Der Wind weht immer noch, aber er kommt jetzt von Süden und ist weich und regenschwer. Emma sitzt im Captain’s House an ihrem Fenster und schaut nach draußen, über die Straße. Es ist später Nachmittag. In der Schmiede geht ein Licht an. Sie hat Dan Greenwood seit Tagen nicht gesehen und hungert danach, einen Blick auf ihn zu erhaschen. Aber während sie sich noch wünscht, dass er auftaucht, wird ihre Aufmerksamkeit von vier älteren Damen abgelenkt, die geschäftig aus der Kirche eilen. Alle tragen sie aus Filz oder falschem Pelz gemachte Hüte von der Form umgedrehter Champignons und kurze Wollmäntel, und es sieht aus, als würden sie aufeinander herumpicken, während sie sich unterhalten. Der Gottesdienst ist gerade vorbei. Die Abendandacht, die jeden Mittwoch stattfindet, oder ein Treffen der Mothers’ Union. Emma fragt sich, ob Mary wohl auch da gewesen ist, ob sie sich aufgerafft hat, der Welt entgegenzutreten. Sie hofft es. Sie kann den Gedanken nicht ertragen, dass ihre Eltern in Springhead House gestrandet sind, inmitten der Feuchtigkeit und der Stille, und über den Verlust ihres Sohnes grübeln.
Emma dachte ein paar Augenblicke über diese Geschichte nach. Musste sie noch aufpoliert werden? Überarbeitet? Sahen die Frauen, die aus der Kirche kamen, wirklich so aus, als würden sie aufeinander herumpicken? War das der richtige Ausdruck? Und hungerte sie wirklich noch danach, Dan Greenwood zu sehen, obwohl sie jetzt wusste, dass er aus Verlegenheit so auf sie reagiert hatte, nicht aus Begehren? Und ob, dachte sie. Wenn überhaupt, dann wäre «gierig» das passende Wort, um ihre Gefühle zu beschreiben. Aber warum? All ihre Gewissheiten zerbröckelten und verschoben sich. Das alte Leben, das glückliche Familienleben, war auf Geheimnissen und Halbwahrheiten aufgebaut gewesen. Das Bild, das sie von ihren Eltern und von James hatte, war unscharf geworden, wie die Konturen einer schmelzenden Kerze. Seit Christophers Tod kamen ihr ihre Träume von Dan Greenwood wirklicher vor als irgendetwas sonst in ihrem Leben. Sie gaben ihr Trost. Gierig hielt sie daran fest. Sie wollte ihn mehr denn je.
Sie riss sich vom Fenster los und ging nach unten. James saß mit einem Buch auf dem Schoß im Wohnzimmer. Er hatte die Vorhänge noch nicht zugezogen. Als sie hereinkam, fing er wieder an zu lesen, aber sie wusste, dass er die Stelle, wo er aufgehört hatte, erst suchen musste. Er spielte Theater, ihr zuliebe. Eben noch hatte er ins Feuer gestarrt, meilenweit weg. Zum ersten Mal fragte sie sich, ob er wohl auch eine erträumte Affäre hatte. Oder sogar eine echte. Das war ihr noch nie in den Sinn gekommen. Doch jetzt gab es nichts mehr, was sie noch überrascht hätte.
Für gewöhnlich zog ihn das Lesen ganz in den Bann. Er mochte Bücher, die ihn weiterbrachten und informativ waren, auch wenn es sich um Romane handelte. Jetzt las er gerade einen Reisebericht, dessen Besprechung er in einer der Sonntagszeitungen gefunden und den er übers Netz bestellt hatte. Er sagte, seine erste Chance auf eine gute Ausbildung habe er weggeworfen und jetzt wolle er aufholen. Wenn er über die Bücher sprach, die er las, kam sie sich trotz ihres Abschlusses völlig unwissend vor. Doch seit kurzem, seit Christophers Tod, schien nichts mehr seine Aufmerksamkeit fesseln zu können. Sie fragte sich, ob es wohl Schuldgefühle waren, die ihn so zerfraßen. Er hatte Christopher nie besonders gern gehabt, möglicherweise hatte er ihm an jenem letzten Abend, als ihr Bruder ihnen so auf die Nerven gefallen war, sogar den Tod gewünscht. Vielleicht bereute er jetzt, dass er so feindselig gewesen war.
