Kapitel achtundzwanzig

Vera konnte sich Jeanie und Mantel nur schwer als Paar vorstellen. Michael Long hatte ihr zwar geschildert, wie die beiden sich begegnet waren, aber er hatte es von Anfang an missbilligt und sich nie die Mühe gemacht, es zu verstehen. Der Gefängnisdirektor hielt Jeanie für eine Heilige, und die Geistliche war nicht gut mit ihr ausgekommen. Vera wollte begreifen, was die beiden zusammengebracht hatte. Das war sie Jeanie doch schuldig. Ashworth ging, um Nick Linehams Alibi zu überprüfen, aber Vera blieb auf der Straße stehen und dachte über alles nach. Ins Hotel wollte sie noch nicht zurück.

Der Pub war gerade für den Abend aufgesperrt worden und noch leer. Vera stieß die Tür auf und ging hinein. Sie war Expertin für Pubs, und der hier hätte gut ihre Stammkneipe werden können. Es gab eine Jukebox, aber keine Hintergrundmusik und auch keine von diesen Maschinen, die piepten und blinkten. Die Aschenbecher waren sauber und die Tische abgewischt. Sie hätte gewettet, dass man hier ein gepflegtes Bier bekam, wobei sie da gar keine besonderen Ansprüche stellte.

Sie saß einen Augenblick allein an der Bar, ehe eine Frau aus dem Hinterzimmer kam und sich entschuldigte, dass Vera hatte warten müssen. Die Frau war Mitte fünfzig, sehr gepflegt, und wenn Vera sie auf der Straße gesehen hätte, hätte sie sie für eine Geschäftsfrau gehalten, die ein ganzes Unternehmen zusammenhielt. Vera bestellte ein Bier. Noch zu früh für Whisky, beschloss sie.

«Und für Sie, was immer Sie wollen …»

Die Wirtin zapfte ein Bier und holte dann eine kleine Flasche Orangensaft hervor, öffnete sie fachmännisch, prüfte ein Glas auf Sauberkeit und goss sich dann ein.

«Sie müssen Veronica sein», sagte Vera. «Michael Long hat mir von Ihnen erzählt. Wer ich bin, wissen Sie bestimmt. An einem Ort wie diesem spricht sich so was schnell rum.»

«Sie sind die Kommissarin, die gekommen ist, um herauszufinden, warum eine unschuldige Frau zehn Jahre im Gefängnis gesessen und sich dann umgebracht hat, weil sie keinen Ausweg mehr sah.»

Die Wut in ihren Worten überraschte Vera. Dies war die erste glasklare Fürsprache für Jeanie, die sie in Elvet gehört hatte. Die Frau gefiel ihr.

Sie hob das Glas an die Lippen. Mit dem Bier hatte sie recht gehabt. «So ist es», sagte sie. «Es war eine Tragödie.»

«Es war ein Verbrechen.»

«Haben Sie der Polizei damals gesagt, dass Sie glauben, sie würden sich irren?»

«Ich hab’s versucht», sagte Veronica. «Ich habe einen Termin mit dieser anderen Frau ausgemacht. Fletcher.»

«Und was hat sie gesagt?»

«Dass ich, wenn ich keinerlei Beweise hätte und Jeanie kein Alibi geben könnte, nur meine Zeit verschwende. Dabei hatten sie doch auch keine Beweise, um sie zu verurteilen. Bevor Barry und ich den Laden hier übernahmen, habe ich als Sekretärin bei einem Anwalt gearbeitet. Ich habe noch nie jemanden so vorgehen sehen wie bei diesem Fall. Und es gab niemanden, der wirklich für Jeanie kämpfte. Michael hat sie ohnehin nicht verstanden, und Peg war schon krank, als die Sache vor Gericht kam.»

«Sie haben sie alle gekannt? Mantel und Jeanie und das Mädchen?»

«Mantel und Jeanie, natürlich. Mein Sohn ist mit Abigail zur Schule gegangen, aber er war etwas jünger, also sah ich sie kaum. Einmal kam sie mit ein paar Jungs hier rein, so aufgedonnert, dass ich sie fast nicht erkannt hätte, und wollte bedient werden. Dumm, zu glauben, dass sie damit durchkommt, aber früher oder später versuchen das alle.»

Vera kam ein Gedanke. «Kannten Sie Christopher Winter? Ging er vielleicht mit Ihrem Sohn zur Schule?»

«Damals kannte ich ihn nicht. Er war gerade erst ins Dorf gezogen, und obwohl er im gleichen Jahrgang war wie mein Junge, war er doch ganz anders. So gebildet. Später habe ich ihn dann etwas besser kennengelernt.»

«Nämlich?»

«Er ist ein paarmal hier gewesen, wenn er von der Universität nach Hause kam. Sah aus, als könnte er jemanden zum Reden brauchen. Wenn wenig los war, habe ich mich mit ihm unterhalten.»

