Kapitel sechsundzwanzig

Als Vera wieder im Hotel eintraf, war es fast schon Zeit fürs Abendessen, und sie hatte Lust, sich zu streiten. Vom Gefängnis aus war sie nach Crill gefahren, aufs Polizeirevier, wo man die Einsatzzentrale eingerichtet hatte. Sie hatte erwartet, dort wie zu Hause behandelt zu werden. Nicht unbedingt wie eine weibliche Gottheit, aber doch wie jemand, dessen Wort etwas zählte. Es war ganz und gar nicht so gewesen. Paul Holness spielte sich als Herrscher über die Einsatzzentrale auf, er rief seinem Team die Befehle zu und teilte häppchenweise Lob aus. Die Leute hingen an seinen Lippen. Auf ihre Fragen ging er zunächst mit herablassender Belustigung ein, dann mit glatter Feindseligkeit. Sie hatte ihn falsch eingeschätzt. Holness mochte ja nicht der Hellste sein, aber dass sie einen aktiven Part in den Ermittlungen zum Christopher-Winter-Mord spielte, sah er nicht vor.

Im Hotel ging sie schnurstracks an die Bar. Dort sah es aus wie in einem Herrenclub, mit gedämpfter Beleuchtung und so leiser Musik, dass man unmöglich herausfinden konnte, was überhaupt lief. Es waren Schwingungen im Hintergrund, das aufreizende Gesumme eines Insekts, aber doch keine Musik. Sie hätte eine Dusche brauchen können, aber sie wollte erst einen Drink. Und sie hatte keine Lust, allein zu trinken. Sie rief Ashworth auf seinem Handy an.

«Wo stecken Sie?»

«Bin gerade angekommen.» Er spürte ihre schlechte Laune und fügte hinzu: «Ma’am.» Eine Art Versicherung. Es schadete nicht, und manchmal besänftigte es sie. Heute Abend jedoch nicht.

«Kommen Sie runter. Ich gebe einen aus.»

Sie saß auf einem ledernen Chesterfield-Sofa, das sie mit ihren Taschen und dem Mantel fast vollständig einnahm, und schäumte vor Wut, als er kam.

«Wie war Ihr Besuch im Gefängnis?», fragte er sanft.

«Interessant, aber darüber sprechen wir später.»

«Und Ihr Treffen mit der hiesigen Polizei?»

Sie gab keine direkte Antwort. «Was halten Sie denn von denen? Haben die die Liste mit den Zeugen, die bei Mantel waren, rausgerückt? Ohne großes Gezicke?»

«Ohne Probleme. Aber das erspart ihnen ja auch einiges an Arbeit. Ein Mann mehr, der die Aussagen überprüft und die weiteren Befragungen übernimmt. Das würden sie ja wohl kaum ausschlagen.»

«Ich fand sie verdammt unkooperativ.»

Er sagte nichts und dachte: Sie haben also Ihren Willen nicht bekommen.

«Die wollen die beiden Fälle als voneinander unabhängige Untersuchungen behandeln. Es gibt zu diesem Zeitpunkt keinen Anhaltspunkt, weswegen man die Ermittlungen zusammenlegen sollte. Sagen die. Sagt Holness. Das wäre Blödsinn. Und selbst wenn sie einen Anhaltspunkt hätten, wäre es nicht meine Aufgabe, herauszufinden, wer Abigail umgebracht hat. Ich soll ja bloß zu einem Urteil darüber gelangen, was das damalige Team falsch gemacht hat.»

«Da steckt bestimmt was Politisches dahinter», sagte er. «Die wollen sicher nicht, dass jemand von außerhalb einen aktuellen Mordfall übernimmt. Das würde sie alle ziemlich inkompetent aussehen lassen. Dachten Sie etwa, dass Sie damit durchkommen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie so etwas zustimmen würden, wenn es unseren Bezirk beträfe.»

«Wohl nicht», sagte sie.

«Holness hätte doch sogar anordnen können, dass Sie im Mantel-Fall weiter nichts unternehmen, solange die laufende Ermittlung in Gang ist.»