Sie setzte sich vor James auf den Fußboden, den Rücken gegen seine Beine gelehnt, die Arme um ihre Knie geschlungen, dem Feuer so nah, dass sie spürte, wie ihr Gesicht rot wurde. Sie brauchte den körperlichen Kontakt. James’ knochige Beine gegen ihren Rücken. Die Hitze auf ihrer Stirn. Das verankerte sie in der Gegenwart. Sonst würde sie noch in ihren Geschichten verloren gehen. Wie damals, als Abigail umgebracht wurde. Das gleiche ungläubige Gefühl.
Sie drehte sich zu ihm um. «Gibt es etwas, worüber du gern reden möchtest?»
«Zum Beispiel?», fragte er ruhig. Er gab es auf, so zu tun, als würde er lesen, und legte das Buch beiseite. Auf dem Umschlag war ein Kompass abgebildet, ein großer Schiffskompass in einem Messinggehäuse.
«Zum Beispiel über alles, was hier so geschehen ist. Christopher. Abigail. Ich kann einfach nicht glauben, dass es nochmal passiert ist.» Aber was sie sagte, blieb unzulänglich. Sie konnte ihm nicht erklären, dass sie das Vertrauen in den Alltag verloren hatte, in ihr Gedächtnis.
«Natürlich reden wir darüber, wenn du meinst, dass es hilft.» Sein Ton machte ihr klar, dass er nicht wusste, was das nützen sollte. Normalerweise wäre sie seiner Meinung gewesen. Als sie noch studiert hatte, waren ihr die Beziehungsanalysen, mit denen ihre Freunde sich beschäftigten, immer bizarr vorgekommen, ein absonderlicher Zeitvertreib. Auch nur Schnüffelei und Klatsch und Tratsch. James’ Zurückhaltung hatte sie anziehend gefunden. Nach Abigails Tod hatten zu viele Leute mit ihr über ihre Gefühle reden wollen.
«Nein», sagte sie rasch. «Das bringt Christopher nicht wieder zurück, nicht wahr?»
Sie brachten Matthew ins Bett und waren gerade mit dem Essen fertig, als es an der Tür klopfte. Das erinnerte Emma an den Abend, als Christopher aufgetaucht war, und sie schaute über den Tisch zu James, fragte sich, ob er auch daran dachte, doch er war schon aufgestanden, um an die Tür zu gehen.
Sie hörte eine gemurmelte Unterhaltung im Flur, dann kam James wieder herein, gefolgt von Vera Stanhope und ihrem Sergeant. «Inspector Stanhope möchte dir noch ein paar Fragen stellen», sagte er. «Ist das in Ordnung für dich?»
Sie hätte gedacht, dass James sich über die Störung ärgern würde, aber wie immer bei ihm konnte sie das nicht erkennen.
«Natürlich. Bitte setzen Sie sich doch.»
«Es geht um Christopher», sagte Vera. «Eigentlich ist es ja nicht mein Job, diese Fragen zu stellen. Sein Tod wird jetzt von einem hiesigen Team untersucht. Aber uns kennen Sie nun schon. Ich dachte, besser komme ich vorbei als ein Haufen fremder Leute.»
«Danke.» Obwohl Emma dachte, dass Fremde vielleicht weniger verstörend wären als diese Frau, die das kleine Esszimmer zu beherrschen schien und es sich dort schon gemütlich machte. Sie ließ sich auf einen der leeren Stühle plumpsen und zog ihre Strickjacke aus, als fände sie die Wärme unerträglich. Emma hatte das Gefühl, sich dafür entschuldigen zu müssen, und konnte sich gerade noch zurückhalten. Das hier war ihr Zuhause.
«Als Sie Christopher das letzte Mal sahen, hatte er da ein Handy dabei?»
«Ich kann mich nicht erinnern, dass er eins benutzt hätte», sagte Emma.
«An dem Tag, an dem er umgebracht wurde, hat man ihn frühmorgens auf dem Gemeindefriedhof gesehen. In der Nähe von Abigails Grab. Der Zeuge glaubt, er könnte ein Handy benutzt haben, aber wir haben bei seiner Leiche keins gefunden.»
«Wenn er ein Handy hatte, können Sie das doch sicher ausfindig machen», sagte James.
