Kapitel vierzehn

Als sie von der Landspitze zurückkamen, war es dunkel, und vor der Töpferei hing das Vorhängeschloss. Der Platz lag verlassen da, es hätte auch Mitternacht sein können. Im Haus fühlte Emma sich plötzlich sicher. Es war die gleiche Erleichterung, hereinzukommen, aus den Schuhen zu schlüpfen und sich einen Tee zu machen, wie in der Zeit, als sie noch gearbeitet hatte. Vielleicht ist es ja nur das, was mit mir nicht stimmt, dachte sie. Ich habe zu viel Zeit in diesem Haus verbracht. Ich weiß es nicht mehr zu schätzen. Vielleicht sollte ich so langsam wirklich wieder arbeiten gehen.

James war wach. Er hatte die Vorhänge im Wohnzimmer zugezogen und Holz im Kamin aufgeschichtet. Der Raum war dunkelrot gestrichen, und an den Wänden hingen große Bilder in vergoldeten Rahmen, von denen er sagte, er habe sie von verstorbenen Verwandten geerbt. Er mochte den Raum sehr. Als sie hereinkamen, saß er auf dem Ledersofa und las Zeitung, doch dann stand er auf und nahm ihr Matthew ab, hob ihn hoch in die Luft, über seinen Kopf.

«Das war aber ein langer Spaziergang», sagte er. Er klang nicht beunruhigt, und das nahm sie ihm übel. Da draußen lief ein Mörder frei herum, und James machte sich nicht einmal Sorgen. Stattdessen lehnte er am Fenstersims und strahlte sie an.

«Wir haben Wendy besucht.»

«Da hat sie sich bestimmt gefreut.»

«Sie glaubt, der Mörder von Abigail Mantel könnte immer noch hier in der Gegend wohnen.»

Er runzelte die Stirn. «Das ist wohl möglich. Bringt das alles wieder zurück? Wie ein Albtraum? Ich kann mir wahrscheinlich gar nicht vorstellen, wie es für dich ist!»

Sie war überrascht und bewegt, ging zu ihm hin und küsste ihn auf die Stirn.

«Ich lasse nicht zu, dass euch etwas geschieht», sagte er. «Keinem von euch beiden.»

«Ich weiß.»

«Soll ich was kochen? Du machst den Kleinen fertig fürs Bett und legst dann die Füße hoch?»

Genau so könnte es immer sein, dachte sie. Sie würde ihre Träume von Dan aufgeben, der aufbrausend und unberechenbar war und, wenn sie es recht bedachte, nicht einmal besonders nett. Sie würden glücklich miteinander sein, sie beide. Sie würde kleine Zugeständnisse machen, zum Beispiel bereitwillig mit ihm in die Kirche gehen, mehr Interesse an seiner Arbeit zeigen und an regelmäßigem, wenn auch einfallslosem Sex, und er würde für sie sorgen. Aus irgendeinem Grund wusste sie, dass sie ihm in der Hinsicht vertrauen konnte. Er wäre damit einverstanden, dass sie wieder unterrichtete, auch wenn ihm der Gedanke nicht besonders gefiel. Ihre Ehe würde ohne Streitigkeiten oder Störungen fortbestehen und wäre mindestens so glücklich wie die Ehen ihrer Freunde. War es das, was sie wollte? Und verdiente sie es überhaupt?

Als sie wieder nach unten kam, nachdem sie Matthew in den Schlaf gesungen hatte, war James in der Küche. Er stand vor der Arbeitsplatte und hackte Zwiebeln und Knoblauch, so konzentriert, dass er sie nicht kommen hörte. Er hatte sich Jeans und einen dünnen Wollpulli angezogen, den Pulli trug er auf der nackten Haut, und Emma ertappte sich dabei, wie sie eigenartig erregt daran dachte, dass die Wolle auf der Haut reiben musste. Sie blieb hinter ihm stehen und ließ ihre Hand unter den Pullover gleiten, wanderte mit den Fingern an seiner Wirbelsäule hinunter, bis in den Hosenbund seiner Jeans. Er drehte sich um, in der einen Hand noch immer das Messer, in der anderen die Knoblauchzwiebel, wehrlos. Er beugte sich herunter und küsste sie auf die Stirn, fuhr mit der Zungenspitze über ihre Lider.