«Das soll er bloß mal versuchen!» Sie konnte es nicht ausstehen, wenn Ashworth so verständig war. «Davon ganz abgesehen, würde die Presse das als Vertuschung betrachten.»

«Gehört denn irgendeiner von den Kollegen, die den Mantel-Fall bearbeitet haben, zu dem Team, das sich mit dem Mord an Christopher Winter befasst?», fragte er.

«Nein.»

«Dann verstehe ich nicht, dass Sie Einwände haben. Es ist ein neues Team. Denen werden wohl kaum die gleichen Fehler unterlaufen wie damals. Und sie werden Sie über die Entwicklungen auf dem Laufenden halten …»

«Sagen sie wenigstens. Insbesondere, wenn sie irgendwas herausfinden, was mit den Mantel-Ermittlungen zu tun hat.»

«Na also.»

Sie trank ihren Scotch und grinste ihn plötzlich an. «Kümmern Sie sich nicht weiter um mich, Herzchen. Ich möchte einfach nach Hause. Das verstehen Sie doch.»

Er nickte.

«Und was gibt’s bei Ihnen Neues?»

«Ich glaube nicht, dass uns die Zeugenaussagen viel nützen werden. Offenbar gehörte die Familie Winter zu den letzten Besuchern, die bei der Party ankamen. Caroline Fletcher kam noch später, aber sie hat ausgesagt, dass sie auf dem Weg zum Feuer niemanden auf der Zufahrt gesehen hätte.»

«Dann kommt sie also am ehesten in Frage, wenn einer der Gäste Christopher umgebracht haben sollte?»

«Nein», sagte er. «Jeder hätte sich kurz davonstehlen und ihn treffen können, ohne dass die restliche Menge etwas mitbekommt. Niemand hat gesehen, dass Robert Winter weggegangen wäre, aber es hat auch niemand Mrs Winter vermisst, als die ihren Mantel holen ging.»

«Hat man die Mordwaffe schon gefunden?»

«Nein. Sie wollen morgen weitersuchen.»

«Dann sind sie also noch nicht besonders weit gekommen», sagte sie und konnte die Genugtuung in ihrer Stimme nicht verbergen.

«Wie sieht der Plan für morgen aus?»

«Wir müssen mit Mantel reden. Da können die nichts gegen haben. Er war der Vater von unserem Opfer. Das ist nur recht und billig.»

 

Als sie am nächsten Morgen zur Alten Kapelle kamen, wurde es gerade erst hell. Es hatte aufgehört zu regnen, aber der Wind wehte immer noch, fegte einen Düngemittelsack vor ihnen über die Straße, abgestorbene Zweige von den gekrümmten Bäumen und trieb kleine Strudel aus Sand und Getreidehalmen vor sich her. Der Wind war auch das Erste, was Mantel ansprach, als er die Tür öffnete. «Das wird noch einen Sturm geben», sagte er und schaute zu den dahinjagenden grauen Wolken hoch, ganz als hätte er sein Leben lang auf dem Land gewohnt und würde sich mit Booten und Gezeiten und dem Wetter auskennen.

Vera stellte sich vor.

«Sie leiten die neuen Ermittlungen zum Tod meiner Tochter?»

«Ganz genau. Darf ich vorstellen, mein Sergeant.»

«Ich hatte gedacht, Sie würden mich eher aufsuchen. Dass der Fall wiederaufgenommen wird, habe ich erst aus der Presse erfahren.»

Vera brummelte etwas vor sich hin von wegen, sie hätten erst mal vorläufige Ermittlungen angestellt, aber sie wusste, dass er im Recht war, und er hatte es auch nicht besonders vorwurfsvoll gesagt. Was immer seine Vorgeschichte sein mochte, was immer Michael Long gesagt hatte: Als sie Mantel jetzt sah, tat er ihr leid.

«Sie haben Glück, dass Sie mich hier antreffen. Ich habe beschlossen, heute zu Hause zu arbeiten, und alle Meetings abgesagt. Das hätte ich nicht verkraftet. Diese Sache mit dem Jungen vorgestern Abend, das hat alles wieder hochgebracht.»