«Das sollte man meinen, aber so leicht ist das offenbar nicht. Vor allem nicht bei den Prepaid-Handys. Die Leute tauschen die Dinger, verkaufen sie. Es gibt keine Rechnungen, und es ist schwer, an Unterlagen zu kommen.» Plötzlich änderte Vera ihr Vorgehen und sah Emma fest an. «Waren Sie jemals an Abigails Grab?»
«Nein.» Wenn Emma länger darüber nachgedacht hätte, wäre sie vielleicht versucht gewesen zu lügen. Das blanke «Nein» klang so herzlos.
«Aber Sie wussten, wo sie begraben ist. Sind Sie zu ihrer Beerdigung gegangen?»
«Nein», sagte Emma wieder und fügte hinzu: «Meine Eltern meinten, das würde mich nur aus der Fassung bringen. Und obwohl Keith eine ruhige Trauerfeier gewünscht hatte, waren offenbar alle Zeitungen da. Ich bin froh, dass ich nicht hingegangen bin.»
«Was ist mit Christopher?»
«Er war bestimmt nicht da.»
«Nein? Sind Sie sicher? Haben Sie darüber gesprochen?»
«Das brauchten wir nicht. Er war ganz sicher nicht da.»
«Er könnte sich doch aus der Schule geschlichen haben. Könnte allein hingegangen sein.»
«Schon möglich. Aber irgendjemand hätte ihn gesehen und es meinen Eltern erzählt.»
«Natürlich.» Vera nickte heftig. «In einem Dorf wie Elvet kommt man mit so etwas nicht davon.» Sie schwieg. Fast hätte sie hinzugefügt: Aber mit zwei Morden. Irgendjemand ist damit davongekommen.«Christopher wird erfahren haben, wo Abigail beerdigt ist. Das weiß doch bestimmt jeder hier.»
«Ja.»
«Er muss früher schon mal auf dem Friedhof gewesen sein», sagte Vera. «Unser Zeuge sagt, dass er an dem Morgen schnurstracks zu ihrem Grab gegangen ist. Es wurde gerade erst hell, aber er wusste genau, wo das Grab liegt.»
«Ich habe keine Ahnung.» Emma spürte, wie sich um sie herum alles drehte. Die Fragen kamen zu schnell. Ihr war schwindelig, schwummerig, als würde sie wieder in einen Traum abgleiten. Es strengte sie an, sich zu konzentrieren. «Christopher war schon immer sehr verschlossen. Schon als kleiner Junge. Er ist oft stundenlang verschwunden, und niemand wusste, wo er war.»
«Gehen Sie manchmal den Weg zum Fluss runter?» Plötzlich hatte Vera das Tempo geändert. Es war, als würde sie bei einem Tee höflich mit ihnen plaudern. «Wenn das Wetter mitspielt, ist es bestimmt ein netter Spaziergang. Schön flach, um den Kinderwagen zu schieben. Ideal für einen Familienausflug.» Obwohl sie die Frage an Emma gerichtet hatte, warf Vera einen verstohlenen Blick auf James.
«Ich bin da schon mal langgegangen», sagte Emma, die dieser Blick verwirrte. Sie fragte sich, was er wohl zu bedeuten hatte. «Ab und zu.»
«Dann erstaunt es mich, dass Sie nie beim Grab waren. Nur so aus Neugier. Sie war Ihre beste Freundin.»
«Ich habe mein ganzes Leben lang versucht, Abigails Ermordung hinter mir zu lassen.»
Vera warf ihr einen raschen, abschätzenden Blick zu, ließ es aber dabei bewenden.
«Ich glaube, Christopher hat ein Handy benutzt, als er hier war», sagte James.
«Sie glauben? Was soll das heißen?»
«Nach dem Essen ist er nach oben ins Bad gegangen. Ich habe nach dem Kleinen gesehen und gehört, wie er etwas sagte.»
«Haben Sie gehört, was er sagte?»
«Ich horche nicht unbedingt an Türen.»
«Ach nein?» Vera klang aufrichtig überrascht. «Also, ich mache das ständig.»
«Ich nahm an», sagte James, nachdem er einen Augenblick missbilligend geschwiegen hatte, «dass er mit jemandem in Aberdeen spricht. Vielleicht mit einer Freundin. Um ihr zu sagen, dass er gut angekommen ist. Unser Festnetzanschluss ist in der Küche. Wenn er den benutzt hätte, hätten wir alles mitbekommen. Ich vermute, dass er ein bisschen Privatsphäre wollte.»
«Klang es denn nach einem Anruf bei einer Freundin?», fragte Vera.
