In das kurze, durchdringende Schweigen hinein klingelte das Telefon. Keiner rührte sich, aber es klingelte weiter. Mary sprang auf, ging in den Flur und hob ab. Sie konnten deutlich hören, was sie sagte. «Sie ist hier, James. Sie wollte dich gerade anrufen. Ja, es geht ihr gut. Kannst du sie vielleicht abholen? Nicht gleich. Gib ihr noch eine halbe Stunde.»
Sie kam zurück in die Küche und setzte sich wortlos auf ihren Platz. Vera sah sie alle an, wartete darauf, dass jemand etwas sagte.
«Du hast gelogen», sagte Emma zu ihrem Vater. Sie schien sich wieder besser in der Gewalt zu haben. Ihre Stimme klang ebenso ruhig, wie seine geklungen hatte. «Du bist auch nicht besser als James.»
«Du warst noch sehr klein. Es war alles nicht einfach.»
«Ich erinnere mich an Zoe. Das sind schöne Erinnerungen – ein Grillfest im Garten. Wie sie mit mir Klavier übt. Sie war musikalisch, nicht wahr? Sie hat Flöte gespielt. Das ist eine meiner deutlichsten Erinnerungen an die Kindheit, wie ich im Garten in York sitze und ihr beim Üben zuhöre. Ich frage mich, was sie heute macht. Wisst ihr das?»
Sie sah ihre Eltern an, aber von denen kam nichts.
«Ich habe mich immer gewundert, warum sie dann nicht mehr auf uns aufgepasst hat. Chris hat sie mehr vermisst als ich. Sie hat seine Denkweise verstanden. Sie waren sich sehr nahe.»
«Und wie fanden Sie das, Mary?» Veras Stimme war ganz leise.
«Roberts Schwärmerei für Zoe? Es war eine schwere Zeit. Er hat mir die Schuld an ihrer Freundschaft gegeben. Wenn ich anders gewesen wäre, dann wäre das nie passiert, hat er gesagt. Wenn ich jünger gewesen wäre, attraktiver, aufmerksamer …»
«Das haben Sie doch nicht etwa geglaubt?»
«Ich wusste nicht, was ich glauben sollte. Als sie anfing, zu uns ins Haus zu kommen, habe ich die beiden zusammen beobachtet und gesehen, dass er mit ihr glücklicher war, als er es mit mir je sein konnte.»
Sie sah Robert an, aber der widersprach nicht.
«Dann, als er zum Glauben fand, war ich erleichtert. Ich dachte, jetzt würde alles anders. Er war depressiv. Manchmal hat er von Selbstmord gesprochen. Ich habe versucht, ihn dazu zu bringen, zu einem Arzt zu gehen, aber er wollte nicht. Ich habe mich verantwortlich gefühlt. Für ihn und für die arme Zoe. Ich dachte, ich könnte die Familie zusammenhalten und dafür sorgen, dass alles läuft. Aus Stolz, nehme ich an. Ich wollte nicht zugeben, dass wir einander nicht so nahestanden, wie es aussah.»
«Es war nicht deine Schuld», sagte Emma. «Nichts davon.»
Mary gab ihr keine Antwort. «Der Umzug nach Elvet sollte ein Neubeginn für uns alle sein. Ein wunderbarer Neuanfang. Und schließlich war ja noch kein echter Schaden angerichtet worden. Ich habe immer noch geglaubt, dass alles wieder so werden könnte wie früher. Aber da habe ich mich getäuscht. Wir hatten uns verändert. Was geschehen war, hatte sich auf uns alle ausgewirkt, selbst auf die Kinder, obwohl sie wirklich noch zu klein waren, um es zu verstehen. Und obwohl wir sie beschützt haben. Es war einfach unvermeidlich.»
«Hat sich denn etwas gebessert?», fragte Vera.
«Aber ja! Am Anfang schon. Robert liebte seine Arbeit. Er fühlte sich erfüllt und geschätzt. Unser Leben in der Kirche gab uns einen Halt. Langsam wurde ich ruhiger. Ich dachte, dass alles wieder gut werden würde.»
«Und was ist dann passiert?»
Mary schwieg, und Emma antwortete für sie. «Dann hat er sich in Abigail verknallt. In die roten Haare und die kurzen Röcke.» Wieder war ihre Stimme ganz ruhig, sachlich. «Ich weiß noch, wie er sie zum ersten Mal gesehen hat. Damals auf der Landspitze, als die Sonne schien und wir Eis gegessen haben. Dann im Jugendzentrum. Mir hat er gesagt, er wäre Abigail nie begegnet, aber das stimmt nicht. Ans Jugendzentrum hätte ich mich erinnern müssen. Das gehörte mit zu den ersten Dingen, die er unternahm, als er nach Elvet kam, er richtete dieses Zentrum ein. Er konnte sich nicht wirklich geändert haben, oder? Wenn er sich wirklich geändert hätte, dann wäre das doch das Letzte gewesen, was er gemacht hätte. Sich selbst in eine Lage zu bringen, in der er jungen Mädchen begegnete. Bis vor kurzem hatte ich das alles vergessen, ich hatte vergessen, dass Abigail überhaupt je da war. Sie kam nicht oft, aber ab und zu schon, spielte sich auf und ließ den Rest von uns erbärmlich aussehen. Aufgedonnert in ihren schicken Klamotten. Das erste Mal kam sie für einen Disco-Abend, nicht wahr? Ich hatte sie gefragt und war so aufgeregt, als sie sagte, sie würde kommen. Das war die letzte Veranstaltung vor den Sommerferien. Dad saß auf der Bühne und schaute den Tanzenden zu. Daran erinnere ich mich noch. Er konnte die Augen nicht von ihr abwenden. Ich war ja so blöd. Ich dachte, er würde sie so ansehen, weil sie so gut tanzte. Dann kam bei Keith irgendwas dazwischen, und er konnte sie nicht abholen, und Dad hat sie mitgenommen. Chris und ich sind mit Mum nach Springhead House zurückgefahren.» Jetzt erst sah sie ihren Vater an. «Hat es damals angefangen?»