Sie standen immer noch vor dem Bogenportal aus Holz und konnten den Tatort sehen. Ein Stück blau-weißes Absperrband hatte sich gelöst und flatterte im Wind wie der Schwanz eines jener großen Lenkdrachen, die man mit zwei Leinen dirigiert. Eine Reihe Polizisten in Spurenschutzanzügen und dunklen Anoraks ging langsam, die Blicke auf den Boden geheftet, über ein angrenzendes Feld.

«Zwei junge Menschen tot», sagte Mantel. «Was für eine schreckliche Verschwendung.»

«Drei», sagte Ashworth. Mantel erwiderte nichts darauf, aber Ashworth hatte leise gesprochen, und vielleicht hatte er es nicht gehört.

Sie folgten ihm in das Zimmer, in dem zwei Abende zuvor die alten Damen gesessen hatten. Von der Veranstaltung war nichts mehr zu sehen. Die überzähligen Stühle waren weggeräumt, der Teppich gesaugt worden. Im Wintergarten dahinter stand ein Getränkekasten an der Außentür. Darin standen leere Weinflaschen, einige steckten, den Flaschenhals nach unten gedreht, noch dazwischen. Durch die Scheiben sahen sie die Stelle des Lagerfeuers und auf dem Rasen verstreute Feuerwerksreste.

Mantel bedeutete ihnen mit einer Kopfbewegung, sich zu setzen. «Glauben Sie, dass die beiden von derselben Person umgebracht wurden?», wollte er wissen. Und als ihm nicht gleich geantwortet wurde, fügte er hinzu: «Abigail und der Junge von den Winters, meine ich.»

«Weder in die eine noch in die andere Richtung gibt es schon Beweise.»

«Ich war von Jeanies Schuld überzeugt. Das allein hat mich noch aufrechterhalten. Die Wut. Das Gerichtsverfahren. Zu sehen, wie sie verurteilt wurde. Ich ging jeden Tag zum Gericht. Nachdem ich selbst ausgesagt hatte, setzte ich mich unter die Zuschauer und wartete, die ganzen vier Tage, die sie für die Urteilsfindung brauchten. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich sie damals eigenhändig aufgeknüpft.» Er brach abrupt ab. «Sie wissen doch mit Sicherheit, dass sie unschuldig war, oder? Es sind nicht nur die Zeitungen, die eine Story wittern, oder ihre Anwälte, die das System austricksen wollen?»

«Wir sind vollkommen sicher.»

Er saß ganz ruhig da. «Ich habe es nicht geglaubt, bis vorgestern Abend», sagte er. «Ich dachte, die Weltverbesserer und Bürgerrechtler wollen nur ihren Namen reinwaschen. Aber dann die zweite Leiche … Selbst ich denke nicht, dass das ein Zufall sein kann.» Er sah unvermittelt auf. «Was meinen Sie? Ist das ein Verrückter, der frei herumläuft?»

«Es ist noch zu früh, um irgendwelche Schlussfolgerungen zu ziehen. Bis es gegenteilige Beweise gibt, werden die Morde als zwei voneinander unabhängige Fälle betrachtet.»

Er sah aus, als wollte er etwas dagegen sagen, doch dann entschied er sich anders. «Und was wollen Sie von mir?»

«Erzählen Sie uns von den Monaten vor Abigails Tod.»

«Was soll das nach all der Zeit noch nützen? Sie haben doch bestimmt Zugang zu den Aussagen.»

«Es ist etwas anderes, es von Ihnen zu hören.»

Er machte die Augen zu, kniff sie ganz fest zusammen, wie ein Kind, das versucht, die Tränen zurückzuhalten, doch als er sie wieder öffnete und anfing zu erzählen, klang seine Stimme ruhig.