«Warum lässt du das nicht einfach liegen?», fragte sie. «Wir können auch später essen.» Es war ein Experiment. Konnte sie ihre Phantasien über Dan Greenwood vergessen und sich mit der Wirklichkeit zufriedengeben? Mit einem ruhigen, häuslichen Leben?

James legte das Messer und den Knoblauch hinter sich auf die Arbeitsplatte. Es war, als hätte er die Hände auf dem Rücken gefesselt. Die ganze Zeit über küsste er sie, und sie merkte, wie sie sich allmählich entspannte.

Dann hämmerte es plötzlich an der Tür. Der schwere Türklopfer wurde dreimal mit voller Wucht dagegengeschlagen. Der Laut schien in dem stillen Haus widerzuhallen. Emma hatte sofort das Bild von Vera Stanhope vor Augen. Sie war sich sicher, dass es Vera war, konnte sie deutlich vor sich sehen, wie sie breitbeinig dastand und ihr ganzes Gewicht in das Klopfen legte.

«Wir brauchen es nicht zu beachten», sagte James. Emma kam das halbherzig vor. Es wäre viel zu verwegen für ihn, er hatte sich ja ohnehin schon so weit gehenlassen.

«Nein», kam sie ihm zu Hilfe. Wenn es Vera Stanhope war, würde sie ohnehin nicht weggehen. Sie würde, wenn nötig, die ganze Nacht dort draußen stehen, sich einen Durchsuchungsbefehl besorgen und die Tür einschlagen.

Emma rechnete so fest mit der Kommissarin, dass sie sich fast reingelegt vorkam. Sie hatte sich schon die vorwurfsvollen Worte zurechtgelegt: Ist Ihnen eigentlich klar, dass mein Baby schläft? Ich habe Ihnen bereits alles erzählt, was ich weiß. Aber die Silhouette vor der Tür war größer als Vera Stanhope, besser gebaut, fast sportlich. Wer auch immer es war, er hatte sich abgewandt und sah auf den Platz hinaus. Das lange Haar war verfilzt. Er trug eine dünne Regenjacke und hatte einen kleinen Rucksack neben sich stehen. Es war der letzte Mensch, den sie erwartet hätte.

«Chris. Was machst du denn hier?»

Er drehte sich um, um sie anzusehen. Da war noch immer dieser grüblerische Ausdruck, den er sich als Student zugelegt hatte. Sie hatte das für Getue gehalten, eine Masche, um Frauen rumzukriegen, doch es war ihm offenbar in Fleisch und Blut übergegangen. Er hatte tiefe Ringe unter den Augen, die das Licht über der Tür noch stärker hervorhob, so wie es ihn insgesamt kantiger aussehen ließ, als sie ihn in Erinnerung hatte.

«Ich bin hier, um meine Schwester zu besuchen», sagte er. «Was sonst.» Er beugte sich unvermittelt hinunter und küsste sie flüchtig auf die Wange. Seine Lippen waren eiskalt. «Ich hoffe bloß, ihr habt ein paar Flaschen Bier vorrätig. Sonst müssen wir James losschicken, welches zu holen. Ich war den ganzen Tag unterwegs und komme um vor Durst.»

«Wie bist du hierhergekommen?»

«Mit dem letzten Bus aus Hull. Hat Ewigkeiten gedauert.»

«Du hättest anrufen sollen. Ich hätte dich doch abgeholt.»

«Ich halte nichts von Autos.» Er lachte. Sie kam nicht dahinter, ob das ein Witz auf seine Kosten war, weil er solche unbequemen Grundsätze hatte, oder ob er sich über sie lustig machte, weil sie ihn ernst nahm. Sie hatte noch nie richtig mit ihm umgehen können. Obwohl sie die Ältere war, hatte seine Intelligenz sie immer eingeschüchtert. Und seit Abigails Tod war die Kluft zwischen ihnen noch größer geworden. Keiner von ihnen hatte sich je richtig auf den anderen zubewegt.

Ihr fiel auf, dass sie immer noch in der Tür stand und ihm den Weg ins Haus versperrte. Sie trat beiseite.

«Komm doch rein. James macht gerade Abendessen. Ich bin sicher, dass wir Bier dahaben.»

Die Küche lag im hinteren Teil des Hauses, und sie führte Chris dorthin. Tagsüber wirkte sie dunkel und ein wenig bedrückend, doch jetzt, wenn man aus der Kälte kam, sah sie warm aus, richtig einladend. James hatte sich wieder darangemacht, die Zwiebeln zu schneiden. Er zerteilte sie in hauchdünne, fast schon durchsichtige Ringe.

