herzchen. Du weißt mehr, als du sagst. Aber warum? Was hat dein Bruder dir erzählt? Vielleicht hatte er ja etwas zu verbergen. Versuchst du, deine Mum und deinen Dad zu schützen? Oder ist hier etwas noch Unheilvolleres im Gang?

«Wie alt war Christopher, als Abigail Mantel ums Leben kam?», fragte sie.

«Vierzehn», sagte Emma. «Er war ein Jahr jünger als ich.»

«Kannte er sie?»

«Er hat sie mit mir zusammen gesehen. Und in der Schule.»

«Kommen wir noch einmal zu jenem Sonntag zurück, dem Tag, an dem Sie ihre Leiche gefunden haben. War Christopher an jenem Tag zu Hause?»

«Er ist mit uns zur Kirche gegangen», sagte Robert. «Dann haben wir alle zusammen gegessen. Als Emma ging, war er noch hier. Das war kein Wetter, um sich draußen herumzutreiben.»

«Das damalige Ermittlerteam hat doch sicher mit ihm gesprochen?»

«Das weiß ich nicht mehr.» Robert zog die Stirn kraus. «Sie waren an jenem Nachmittag natürlich hier und haben mit Emma gesprochen. Ich nehme an, dass sie Christopher auch befragt haben, aber ich weiß es nicht mehr.»

«Auf jeden Fall wird da was in den Unterlagen stehen», sagte Vera, obwohl sie davon nicht überzeugt war. In der Mantel-Akte klafften mehr Löcher als in einem Schleppnetz, das am Fish Quay von North Shields zum Trocknen aushing. Und der Geruch war auch in etwa derselbe. «Aber wenn er den ganzen Tag zu Hause war, kann er nichts gesehen haben, was eine Bedrohung für den Mörder dargestellt hätte. Verstehen Sie, was ich denke?»

«Ich habe zwar gesagt, dass er ein stiller Junge war, aber an Selbstvertrauen hat es ihm nicht gemangelt», sagte Robert ungeduldig. «Wenn er irgendwas Verdächtiges gesehen hätte, dann hätte er das damals auch gesagt.»

«Wissen Sie, ich bin mir nicht sicher, ob das so stimmen muss.» Vera saß da, die Unterarme flach auf den Tisch gelegt. «Die Polizei hat nicht lange gebraucht, um Jeanie festzunehmen. Er hätte keinen Grund gehabt, an diesem Urteil zu zweifeln. Nicht nur kleine Kinder halten uns Erwachsene für unfehlbar. Er hätte sich jeden Hinweis, der in eine andere Richtung deutete, aus dem Kopf geschlagen, oder nicht?»

«Bis heute», sagte James ruhig. «Bis klarwurde, dass es ein Justizirrtum war. Dann wäre es ihm wieder eingefallen. Hat er gestern Abend irgendwas in der Richtung gesagt, Em?»

Emma schüttelte den Kopf. «Er hat viel unzusammenhängendes Zeug geredet, aber nein, über den Mord an Abigail haben wir nicht gesprochen. Nicht ausdrücklich.»

«Davon ganz abgesehen», sagte Robert, «haben wir bereits festgestellt, dass Christopher damals den ganzen Tag hier war. Er kann gar nichts von Bedeutung gesehen oder gehört haben.» Vera fand, dass er klang wie ein gereizter Lehrer, der versuchte, einem dummen Schulkind das Offensichtliche einzuhämmern.

«Von seinem Zimmer aus kann man das Feld sehen, wo ich Abigail gefunden habe», sagte Emma langsam. Sie wandte sich Vera zu. «Er hat oben auf dem Dachboden geschlafen. Später an jenem Abend haben wir von seinem Fenster aus alles beobachtet. Die Scheinwerfer und die Leute von der Spurensicherung in ihren weißen Schutzanzügen. Genau wie heute Abend. Wir haben gesehen, wie sie Abigails Leiche weggetragen haben.» Sie schien ganz in ihre Erinnerungen versunken zu sein.

«Hat er viel Zeit in seinem Zimmer verbracht?»

«Stunden», sagte Robert, und er klang noch gereizter. «Ich habe es Ihnen doch schon erklärt. Er gehörte nicht zu den Jungen, die immer jemanden um sich herum brauchen.»

Vera hatte den Eindruck, dass Emma dazu etwas sagen wollte, es sich dann aber anders überlegte, deshalb stand sie abrupt auf, wobei die Stuhlbeine über den Fliesenboden ratschten.

«Das reicht für heute Abend», sagte sie. «Wir sprechen morgen weiter.» Sie fasste Emma am Arm. «Bevor ich gehe, könnten Sie mir noch zeigen, wo der Junge geschlafen hat?»

Emma reichte James das Baby und führte Vera nach oben. Als sie am zweiten Treppenabsatz waren, hörten sie den Kleinen schreien. Emma blieb kurz stehen, dann verebbte das Geschrei, und sie ging weiter.

Das Zimmer lag im zweiten Stock und sah noch weitgehend aus wie ein Jugendzimmer. Es war schmal und länglich, eine der beiden Längsseiten bildete die Außenwand. Darin waren zwei Fenster. Die gegenüberliegende Wand war mit Bücherregalen vollgestellt. Hauptsächlich Sachbücher, die so wirkten, als hätte man sie auf Wohltätigkeitsbasaren zusammengesucht. Es gab ein Bett mit einer gestreiften Steppdecke und einen weißlackierten Schrank. Von den Fensterbänken aufwärts breitete sich Eis wie feine Spitze auf der Scheibe aus, weiter oben war sie beschlagen. Die Fensterbänke waren niedrig und tief genug, um darauf zu sitzen. Emma lehnte sich dagegen und wischte mit der Hand ein Guckloch in das beschlagene Glas. An der anderen Fensterbank nahm Vera die gleiche Position ein.

«Hier haben wir gesessen», sagte Emma. «Wir beide. Jetzt kann man nicht viel sehen. Sie müssen bei Tageslicht wiederkommen.»

Vera starrte nach draußen. Das Mondlicht war fahl, und man konnte in der Landschaft nur wenig erkennen. «Wo lag die Leiche?»

«Von hier aus ungefähr beim dritten Feld.»

Man sah kein Haus, keine Straßenlaternen oder Autoscheinwerfer. Das Mantel-Haus wurde von einer Baumgruppe und einer kleinen Senke in der Landschaft verdeckt.

«Flach wie eine Flunder», sagte Vera. «Man könnte meilenweit sehen, nicht wahr? Jeden, der diesen Weg entlangkommt oder geht. Wissen Sie noch, ob Ihr Bruder vernommen wurde?» Sie kannte die Antwort, noch bevor Emma den Kopf geschüttelt hatte.