«Ihre Mutter starb, als Abigail sechs war. Brustkrebs. Sie war erst dreiunddreißig. Noch immer wunderschön. Wenn Sie Ihren Job gründlich gemacht haben, wissen Sie auch, dass ich, als ich jünger war, ein wenig über die Stränge geschlagen habe, doch als sie krank wurde, war ich bereits zur Ruhe gekommen. Ich fand nicht, dass ich das verdient hatte – sie zu verlieren, meine ich. Vielleicht bin ich bis an die Grenzen gegangen, aber ich habe sie nie überschritten. Zumindest damals nicht. Ich hatte Erfolg. War glücklich. Solche Tragödien passierten mir nicht.

Als Liz starb, wollte ich abhauen, so tun, als wäre nichts geschehen. Aber wegen Abigail konnte ich das nicht. Bestimmt habe ich sie verwöhnt, aber das tun Väter doch immer, oder? Sie verwöhnen ihre kleinen Mädchen. Und ich habe sehr viel Zeit mit der Arbeit verbracht. Wenn ich dann schon mal da war, wollte ich, dass es was Besonderes für sie ist.» Er schwieg kurz. «Vor Jeanie hat es auch andere Frauen gegeben. Ein paar davon habe ich mit nach Hause gebracht. Aber alle wussten, dass Abigail an erster Stelle steht.»

«Dann muss Jeanie ja etwas ganz Besonderes gewesen sein.»

«Nein, eigentlich nicht. Sie war jung, sehr hübsch. Eine talentierte Musikerin. Aber es gab auch andere, die hübscher waren, sexuell reizvoller.»

«Aber sie war die Erste, die Sie baten einzuziehen.»

«Ich habe sie nicht gebeten. Nach einem Krach mit ihrem Vater ist sie einfach hier aufgekreuzt, mit ihrem gesamten Gepäck. Als ich von der Arbeit kam, hatte sie sich schon eingerichtet. Ein fait accompli

«Wieso haben Sie das hingenommen?»

«Aus Gleichgültigkeit. Oder aus Bosheit. Ihr Vater konnte mich noch nie leiden, und es hat mir Spaß gemacht, ihn auf die Palme zu bringen. Und sie hatte so etwas an sich, so etwas Unschuldiges. Sie erinnerte mich ein wenig an Liz, als die noch ein junges Mädchen war. Ich fühlte mich wieder jung. An jenem ersten Abend war sie so dankbar, hier zu sein, gab sich solche Mühe, alles richtig zu machen. Sie hätte alles für mich getan. Das schmeichelte mir, und ich habe es mir leichtgemacht. Schließlich war ich ja nicht oft zu Hause. Ich habe mir eingeredet, es wäre gut für Abigail, jemanden um sich zu haben, der ihr vom Alter her näherstand.»

«Aber Abigail mochte sie nicht?»

«Sie konnte sie nicht ausstehen», sagte er ohne Umschweife. «Sie war wohl zu sehr daran gewöhnt, ihren Willen zu bekommen, immer im Mittelpunkt zu stehen.»

«Also haben Sie Jeanie gesagt, sie soll ausziehen.»

«Schlussendlich ja, im Herbst. Mir war klargeworden, dass es nicht funktionieren würde. Ich war einfach zu alt für sie. Sie war so leidenschaftlich, sie wollte mehr von der Beziehung.»

«Heiraten?»

«Vielleicht. Sie hat nie davon gesprochen, aber es hätte mich nicht überrascht.» Er zögerte. «Davon abgesehen, gab es noch eine andere. Ich brauchte eine Ausrede, um Jeanie loszuwerden. Die Situation war völlig verfahren, der helle Wahnsinn.»

«Was geschah, als Sie Jeanie sagten, sie soll ausziehen?»

«Es war schrecklich. Ich wusste ja, dass sie launisch und unberechenbar sein konnte, aber an jenem Tag ist sie völlig durchgedreht. Sie gab Abigail die Schuld an allem. Ich hatte sie für ziemlich prüde gehalten, aber jetzt warf sie mit Obszönitäten nur so um sich.»

«Was hat sie über Abigail gesagt?», fragte Vera. «Was genau?»

«Sie hat sie eine dreckige kleine Schlampe genannt. Unter anderem.»