«War er immer allein?»

«Aye, immer.»

«Und worüber haben Sie sich unterhalten?»

«Über alles Mögliche. Die Dinge, die es ihm gerade so angetan hatten. Nachrichten aus aller Welt. Dorfklatsch. Ich hatte den Eindruck, dass er bloß eine Ausrede brauchte, um ein Weilchen von zu Hause wegzubleiben. Dass er froh war, außer Reichweite seines Vaters zu sein. Ich glaube nicht, dass sie gut miteinander ausgekommen sind.»

Vera saß einen Moment lang schweigend da und dachte über einen jungen Mann nach, der in den Semesterferien nichts Besseres zu tun hatte, als in einem leeren Pub zu hocken und Small Talk mit einer Frau in mittleren Jahren zu halten.

«Hat er viel getrunken?»

«Manchmal. Nicht öfter als die anderen Kerle in seinem Alter. Aber er hat nie Streit gesucht, wenn er betrunken war, er wurde nie aufdringlich. Ein paarmal habe ich miterlebt, wie er plötzlich ganz sentimental wurde, und dann sprach er über seinen Vater. ‹Manchmal denke ich, dass ich gar nicht sein Sohn bin. Was soll der überhaupt mit mir zu tun haben …›»

Ein älterer Mann kam herein. Noch bevor er an der Bar war, hatte Veronica sein Pint schon gezapft. Er legte ein paar Münzen auf den Tresen und trug sein Bier wortlos in eine Ecke. Vera wartete, bis er außer Hörweite war, und fuhr dann fort.

«Aber Jeanie müssen Sie gut gekannt haben. Sie hat schließlich für Sie gearbeitet.»

«Aye, erst im Lokal, und als sie achtzehn war, auch an der Bar. Ich mochte sie sehr, auch wenn Barry sagte, dass sie für ein Barmädchen zu still wäre. Nicht kontaktfreudig genug. Mir war das egal. Sie war interessant. Ich freute mich auf die Tage, an denen sie kam. Wir haben über Bücher geredet und Musik. Zu so einer Unterhaltung hat man nicht oft Gelegenheit hier drin.»

Oder mit Barry, schwang da unausgesprochen mit.

«Offenbar mochten andere Leute sie nicht so sehr», sagte Vera. «Ich habe mit ein paar Leuten gesprochen. Arrogant haben sie sie genannt, hochnäsig.»

Veronica dachte darüber nach. «Vielleicht wirkte sie ja so, wenn man sie nicht gut kannte. Sie war anders als die anderen Mädchen hier im Dorf. Mit denen konnte sie sich nicht unterhalten. Aber das war mehr Schüchternheit als irgendwas anderes. Und später, nach dem Gerichtsverfahren, musste sie wohl hart sein, um zu überleben.»

«Haben Sie sie je im Gefängnis besucht?»

«Ich habe Peg gesagt, ich würde kommen, wenn sie es wollte. Ich bat sie, Jeanie dazu zu bringen, mir ein Besuchsformular zu schicken. Aber das hat sie nie. Vielleicht konnte sie den Gedanken nicht ertragen, dass irgendwer anders sie dort sehen sollte.» Wieder schwieg sie kurz. «Sie war stolz. Schon als junges Mädchen. Hier muss man sich öfter dumme Bemerkungen anhören. Wenn die Kerle zu viel getrunken haben, einen blöd angrinsen und sich wie Machos aufführen. Sie hat nie gezeigt, dass ihr das zusetzte.»

«Hat ihr Vater ihr zugesetzt?»

«O ja. Ich weiß nicht, was mit Michael los war. Er konnte sie einfach nicht in Ruhe lassen. Immer musste er rummeckern und spitze Bemerkungen machen. Über ihre Klamotten oder die Haare oder darüber, was sie mit ihrer Zeit anstellte. Aber sie ließ sich auch bei ihm nichts anmerken. Wie ich schon sagte, sie war stolz.»

«Erzählen Sie mir, wie sie Keith Mantel begegnet ist. War das, als sie hier gearbeitet hat?»

Veronica starrte zur Tür, als hoffte sie, jemand würde hereinkommen und sie könnte sich vor der Antwort drücken. «Darüber denke ich manchmal nach. Wie das alles so kommt. Wenn ich sie nicht hier eingestellt hätte, dann würde sie vielleicht noch leben.»

«So dürfen Sie nicht denken, Herzchen. Das macht Sie nur verrückt.»

«Ich weiß, aber vielleicht hätte ich sie vor Mantel warnen sollen. Auf mich hätte sie vielleicht gehört. Er hat sie mit seinem Charme eingewickelt. Keith kann unwiderstehlich sein, wenn er seinen Charme spielen lässt. Ich habe ihn hier schon erlebt, wenn er aufdreht.»