«Haben wir genug für drei? Schau, wer zum Abendessen gekommen ist.» Ihre Stimme klang unnatürlich fröhlich. Sie war sich nicht ganz sicher, wie gut die beiden Männer miteinander auskamen. Sie gingen freundlich miteinander um, aber in einem unbedachten Moment hatte James ihr einmal gesagt, dass er ihren Bruder arrogant finde. Da hatte er schon recht, Chris konnte wirklich den Eindruck vermitteln, als verachte er die ganze Welt, abgesehen vielleicht von ein paar Wissenschaftlern, die den Nobelpreis bekommen hatten.

James sah vom Schneidbrett hoch. Er musste Chris’ Stimme an der Tür gehört haben und hatte seine Antwort schon parat.

«Na klar», sagte er. «Schön, dich zu sehen.» Er schwieg eine Sekunde lang. «Wissen Robert und Mary, dass du hier bist? Wir könnten sie ja auch einladen.»

«Du lieber Himmel, bloß nicht.» Chris war entsetzt. «Ich muss erst mal eine Nacht durchschlafen, bevor ich an so was denken kann.»

James schob die Zwiebeln vom Brett in eine Pfanne.

«Im Kühlschrank steht Bier», sagte er. «Du kannst mir auch gleich eins geben.»

Als Chris ihnen den Rücken zuwandte, verdrehte James die Augen und schnitt ein Gesicht. Was störte ihn denn nun schon wieder? Chris’ Einstellung zu seinen Eltern? Oder war er enttäuscht, dass sie den Abend nun nicht mehr für sich allein hatten? Emma wusste es nicht.

Sie wollten in dem kleinen, schmalen Zimmer essen, das direkt neben der Küche lag. Emma zündete Kerzen an und deckte den Tisch, während Christopher nach oben ging, um zu duschen. Durch die offene Tür beklagte sich James mit gedämpfter Stimme bei ihr, während er den Salat machte.

«Also wirklich», sagte er. «Chris hätte uns doch anrufen können. Was, wenn wir keine Zeit gehabt hätten? Wer außer ihm würde einfach so auftauchen?»

«Er denkt eben nur an sich», sagte sie. «Er hat sich überlegt, dass er uns besuchen will, und das war’s. Wenn er den Entschluss einmal gefasst hat, denkt er an nichts anderes mehr, als wie er am besten herkommt.»

So war Christopher schon immer gewesen, auch als Kind. Stets begeisterte er sich für etwas, das er erforschen wollte, ein Projekt, und das nahm ihn dann voll und ganz ein. Mit den anderen Schulfächern befasste er sich nur noch oberflächlich und am Rande, aber seine Lehrer wussten, dass er mit den Gedanken woanders war. Diese Besessenheit endete dann genauso plötzlich, wie sie angefangen hatte, und er wandte sich etwas anderem zu – Dinosauriern oder der Schwerkraft oder einem unbekannten Komponisten. Mit den Seevögeln beschäftigte er sich schon erstaunlich lange. Aber vielleicht hatten die Papageientaucher ja begonnen, ihn zu langweilen, und er war deswegen hier.

Damals hatte die Familie sich gesagt, dass ein Wissenschaftler nun einmal exzentrisch sein müsse. Doch jetzt überlegte Emma erneut, wann seine Besessenheiten angefangen hatten, mit dem Umzug nach Elvet oder mit dem Mord an Abigail? Und waren sie wirklich so harmlos, wie sie ihnen damals vorkamen, oder deuteten sie auf eine tiefer gehende Verstörung hin? Sie wünschte, sie hätte sich mehr Mühe gegeben, ihn zu verstehen, damals, als sie beide noch zu Hause wohnten. Vielleicht war sein Auftauchen ein gutes Zeichen. Es war noch nicht zu spät, sich näherzukommen.