«Das haben Sie in Ihrer Aussage nicht erwähnt.» Vera wartete, aber Mantel gab keine Antwort, und sie sprach zögernd weiter: «Ihre Wut kann ich verstehen. Was glauben Sie, wieso Jeanie so ausfallend wurde?»

«Weil sie wusste, dass es mich verletzen würde. Sie war eifersüchtig.»

«Aber warum Schlampe? Warum ausgerechnet dieses Wort?»

«Wenn Sie etwas über Abigails Sexualleben wissen wollen, können Sie auch fragen», sagte Mantel, und wieder fühlte Vera sich wie ein Wurm, genau wie vorhin bei ihrer Ankunft.

«Sie haben recht», sagte sie. «Es tut mir leid. Sie verstehen aber doch, weshalb das wichtig sein könnte.»

«Sie haben auch damals schon nach ihren Freunden gefragt. Sexualpartner, so nannten sie es. Es war mir gar nicht in den Sinn gekommen, dass sie mit jemandem geschlafen haben könnte.»

«Und Sie waren entsetzt.»

«Ich hatte kein Recht, entsetzt zu sein. Ich schlief mit Frauen, die meist nicht viel älter waren als Abigail. Ich war überrascht. Ich hatte gedacht, sie würde mit mir über so was reden. Natürlich wusste ich, dass es passieren würde. Ich hatte mich gewappnet. Mir vorgestellt, dass sie irgendeinen Jungen mit nach Hause bringt. Ich wusste, dass er mir nicht gefallen würde, wie nett und anständig er auch sein mochte, aber ich hatte mir vorgenommen, das zu überspielen. Ihn willkommen zu heißen. Ich wollte sie ja nicht verlieren. Ich hatte nicht gedacht, dass sie es geheim halten würde.»

«Sie war minderjährig. Der Junge hätte eine Straftat begangen.»

«Vielleicht war das ja der Grund.»

«Sie hatten nicht die leiseste Ahnung, mit wem sie sich so traf?»

«Nicht die leiseste. An ihrem fünfzehnten Geburtstag hat sie eine Party gegeben. Da waren auch Jungs. Gut möglich, dass ich noch auf ein paar von den Namen komme. Aber ich war fast den ganzen Abend über dabei, und mir ist keiner aufgefallen, den sie besonders gern hatte.»

«Nick Lineham? Klingelt da was bei Ihnen?»

«Der Sohn vom Lehrer. Ja, der war auch da.»

«Und Christopher Winter?»

«Emma war natürlich da. Sie und Abigail waren die besten Freundinnen. Aber ich kann mich nicht erinnern, den Jungen gesehen zu haben. Abigail hatte sich über ihn lustig gemacht und gesagt, dass er in sie verknallt wäre, aber ich glaube nicht, dass sie ihn eingeladen hätte. War er nicht viel jünger?»

«Nur ein Jahr», sagte Vera.

Er schaute hinaus in den Garten, für einen Moment abgelenkt von einem Schwarm Krähen, der aus einem alten Maulbeerbaum aufflatterte, und schien sie nicht zu hören.

«Lassen Sie uns auf den Abend des Lagerfeuers zurückkommen.» Vor ihrem inneren Auge sah sie ihn da stehen und mit seiner Vorzeigefreundin an der Seite die Gäste begrüßen. Schon in mittlerem Alter, aber immer noch durchtrainiert und charmant. Der Mann heute kam ihr älter vor. Ihn konnte sie eher leiden. «Haben Sie Christopher Winter an dem Abend gesehen?»

«Ich glaube nicht, dass ich ihn wiedererkannt hätte. Zehn Jahre machen in dem Alter eine Menge aus, und ich habe ihn nur ein paarmal gesehen, als Abigail noch lebte. Wenn seine Mutter kam, um Emma abzuholen, und er hinten im Auto saß. Einmal, glaube ich, auf der Landspitze. Seine Eltern waren vorgestern Abend hier. Sie hätten ihn doch bestimmt gesehen, wenn er unter den Gästen gewesen wäre.»