«Was hat ihn an ihr angezogen? Ich meine, warum Jeanie? Ich hätte nicht gedacht, dass sie sein Typ ist.»

«Sie war eine Schönheit», sagte Veronica schlicht. «So, wie manche Models es sind. Die, die das große Geld machen. Nicht hübsch. Abigail war hübsch. Jeanie war umwerfend. Und das ist ganz plötzlich gekommen. An einem Tag war sie noch ein schlaksiger Teenager mit Pickeln, und dann auf einmal eine tolle junge Frau. Das hat nicht jeder erkannt. Manche haben immer noch die alte Jeanie gesehen, selbst wenn die neue direkt vor ihrer Nase stand. Nicht mal Michael ist es aufgefallen. Aber Mantel hat es erkannt. Ich habe gesehen, wie er sie beobachtete. Jeanie war selbst nicht klar, wie sehr sie sich verändert hatte, bis er sie darauf aufmerksam machte.»

«Dann hat sie sich deshalb in ihn verliebt?», fragte Vera.

«Er war älter, ein ziemliches Schlitzohr, aber durch ihn fühlte sie sich das erste Mal attraktiv …» Veronica hielt inne. «Dass ihr Vater ihn nicht ausstehen konnte, war natürlich auch ein Grund.»

«Worum ging es dabei eigentlich? Warum hatte Michael eine solche Abneigung gegen ihn?»

«Michael hat das Dorf früher praktisch allein regiert. Seine Familie lebt schon seit Generationen hier. Sein Vater war Steuermann auf dem Rettungsboot, und er hatte unten an der Küste noch ein Fischerboot. Und Michael hat schon als junger Mann für die Lotsen gearbeitet. Dann ist Keith Mantel aufgetaucht und hat mit Geld nur so um sich geworfen, und die Leute beachteten bloß noch ihn. Wirklich lächerlich. Wie zwei kleine Jungs auf dem Spielplatz. Am liebsten hätte man sie mit den Köpfen zusammengeschlagen …»

«Hat Jeanie weiter hier gearbeitet, nachdem sie bei Mantel eingezogen ist?»

«Nein. Das hätte er nicht gewollt. Er mag es, wenn die Frauen abhängig von ihm sind. Und ich weiß ja, was er vor Gericht gesagt hat, dass Jeanie vor seiner Tür aufgetaucht ist und er sie nicht wegschicken konnte. Als hätte er sich gar nichts aus ihr gemacht, aber ich bin mir nicht sicher, ob das stimmt. Am Anfang jedenfalls nicht. Am Anfang hat sie ihm wirklich was bedeutet.»

Darüber dachte Vera einen Augenblick nach. Womöglich hatte sie sich in Mantel getäuscht. Vielleicht war er ja doch fähig zu lieben. Wenn man das Paar in Ruhe gelassen hätte, wenn Abigail und Michael und überhaupt ganz Elvet sie in Ruhe gelassen hätten, wären sie vielleicht glücklich geworden. Nein, dachte sie dann. Es wäre nie ein Märchen mit Happy End geworden. Er hätte sich weiter mit Caroline Fletcher getroffen. Es wäre nicht gutgegangen.

Sie trank ihr Glas aus und stellte es auf den Tresen.

«Noch eins?», fragte Veronica.

Vera ging kurz in sich. «Besser nicht.» Sie rutschte von ihrem Hocker.

«Ich habe Jeanie nochmal gesehen», sagte Veronica plötzlich, und Vera hievte sich zurück auf ihren Platz. «In der Woche, bevor Abigail umgebracht wurde. Das habe ich damals nicht gesagt. Wenn die Polizei mich dazu befragt hätte, hätten sie nur einen falschen Eindruck gewonnen.»

«In welcher Hinsicht?»

«Sie ist hier aufgetaucht, als ich gerade erst am Aufsperren war, und ich habe ihr einen Kaffee gemacht. Sie wollte nur Dampf ablassen. Über das Mädchen, Abigail, und was für ein Prinzesschen sie war. ‹Ich weiß nicht, was ich tun soll. Wenn ich Keith erzähle, was sie ausheckt, glaubt er mir ja doch nicht. Aber ich kann sie doch nicht einfach ungestraft davonkommen lassen.›»

«Womit?», fragte Vera.

Veronica schüttelte den Kopf. «Das weiß ich nicht. Wenn ich sie gedrängt hätte, hätte sie es mir vielleicht erzählt. Aber es war kurz bevor wir öffnen, und irgend so ein Klinkenputzer kam gerade rein. Sie sagte, sie würde schon sehen, dass ich viel zu tun habe, und ein andermal wiederkommen. Zehn Tage später hat die Polizei sie wegen Mordes verhaftet.»