Anfangs aßen sie schweigend. Der Wind hatte sich gelegt, aber im Hintergrund hörte Emma immer noch ein Raunen. Sie versuchte ein paarmal, ein Gespräch in Gang zu bringen, fragte nach Christophers Arbeit, der Wohnung in Aberdeen, aber sie merkte bald, dass er erschöpft war. Er hatte den linken Ellbogen auf den Tisch gestützt, der Kopf ruhte in der Handfläche, und mit der Gabel in der rechten Hand schob er sich die Nudeln in den Mund. Sie wusste, dass James das missbilligte. Er legte furchtbar viel Wert auf Tischmanieren. Hin und wieder wurden Chris’ Lider schwer, dann ließ ihn irgendetwas ruckartig hochfahren, und er starrte sie einen Augenblick lang an, als wüsste er nicht mehr, wer sie waren. Er hatte Bier getrunken und den Großteil einer Flasche australischen Rotwein. Emma überlegte, ob er wohl ein größeres Problem hatte. Könnte er drogenabhängig geworden sein? Würde sich jemand, der auf Entzug war, so benehmen? Sie hatte keine Ahnung. Vielleicht war ja auch eine Liebesgeschichte zu Ende gegangen, und er war deswegen deprimiert. Dass er deprimiert war, davon war sie mittlerweile überzeugt. Dass Chris’ Auftauchen in Elvet irgendetwas mit Abigail Mantel zu tun haben könnte, kam ihr überhaupt nicht in den Sinn.

Sie waren bei Käse und Obst angelangt. James sagte sehr freundlich: «Hör mal, du bist ganz offensichtlich müde. Geh einfach schlafen, wann immer du willst. Das macht uns nichts aus.»

«Nein!» Christophers Kopf fuhr wieder ruckartig hoch. «Das bringt nichts. Ich kann noch nicht schlafen.»

«Na, ich jedenfalls gehe jetzt zu Bett. Ich muss morgen früh raus.» Er warf Emma einen vielsagenden Blick zu. Vielleicht dachte er, dass sie dort weitermachen könnten, wo sie aufgehört hatten, als Chris sie unterbrach.

«Ich komme gleich nach.» Aber sie achtete darauf, auch nicht die kleinste Spur eines Versprechens in ihre Stimme zu legen. Und sie kannte ihn. Wenn James einmal im Bett lag, schlief er sofort ein.

Sie wartete, bis er nach oben gegangen war, holte noch eine Flasche Wein aus der Küche und goss ihnen beiden ein. Seit sie erfahren hatte, dass sie schwanger war, hatte sie nicht mehr so viel getrunken. Bisher hatte sie nie die große Schwester spielen müssen. Als sie noch Kinder waren, war sie diejenige gewesen, um die man sich kümmern musste. Chris war unabhängig gewesen, sich selbst genug.

«Was ist los, Chris?», fragte sie. «Was ist passiert?»

Zum ersten Mal setzte er sich aufrecht hin und sah ihr direkt ins Gesicht.

«Das weißt du nicht?» Brutal, gemein. «Bist du wirklich so begriffsstutzig, dass du nie was gemerkt hast?»

Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen traten.

«Tut mir leid», sagte er. «Ich bin völlig durcheinander. Ich habe kein Auge zugetan, seit das alles wieder losgegangen ist.»

«Was denn?», fragte sie. «Was ist wieder losgegangen?»

«Das mit Abigail Mantel.»

«Jeanies Selbstmord stand doch erst gestern in der Zeitung.» Es wollte ihr einfach nicht einleuchten.

«Deshalb bin ich hergekommen», sagte er. «Aber es ist schon lange vorher wieder losgegangen. Da war der Artikel im Guardian. Es kommt mir vor, als hätten die Leute wochenlang über sie geredet.»

«Mir war nicht klar, dass sie dir irgendwas bedeutet hat.»

Sie dachte an den Abend, nachdem sie Abigails Leiche gefunden hatte, wie sie beide aus seinem Schlafzimmerfenster auf die Bahrenträger dort im Mondlicht geschaut hatten. Er war damals doch ganz ruhig geblieben – oder etwa nicht? Hatte ihre eigene Rolle in diesem Drama sie so in Anspruch genommen, dass ihr weiter nichts aufgefallen war?

«Sie hat mir alles bedeutet», sagte er. «Damals.»

«Aber du warst doch noch so jung.»

«Vierzehn», sagte er. «Und ich hatte schon immer die Neigung, mich völlig in etwas zu verrennen.»

«Du kannst unmöglich etwas mit ihr gehabt haben!» Abigail hatte sich ja schon für zu vornehm für die Jungs in ihrem eigenen Jahrgang gehalten. Ganz bestimmt hätte sie sich nie dazu herabgelassen, mit jemandem wie Chris auszugehen.

«Nein», sagte er. «Nichts dergleichen.»

«Was dann?»