«Wahrscheinlich. Waren viele fremde Leute da?»

«Natürlich waren Leute da, die ich nicht kannte. Die Karten wurden im Pub und bei der Post verkauft. Die Männer vom Rettungsboot brachten ihre Freundinnen mit.»

«Haben Sie Caroline Fletcher erkannt?»

«Ja. Das war die Kommissarin, die für die damaligen Ermittlungen verantwortlich war.»

«Haben Sie sie eingeladen?»

«Nein.»

«Warum war sie dann hier?»

Sie konnte sehen, wie er sich eine unverbindliche Antwort zurechtlegte und es dann aufgab, vielleicht zu erschöpft, um sich noch die Mühe zu machen zu lügen. «Um mich zu kontrollieren. Um mich daran zu erinnern, dass wir beide Schwierigkeiten bekommen könnten, wenn ich mit den Behörden rede.» Dann brach es aus ihm heraus: «Weil sie sich einfach nicht fernhalten kann.»

«Ich weiß nicht recht, ob ich Ihnen folgen kann», sagte Vera, obwohl es ihr langsam dämmerte. Die Erkenntnis durchströmte sie wie ein Fluss, der ins Meer mündet.

«Schauen Sie. Ich sagte ja schon, dass ich mich mit einer anderen getroffen habe, bevor Jeanie hier einzog, und dass die Dinge verfahren und kompliziert waren.» Er schwieg.

«Weiter.» Sie saß ganz ruhig da und sah ihm ins Gesicht.

Er erwiderte ihren Blick. Wieder erwartete sie, dass er sich weigern würde fortzufahren.

«Die Frau war Caroline.»

«Sie sind also mit Caroline Fletcher ausgegangen, während die den Mord an Ihrer Tochter untersuchte?» Vera platzte fast vor Wut, sie war scharlachrot im Gesicht, und ihr Blick war eiskalt. Sie konnte sich gerade noch beherrschen.

«Wir standen uns nahe, ja.»

«Und es ist ihr nie in den Sinn gekommen offenzulegen, dass sie in die Sache verwickelt war? Sie hätte den ganzen Fall ruinieren können.»

«Wir waren sehr diskret. Wir dachten nicht, dass es jemand herausfinden würde.»

Dan Greenwood hat es erraten, dachte Vera, aber er war zu dämlich und zu loyal, um etwas zu sagen. Kein Wunder, dass Fletcher von Anfang an eine Abneigung gegen Jeanie hatte.

«Was haben Sie ihr versprochen, um eine Verurteilung zu erreichen?», wollte Vera wissen.

«Nichts. Das brauchte ich nicht. Sie wollte es ebenso sehr wie ich.»

Sie war in dich vernarrt, dachte Vera. Was stimmte denn bloß nicht mit all diesen Frauen? Das war eine starke, kluge Frau, und sie hat ihre Karriere für einen Schwachkopf wie dich weggeworfen. Deshalb hat sie also den Dienst quittiert. Dann wäre sie frei gewesen, dich zu heiraten, wenn du sie darum gebeten hättest. Hast du ihr das versprochen? Aber du hast sie nicht geheiratet. Sie war ein noch größeres Schaf als Jeanie Long.

Mantel brachte sie zum Auto und stand fröstelnd daneben, während Ashworth seine Taschen nach dem Schlüssel abklopfte.

«Eins noch», sagte Mantel.

«Ja?»

«Der Mann von Emma. Der, der sich Bennett nennt. Der Lotse auf dem Fluss.»

«Was ist mit ihm?»

«Ich habe ihn vorgestern Abend wiedererkannt. Er hat es nicht gemerkt. Sie sollten ihn mal überprüfen lassen. Als ich ihm das erste Mal begegnet bin, hieß er noch anders.»

«Wie hieß er denn da?»

Er zuckte die Schultern, und Vera wusste nicht, ob er sich nicht erinnerte oder ob er der Meinung war, er hätte genug gesagt.

Bevor sie ihn noch etwas fragen konnte, drehte er sich um und ging schnell zurück zum Haus.