«Mantel war nie ein richtiger Vater», sagte Robert. «Sie brauchte jemanden, mit dem sie reden konnte.»
«So wie Zoe?», fragte Vera. «Haben Sie Abigail auch von der Schule abgeholt? Sich mit ihr getroffen, wenn sie schwänzte?»
«Dazu habe ich sie nie ermutigt. Ich habe versucht, sie dazu zu bringen, wieder zurückzugehen. Ich war wie ein Betreuer vom Jugendamt zu ihr, das ist alles.»
«O mein Gott», sagte Emma. «Du hast mit ihr geschlafen.»
«Nein! Das wollte sie zwar. Die Gelegenheit war da. Ich gebe zu, ich war in Versuchung, aber wir hatten nie Sex miteinander.» Er sah Mary an. «Das musst du mir glauben.»
Vera hatte plötzlich ein Bild von Bill Clinton vor Augen. Ich hatte keine sexuelle Beziehung zu dieser Frau. Aber vielleicht sagte Robert ja mehr als die reine Wahrheit.
«Hat damals die Erpressung angefangen?», fragte sie. «Als Sie sich weigerten, mit ihr zu schlafen? Wir wissen, dass sie eine ziemlich verstörte junge Dame war.»
«Ja», sagte er. «Sie hat damit gedroht, dem ganzen Dorf zu erzählen, dass wir ein Liebespaar wären. ‹Wir könnten es im Jugendzentrum verkünden. Es ist eine Sünde zu lügen. Wir sollten auf der Bühne stehen, Hand in Hand, und es der ganzen Welt sagen.› Dann ist sie in Lachen ausgebrochen, als hätte sie was getrunken oder wäre wahnsinnig, ich wusste nie, ob sie es ernst meinte oder nicht. Ich habe versucht, mich von ihr fernzuhalten, aber ich konnte nicht aufhören, an sie zu denken. Ich habe geglaubt, ich wäre der einzige Mensch, der sie retten könnte.»
«Und dann hast du sie umgebracht», wisperte Emma. «Du hast sie erdrosselt und da draußen im Graben liegen lassen, damit ich sie finde.» Es entstand eine entsetzte Stille. «Hast du Christopher umgebracht, weil er das rausgekriegt hat?»
Alle starrten Robert an, warteten auf eine Antwort. Er sagte nichts, und Emma redete weiter.
«Ich glaube, ich wusste es schon immer, ich wusste es selbst damals schon. Nicht das mit Zoe, zumindest nicht die Einzelheiten, aber selbst damals wusste ich, dass etwas nicht stimmte. An diese wundersame Bekehrung habe ich nie geglaubt. Eines Abends, als ich nicht schlafen konnte, kam ich nach unten. Ihr wart im Garten und habt darüber gesprochen. Es duftete nach Jelängerjelieber. Ihr habt Pläne gemacht, wie wir aus York wegziehen würden. Ich muss etwas gehört haben …
Und Abigail hat bestimmt gewollt, dass ich es erfahre. Was für ein Heidenspaß das für sie gewesen sein muss. Die Art und Weise, wie sie über meinen Vater redete, diese boshaften Anspielungen und alles so geheimnistuerisch. Wie viele Andeutungen hat sie wohl gemacht? Und ich habe es nicht begriffen. Oder wollte es nicht begreifen. Am Ende hätte sie es mir natürlich doch noch erzählt. Das wäre das Größte für sie gewesen. Sie hätte so getan, als wäre es nur zu meinem Besten, als hätte ich ihrer Meinung nach ein Recht darauf, zu wissen, was für eine Art Mensch mein Vater ist. Und ich ahnte ja auch schon etwas. Ich konnte es mir nur nicht eingestehen. Ich wollte es nicht glauben.»
Vera hörte, wie Emma sich immer mehr ins Dramatische steigerte. Sie konnte es wirklich kaum noch erwarten, ihnen allen den Rücken zu kehren.
«Hast du sie umgebracht?», fragte Robert.
Emma sah ihn an, als wäre er verrückt geworden. «Ich? Natürlich nicht. Glaubst du wirklich, ich könnte so was tun?»
Darauf gab er keine Antwort.
«Verschwinde», sagte sie.
Robert stand auf, schien aber noch etwas sagen zu wollen. Sie wandte sich von ihm ab.
«Ich rufe jetzt James an», sagte er. «Um ihm auszurichten, dass er kommen soll.» Es war, als hätte er gar nichts gesagt. Er sah alle an, wartete auf eine Reaktion. Sogar Mary schien nicht mehr zu wissen, dass er da war. Er ging aus der Küche. Ashworth schlüpfte ihm hinterher.