«Ich bin ihr gefolgt. Überall, wo sie hingegangen ist. Den ganzen Sommer lang.» Er stierte in sein Glas. «Das hat angefangen, als wir ihr auf der Landspitze begegnet sind. Als du das erste Mal mit ihr gesprochen hast. Wir waren gerade hergezogen. Dad hat uns zu einem Fahrradausflug mitgeschleift. Erinnerst du dich?»

«Wir haben Eis gegessen.»

«Ja!» Er schrie beinahe. «Genau!»

«Und Abigail ist mit ihrem Vater im Auto gekommen und ausgestiegen, um sich vorzustellen.»

«Da hat es angefangen. Danach konnte ich nicht mehr aufhören, an sie zu denken. Ganz buchstäblich. Wenn ich aufwachte, habe ich an sie gedacht, den ganzen Tag über war sie da, spukte in meinem Hinterkopf herum, und nachts träumte ich von ihr.»

«Sie war dein Sommerprojekt.» Seine Heftigkeit machte ihr Angst, und sie hoffte, ihn mit einer Neckerei da herauszuholen, aber er antwortete ihr ganz ernsthaft.

«Nein. Projekte sind etwas Intellektuelles. Abigail war viel mehr. Ich kann es immer noch nicht erklären, und ich erwarte auch nicht, dass du es verstehst. Schau dich doch an. Verheiratet, Mutter, zu vernünftig, um zu träumen.»

«Die Ehe hält einen nicht davon ab zu träumen», sagte sie, aber ganz leise, und überhaupt hörte er ihr gar nicht zu. Plötzlich dachte sie: Wenn Abigail mich das hätte sagen hören, dann hätte sie so getan, als müsste sie kotzen. So was Abgedroschenes. So was Berechenbares. Zum ersten Mal seit Jahren vermisste sie Abigail, die ihr trotz all der bösen Ahnungen, die später aufgekommen waren, eine echte Freundin gewesen war.

Er fuhr fort. «Weißt du, es hat nie aufgehört. Ich glaube, wenn sie nicht ums Leben gekommen wäre, dann hätte ich mich weiterentwickelt und wäre über sie hinweggekommen. Aber so wie die Dinge liegen, werde ich es wohl nie los. Es bleibt eine Leidenschaft, die ich nicht befriedigen kann. Ein Traum, den ich nicht wahr werden lassen kann.» Er versuchte zu lächeln. «Verrückt, was?»

Er griff nach der Weinflasche. Sie sah, dass seine Hand zitterte. «Weißt du eigentlich, dass ich noch nie eine Freundin hatte?», fragte er. «Keine richtige. Gelegentlich mal einen verkrampften One-Night-Stand. Meistens, wenn ich betrunken bin. Und meistens mit einer Rothaarigen. Mehr nicht.»

Emma sagte nichts. Sie sah ihn über den Tisch hinweg an, unsicher, was sie davon halten sollte. Christopher hatte noch nie so mit ihr gesprochen. Er hatte überhaupt noch nie etwas Wichtiges mit ihr besprochen. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie ihm glauben sollte.

«Das war mir alles nicht klar», sagte sie schließlich. «Warum erzählst du mir das jetzt?»

«Weil ich mit irgendwem reden muss. Ich glaube, ich werde noch verrückt. Ich weiß einfach nicht mehr, was stimmt und was nicht.»

«Das ist wirklich verrückt», sagte Emma. «Du musst loslassen.»

«Hast du’s denn?»

«Was meinst du damit?»

«Du klammerst dich doch auch an irgendwas. Woran bloß? Schuldgefühle? Du hast Abigail nie so richtig leiden können, stimmt’s? Es war bestimmt ein Schock für dich, aber ich glaube nicht, dass du groß um sie getrauert hast.»

«Sie war meine beste Freundin.»

«Nein», sagte er. «Sie war deine einzige Freundin. Alles, was du hattest. Und das hat sie dich auch immer spüren lassen. Sie hat dich immer spüren lassen, wie viel du ihr verdankst.» Er sah ihr einen Moment lang fest in die Augen. «Ich habe immer gedacht» – er stockte kurz –, «dass du sie tief im Inneren gehasst hast.»

«Aber nein», sagte sie, doch das Bild, das sie eben noch vor Augen gesehen hatte, von Abigail, die Grimassen schnitt, von ihnen beiden, wie sie zusammen lachten, war schon verblasst.