«Wie ich schon sagte, ich habe nicht zugehört.»
«Aber seine Stimme, klang die zärtlich? Innig?»
«Nein», sagte James. «Sie klang eher sachlich.»
Vera zog ein Notizbuch aus ihrer Tasche und kritzelte schnell ein paar Bemerkungen aufs Papier. «Wir verstehen einfach nicht, wo er den Rest des Tages gewesen ist», sagte sie. «Er scheint sich in Luft aufgelöst zu haben. Am Friedhof war er so gegen acht Uhr früh, dann hat er, wie wir wissen, den Weg zum Fluss runter genommen.»
«Woher wissen Sie das?», fragte James. Emma fand, dass er zu laut sprach, zu dringlich. Was für eine Rolle konnte das für ihn spielen?
«Wir haben Fingerabdrücke in der Telefonzelle gefunden, die dort steht. Sie wissen schon, welche», sagte Vera. Wieder dachte Emma, dass sich das irgendwie falsch anhörte. Es war, als würden die Worte etwas anderes bedeuten, als würden die beiden sich in einer Geheimsprache verständigen, in die sie nicht eingeweiht war. «Wir haben die Abdrücke überprüft, und es sind Christophers», fuhr Vera fort. «Was ich also wissen will, ist, wohin er danach gegangen ist. Wir haben Leute aufgespürt, die an jenem Morgen mit ihren Hunden am Ufer Gassi gegangen sind. Keiner hat ihn gesehen. Den ganzen Tag über waren doch Leute im Dorf unterwegs. Man sollte glauben, dass er mal was essen wollte oder wenigstens einen Tee trinken. Aber er war in keinem Geschäft und auch nicht in der Bäckerei. Offenbar hat er sich ja ziemlich auffällig benommen. Selbst wenn die Angestellten in den Läden ihn nicht kannten, wäre er ihnen doch seltsam vorgekommen. Fällt Ihnen irgendjemand ein, der ihn hätte aufnehmen können? Bei dem er sich hätte verstecken können? Oder jemand, vor dem er sich hätte verstecken wollen?»
«Nein», sagte sie. «Ich habe das Gefühl, ich wusste genauso wenig über ihn wie über Abigail Mantel. Und jetzt werde ich keine Möglichkeit mehr haben, ihn besser kennenzulernen.»
«Es tut mir leid.» Vera stand unvermittelt auf und zog sich ihre Strickjacke an, während sie zur Tür ging. «Sie haben wahrlich schon genug, womit Sie fertigwerden müssen. Wenn Ihnen irgendetwas einfällt, das uns weiterhelfen könnte, dann rufen Sie uns einfach an.»
Ashworth, der Sergeant, folgte ihr. Er hatte seit seinem Eintreten kein Wort gesagt, aber an der Tür blieb er kurz stehen und sah Emma mit so viel Mitgefühl und Bedauern an, dass sie plötzlich den Tränen nahe war. «Passen Sie auf sich auf», sagte er. Es war, als wäre James gar nicht mehr da.
Auf einmal war sie wieder ein Kind. Sie war in dem Haus in York und saß auf der Treppe. Sie hatte schon im Bett gelegen, aber irgendetwas hatte sie geweckt, und sie war im Halbschlaf nach unten getappt. Es war Sommer und immer noch hell draußen, der Garten hinter der offenen Tür war angefüllt mit Sonnenschein und Vogelgezwitscher. Und den Stimmen ihrer Eltern. Sie sprachen über sie. Sie hörte ihren Namen, das machte sie richtig wach, und sie lief nach unten. Die beiden saßen auf einer Holzbank. Sie rannte hinaus. Die Terrasse war aus alten Steinplatten, rau unter ihren bloßen Füßen, aber noch warm. Ihre Mutter schloss sie in die Arme. Emma hatte erwartet, dass ihre Eltern sie in das Gespräch mit einbeziehen, es ihr erklären würden, denn schließlich hatte sie ja im Mittelpunkt der Unterhaltung gestanden.
«Worüber habt ihr geredet?», fragte sie.
«Über nichts, mein Liebling. Nichts Wichtiges.»
Und Emma war klargeworden, dass es nichts nützen würde, noch einmal zu fragen. Sie war unwiderruflich ausgeschlossen worden. Und jetzt, im Captain’s House, fühlte sie sich wieder genau wie damals.